Magisterarbeit

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MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
1
- JANINE CHRISTGEN
Die Rezeption der „Winterreise“ von Franz Schubert in der Moderne.
Hans Zenders komponierte Interpretation
I Problemstellung und Zielsetzungen
3
II Das Sujet 4
1 Überlegungen zur Überzeitlichkeit ...................................................................................... 4
2 Von aufkeimendem Subjekt- zum Selbst-bewusstsein ........................................................ 5
3 Wenn die Heimat zur Fremde wird - Müllers „Winterreise“ ............................................... 7
A Die real lokale Entfremdung ............................................................................................ 8
B Die Selbstentfremdung................................................................................................... 10
C Sinn- und Zielkonfiguration ........................................................................................... 11
D Kommunikation in der Isolation .................................................................................... 17
4 „Der epochale Winter“ - Bestimmungen zur Diskursbreite............................................... 17
5 Die Determination der Moderne durch die Winterreisethematik....................................... 20
III Bedingung und Notwendigkeit von Interpretation 23
1 Krisenerfahrung und Genese der Interpretationsnotwendigkeit ........................................ 23
2 „Lebendige Interpretation“ ................................................................................................ 24
3 Musik lesen: Zeichensysteme - oder Musik als Sprache ................................................... 25
A Musik im Fluss .............................................................................................................. 25
B Musikalische Zeichen .................................................................................................... 26
C Interpretation von Zeichensystemen .............................................................................. 28
4 Gründe der und Wahrheitsgehalt von Interpretation ......................................................... 36
A Die Verantwortung des Interpreten ............................................................................... 36
B Das Erwachsen der Verantwortung ............................................................................... 37
C Die Implikate der Verantwortung .................................................................................. 38
5 Die Rolle des Rezipienten .................................................................................................. 40
IV Zenders komponierte Interpretation 42
1 Wege zu Zender ................................................................................................................. 42
A Die Transkriptionen Liszts ............................................................................................ 42
B Die „Winterreise“ Bredemeyers .................................................................................... 43
C Die Rezeption Döhls ...................................................................................................... 45
D Das „Experiment“ Rühms.............................................................................................. 46
2 „Lecture“ als Vermittlung einer „verlorenen“ Sprache – Zenders Weg zu Schubert ........ 47
3 Schubert und Zender - Gemeinsamkeiten und Divergenzen ............................................. 48
A Zyklusbildung und Tonartendisposition ........................................................................ 48
B Die Bedeutung von und der Umgang mit den Tongeschlechtern .................................. 51
C Onomatopoesie und Stimuli – Textausdeutung durch Malerei...................................... 54
D Die Bewegungen der Musiker ....................................................................................... 58
4 Analyse einzelner Aspekte ausgewählter Lieder ............................................................... 62
5 Schubert, Zender, Neumeier – Treffpunkt Zukunft? ......................................................... 77
VI Schlussbetrachtung
79
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
2
Literaturverzeichnis
- JANINEVII
CHRISTGEN
VIII
Anhangverzeichnis
IX
Anhang
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
3
Problemstellung und Zielsetzungen
- JANINEICHRISTGEN
„Der Mensch lebt überall noch in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der
Welt, als einer Rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende und sie beginnt
erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die
Wurzel der Geschichte aber ist der [...] schaffende, die Gegebenheiten überholende Mensch. Hat er sich
erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung [...] begründet, so entsteht in der Welt etwas,
das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war, Heimat.“1
Ernst Bloch thematisiert in seinem Hauptwerk „Prinzip Hoffnung“ die Vorstellung, dass die
Menschheit erst nach Krisenerfahrung und Durchleben einer aus ihr resultierenden
Entwicklung einen Zustand erreicht, der sich als wahrhaftige Heimat erweist. Heimat muss
erarbeitet werden. In diesem Prozess offenbaren sich wesentliche Gesichtspunkte, die im
Sujet der „Winterreisen“ verankert sind und sich auf ihre überzeitliche Verbreitung und ihren
allgemein anthropologischen Grundgedanken beziehen. Die Entfremdung des Menschen, die
Dezentrierung des Subjekts, die Solipsie2, die Heimatlosigkeit als grundlegende
Eigenschaften der menschlichen Gesellschaft. All diese Faktoren, die für Bloch der
Überwindung bedürfen, der Transformation ihrer negativen Vorzeichen in die konstruktive
Formierung eines neuen heimatlichen Gefüges, erscheinen als zentrale Botschaften der
„Winterreise“ und begründen gerade auch ihre fortwährende Rezeption.
In dieser Arbeit sollen diese konstitutiven Faktoren der „Winterreise“ herausgearbeitet
werden. Dabei wird zunächst der literarische Kontext betrachtet und anhand dessen aufgezeigt
werden, wie die Überzeitlichkeit des Sujets zu immerwährender Transformation desselben
anregte und gerade auch in der Sprachkrise der Moderne zu fassen ist. Ausgehend von dieser
Problematik soll erläutert werden, wie die Sprachfähigkeit von Texten in einer immer
heterogener werdenden Gesellschaft zurückgewonnen werden kann. Wie können Texte, und
dies inkludiert hier auch gerade die musikalischen Texte, die Notation, von „Abnutzung“
befreit und in ihre existentielle Wirksamkeit zurückübersetzt werden, so dass ihr
ursprünglicher Ausdrucksgehalt wiederhergestellt und die Modernität und immense
Aussagekraft, die gerade in der Schubertschen „Winterreise“ zu finden sind, hervortreten?
Eben diese Gedankengänge beschäftigen Hans Zender. Durch Erläuterungen seiner
zahlreichen Texte soll diese Problematik eingehend untersucht werden. Schließlich wird die
praktische Umsetzung der theoretischen Grundlegungen Zenders anhand seiner komponierten
Interpretation der Schubertschen „Winterreise“ darzustellen sein. Zudem sind die Vorläufer
1
2
Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, S. 1628.
Solipsie: Vereinsamung des Subjekts, dadurch, dass das Ich seine eigenen Bewusstseinsinhalte als einzig
Wirkliche gelten lässt und alle Erscheinungen der Außenwelt nur als dessen Projektionen betrachtet.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
4
- JANINEfür
CHRISTGEN
Zenders Arbeit zu untersuchen und gleichfalls herauszustellen, in welcher Weise sein
Werk und dessen Rezeption Schuberts „Winterreise“ einen Weg in die Moderne ebnet.
II Das Sujet
1 Überlegungen zur Überzeitlichkeit
„Ein geistiger Gegenstand ist eben dadurch >bedeutend<, dass er über sich hinausweist, dass er
Ausdruck und Exponent eines Geistig-Allgemeineren ist, einer ganzen Gefühls- und Gesinnungswelt,
welche in ihm ihr mehr oder weniger vollkommenes Sinnbild gefunden hat, - wonach sich der Grad
seiner Bedeutung bemisst.“3
Diese Gedanken Hans Castorps spiegeln, im Kapitel „Die Fülle des Wohllauts“ in Thomas
Manns „Zauberberg“, seine Beschäftigung nicht nur mit dem Lied „Der Lindenbaum“ aus
Schuberts „Winterreise“, auf welches dieses Zitat explizit bezogen ist, sondern lassen darüber
hinaus dessen Erfahrung von Schichten subjektiven und objektiven Ausdrucks in diesem
Werk hervortreten. Das Lied „Der Lindenbaum“ wird in seiner Bedeutungshaftigkeit zum
Pars pro Toto für die „Winterreise“ und deren Relevanz im literarischen und
interdisziplinären Diskurs. Gerade die „Winterreise“ scheint in besonderem Maß über sich
hinauszuweisen. Scheint eben jenes Allgemeine in ihrem Ausdruck zu fassen, das nicht an
Zeit und Ort gebunden ist. Strahlend von immerwährender überzeitlicher Präsenz und
gleichzeitig signifikanter Konstituens im Leben jedes einzelnen neuzeitlichen Individuums.
Sich verschränkende Ambivalenz aus der Geschichte enthobener Überzeitlichkeit eines
Kollektiven und subjektiver Betroffenheit. „Beide hier angesprochenen semantischen Ebenen
erlauben eine kontinuierliche Aktualisierung dieser Texte, wie sie vor allem über die Begriffe
„fremd“, „Fremde“, „Entfremdung“, „Ausgrenzung“, „Heimatlosigkeit“ gerade heute mit
trauriger Gewissheit erfolgreich durchführbar ist.“4 Ist es dies, das die ewige Aktualität, diese
Omnipräsenz des Stoffes ermöglicht? Wo liegen die Wurzeln einer solchen Konfiguration und
worin ihre Zukunftsträchtigkeit?
Aus diesem Grund soll zunächst die Entwicklung des Winterreisestoffes erörtert und dabei
aufgezeigt werden, wie dieser sich im Wandel der Epochen doch gleichsam als konstanter
Ausdruck der menschlichen Bedürfnisse und Empfindungen durchhält. Sicher ist: das Thema
des Wanderns oder der Reise ist „eine menschheitsalte Tradition mit reichlichen
Verflechtungen zwischen homerischem Heimkehrmotiv, (christlicher) Lebensreise, Reisen
des Fernhandels wegen oder aus Neugier oder Bildungseifer, Geniereise, Vagieren und
3
4
Mann, Thomas: Der Zauberberg, S. 895-896.
Marsoner, Katrin: Tränen in und über Schuberts Winterreise, S. 297.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
5
- JANINEromantischen
CHRISTGEN
Wanderns.“5 Was aber zu einem spezifisch winterlichen Wandern veranlasst
und mit welchen soziologisch-evolutionären Bedingungen dieses verknüpft ist, soll im
Folgenden ebenso entwickelt werden wie die signifikanten Merkmale einer solchen Reise und
ihre Überzeitlichkeit.
