Beitrag Marckmann Theorie - Evangelische Akademie Tutzing

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Georg Marckmann
Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin
Ethisch gut begründet
entscheiden: Einführung in
die kohärentistische
Medizinethik
„Ethik in der Klinik“ – Fachtag Medizinethik
Evangelische Akademie Tutzing
München, 19. Juli 2016
Lernziele
Sie sollten am Ende dieser Unterrichtseinheit
• das in der Medizinethik etablierte Verständnis der
Begriffe Moral und Ethik kennen
• die verschiedenen Dimensionen moralischer Fragen
differenzieren können
• die Rolle ethischer Theorien für medizinethische
Entscheidungen reflektiert haben
• den Ansatz einer prinzipienorientierten Medizinethik in
Grundzügen kennen
• mit der praktischen Bedeutung der vier klassischen
medizinethischen Prinzipien vertraut sein
Georg Marckmann, LMU
29.07.2016
#2
Moral vs. Ethik
Moral
• Sittliche Phänomene in einer bestimmten Gemeinschaft:
moralische Überzeugungen, Regeln, Normen,
Wertmaßstäbe, Gebote
• Die Moral gibt an, was moralisch richtig und falsch ist
• Bspl.: „Der Wille eines Patienten ist zu respektieren.“
Ethik
• Die (philosophische) Reflexion über moralische Phänomene
• Die Ethik versucht zu begründen, warum etwas moralisch
richtig und falsch ist.
• Bspl.: „Warum ist der Wille eines Patienten zu respektieren?“
• Bspl.: „Wie kann man den Willen bei einem nicht
äußerungsfähigen Patienten respektieren?
Umgangssprache: Moral & Ethik oft synonym!
Georg Marckmann, LMU
29.07.2016
#3
Formen der
(philosophischen) Ethik
Metaethik
• Klärt die Verwendung moralischer Begriffe und Grundfragen
• Bspl.: Gibt es eine rational begründbare, allgemein
verbindliche Medizinethik?
Deskriptive Ethik
• Untersucht faktische moralische Orientierungen
• Bspl.: Einstellungen von ÄrztInnen zur aktiven Sterbehilfe
Normative Ethik
•
•
•
•
Prüfung & Begründung moralischer Urteile
Leitfrage: „Was soll ich tun?“
Bspl.: „Ist die aktive Sterbehilfe ethisch vertretbar?“
Bspl.: „Soll man dem Wunsch des Patienten folgen und das
Beatmungsgerät abstellen?“
Georg Marckmann, LMU
29.07.2016
#4
Leitfrage: Was soll ich tun?
technisch
evaluativ
moralisch
Kann eine PEG bei
Demenz eine
Aspirationspneumonie
verhindern?
Dient die PEG dem
Wohlergehen eines
Demenzpatienten?
Ist die vorausverfügte
Verweigerung einer
PEG bei Demenz zu
respektieren?
Naturwissenschaften/
Medizin
Strebensethik
Evaluative Ethik
Sollensethik
Normative Ethik
Abhängig von
wissenschaftlicher
Evidenz
Abhängig von
Vorstellungen des
guten Lebens
(Pluralität)
Allgemeine
Verbindlichkeit
 Ärztlich-pflegerische
Expertise
 Individuelle
Patienten-Präferenzen
 Oft rechtliche
Regulierung
Georg Marckmann, LMU
29.07.2016
5
Ethische Theorien
Ethische Theorie  allgemeine Kriterien für
• Moralisch Richtig und Falsch
• Gut und Böse
• Gerecht und ungerecht
Utilitarismus
• „Diejenige Handlung ist moralisch richtig, die das
Wohlergehen aller Betroffenen maximiert.“
 Prinzip der Nutzenmaximierung
Kantische Ethik
• „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich
wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
[GMS]
 Universalisierungs-Test (Kategorischer Imperativ)
Georg Marckmann, LMU
29.07.2016
#6
Das „moralische Ereignis“
(nach Pellegrino)
Handlungssubjekt
Handlung
Folgen
Theorie
Tugendethik
Deontologische
Ethik
Konsequentialistische Ethik
Fokus
CharakterEigenschaften
Pflichten
(Regeln Gebote)
Ergebnisse,
Nutzen/Schaden
Beispiele
Wahrhaftigkeit,
Einfühlungsvermögen,
Vertrauenswürdigkeit
Selbstbestimmung
des Patienten
respektieren;
Leben erhalten
Chemotherapie:
mehr Nutzen als
Schaden für den
Patienten?
Georg Marckmann, LMU
29.07.2016
7
Entwicklung der
Medizinethik
Traditionelle Medizinethik: professionsinterne Regelung für das
Verhalten von Ärzten („ärztliches Ethos“)
Hippokratischer Eid
•
•
•
Urspr.: 4. Jhdt. v. Chr. in pythagoräischer Ärztegruppe
Z.B.: Patient nutzen und nicht schaden, Schweigepflicht
Historisches Dokument, kein aktuell verbindlicher Moralkodex!
Neue Entwicklungen seit 1950:
•
•
•
•
•
Medizinisch-technischer Fortschritt (v.a. Intensivmedizin)
Pluralisierung von Wertüberzeugungen
Akzentuierung der Patientenautonomie (v.a. durch Rechtssystem!!)
Akademisierung der Medizinethik (USA seit 1970, D seit 1995)
Medizinethik ist nicht auf ärztliche Ethik beschränkt!!
