Szenarien einer zukünftigen Gesundheitsversorgung – Faktoren der Bedarfsänderung und Folgen für das Angebot an Versorgungsleistungen: Ethische Sicht Georg Marckmann Universität Tübingen Institut für Ethik und Geschichte der Medizin Symposium Ausbildung für die Gesundheitsversorgung von morgen Stuttgart, 10. Juni 2010 Gliederung Entwicklungstendenzen in der Gesundheitsversorgung Individualethische Herausforderungen Anforderungen an die Ausbildung der Gesundheitsberufe Gerechtigkeitsethische Herausforderungen Anforderungen an die Ausbildung Medizintheoretische Herausforderungen Anforderungen an die Ausbildung Stuttgart, 10.06.10 Georg Marckmann, Universität Tübingen 2 Entwicklungstendenzen Medizinische Innovationen Erweiterte Diagnose & (Be-)Handlungsmöglichkeiten Steigende Lebenserwartung + niedrige Geburtenraten Alterung der Bevölkerung Chronisch-degenerative Erkrankungen, Multimorbidität Interaktion zw. medizinischen Innovationen & demographischem Wandel Steigender Versorgungsbedarf steigende Gesundheitsausgaben bei sinkenden Einnahmen Zunehmender ökonomischer Druck Beispiel: Onkologische Therapien Zunehmende Inzidenz im höheren Alter Neue innovative Therapien mit sehr hohen Kosten und z.T. begrenztem Nutzen (Überlebensvorteil von wenigen Monaten) Stuttgart, 10.06.10 Georg Marckmann, Universität Tübingen 3 Individualethische Herausforderungen Erweiterte Eingriffsmöglichkeiten Ethische Ambivalenz der Handlungsoptionen Ethische Abwägungen Wissen über genetische Krankheits-Dispositionen Angemessener Umgang?? ( Risikofaktoren-Medizin) Verbesserte, erweiterte pränatale Diagnostik (später) Schwangerschaftsabbruch? Chronisch-degenerative Erkrankungen mehr einwilligungsunfähige Patienten gesundheitliche Vorsorgeplanung (Patientenverfügung) Erweiterte intensivmedizinische Eingriffsmöglichkeiten inklusive (Multiorgan-Transplantationen) Abwägung von Lebenszeit vs. Lebensqualität Frage: Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen? Kontext: (zunehmende) Pluralität von Wertüberzeugungen & Lebensstilen Stuttgart, 10.06.10 Georg Marckmann, Universität Tübingen 4 Anforderungen an die Ausbildung Schulung der ethischen Sensibilität & Urteilsfähigkeit des Gesundheitspersonals 2 Ebenen ethischer Reflexion Was soll ich tun? Sollens-Ethik Wie will ich leben? Strebens-Ethik [Patientenperspektive!] Nur durch Einübung in kleinen Gruppen anhand von konkreten Fallbeispielen möglich! Interdisziplinäre, berufsgruppenübergreifende ethische Fallbesprechungen Schulung der Kommunikation & Kooperation zwischen den verschiedenen Gesundheitsberufen Schulung des Patienten-Gesprächs Einfühlsame Aufklärung und Unterstützung der Entscheidungsfindung des Patienten („Strebens-Ethik“) Schulung der gesundheitlichen Vorsorgeplanung als kommunikativen Prozess Stuttgart, 10.06.10 Georg Marckmann, Universität Tübingen 5 Gerechtigkeitsethische Herausforderungen Zunehmende Diskrepanz zwischen medizinisch Möglichem & solidarisch Finanzierbarem Ethisch vertretbare Grenzen setzen Ethisch zu bevorzugen: explizite Leistungsbegrenzungen Gesundheitsberufe entlasten Nicht flächendeckend möglich Gesundheitspersonal muss im Einzelfall Verantwortung für Kostendimension der Entscheidungen übernehmen Bei Rationalisierung: Konvergenz mit traditionellem Berufsethos (Wohltun & Nichtschaden, Respekt der Autonomie individualethischer Therapieverzicht) Konflikte mit traditionellem Berufsethos: Maßnahmen mit geringem Grenznutzen bei hohen Grenzkosten unterlassen (Gerechtigkeit sozialethischer Therapieverzicht) Wichtig: Prozedurale Vorgaben! Stuttgart, 10.06.10 Georg Marckmann, Universität Tübingen 6 Anforderungen an die Ausbildung Kenntnisse der gerechtigkeitsethischen Dimensionen von Entscheidungen in der Gesundheitsversorgung Kenntnisse der evidenzbasierten Medizin Abschätzung von Nutzens- und Schadenspotenzialen Grundkenntnisse Gesundheitsökonomie & gesundheitsökonomische Evaluationen Interpretation gesundheitsökonomischer Literatur Entwicklung und Schulung eines „ethischen Kostenbewusstseins“ Prozedurale Anforderungen fairer Entscheidungen (u.a. Transparenz, Konsistenz, Evidenzbasierung) Inhaltliche Kriterien einer gerechten Zuteilung: Bedürftigkeit, erwarteter Nutzengewinn, Kosten-Nutzen-Verhältnis Instrumente zur Unterstützung der Entscheidungsfindung kennen lernen (z.B. Kosten-Fallbesprechungen) Stuttgart, 10.06.10 Georg Marckmann, Universität Tübingen 7 Medizintheoretische Herausforderungen Medizintheorie = Theorie der medizinischen Praxis Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie Z.B.: Konstruktivität von Wahrnehmung Bio-psycho-soziales Modell Integration der verschiedenen Teilsichten zu einem umfassenden Bild des Menschen Leib-Seele-Problem Z.B.: Bedeutung des Neuroimaging für das Selbstverständnis des Menschen Definitionen von Gesundheit und Krankheit Genetische Erkrankungsdisposition = krank? Grenze zwischen Krankheitsbehandlung und Enhancement Anforderung: Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundlagen/Fragen der Medizin Stuttgart, 10.06.10 Georg Marckmann, Universität Tübingen 8 Zusammenfassung Medizinische Innovationen + demographischer Wandel ethische + medizintheoretische Herausforderungen Individualethisch Wohlergehen & Wille des einzelnen Patienten Gerechtigkeitsethisch faire Verteilung knapper Gesundheitsressourcen Perspektiven zur Umsetzung in der Ausbildung V.a. Kleingruppen-Unterricht Problem- bzw. fallorientiert: Schulung der ethischen Sensibilität und Urteilsfähigkeit Interdisziplinäre & berufsgruppenübergreifende Veranstaltungen Förderung der selbstständigen Reflexion Selbststudium alleine & in Gruppen Erheblicher Reformbedarf (v.a. Lehrkapazität!) Stuttgart, 10.06.10 Georg Marckmann, Universität Tübingen 9