2 Von aufkeimendem Subjekt- zum Selbst-bewusstsein
Die „Winterreisen“ nehmen literarisch betrachtet ihren Ausgangspunkt mit dem Gedicht
„Galathee“ von Martin Opitz, das 1625 in dem Buch der „Oden und Gesänge“ seiner
Deutschen Poemata erschien. Dieses poetische Regelwerk leitet er mit jenem Gedicht ein. Es
handelt sich dabei inhaltlich um die Liebesklage des Hirten Coridon. Von besonderem
Interesse ist hier jedoch nicht jenes Sujet, sondern die Art und Weise, wie dieses exponiert
wird. Schon in den ersten Versen, in denen Ort und Gegenstand seiner Betrübnis exponiert
werden, zeigen sich Merkmale, die für spätere Winterreisen grundlegend sein werden:
„Coridon, der ging betrübet / An der kalten Cimbersee / Wegen seiner Galathee“6. Dieses
Zitat weist bereits auf zwei konstitutive Merkmale hin: zum einen auf den Zustand des
Wanderns eines lyrischen Ichs, zum anderen auf die kalte und unwirtliche Landschaft. Hinzu
tritt noch eine weitere Besonderheit, welche sich in späteren Versen offenbart: „Also sang er /
dass die Wellen / Und das Ufer an der See / Galathee / O Galathee / Sämptlich [sic!] muste
wiederschellen“7
Hier zeigt sich, dass der Schmerz des Hirten einen Konterpart in der Natur findet. Die triste
Landschaft spiegelt seine Gefühlslage. War es besonders in der mittelalterlichen Dichtung
üblich, Erquickung und Ruhe mit dem Topos des Locus Amoenus zu verknüpfen, so scheint
sich hier jener Ort in sein Gegenteil verkehrt zu haben, zum Locus Desertus geworden zu
sein. Für diese Konfiguration lassen sich jedoch Vorbilder finden. „Der rhetorische Rahmen,
die Topothesie einer Landschaft, die zur Gemütslage des Sängers passt, und die
Schäfernamen der beteiligten Personen sind der Tradition der bukolischen Liebesklage
entnommen.“8 Ungewöhnlich erscheinen hingegen „die recht genauen geographischen
Angaben, die dem Leser den Nachvollzug der winterlichen Reise ermöglichen; wie die lokale
und jahreszeitliche Situation sind sie nur aus biographischen Umständen verständlich.“9 Diese
Umstände sollen hier jedoch nicht weiter erörtert werden. Ziel ist es, nicht Opitz´ individuelle
5
Waniek, Erdmann: Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 147.
Opitz, Martin: Gesammelte Werke. Bd.II, 2, S. 654-659.
7
Opitz, Martin: Gesammelte Werke. Bd.II, 2, S. 654-659.
8
Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 231.
9
Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 231.
6
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
6
- JANINEMotivationen
CHRISTGEN
zur Entstehung einer Winterreisesituation zu klären, sondern festzustellen, dass
„die Produktion literarischer Winterreisen von den Empfindungen eines autonomen Subjekts
und der Fähigkeit zu ihrer Artikulation abhängig ist. [...] Innerlichkeit und Rückbezug auf die
eigene psychische Verfassung erscheinen als notwendige Prämissen.“10 Individualität und
subjektives Bewusstsein aber sind basale Merkmale der Neuzeit. Im Mittelalter wäre eine
subjektive Zentrierung undenkbar gewesen, da sich Künstler als Werkzeuge Gottes
betrachteten und kein Verständnis individueller Einzigartigkeit ausbildeten. Erst in der
Renaissance entwickelte sich ein solches, auf den schaffenden einzelnen Menschen hin
konzentriertes Weltbild. Doch auch diese Vorstellung von Individualität greift in Bezug auf
Selbstbild und Selbstverständnis von Winterreiseautoren zu kurz. Das Subjekt muss erst den
Weg durch die Selbsterkenntnis des Ichs, als denkendem Wesen descartesischer Provenienz 11
nehmen. Es muss sich seiner selbst bewusst werden, zu sich kommen, „selbst-bewusst“ sein.
Die in sich gefestigte Persönlichkeit drängt euphorisch vorwärts in Revolution, Sturm und
Drang, erhebt sich gegen Grundfesten, die das neue subjektive Selbstbewusstsein
determinieren.
Zeigte sich bereits 1625 bei Opitz ein aufkeimendes individuelles Bewusstsein mit subjektiver
Ausdrucksfähigkeit, so nehmen die „Winterreisen“ im Folgenden mit der Autonomisierung
und Individualisierung zu.
1777 schreibt Goethe seine „Harzreise im Winter“. Es handelt sich hierbei um die winterliche
Besteigung des Brockens, die zur Zeit Goethes durchaus, gerade unter winterlichen
Bedingungen, abenteuerliche Züge aufwies. Das Subjekt als gegen die unwirtliche Natur
agierendes Vereinzeltes. Wenngleich auch hier wieder Bilder des Locus Desertus auftreten
und die kalte winterliche Natur den unterschwelligen Gemütsregungen des Subjekts Ausdruck
verleiht, so differenziert sich Goethes „Winterreise“ doch von jenen, die in den nachfolgenden
Jahren geschrieben werden sollen. Goethes Wanderer nämlich erklimmt den Brocken,
bezwingt die unwirtliche Natur und steht göttergleich - wie Prometheus - am Ende der Reise
siegreich da. Der beschwerliche Weg hat das Subjekt schließlich in seinen persönlichen
Fähigkeiten bestärkt. Der Wanderer trägt einen individuellen Gewinn davon. Dieses Sturm
und Drang - Denken, dieses unerschütterliche Selbstbewusstsein aber schwindet mit
verlustreichen
Revolutionen,
Restaurationssystemen
Zurückdrängung persönlicher Individualität.
10
11
Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 230.
Vgl.: Descartes, René: Meditationes de prima philosophia. S. 40-61.
und
der
erneuten
staatlichen
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
7
- JANINEEntstand
CHRISTGEN
die Winterreisethematik grundlegend aus der Emanzipation des Individuums
gegenüber Kirche und Staat als den bisherigen Ordnungssystemen, so zeigen sich nun auch
die negativen Faktoren, die mit einem solchen Individualisierungsprozess einhergehen. Zum
einen bedeutet die Absage an die Orientierungseinheiten Kirche und Staat individuelle
Autonomie und neue künstlerische Freiheit, wodurch eine normative Ethik als Abbild
staatlicher Ordnung an Relevanz verliert, zum anderen aber bedingen die gleichen Faktoren
den Verlust eines zentrierten Weltbildes. Die Absage an norm- und orientierungstiftende
Systeme wirft das Subjekt in eine Welt, in der es sich seine individuelle Daseinsberechtigung
erst selbst setzen muss, sich seinen Sinn von Welt erschließen und konstituieren muss. Umso
schwieriger erscheint eine solche Konfiguration unter dem Gesichtspunkt einer gescheiterten
Revolution und eines restaurativen Systems, wie es sich für Müller und Schubert in der
Metternich Ära darstellt. Das Bürgertum sucht seine Daseinsberechtigung und Bestätigung in
der Ausbildung wirtschaftlicher Macht als Pendant zu verwehrter politischer Aktivität.
Andererseits strebt es nach Zuflucht in Intellektuellenkreisen, die, getroffen von der ihnen
verweigerten politischen Macht und der zensurbedingten Unfähigkeit zur Artikulation,
Bildung und Rückzug in die Innerlichkeit als einzig mögliche Antwort auf die Gegebenheiten
der zeitpolitischen Umstände begreifen. Folge eines Rückzugs in und auf die eigene Person
kann zu Resignation, Isolation, Vereinzelung und dem Gefühl von Fremdheit führen. Diese
Konfiguration, das Überfordertsein und Fremdsein, welches das Ich von der Welt separiert,
findet in entscheidendem Maße Niederschlag in der Winterreisethematik.
Der einsame Wanderer in der öden, kargen und unwirtlichen winterlichen Landschaft, der
sich nicht artikulieren kann (oder auch nicht darf, wie im restaurativen Zensursystem).
Kommunikationsloses Umherirren,
das
sein
Pendant
in
Naturphänomenen
findet.
Zurückgeworfen auf sich, krankt das Individuum an solipsistischer Gemütshaltung.
3 Wenn die Heimat zur Fremde wird - Müllers „Winterreise“
Konstitutiv für die „Winterreise“ von Wilhelm Müller ist die Divergenz von Heimat und
Fremdsein. Es ist ein spezifisch dichotomisches Verhältnis, das sich nicht nur auf einer
äußeren Ebene, sondern auch in der Konstitution des lyrischen, wandernden Ichs zeigt. Zum
einen also entfernt sich der Wanderer real von einem Ort, der ihm vielleicht (doch auch dies
scheint unsicher) einmal Heimat und Zufluchtstätte gewesen ist. Zum anderen wird der
Wanderer sich selbst fremd, es kommt zur Selbstentfremdung des Subjekts. Die „Winterreise“
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
8
- JANINEMüllers
CHRISTGEN
offenbart folglich wesentlich existentiellere Züge, als dies den vorangehenden
„Winterreisen“ zuzuschreiben gewesen wäre.
A Die real lokale Entfremdung
Der Wanderer zieht durch eine kalte, unwirtliche Winterlandschaft, durch einen Locus
Desertus, vielleicht auch einen Locus Terribilis, einen schrecklichen oder gar unheimlichen
Ort. Unheimlich auch deshalb, weil ihm die einzelnen Naturphänomene keinen verbindlichen
Sinnzusammenhang erschließen. Was sagt ihm die Stimme der Natur, die sich ihm „im
heulenden Sturm, im Rauschen des Lindenbaums, im krachenden Eis, im Flackern des
Irrlichts“12
und
anderen
onomatopoetischen
Bildern
zeigt?
Interessant
ist,
dass
Unheimlichkeit und Fremdsein für Freud in einem engen semantischen Bezug stehen. In
seinem Aufsatz über das „Unheimliche“ legt er diese Beobachtung dar.
Die Provenienz des Unheimlichen aus heimatlichen Strukturen
Zunächst klärt Freud die volksläufige Bedeutung des Begriffs „unheimlich“ auf. Er stellt fest,
das Wort „unheimlich“ stehe offenbar dem Heimlichen, Heimischen und Vertrauten divergent
gegenüber und der Schluss liege nahe, etwas habe eben darum eine unheimliche Wirkung,
weil es nicht bekannt und vertraut sei.13 Von dieser Begriffsdefinition nimmt Freud jedoch im
Folgenden Abstand. Er bestimmt die Konnotation des Wortes schließlich mehr im
Schlegelschen Sinn als all Jenes, das geheim oder verborgen bleiben solle, aber dennoch
hervorgetreten sei. Der Begriff des „Unheimlichen“ stelle nämlich keinen Gegensatz zum
„Heimischen“ dar, sondern gehe vielmehr aus diesem hervor.14 Daher folgert Freud, dass
„heimlich ein Wort [ist], das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es
endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art
von heimlich.“15
Dieser Ansatz der Ambivalenz des Heimatbegriffes, der gleichzeitig „Unheimlichkeit“
respektive „Un-Heimischkeit“ zum Ausdruck bringt, lässt sich auch auf der Hegelschen
Ästhetik basierend aufbauen. „Das Fremde tritt in seinem verhüllenden Dunkel der
aufgehellten und normativen Schönheit [...] als etwas Bedrohliches, sie in ihren Grenzen
irritierendes gegenüber. Zugleich differiert es von der verlockenden Ferne: der
12
Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 236.
Vgl. Freud, Siegmund: Das Unheimliche, S. 231.
14
Vgl. Freud, Siegmund: Das Unheimliche, S. 236.
15
Freud, Siegmund: Das Unheimliche, S. 237.