Georg Marckmann, LMU
29.07.2016
#8
Medizinethik als
normative Ethik
Was ist moralisch richtig/falsch im medizinischen Bereich?
• Krankenversorgung (Behandlung & Pflege), Forschung,
Gesundheitssystem
Normative Ethik  Begründung  ethische Theorie
3 Herausforderungen der angewandten Ethik:
(1) Pluralismus ethischer Theorien
(2) Abstraktionsgrad ethischer Theorien
(3) Berücksichtigung verschiedener moralischer Aspekte
erforderlich: Verpflichtungen, Handlungsfolgen, Haltungen
Alternativmodell: Kohärentistische Ethikbegründung
• Keine umfassende Moraltheorie, kein oberstes Moralprinzip
• Ausgangspunkt: gelebte moralische Praxis
• Sog. prinzipienorientierte Ethik / „principlism“
Georg Marckmann, LMU
29.07.2016
#9
Kohärentistische
Ethikbegründung
Wohl überlegte moralische Urteile
Revision
Rekonstruktion
„ÜberlegungsGleichgewicht“
Mittlere Prinzipien
Interpretation
Gewichtung
KohärenzPrüfung
Revision
Einzelfall
Georg Marckmann, LMU
29.07.2016
# 10
Kohärentistische
Ethikbegründung
Wohl überlegte moralische Urteile
Der Patient soll eine lebensverlängernde Therapie erhalten
Revision
Rekonstruktion
Mittlere Prinzipien
Leben erhalten
Wohlergehen
fördern
Interpretation
Gewichtung
KohärenzPrüfung
Revision
Verpflichtung „Leben
erhalten“ entfällt
Einzelfall
Leidender Patient in Endphase
einer unheilbaren Erkrankung
Georg Marckmann, LMU
29.07.2016
# 11
Kohärentistische
Ethikbegründung
Wohl überlegte moralische Urteile
Revision
Rekonstruktion
Wohltun/Nutzen
Nichtschaden
Mittlere Prinzipien
Interpretation
Gewichtung
Respekt der
Autonomie
Gerechtigkeit
KohärenzPrüfung
Revision
Einzelfall
Georg Marckmann, LMU
29.07.2016
# 12
Medizinethische
Prinzipien (1)
Prinzip des Wohltuns / Nutzens („beneficence“)
• „salus aegroti suprema lex“
• Dem Patient nutzen (aktiv)
• Gesundheitlichen Schaden verhindern oder beseitigen
 Lebenserwartung + Lebensqualität verbessern
• Problem: Bewertung der Lebensqualität  evaluative
Vorstellungen des guten Lebens
Prinzip des Nichtschadens („nonmaleficence“)
• „primum nil nocere“
• Dem Patient keinen Schaden zufügen (passiv)
Häufig: Abwägung Nutzen - Schaden
Georg Marckmann, LMU
29.07.2016
# 13
Medizinethische
Prinzipien (2)
Respekt der Autonomie
• Selbstbestimmungsrecht des Patienten
• Freiheit von äußerem Zwang und manipulativer
Einflussnahme (negativ)
• Förderung der Entscheidungsfähigkeit, Unterstützung der
Entscheidungsfindung (positiv)
• „Informed consent“ (informierte Einwilligung):
Ein informiertes Einverständnis liegt vor, wenn der Patient
–
–
–
–
–
Georg Marckmann, LMU
ausreichend aufgeklärt worden ist,
die Aufklärung verstanden hat,
freiwillig entscheidet,
dabei entscheidungskompetent ist und
seine Zustimmung gibt.
29.07.2016
# 14
Medizinethische
Prinzipien (3)
Prinzip der Gerechtigkeit
• Faire Verteilung von Nutzen und Lasten im
Gesundheitswesen
 Verteilungsgerechtigkeit
• Herausforderung: Was ist eine gerechte Verteilung?
• Formales Gerechtigkeitsprinzip:
„Gleiche Fälle sollten gleich behandelt werden, und
ungleiche Fälle sollten nur insofern ungleich behandelt
werden, als sie moralisch relevante Unterschiede
aufweisen.“
• Allgemeines Gebot: „verantwortungsvoller“ Umgang mit
knappen medizinischen Ressourcen
– Nur die wirklich notwendigen Maßnahmen durchführen
– Kostengünstigere Alternativen nutzen
Georg Marckmann, LMU
29.07.2016
# 15
Von der ethischen Theorie
zur medizinischen Praxis
Leitfrage in der Praxis: „Was sollen wir tun?“
 Prinzipien: definieren ethische Verpflichtungen gegenüber dem
Patienten und gegenüber Dritten
 Grundlage für die ethische Begründung einer medizinischen
Entscheidung
Fallbesprechung: Systematische Abklärung der ethischen
Verpflichtungen anhand der Prinzipien
 prinzipienorientierte Falldiskussion
Anwendung der Prinzipien
(1) Fallbezogene Interpretation
• Wohlergehen eines Wachkomapatienten? Wille bei Demenz?
(2) Gewichtung im Konfliktfall
• Patientenwunsch nach einer Therapie mit ungünstigem NutzenRisiko-Profil
Georg Marckmann, LMU
29.07.2016
# 16
Zum Schluss...
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Literatur:
Marckmann G. Grundlagen
ethischer Entscheidungsfindung in
der Medizin. In: Marckmann G
(Hg.) Praxisbuch Ethik in der
Medizin. Berlin: Medizinisch
Wissenschaftliche
Verlagsgesellschaft 2015, S. 3-14.
Georg Marckmann, LMU
29.07.2016
# 17
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