13
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
9
- JANINEVerunendlichung
CHRISTGENdes Fremden im Fernen, wo das Fremde seinen Schrecken verliert und sich
mit dem Absoluten berührt,“16 sich Fremdes und Bekanntes assimilieren. Diese Vorstellungen
Hegels basieren auf jener dialektischen Konzeption, welche er auch in der „Phänomenologie
des Geistes“, sowie in der „Wissenschaft der Logik“ darlegt. Sein und Wesen, Ich und NichtIch werden dadurch vermittelt, dass sie sich vom jeweils anderen durch ihre Andersartigkeit
unterscheiden und gerade durch dieses Abstoßen und Differenzieren ihre eigene Identität
finden. Durch das bewusste Setzen der eigenen Negativität entsteht zunächst eine scheinbar
unüberwindbare Divergenz. Es zeigt sich aber, dass gerade der Gang durch die Negativität,
durch das Anderswerden überhaupt erst Identität und Selbstgewissheit entstehen können. Die
eine Seite bedingt ihr negatives Gegenüber ebenso wie sich dies auch von der anderen Seite
zeigt. So kann „Heimischkeit“ nicht ohne Fremde gedacht werden, da Heimat sich durch die
bewusste Abwesenheit des Fremden setzt. Diese notwendige Konfiguration des sich
immerwährenden Fügens von An- und Abwesendem zeigt die Dichotomie von Divergenz und
Konvergenz. Dennoch muss eingeräumt werden, dass es sich hier nicht um ein
selbstreflektiertes, bewusstes Verhältnis der divergenten Seiten handelt. Eher stehen sich die
gegenseitig bedingten Verhältnisse unvermittelt gegenüber. Sie sind sich der gegenseitigen
Bedingtheit nicht bewusst, empfinden sich nicht als aus dem jeweilig anderen entsprungen
und stehen sich somit als Negativa gegenüber. Daher erscheint die Fremde in Müllers
Gedichten nicht in der Nähe zur Heimat, sondern zeigt sich gerade als deren Gegenteil,
welches unvermittelbar mit dem positiven Heimatgefühl kollidiert. Wenngleich sich also
Fremde aus Heimat oder besser gesagt deren Abwesenheit konstituiert, so kann der Wanderer
diese Fremdheit doch nicht überwinden, da er die Verbindung zur heimatlichen Struktur nicht
herstellen kann und so im philosophischen Sinn nicht in der Lage ist, die polarisierenden
Seiten auszusöhnen.
Dennoch lässt sich festhalten, dass, so antonym sich also Fremde und Heimat auch entgegen
zu stehen scheinen, doch eines aus dem anderen zu entwickeln ist.
Was bedeutet dies nun für die Wanderung in die Fremde?
Unheimlich war nach Freud eben als das nicht mehr Heimische bestimmt worden. Aus
vormaliger
Heimat
ist
eine
unwirtliche
Landschaft
geworden,
die
nur
noch
Fremdheitsstrukturen aufscheinen lässt. Der Wanderer ist, wie er selbst sagt, aus „törichtem
Verlangen“17 zum Wandern getrieben. Er durchzieht „planlos-zwanghaft“ die Landschaft wie
16
17
Zitiert nach: Zenck, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 141.
Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 38.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
10
- JANINEein
CHRISTGEN
„Heimatloser, dessen Fremdheit von Anfang an außer Zweifel steht.“18 Irgendwann hat
sich die Landschaft um ihn herum verkehrt und ist zur fremden Einöde geworden. Ziel der
Wanderung ist die Konstitution einer neuen Heimat, fester Strukturen, die wieder Halt im
Leben bieten. Doch der Ausweg scheint fern. Fremde wird eben als negatives Moment der
Heimat erfahren, die dichotomischen Wurzeln aber nicht erkannt. „Fremd bin ich eingezogen,
fremd zieh ich wieder aus“19 postuliert der Wanderer bereits zu Beginn und lässt daher gleich
auf die tiefe, einschneidende Fremdheitserfahrung blicken, die mit seiner erzwungenen
Wanderschaft einhergeht.
B Die Selbstentfremdung
Wie stellt sich nun infolgedessen das Verhältnis des Wanderers zu seinem eigenen Ich dar?
Der Wanderer ist von sich selbst in gleicher Weise entfremdet, wie ihm die ihn umgebende
Landschaft fremd geworden ist. So, wie sich die Heimat in ihr dialektisches Gegenteil
verkehrt hat, so ist die Ich-Identität einer Nicht-Identität gewichen. Obwohl beide, wie zuvor
erläutert, gleichen Wurzeln entstammen, stehen sich die divergenten Seiten in der
„Winterreise“ letztendlich doch unvermittelt gegenüber. Es gibt keine übergeordnete
Auflösung der Divergenz in einem Absoluten, wie dies Hegel in der „Wissenschaft der
Logik“ als letzte Vermittlungsstufe darstellt. Es handelt sich eben nicht um das freie Scheinen
der negativen Bestimmtheiten ineinander, sondern um das „blinde Übergehen der
Notwendigkeit“.20 Die Seiten werden vermittelt, ohne dass die Notwendigkeitsstruktur
Transparenz erlangt. Dies gerade ist auch eine Konstituente, die zur Entfremdung des Ichs
von sich selbst führt. Es kann durch die Erfahrung seines Nicht-Ichs keine eigene Identität
mehr herstellen. Heimat, Natur und Geliebte werden dem Ich fremd. Die Fremde wird „nicht
erst noch erfahren, sondern in der Erinnerung im Traum verklärt und in der Realität verschärft
empfunden.“21 Die Entwicklung einer „Identität, welche sich durch das andere erst bildet,
indem sie fremdliche Impulse aufnimmt und dadurch erst zu sich selbst kommt, zu einer
Nicht-Identität, in der alle Spuren eines ursprünglich Identischen gelöscht sind, ist nun für
Schubert [...] zum Thema der Winterreise geworden.“22 Martin Zenk folgert in seinem
Aufsatz aus dieser Feststellung, dass das ästhetische Subjekt paradoxerweise in dem Maß an
Identität verliere, wie es anderes als sich selbst, also die Außenwelt, nicht mehr
18
Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 236.
Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S.18.
20
Hegel, G.W.F.: Wissenschaft der Logik, S. 217.
21
Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 143.
22
Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 143.
19
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
11
- JANINEwahrzunehmen
CHRISTGEN
im Stande sei und die Außenwelt schließlich mit ich-eigenen Projektionen
überziehe.23 Dieser Gedankengang ist bis auf das Wort „paradox“ folgerichtig und
nachvollziehbar. Warum sollte eine solche Konstellation paradox sein? Wendet man sich
wieder Hegels Theorien zu und überlegt, wie sich hier Selbstbewusstsein konstituiert, so klärt
sich das zunächst paradox Erscheinende auf. Das Subjekt kann nur in der Weise zu sich
finden, in der es fähig ist, sich ein negatives Gegenüber zu setzen und sich von diesem zu
differenzieren. Aus der Erfahrung der Negativität konstituiert sich die eigene Identität. Wird
die Außenwelt aus dem Erfahrungsraum ausgeschlossen, gelingt kein Gang durch die
Negativität mehr, wird kein selbstbewusstes Ich mehr durch Differenzerfahrung erschlossen.
Ein solipsistisches, vereinzeltes Individuum bleibt zurück, das sich selbst fremd ist und dies in
umso gesteigertem Maße wird, desto weniger eine reale negative Gegenübersetzung ihm die
Überwindung dieser Differenz ermöglicht. So überzieht der Wanderer schließlich die
Außenwelt mit eigenen Projektionen, schafft sich eine Welt des immerwährenden Winters, in
der sich sein eigenes Fühlen und Denken bildlich darstellt. Doch gerade diese Konstellation
beschreibt die solipsistische Vereinsamung besonders eindringlich. Für Georg Lukács ist die
„selbst geschaffene Umwelt für den Menschen kein Vaterhaus mehr, sondern Kerker.“24
Eingeschlossen in eine Welt der Fremdprojektionen kommt es zu der „Entfremdung des
Menschen von seinen Gebilden“25 und somit auch von sich selbst.
C Sinn- und Zielkonfiguration
Nun ist zu überlegen, welchen Sinn eine Reise oder Wanderung durch eine solche Landschaft
haben kann, oder viel pauschaler gefragt, welchen Sinn eine Wanderung überhaupt hat. Im
Folgenden sollen drei divergente Sinnkonnotationen diskutiert werden und aufgrund dessen
die Besonderheiten der Bedeutungsstruktur der Reisemetapher in der Winterreise Müllers
erschlossen werden.
Teleologie
Geht man von Reisen, auch literarischen, der Goethezeit aus, so dienen diese immer einem
höheren Ziel wie dem der Bildung. Diesen Reisen ist eine Teleologie eigen, die das Wandern
konstituiert und ihm Sinn gibt. In der Romantik wird „das Wandern zum lyrischen
23
Vgl.: Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 144.
Lukásc, Georg: Theorie des Romans, S. 55.
25
Lukásc, Georg: Theorie des Romans, S. 55.
24
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
12
26
- JANINEVolkssport.“
CHRISTGEN
Doch hat es sich grundlegend gewandelt; besonders bei Müller scheint eine
neue Dimension hinzugetreten zu sein.
Die Reise hat, wie dies bereits zuvor soziologisch und philosophisch erläutert wurde, kein
reales Ziel mehr. „Das Grundmuster der zeitlich beschränkten, zielorientierten Reise“27 wird
gebrochen. „Wandern ist nun sowohl Selbstzweck als auch Selbstausdruck. [...] Der
entscheidende Aspekt ist nicht mehr die Ankunft, wie sie es für alle Heimkehrer seit Odysseus
war. [...] Im prägnanten Moment des Aufbruchs bündelt, entfaltet und verklärt sich
romantisches Wandern.“28 Das Wandern ins Geheimnisvolle, ins Fremde steht im
Aussagezentrum.
Aber auch von dieser Vorstellung differenziert sich Müllers Wanderer. Dieser zieht
schließlich nicht erst in die Fremde, er wandert bereits als Fremder in der Fremde. Seine
ersten Verse belegen dies. Sie zeigen einen Menschen, dessen Wanderung nicht erst beginnt.
Hier begegnet dem Rezipienten keine Person, die mit Ziel und Hoffnung aufbricht, wohl eher
eine Gestalt, die schon einen Weg hinter sich gebracht hat und nun wandernd durchs Leben
zieht und keine Heimat findet, irre umherwandert ohne Grund und Ziel:
„Und ich wand´re sonder Maßen – ohne Ruh´, und suche Ruh´.“ (Der Wegweiser)29
Doch dies scheint nicht weiter erstaunlich, denn Müller nennt seinen Zyklus „Winterreise“.
Somit wird der positiv konnotierten Reise das negative Assoziationen auslösende Bild des
Winters zur Seite gestellt. So erscheinen „von vornherein Schatten der Skepsis, ob eine Reise
im Winter überhaupt glücken kann“30, über dem Vorhaben zu liegen. Es zeigt sich, dass die
Option eines realen Ziels der Reise gleich von Beginn an zerschlagen ist.
Zyklische Geschlossenheit
Wenn also hier nicht die Bedeutung der Reise gefunden werden kann, so ist es vielleicht, und
diese Möglichkeit wird bereits durch Müllers Disposition der Winterreisegedichte als Zyklus
angedeutet, eine Reise, die zum Ausgangspunk zurückkehrt. Aber wenngleich Müller die
Gedichte der „Winterreise“, zuerst (Anfang 1822) als Teilzyklus zu 12 Gedichten und
schließlich 1824 als vollständigen Zyklus, unter dem Titel „Gedichte aus den hinterlassenen
Papieren eines reisenden Waldhornisten“ zusammen mit den Gedichten der „Schönen
26
Erdmann, Waniek: Banale Tiefe in Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 147.
Erdmann, Waniek: Banale Tiefe in Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 148.
28
Erdmann, Waniek: Banale Tiefe in Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 149.
29
Müller, Wilhelm: Winterreise, S. 38.
30
Erdmann, Waniek: Banale Tiefe in Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 155.
27
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
13
- JANINEMüllerin“
CHRISTGEN
und den „Tafelliedern für Liedertafeln“31 veröffentlichte, scheint sich eine
zyklische Disposition aus der Anlage nicht zwingend abzuzeichnen. „Die `Winterreise´
Müllers entfernt sich konsequent in räumlicher wie emotionaler Hinsicht und endet offen.“32
Die Wege des Wanderers sind keine „Vorbereitung zur Heimreise, sondern gerade umgekehrt
Stationen der fortschreitenden Desillusionierung.“32 Es scheint sich also vielmehr eine Spiralals eine Kreisbewegung abzuzeichnen.
Spiralbewegung
Der thematische Kern des Zyklus´, die Wanderschaft, zeigt „auch die Weise seiner
Entwicklung im Sinne einer sich verengenden Spirale, die im Schlussgedicht gipfelt.“ 33 Die
Wanderschaft als konstitutives und konsistenzbildendes Merkmal des Zyklus zeigt sich in
„zentrifugaler“34 ebenso wie in „zentripetaler“35 Weise: zentrifugal als Flucht in die Fremde,
in der Suche nach Heimat oder letztendlicher Ruhe, zentripetal als Reflexion, Traum, und
verklärter Blick auf die Vergangenheit. So lassen sich die Gedichte der „Winterreise“ Müllers
nach Hellen Mustard36 in fünf Kategorien einteilen:
1-4:
Abschiedsgedichte
5-9:
Reminiszenzen
10-15:
Desillusionierung
16-18:
Todesgedanken
19-24:
Vollständige Desintegration
Wenngleich diese Gliederung für die inhaltliche Charakterisierung der Gedichte recht
pauschalisierend erscheint, so ist der formalen Gliederungsidee dennoch zuzustimmen. Zu
beachten ist bei dieser Gliederung, dass es sich hierbei um die Disposition Müllers und nicht
um die letztendlich von Schubert gewählte Reihenfolge der Gedichte handelt. (vgl.: Anhang I)
Etwas gröber ließe sich der Zyklus Müllers in drei Aufbrüche mit jeweils folgenden
Teilzyklen gliedern37:
1.
31
Teil (1-9):
Rückblickende Flucht als direkte Reaktion auf nicht erwiderte Liebe.
Vgl.. Hufschmidt, Wolfgang: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?, S. 60.
Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 94.
33
Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 103.
34
Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 103.
35
Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 103.
36
Mustard, Hellen: The lyric cycle in german literature, S. 87-89.
37
Vgl. Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 118.
32
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
14
2. Teil (10-18):
- JANINE CHRISTGEN
Suche nach einem Ausweg im Tod, als Reaktion auf die Nichtigkeit und
Sinnlosigkeit des Wanderns.
3.
Teil (19-24):
Suche nach Ruhe, als Reaktion auf die Verunmöglichung der
Todesoption, in der die Dualität von Rast und Reise besonders stark hervortritt.
Während die ersten Gedichte von Rückblick und Sehnsucht nach der nun enttäuschten Liebe
handeln und die Wanderung des lyrischen Ichs zunächst hauptsächlich durch diese
Bedingtheit motiviert erscheinen lassen, prägt sich im Folgenden die Todessehnsucht aus, die
zum neuen Ziel der Reise wird. „Während also der Beginn der „Winterreise“ noch um die
Geliebte kreist, wirft der zweite Auszug das Ich völlig auf sich zurück.“ 38 Wird der Beginn
der „Winterreise“ von der zunehmenden „Entrealisierung der Erinnerung und der wachsenden
Fluchttendenz“39 geprägt, so wandelt sich diese reflexive Haltung zu einer Suche nach neuer
Weisung, die der Wanderer in der Grabesruhe zu finden glaubt. Die Reise wird nun folglich
als Lebensweg betrachtet, dessen Sinn und Ziel sich für den Wanderer im Tod konstituiert
und so rundet. Doch auch der Tod erscheint dem Wanderer schließlich nicht als Ausweg,
denn er ist ihm verwehrt. So sehr der Wanderer auch versucht, seine Todessehnsucht zu
realisieren, so entzieht sich dieser dem Zugriff des Wanderers gleichsam als reale Option.
Zenk versteht, das „Anti-Zyklische als Zeichen einer irreversiblen Bewegung ins Fremde“40.
„Wenn der Kreis oder die Kugel ein Symbol von Vollkommenheit beschreibt, eine Identität
von Leben und Natur, von der der Tod als Teil der Natur eingebunden wäre und nichts
Erschreckendes hätte, dann wäre eine nicht zyklische Anordnung ein Symbol für die NichtIdentität von Leben und Natur, ein Ausdruck für das Fremdsein des Menschen der Natur
gegenüber.“41 Er bezieht das Antizyklische hier nicht nur auf den Müllerschen
Gedichtskorpus, sondern auch auf die ebenfalls antizyklische Tonartendisposition Schuberts,
welche in Kapitel IV näher erläutert werden soll.
Interessant ist, dass der bewusste Bruch einer zyklischen Form im genormten Sinn gleichsam
neuen Sinn konstituiert. Dem Wanderer ist es eben nicht möglich, den Tod in sein Leben zu
integrieren, nach ihm zu streben oder ihn zu wünschen, weil er aus dem Lebenszyklus
hinausgetreten ist. Er hat sich von den natürlichen Umständen entfremdet. Den Wanderer
schreckt der Tod nicht, aber er kann ihn nicht finden, da er unter Desintegration in die
natürlichen Lebensgegebenheiten leidet. Jenes ziellose Getriebensein zeigt sich auch in dem
38
Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 108.
Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 328.
40
Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 146.
41
Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 146.
39
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
15
- JANINEsehnsüchtigen
CHRISTGEN
Wunsch nach kurzzeitiger Ruhe, der dem Wanderer unerfüllt bleibt. Jede Rast
ist ihm verwehrt, er kann keinen Aufenthalt finden.
Diese fortwährende Entfremdung findet ihr kongruentes Abbild in der zunehmenden
„Abseitigkeit und wachsenden Isolation“42 des Wanderers. Zunächst flüchtet dieser aus der
städtischen Sphäre, getrieben von akustischen Stimuli wie dem Gebell der Hunde. Der Fluss
an dem er entlang wandert, ist zugefroren, und auch sein weiterer Weg durch die öden
acherontischen Landschaften entzieht ihm immer mehr Richtung und Sinnkonfiguration. Er
gerät durch die Verlockung visueller Stimuli in die „tiefen Felsengründe“, kann auch „im
Dorfe“ keine Zuflucht finden und selbst in des „Köhlers Hütte“, wird ihm zwar Obdach aber
keine Ruhe zuteil („In eines Köhlers engem Haus / Hab´ Obdach ich gefunden; / doch meine
Glieder ruhn´ nicht aus: / So brennen ihre Wunden.“43). „Das Wirtshaus“ schließlich wirft ihn
ganz auf sich zurück und desillusioniert jede Hoffnung auf potentielle Erlösung durch den
Tod, denn alle Kammern in diesem Haus sind besetzt und die „unbarmherz´ge Schenke“44
weist ihn ab. Jegliche menschliche Sphäre wird ihm fremd, jeder soziale Kontakt scheint
verwehrt. „Die Erfahrung der Fremde zeichnet sich im Weg des Wanderers von der Stadt der
Geliebten bis hin zu einem nicht mehr lokalisierbaren Ort der „Wüstenei“45 (Der Wegweiser)
ab. „Der Wanderer wird sich bei diesem Gang in die Fremde selbst fremd, das heißt, er
verliert an Identität in dem Maße, wie er sich von der Stadt der Geliebten entfernt.“ 46 Das Ich
ist nicht in der Lage, die Fremdheitserfahrungen zu verarbeiten und aus ihnen das eigene
Subjektbewusstsein zu schöpfen. Die Hegelsche Struktur der Selbstbewusstseinskonstitution
definiert dieser in der „Phänomenologie des Geistes“ wie folgt: „Das Selbstbewusstsein ist die
Reflexion aus dem Sein der sinnlichen und wahrgenommenen Welt und wesentlich die
Rückkehr aus dem Anderssein. Es ist als Selbstbewusstsein Bewegung; aber indem es nur
sich selbst als sich selbst von sich unterscheidet, so ist ihm der Unterschied unmittelbar als ein
Anderssein aufgehoben.“47 Dies bedeutet, dass sich Selbstbewusstsein ausschließlich durch
vermittelte Fremderfahrung, durch Erfahrung der Negativität des eigenen Ichs und deren
Aufhebung konstituieren kann. Da der Wanderer die Welt mit seinen eigenen Projektionen
überzieht und die Objektwelt schließlich seine psychische Verfasstheit widerspiegelt, kann er
keine Fremderfahrung machen und somit auch nicht aus der erfahren Negativität zur eigenen
42
Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 120.
Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 28.
44
Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 40.
45
Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 38.
46
Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 159.
47
Hegel, G.F.W.: Phänomenologie des Geistes, S. 142.
43
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
16
- JANINEIdentität
CHRISTGEN
zurückfinden. Der Wanderer entfremdet sich also auf seinem Weg nicht nur immer
weiter von allen möglichen Heimatstrukturen, sondern durch sein Projektionsverhalten auch
von sich selbst.
Gleichzeitig erfährt er soziale Ausgrenzung, welche ihm als reale Fremdheit entgegentritt.
Doch auch hier kann er der Fremdheitserfahrung nicht vermittelnd begegnen, so dass er an der
Gesamtsituation in immer stärkerem Maße zu zerbrechen droht, als dass diese Auslöser für
Auf- oder Umbruch werden könnte.
Dem Ich ist also schließlich nicht nur die es umgebende Welt fremd geworden, sondern auch
die eigene Persönlichkeit. Eine umfassende Fremdheitserfahrung, die es in dieser Weise in
den „Winterreisen“ vor Müller wohl nicht gegeben hat und die eben daher den Weg zur
Moderne schlägt und verständlich machen kann, wieso eine Rezeption der „Winterreise“ nie
abgebrochen ist und gerade in der heutigen Zeit auch wieder neue Relevanz erlangt. Die
Überzeitlichkeit der Thematik scheint also auf einer individuellen Fremdheitserfahrung zu
basieren, die sich seit der Zeit Müllers und Schuberts als soziologische Grundkonstante
durchhält: Die Problematik, ein grundsätzlich anderes Verständnis von Welt zu haben,
welches man in repressiven Staaten nicht artikulieren konnte/kann, das Verhängnis, eine
immer komplexer sich differenzierende Welt nicht mehr durchdringen zu können. So wird der
Mensch zum vereinzelten, solipsistischen, in die Welt geworfenen Individuum. „Der Mensch
ist“, so heißt es im Humanismusbrief Heideggers „vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins
>geworfen<, so dass er, dergestalt ek-sistierend [sic!], die Wahrheit des Seins hüte, damit im
Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine. Ob es und wie es erscheint,
ob und wie der Gott und die Götter, die Geschichte und die Natur in der Lichtung des Seins
hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet nicht der Mensch.“48 Somit zeigt sich auch in
den Gedankengängen der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts und besonders in der
Strömung des Existentialismus die Beschäftigung mit der Entfremdung des Subjekts in
besonderer Weise. Wenn Müller seine “Winterreise“ mit den Versen: „Fremd bin ich
eingezogen, fremd zieh´ ich wieder aus“ beginnt, so ist damit die Fremdheitsthematik alleine
durch die metrische Hervorhebung des Wortes „Fremd“ akzentuiert. Es beherrscht
anaphorisch die Versanfänge und akzentuiert das jambische Versmetrum gegen die natürliche
Betonung. Das Subjekt ist nicht nur entfremdet, es ist im neuzeitlichen Sinne geradezu
dezentriert.
48
Zitiert nach: Spierling, Volker: Kleine Geschichte der Philosophie, S. 342.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
17
- JANINE CHRISTGEN
D Kommunikation in der Isolation
In dieser Weise desorientiert und entfremdet trifft der Wanderer schließlich auf den
Leiermann. Hier, ganz am Ende des Zyklus, wird nun die „einzige Begegnung mit einem
menschlichen Du thematisiert.“49 Während bereits der gesamte Zyklus von Dichotomien der
Ruhe und der Bewegung, ebenso wie von dem Antagonismus zwischen Natur (Objektwelt)
und lyrischem Ich (Subjekt) geprägt wird, so treten diese Divergenzen im „Leiermann“
erstmals zusammen. Das Leiermanngedicht
„ist zugleich Vision und Wirklichkeit, es vereinigt Bewegung und Stillstand, Versunkenheit in
Anschauung und Entschluss, Ruhestation und Aufbruchsimpuls. [...] Darüber hinaus findet sich hier
erstmals die Polarität von Gehen und Stehen in der suggestiven Vorstellung des Leierdrehens als
Kreisbewegung eine Vermittlung, die über die physische Ebene hinaus vielleicht ein Licht auf die
Zirkularität des Zyklus, auf die Wiederkehr des Gleichen werfen kann: Die Wanderschaft bewegt sich
zwar aus ihrem Ursprungsort weg, kehrt aber bogenförmig zu immer neuen Aufbrüchen zurück, bis
`Der Leiermann` mit seinem Neubeginn den Kreis schließt.“50
Das bedeutet, dass sich durch das Eintreten des Leiermanns in die Sphäre des Wanderers nach
einer langen Entfremdungsspirale ein neuer Aufbruch ankündigt. Wie dieser Aufbruch
aussehen kann und wie Schubert und Zender die interpretatorischen Freiräume auffüllen, die
diese Person offenbart, soll jedoch erst in Kapitel IV erörtert werden.
4 „Der epochale Winter“ - Bestimmungen zur Diskursbreite
Nachdem sich Entfremdung und Dezentrierung des menschlichen Subjekts als Kernaussage
der winterlichen Wanderung herauskristallisiert haben, soll im Folgenden untersucht werden,
welche Beweggründe Schubert zur Konstitution eines Werks veranlassten, welches in dieser
Weise konnotiert ist. Gleichzeitig soll aus diesen Erwägungen hervorgehen, wie die
Fremdheitserfahrung sich als überzeitliches Kontinuum und subjektives wie kollektives
Erfahren bis in die Gegenwart trägt und über diese hinaus tragen wird.
Um diese Bestimmungen in dem Sinn zu konkretisieren, wie sie wohl auch in das Denken und
Komponieren Hans Zenders eingegangen sind, sollen im Folgenden wesentlich die
Ausführungen Hanspeter Padrutts nachgezeichnet werden. Padrutt arbeitet in seinem Essay
die „paradigmatische Qualität von Schuberts „Winterreise“ neu heraus.“51 Er leitet die
49
Stoffels, Ludwig: Die Winterreise, Bd.I. S. 119.
Stoffels, Ludwig: Die Winterreise, Bd.I. S. 118-120.
51
Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 224.
50
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
18
„alarmierenden Krisensymptome, die fundamentalen Erschütterungen sowohl unserer ästhetischen, als
- JANINE CHRISTGEN
auch unserer wissenschaftlichen Erfahrungsweise, aus der anscheinend unaufhaltsamen
Verabsolutierung des neuzeitlichen Subjektbegriffs her. Das in diesem Begriff gewissermaßen
systemimmanent umhergeisternde der-Welt-abhanden-kommen findet in Schuberts „Winterreise“, in der
zunächst schleichenden, schließlich manifest werdenden Krankheit zum Tode des Wanderers seinen
gültigsten künstlerischen Ausdruck.“52
Bevor dies näher erläutert wird, soll ein kurzer Blick auf die Person Schuberts geworfen
werden.
In vielen Aufsätzen und Schriften zu Schubert und der „Winterreise“ finden sich Modelle, die
jegliche Motivation zu dieser Komposition in Schuberts Lebensumständen suchen und zu
finden glauben. Von den schlechten Lebensbedingungen, die er als Kind im Wiener Stadtteil
„Himmelspfortengrund“ vorfand, über das vergebliche Ringen nach Anerkennung durch die
idealisierten Vorbilder Beethoven und Goethe, seine gescheiterten Liebesbeziehungen und
schließlich die depressive Gestimmtheit, die wahrscheinlich auch krankheitsbedingt in der
Phase kurz vor seinem Tod eintrat. Sicherlich spiegeln sich Lebens- und Leidensgeschichte
im Schaffen eines Künstlers in gewisser Weise wieder, doch kann ein Werk, welches von rein
subjektiven Erlebnisstrukturen geprägt ist, wohl kaum jenen überzeitlichen Status erlangen,
der der „Winterreise“ zuzuerkennen ist. Es scheint sich also eher um eine anthropologische
Grundgestimmtheit zu handeln, die sich in einer Zeit abzuzeichnen beginnt, in der die
Menschen ihren politischen Aktionswillen, welchen sie in den revolutionären Wirren
artikulierten, gelähmt und niedergestreckt finden und sich als vereinzeltes, sprachloses
Subjekt begreifen. Es geht hier also weniger um die individuellen, biographisch motivierten
Faktoren, als vielmehr um ein zeitbedingtes Grundphänomen, welches im Werk Schuberts
Ausdruck fand und aufgrund seiner Fortsetzung bis in die heutige Zeit immer noch findet.
Padrutt
beschreibt
diese
Grundgestimmtheit
als
„pessimistische,
depressive
Stimmungslage.“53 Entscheidend ist für ihn, dass gerade in der gegenwärtigen Zeit häufig nur
die Symptome einer solchen Depression, nicht aber das ihr zugrundeliegende Trauma,
behandelt würden. „`Schmerzlos sind wir...` sagte Hölderlin in einem seiner Gedichte. Er
erkannte [...] die Schmerzlosigkeit als Mangel. Der Schmerz wird nicht zugelassen, sondern
mit allen Mitteln und um jeden Preis bekämpft. Und so wird er am Ende auch nicht
verwunden.“54 Um diese notwendige Trauerarbeit leisten zu können, muss also die Wurzel
des Schmerzes gefunden werden. Padrutt sieht den Grund für Schmerz im Entzug. Er folgt
dabei der Blickrichtung Heideggers, der in seiner Schrift „Unterwegs zur Sprache“ betont, die
52
Fink, Wolfgang: Hans Zenders Winterreise. S. 8-9.
Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter. S. 224.
54
Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 228.
53
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
19
- JANINETrauer
CHRISTGEN
sei „in den Bezug zum Freudigsten gestimmt, aber zu diesem, insofern es sich entzieht,
im Entzug zögert und sich spart.“55 Die Trauer ist hier also Reaktion auf einen entzogenen
Zustand, „ein unbestimmbares Heimweh, Schmerz über das verlorene Paradies, Sehnsucht
nach einer anderen Welt.“56 Vielleicht spiegeln sich diese neuzeitlichen anthropologischen
Grundkonstanten in der Musik Schuberts.
„Könnte es sein, dass die musikalische Hellsichtigkeit Schuberts doch in die Geschichte blickte? Zwar
nicht in die vordergründige Geschichte der Jahreszahlen und Fakten, die als ablaufender
Wirkungszusammenhang vergegenständlicht wird, und schon gar nicht in die Geschichte der
Aktualitäten, die von den Medien des Gestells verwaltet wird, vielleicht aber in jene hintergründige,
verborgene unumgänglich-unzugängliche eigentliche Weltgeschichte der epochalen Zusammenhänge,
in die „epochale Geschichte“? Hat Franz Schubert den Herzschlag seiner – und unserer – Epoche
gespürt? Singt die Winterreise einen epochalen Winter?“57
Dieser epochale Faktor zeigt sich auch bei Padrutt einmal mehr in der Entfremdung des
Menschen. Ausgehend von dem marxistischen Gedanken der Entfremdung des Menschen von
sich durch die Entäußerung seiner Arbeitskraft und die Entfremdung seiner Selbst vom
Produkt seiner Arbeit, zeigt sich ihm der Mensch als entwurzeltes, vereinzeltes Individuum.
Wenn jedes Ding „zum gleichgültigen Rad im großen Räderwerk geworden ist, dann ist die
Natur, die Erde überhaupt, dem Menschen fremd geworden.“58 Er wird aber nicht nur sich
und der ihn umgebenden Natur fremd, sondern erlebt auch die anderen Menschen nur noch als
abgekapselte Subjekte, deren Kommunikation und Interaktion immer mehr zu scheitern
drohen. Die Unfähigkeit zu zwischenmenschlicher Beziehung und Kommunikation führt zur
Vereinzelung und Solipsie. Der Mensch wird zum „l´étranger“ (Albert Camus). Zwischen
dem Ich und der Welt hat sich eine unüberbrückbare Kluft des Absurden manifestiert. „Das
Bewusstsein des Absurden kann den Menschen plötzlich ergreifen, wenn die Kulissen des
Alltags zusammenbrechen und er nun der Fremdheit und Feindseligkeit der Welt unvermittelt
gegenüber steht.“59 Der Mensch kreist nun als heimatloses Subjekt um sich selbst. Der
Mensch ist, wie der Wanderer in der „Winterreise“ auf die eigene Mut- und Willenskraft
verwiesen. „Muss selbst den Weg mir weisen, in dieser Dunkelheit“60 (Gute Nacht),
diagnostiziert der Wanderer bereits zu Beginn seiner Reise, um schließlich festzustellen:
„Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter“61 (Mut). Zur Entfremdung und
Isolation tritt also gleichsam der Entzug des Göttlichen hinzu.
55
Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache, S.169.
Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 234.
57
Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 234. [Hervorhebung im Original]
58
Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 240.
59
Kunzmann, Peter: DTV-Atlas Philosophie, S. 205.
60
Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 18.
61
Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 40.
56
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
20
- JANINEInteressant
CHRISTGEN
ist, dass der von Schubert angeregte Diskurskreis der Winterreise im Folgenden
auch andere Komponisten (z.B. Schumann und Brahms), Dichter (z.B. Heine, Büchner,
Dostojewskij) und Maler (insbesondere Caspar David Friedrich) inspiriert. „Eine allgemeine
Verdüsterung und Abkühlung scheint dieses Jahrhundert auszuzeichnen.“62 Padrutt sieht die
Grundbestimmungen einer solchen Entwicklung in den politischen Gegebenheiten:
Restauration nach den revolutionären Wirren, Metternich Regime und Polizeistaat mit
Zensursystem, welches als Produkt der Karlsbader Beschlüsse gerade das Bürgertum schwer
unter seinen Repressionen leiden ließ. Dennoch, und so stellte es sich auch für das lyrische
Ich in Müllers „Winterreise“ dar, können einzig Revolution und Aufbruchstimmung als
genuin subjektive Tätigkeiten gegen die äußeren, das Individuum negativ bestimmenden
Faktoren stehen. („Als noch die Stürme tobten, / War ich so elend nicht.“63 - Einsamkeit).
Nach Padrutt gibt es nun zwei Möglichkeiten der Reaktion auf einen solchen epochalen
Winter. Zum einen die Akzeptanz der Situation, die sich im passiven Ausharren, welches
wohl auch mit einer gewissen Verdrängung einhergeht, darstellt. Zum anderen die
Möglichkeit, sich mit dem Wanderer zu identifizieren, mit einem Träumer, der nicht schläft,
standhält trotz Kälte und Einsamkeit, sich seinen Weg selbst durch die Dunkelheit sucht.
Auch wenn er in tiefster Entfremdung und Vereinzelung steht, so zeichnet ihn doch das
Streben nach einer wie auch immer gearteten Veränderung aus. Eine Welt, die das Subjekt
mit ihren Entwicklungen überfordert, mit der stetig anwachsenden Informationsflut überlastet.
All dies führt das neuzeitliche Individuum „zu einer lebenslänglichen Irrfahrt“64. Noch nicht
einmal mehr „Zugang zu einem kleinen Spezialgebiet der Welt-Datenbank“65 zu finden,
„wächst sich zu kafkaesken Konsequenzen“ aus, wie den von diesem beschriebenen
Bemühungen „des Landvermessers K., der vergeblich zu den maßgebenden Instanzen im
Schloss vorzudringen versucht.“66
5 Die Determination der Moderne durch die Winterreisethematik
Auch in der Literatur der Moderne findet die Entfremdungsthematik also Niederschlag. Die
intellektuelle Selbständigkeit des schöpferischen Subjekts erscheint immer mehr als
Vereinzelung und Abkopplung des kommunikationswilligen Kreators. Der Autor, und damit
62
63
Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 256.
Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 32.
Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 279.
65
Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 279.
66
Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 279.
64
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
21
- JANINEist
CHRISTGEN
nicht nur jener der literarischen Werke bezeichnet, erfährt sich mehr und mehr als bedingt.
Zum einen durch die ihm zur Verfügung stehenden Zeichen, denen er immer weniger die
Fähigkeit zubilligt, exakt wiederzugeben, was als Aussageintention geprägt worden war. Zum
anderen durch die aus der Arbitrarität des Zeichens resultierende neue Leserrolle, die diesem
eine Mitgestaltungsmöglichkeit des Textes einräumt. Auf welche Weise sich diese
„Leerstellen“, wie Wolfgang Iser67 sie nennt, konstituieren und wie sie in der individuellen
Rezeption aufgefüllt werden, soll in Kapitel III genauer erörtert werden, da hier auch die
Wurzeln für Hans Zenders Interpretationsansatz liegen. An dieser Stelle soll lediglich
aufgezeigt werden, inwiefern die Moderne von der Thematik tangiert wird, die als
wesentliche Konstituente der Winterreise dargestellt wurde. Der Subjektivierungsprozess der
Moderne zeigt sich als Vereinzelungsprozess des künstlerisch schaffenden Individuums,
welches diese Krisenerfahrung in einer neuen poetologischen Konzeption verarbeitet.
Sprachkrise und Sprachskepsis resultieren aus dem Verlust von Welt. Der Überforderung des
Subjekts in einer immer komplexer werdenden Umgebung und seine Angst vor der
Unfähigkeit zur Kommunikation und solipsistischer Apartheid, wird durch die Auflösung von
Sprache begegnet. Die Dekonstruktion eines vormals „deutlichen“ Sinnangebots, der
Übergang von der Ein- in die Vieldeutigkeit und die bewusste Produktion von
Sinnüberschüssen verweist auf eine sich in ihrer Komplexität entziehende Welt. Dem
Schöpfenden wird bewusst, dass arbiträre Zeichen eine individuelle Mitteilbarkeit
verunmöglichen. Sind Texte überhaupt noch in einer gewissen Weise aussagefähig und
verständlich? Lösungsansätze zeigen sich zum einen im Verzicht auf Sprache, d.h. einer
abnehmenden Kommunikationsfähigkeit, in der Sprache zum „Strandgut“ wird und
schließlich im Schweigen endet (z. B. Beckett „Endspiel“), zum anderen die Möglichkeit,
Welt aus Sprache entstehen zu lassen, ohne reale Rückbindung an die Welt zu knüpfen (z.B.
Proust; Joyce), aber auch in der Generierung einer neuen Sprache (z.B. Dadaismus). Auch die
Verbindung von Musik und Sprache, die die Möglichkeit bietet, Sprache mit Emotionen und
Gefühlen aufzuladen und so eine neue Art der Verständlichkeit hervorzubringen, scheint
einen Lösungsweg anzubieten. In diesem Zusammenhang soll in Kapitel IV die Bearbeitung
der „Winterreise“ durch Wolfgang Rühm thematisiert werden.
So hat sich gezeigt, wie die Fremdheitsthematik, die sich als bestimmendes Merkmal der
„Winterreise“ und ihre Überzeitlichkeit dargestellt hat, determinierend für die Auffassung des
Künstlers in der Moderne und seine Produktivität wird. Wie die daraus resultierenden
67
Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
22
- JANINEpoetologischen
CHRISTGEN
Konzepte nun wiederum auf die Rezeption des sie begründenden Werks der
„Winterreise“ zurückreflektiert, soll im Nachfolgenden erörtert und reflektiert werden.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
23
- JANINE CHRISTGEN
III Bedingung und Notwendigkeit von Interpretation
1 Krisenerfahrung und Genese der Interpretationsnotwendigkeit
Wie in der Literatur findet auch in der Musik die Krisenerfahrung der schöpfenden Individuen
Ausdruck in der Werkkonzeption. Auch hier muss zu einer „neuen Sprachlichkeit“68 gefunden
werden. Kompositions- und Interpretationsgeschichte verweben sich, gerade in der Musik
nach 1945, in verstärktem Maße.69 In gleicher Weise, wie die Auseinandersetzung mit der
„richtigen“ Interpretation und Aufführung früherer Werke mehr und mehr in den Blickpunkt
gerät. Die Musik in ihrer klanglichen „Originalgestalt“ reproduzieren zu können, setzt ein
„möglichst lückenlos chiffriertes und dechiffrierbares Notensystem voraus.“70 Aus der
Problematik der Rekonstruktion eines Musikwerks und dem Wunsch des Komponisten nach
möglichst genauer Wiedererschließung seiner Werke entstand „die geschichtliche
Entwicklung, [...] immer engere Raster zu finden, welche die zu übermittelnde Botschaft mit
hohem Genauigkeitsgrad kodieren.“71 Daher verfestigte sich die Vorstellung, die das
Verhältnis von Komponist und Interpret in der folgenden Weise umschreibt:
A)
B)
C)
D)
Der Komponist schafft eine Struktur, die er chiffriert.
Er chiffriert sie in einen kodierten Raster.
Der Interpret dechiffriert diesen kodierten Raster.
Gemäß dieser Dekodierung gibt er die ihm übermittelte Struktur wieder. 72 (Klang)
So wünschenswert diese Überlieferungssituation möglicherweise Seitens des Komponisten
gewesen wäre, umso stärker stellte sich jedoch die „Krise der seriellen, total determinierten
Musik in den späten 50er Jahren dar, die sofort auch eine Relativierung des entsprechenden
Interpretationsbegriffs nach sich zog.“73 Die Reaktion auf die Verstrickung, die der Versuch
einer vollständigen Determinierung eines Werks hervorrief, war die bewusste Aussparung von
Parametern in der Komposition. Auf diese Weise sollten „mehr oder weniger große
Spielräume für interpretatorische Entscheidung zu einem Bereich der Komposition selber“74
werden. So konnte der Aktionsspielraum des Interpreten im Werk selbst verankert werden.
Die Mitarbeit des Interpreten und sein schöpferisches Potential waren nun explizit gefordert.
68
Gruhn, Wilfried: Interpretation und Verstehensprozeß, S. 68.
Vgl. Mauser, Siegfried: Theorien zur Interpretation Neuer Musik, S. 20.
70
Mauser, Siegfried: Theorien zur Interpretation Neuer Musik, S. 19.
71
Boulez, Pierre: Zeit, Notation und Kode, S. 67.
72
Vgl. Boulez, Pierre: Zeit, Notation und Kode, S. 67.
73
Mauser, Siegfried: Theorien zur Interpretation Neuer Musik, S. 20.
74
Stockhausen, Karlheinz: Musik und Graphik, S. 18.
69
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
24
- JANINEHierin
CHRISTGEN
stellt sich dar, was der Interpret in seiner Arbeit mit anderen Werktexten erfahren
hatte: die Arbitrarität der Notation, seine Kontingenz und seine „Leerstellen“, die divergente
Lesarten evozierten und Krisenerfahrungen gegenüber der Texttreue hervorriefen. „Die
Emanzipation der Praxis des produktiven – anstelle des reproduktiven – Interpreten folgt
somit auf bzw. existiert neben Tendenzen der Einschränkung, ja der Ausschaltung des
interpretierenden Subjekts.“75
Die Emanzipation des produktiv-schöpferischen Subjekts aber kristallisierte sich aus einem
langen Entwicklungsprozess heraus, bevor sich dieser in oben genannter Form konstituierte.
So zeichnet sich ein „interpretationsgeschichtlicher Paradigmenwechsel seit der Musik
Beethovens“ ab, „der den Begriff der Aufführung oder des Vortrags in einem regelgeleiteten
aufführungspraktischen Sinn durch eine Zugangsform ersetzt, die später Interpretation
genannt wird“, wenngleich „der Begriff der musikalischen Interpretation als solcher
lexikalisch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch nicht nachweisbar ist.“76 Der
Paradigmenwechsel lässt sich daran ablesen, „dass jetzt erstmals Aspekte der „Deutung“
virulent werden, die auf affektive, semantische und metaphysische Qualitäten abzielen, die
das jetzt tatsächlich interpretierende Subjekt einzubringen hat – kulminiert in Mahlers
provozierender Bemerkung, dass das Beste der Musik nicht in den Noten stehe.77
2 „Lebendige Interpretation“
Wie aber kann es nun gelingen, das „Beste der Musik“78 aufzufinden und als Interpret dem
Hörer zugänglich zu machen?
Hans Zender erklärt in seinen Notizen zu seiner komponierten Interpretation von Schuberts
„Winterreise“, dass seit der Erfindung des Notentextes kompositorisch fixierter Text und die
vom Interpreten aktualisierte klingende Realität beständig auseinander gefallen seien.79 Lange
habe er eine möglichst textgetreue Interpretation angestrebt, um schließlich festzustellen, dass
es eine solche originalgetreue Interpretation nicht gebe. Daher folgert er:
„So wichtig es auch ist, die Texte genauestens zu lesen, so unmöglich ist es, sie lediglich
rekonstruierend zum Leben zu erwecken. Abgesehen davon, dass sich sehr viele Dinge, wie
Instrumente, Säle, Bedeutungen von Zeichen etc. verändert haben, muss man verstehen, dass jede
Notenschrift in erster Linie eine Aufforderung zur Aktion ist und nicht eine eindeutige Beschreibung
75
Mauser, Siegfried: Theorien zur Interpretation Neuer Musik, S. 20. [Hervorhebung im Original]
Mauser, Siegfried: Theorien zur Interpretation Neuer Musik, S. 21.
77
Zitiert nach: Mauser, Siegfried: Theorien zur Interpretation Neuer Musik, S. 21. [Hervorhebung im Original]
78
Mauser, Siegfried: Theorien zur Interpretation Neuer Musik, S. 21.
79
Vgl.: Zender: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 221.
76
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
25
- JANINE
von Klängen. Es bedarf des schöpferischen Einsatzes des Interpretierenden, seines Temperaments,
seiner Intelligenz, seiner durch die Ästhetik der eigenen Zeit entwickelten Sensibilität, um eine wirklich
CHRISTGEN
lebendige und erregende Aufführung zustande zu bringen. Dann geht etwas vom Wesen des Interpreten
in das aufgeführte Werk über: Er wird zum Mitautor.
Verfälschung? Ich sage: schöpferische Veränderung. Die Musikwerke haben, wie auch die
Theaterstücke, die Chance, sich durch große Interpretationen zu verjüngen. Diese sagen dann nicht nur
etwas über den Interpreten aus, sondern sie bringen Aspekte des Werkes zu Bewusstsein.“ 80
Zender glaubt nicht, dass „Aufführungen mit historischen Instrumenten uns so ohne Weiteres
den Geist der Entstehungszeit zurückbringen könnten. Zu sehr haben sich unsere
Hörgewohnheiten und unsere Ohren verändert.“81 Dies arbeitet auch Ferruccio Busoni in
seinem „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst heraus“. Busoni sieht ein Kunstwerk
sowohl von veränderlichen Faktoren, der Form, der Mittel und des Geschmacks, als auch vom
unveränderlichen Geist bestimmt.82 Zur Veranschaulichung dieser divergenten Konstituenten
des Kunstwerks sei auf Katrin Bernhards Darstellung83 im Anhang II.1. verwiesen.
Sowohl mit den veränderlichen, wie mit den unveränderlichen Faktoren eines Kunstwerks
muss sich der Interpret nun auseinandersetzen, um eine Interpretation hervorzubringen, die
das Kunstwerk adäquat zu vertreten vermag. Zender sieht diesen Vorgang der Interpretation
von der „lecture“ bestimmt, von der „individuell-interpretierenden Lesart“80, die das Bild von
Werk und Komponist spiegelt, wie es sich durch die Jahre in der individuellen Sicht des
Interpreten gewandelt hat und nun in dessen Umgang mit dem Werk zum Ausdruck kommt.
Wie aber entsteht eine solche „lecture“ und was sind ihre Konstituenten?
3 Musik lesen: Zeichensysteme - oder Musik als Sprache
A Musik im Fluss
Um noch genauer zu fassen, was Busoni mit wandelbaren und konstanten Faktoren des
Kunstwerks auszudrücken versuchte, greift Zender auf die Heraklitische „grundlegende
Erfahrung von Zeitlichkeit“84 zurück. Er zitiert Heraklits `Panta Rhei` Fragment: „Wir steigen
niemals in denselben Fluss“. Der Fluss besitzt Konstanz, Dauerhaftigkeit und doch ist er
immer wieder neu. Er bildet sich aus einem Dahinströmenden, welches ihn in seiner
Gegenwärtigkeit bedingt und gleichzeitig einem ständigen Wandel unterwirft. Niemals wird
man genau jenen Fluss noch einmal betrachten können. Dennoch formiert sich gleichzeitig
80
Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 221.
Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 221.
82
Vgl.: Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 5-6.
83
Vgl.: Bernhard, Katrin: Reisebericht: Sekundäres zur Winterreise, S. 61.
84
Zender, Hans: Wir steigen niemals in denselben Fluß, S. 185.
81
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
26
- JANINEeine
CHRISTGEN
übergeordnete Identität, die Konstanz verleiht, die es überhaupt erst ermöglicht, eine
bleibende Identität und den Begriff „Fluss“ durch Abstraktion zu generieren. „Wir könnten
gar nicht vom „Fluss“ sprechen, wenn der Fluss nicht gleichzeitig auch etwas
Unveränderliches darstellen würde.“85 Es geht also um das Heraklits Philosophie im ganzen
durchziehende Element, die gegenstrebige Fügung, welche sich in vielen seiner Fragmente
wiederfinden lässt. Bezogen auf die konstanten und veränderlichen Faktoren des Kunstwerks,
lässt sich aus Heraklits Fragmenten entnehmen, dass Kunstwerke einem ständigen Wandel
unterliegen und dabei dennoch eine gewisse Beständigkeit aufweisen, die sie unverwechselbar
werden lassen. Zender folgert daraus, dass Kunstwerke keine stabile Identität hätten; sie seien
wie Lebewesen den nicht vorhersehbaren dynamischen Dimensionen der Zeit unterworfen.86
Die zeitliche, geographische und kulturelle Distanz, die zwischen das Kunstwerk und den
Interpreten trete, machte nolens-volens auch umdeutende Vermittlung unumgänglich.87
Zender betont:
„Ein musikalisches Werk kann niemals nur anhand seines Notentextes verstanden werden, die Zeichen
der Partitur sind auf die zukünftige Aktualisierung in der Performance bezogen, und jede Performance
ist eine Neudeutung dieser Zeichen und so jeweils eine unterschiedliche Version des Stücks.“87
Das heißt, jeder interpretatorische Zugang ist abhängig von der „lecture“. Hermann Danuser
weist darauf hin, dass es bei der Interpretation eines Werkes immer einen gewissen
Deutungsspielraum gebe, der sich im Auseinanderfallen von „Struktursinn“ und
„Aufführungssinn“ offenbare.88 Es handelt sich hierbei um zwei verschiedene Lektüreformen,
von denen man die Erste nach Gruhn als „écriture“, die Zweite als „lecture“ bezeichnen
könnte.89 Der „Struktursinn“ (écriture) muss durch den „Aufführungssinn“ (lecture) ausgelegt
und so durch die individuelle Lesart aktualisiert werden. Interessant ist dabei, wo Zender den
Begriff der „lecture“ ansetzt und dass für ihn auch „die Partitur selbst schon eine
Interpretation“87 darstellt. Dies soll im Folgenden näher erläutert werden, um schließlich
genauer auf die Interpretationsproblematik eingehen zu können.
B Musikalische Zeichen
Um sein Verständnis von der Bedeutung eines Notentextes darzulegen, betrachtet Zender in
seinem Aufsatz „Interpretation – Schrift – Komposition“ die Umstände, unter denen sich
85
Zender, Hans: Wir steigen niemals in denselben Fluß, S. 185.
Vgl. Zender, Hans: Wegekarte für Orpheus?, S. 86.
87
Vgl. Zender, Hans: Wegekarte für Orpheus?, S. 85.
88
Vgl. Danuser, Hermann: Musikalische Interpretation, S. 4.
89
Vgl. Gruhn, Wilfried: Interpretation und Verstehensprozeß, S. 76.
86
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
27
- JANINEmusikalische
CHRISTGEN
Notation entwickelte. Auch daran wird sich noch einmal deutlicher zeigen,
warum auch Danuser der „écriture“ keine Selbständigkeit zuschreibt.
Zenders Überlegungen nehmen ihren Ausgang bei Guido von Arezzo, der die erste
brauchbare Grundlage für die Notation schuf, aus selbigem Grund aber aus der
Klostergemeinschaft ausgeschlossen wurde, da man ihm vorwarf, sich gegen die Memoria90
vergangen zu haben.91 Während er durch den Aufbau der schriftlichen Fixierung von Musik
einerseits gerade gegen deren Vergessen ankämpfte, trat doch zugleich ein signifikanter
Verlust gegenüber der mündlichen Tradierung auf. Bei der „mündlichen Tradition“ werden
„Gestalt und Sinn der Gestalt ungeschieden vermittelt; sie treten niemals auseinander. [...]
„Poesis“ und „mimesis“ [...], „productio“ und „imitatio“, waren eine Einheit.“92 Für Zender
ist diese Einheit durch die Erfindung der Notation aufgebrochen. „Aufzeichnung heißt
Akzentuierung,
Verkürzung,
Abstraktion.“93
Da
jedoch
jede
Verschriftlichung
unterschiedliche Akzente setzt und leicht variierende Codes benutzt, wird eine genaue
Dechiffrierung, welche Sinn und Gehalt wieder in Einklang bringt, erschwert. Je größer nun
der zeitliche Abstand zu den jeweiligen Codierungssystemen ist, desto problematischer wird
die Rekonstruktion. Daraus resultiert ein „Ringen um die richtige Lesart“94.
Zender folgert aus diesen Überlegungen, dass schriftliche Fixierung niemals dazu dienen
könne, geistige Traditionen unverfälscht weiterzugeben.95 Ähnliches lässt sich auch in der
Schriftkritik Platons am Ende des Phaidros finden. In seiner Erläuterung zu diesem Werk
konkretisiert Wieland diesen Sachverhalt wie folgt: „Wer über wirkliches Wissen verfügt,
wird [...] allenfalls zum Spiel oder zum Zweck der Erinnerungshilfe versuchen, den Inhalt
dieses Wissens in einem Text darzustellen. Gerade ihm ist klar, dass das, was das Wissen erst
zum Wissen macht, im Text gar nicht greifbar wird.“96 Der Notentext steht zwischen
Komponist und Interpret, ohne zwischen diesen sinnverlustfrei vermitteln zu können. Der
Text ist, so Zender, nie mit der Autorintention identisch und somit kann selbst die genaue
Dechiffrierung niemals nur aus dem Text allein ein authentisch klingendes Werk
zurückgewinnen:
90
Memoria: Wissensgüter werden über Generationen ohne schriftliche Fixierung auf mündlichem Weg durch
das Medium der Erinnerung vermittelt und bewahrt.
91
Vgl. Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 211.
92
Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 211.
93
Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 211.
94
Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 211.
95
Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 211.
96
Zitiert nach: Danuser: Musikalische Interpretation, S. 5.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
28
„Immer ist der größere Anteil einer jeden Überlieferung durch den ungeschriebenen Kontext der
- JANINE CHRISTGEN
Gewohnheiten der Entstehungszeit gegeben, und die Zeichen eines Textes verändern sich mit diesen.
Die musikalische Syntax, in deren Rahmen Zeichen gebraucht werden, wandelt sich. So ist es
unvermeidlich, dass auch deren graphische Symbole einem Bedeutungswandel unterliegen.“97
Daher ist „Rezeption von Texten immer Deutung aus einer bestimmten geschichtlichen
Situation heraus.“98 Aus diesen Überlegungen schließt Zender, dass musikalische Notation
Aktionsanweisung für den Interpreten und Quelle für das Verstehen von Musik sei.99 Das
Zeichen bedarf folglich der Auslegung, der „lecture“, da das „Beste der Musik,“100 um noch
einmal Mahlers Begrifflichkeit aufzugreifen, eben nicht im Notentext steht. Dieser Vorgang
ist notwendig, da im „Moment des Erklingens [...] die gefrorene Form der Schrift wieder in
den lebendigen Fluss der Zeit versetzt wird.“101 Zender verlangt vom Interpreten die Lösung
jener Knoten, die der Komponist in seiner Komposition hinterlassen hat. Hierzu ist es jedoch
unumgänglich, auch die „musikalische Topik“102 zu beachten, die zeitliche Bedingtheit des
Werks. Daraus folgt, dass der Versuch, Musik in der schriftlichen Fixierung gänzlich zu
determinieren, scheitern muss. Zum einen, da keine Chiffrierung eindeutig zu dechiffrieren
wäre, zum anderen, da Musik verständlich bleiben muss. Ihr Charakter muss den Menschen
und ihren Hörgewohnheiten angepasst werden, die divergenten Welten von Entstehung und
Rezeption zum Ausgleich gebracht werden. Carl Dahlhaus spricht in dieser Beziehung von
„objektivierbarem Datum und zu rekonstruierendem historischen Faktum“103. Danuser
schließt aus dieser Aufsplittung von Dahlhaus, „dass es eine Musikgeschichtsschreibung ohne
>Interpretation< seitens des Historiographen nicht geben kann, so ist auf dem Gebiet der
Aufführungspraxis die Hoffnung auf Objektivität verflogen und hat der Einsicht Platz
gemacht, dass auch – ja gerade – die praktische Rekonstruktionsversuche Alter Musik ohne
Hypothesen, Deutungen, also Interpretation undenkbar sind.“104
C Interpretation von Zeichensystemen
Interpretation erscheint also als einzig gangbarer Weg zur adäquaten Werkrekonstruktion.
Daher ist es entscheidend zu klären, was im Allgemeinen und im Besonderen von Zender
unter Interpretation verstanden wird und was das Vorgehen bei der Interpretation bedingt.
97
Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 212.
Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 212.
99
Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 212.
100
Zitiert nach: Mauser, Siegfried: Theorien zur Interpretation Neuer Musik, S. 21.
101
Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 212.
102
Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 212.
103
Zitiert nach: Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1053.
104
Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1053.
98
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
29
- JANINE CHRISTGEN
a Interpretationsmodi
Danuser teilt die musikalische Interpretation in drei mögliche Modi ein:105
I.
Historisch-rekonstruktiver Modus
II.
Traditioneller Modus
III.
Aktualisierender Modus
I Der historisch-rekonstruktive Modus
Dieser Modus hat als historische Aufführungspraxis seinen Ausgangspunkt in der Kultur der
geschichtlichen Rekonstruktion der ursprünglichen Aufführungsart eines Werks. „Eine
„historisch richtige“ Aufführung gibt es allerdings nicht.“106 Durch historische Forschung und
musikalische Praxis wird der Versuch unternommen, den Zeithorizont einer vergangenen
Epoche in die Gegenwart zu transferieren. Die historischen Bedingungen können dabei
annähernd, niemals aber vollständig rekonstruiert werden. „Im ästhetischen und
lebensweltlichen Bewusstsein einer späteren Gegenwart findet das Rekonstruktionsbemühen
eine unüberschreitbare Schranke.“ 107
II Der traditionelle Modus
Dieser Interpretationszugang ist nicht vorrangig durch die Werktreue, sondern durch die
Einfügung in die Geschichte der Werkinterpretation bestimmt. „Aufgrund der Überzeugung,
dass die großen Werke der musikalischen >Ausdruckskunst< in der Gestaltungskraft des
Interpreten ihre letzte Begründungsinstanz finden müssten, misst dieser Modus der
historischen Rekonstruktion des Werks wenig Gewicht bei.“108
III Der aktualisierende Modus
Wenngleich dieser Modus erst im 20. Jahrhundert eigenständige Bedeutung gewinnt, so weist
Danuser dennoch darauf hin, dass sich Vorformen in der Aufführungsgeschichte vom
Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert nachweisen lassen. „In früheren Zeiten war es für den
Interpreten selbstverständlich, ein Musikwerk, das sie zum Erklingen bringen wollten, durch
bearbeitende Maßnahmen ihrer Zeit, den eigenen ästhetischen Idealen, den Voraussetzungen
105
Vgl.: Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1057-1059.
Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1057.
107
Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1057.
108
Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1058.
106
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
30
- JANINEeines
CHRISTGEN
zeitgenössischen Hörens nach Gutdünken anzupassen.“109 Ziel ist es, die Autorintention
„auch unter veränderten Umständen einzulösen und die Werke einer neuen Gegenwart
zuzuführen.“110 In der neuesten Zeit zeichnet sich diese Interpretationsform durch die ihr
zugrundeliegende Idee, „problemgeschichtliche Beziehungen zwischen musikalischen
Denkformen der Gegenwart und Prinzipien älterer Musik aufzuspüren aus.“ 111 Ziel ist es,
Werke so darzustellen, dass „Züge, die ihnen ursprünglich allenfalls verborgen innewohnten,
zu lebendiger ästhetischer Gegenwart erhoben werden.“112
b Musikalische Interpretations- und Übersetzungsarbeit
Aus dem zuletzt Zitierten lässt sich schließen, „dass jede Interpretation nur eine von mehreren
Möglichkeiten darstellt.“113 An dieser Stelle ist es möglich, Zenders Auffassung von
Interpretation anzubinden und sein Verständnis von musikalischer Übersetzungsarbeit zu
integrieren.
Zender definiert Interpretation wie folgt: „Es ist Neudeutung, Neugeburt aus der eigenen
Individualität, Umschaffung alter Gestalt durch die Versetzung in neuen Kontext.“114
Zwischen Werk und Interpretation scheint ein dialektisches Verhältnis zu existieren. Das
Werk ist nur verklanglicht in seiner gänzlichen Wahrheit erfahrbar. Zur akustischen
Umsetzung aber ist eine Interpretation der musikalischen Zeichen notwendig, welche es
vermag, die Zeitlichkeit des Werks „in eine aktuelle, ästhetisch erfahrbare Zeitlichkeit zu
übersetzen.“115 Es muss also eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart
gezogen werden. „Jeder künstlerische Prozess, der des Interpretierens wie der der
Neuschöpfung, ist immer auch die Auseinandersetzung eines aktuellen Bewusstseins mit
einem vorgegebenen, von der Vergangenheit empfangenen Material. [...] Die Geschichte
spielt immer mit.“116 Scheinbar veraltete Kulturformen bedürfen der Neudeutung, um wieder
zugänglich zu werden. Zender begreift gerade die Kraft des „Sich-Erinnerns“, des
Zurückwendens als „Wieder-holen“ von Vergangenem als eine Möglichkeit der Gegenwartsund Zukunftsbewältigung. Hölderlin schreibt in dem im Jahr 2000 von Zender vertonten
109
Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1059.
Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1059.
111
Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1059.
112
Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1059.
113
Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1055.
114
Zender, Hans: Interpretation- Schrift- Komposition, S. 216.
115
Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1065.
116
Zender, Hans: Ein Vierteljahrhundert später, S. 6.
110
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
31
- JANINEGedicht
CHRISTGEN
Mnemosyne: „Zeichen sind wir, deutungslos,/Schmerzlos sind wir und haben fast/
Die Sprache in der Fremde verloren.“117
Mnemosyne, die Mutter der Musen, „ist im gleichen Moment in die Zukunft eilender
utopischer Entwurf und Erinnerung an das Uralte.“118 Gadamer spricht in diesem
Zusammenhang von
einer
>Horizontverschmelzung<,
welche
den
Horizont
eines
ursprünglichen Textes mit dem Gegenwärtigen zu verbinden vermag. 119 Zeichen, die in ihrer
Chiffrierung nicht mehr verstanden werden, sind deutungslos, haben ihre Sprachfähigkeit in
einer vergangenen Zeit eingebüßt. Was sie uns zu sagen haben, hat nicht an Relevanz,
sondern vielleicht nur an Verständlichkeit verloren und bedarf nun der Übersetzungstätigkeit
des Interpreten. Auch Ferruccio Busoni geht auf diesen Aspekt in seinem „Entwurf einer
neuen Ästhetik der Tonkunst“ ein:
„Die Notation, die Aufschreibung von Musikstücken ist zuerst ein ingeniöser Behelf, eine
Improvisation festzuhalten, um sie wiedererstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu dieser wie das
Porträt zum lebendigen Modell. Der Vortragende hat die Starrheit der Zeichen wieder aufzulösen und in
Bewegung zu bringen. [...] Was der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration durch die Zeichen
eingebüßt hat, daß soll der Vortragende durch seine eigene wiederherstellen.“120
Fraglich ist nur: Gibt es überhaupt eine wahre Übersetzung des Textes und wie gelingt die
>Horizontverschmelzung<?
c Die „lecture“
Zenders Antwort auf diese Frage ist eindeutig: Er glaubt nicht an eine eindimensionale
Lesbarkeit von Texten. Seine Vorstellungen von der „lecture“ lassen dies deutlich
hervortreten. Er versucht, die arbiträren Zeichen individuell zu deuten und bezieht sich in
diesem Vorgehen auf Isers „Leerstellentheorie“. Zender verbalisiert dies folgendermaßen:
„Die Schrift des Komponisten entwirft vielmehr an Stelle des einen intendierten Stücks in Wirklichkeit
unendlich viele. [...] Durch die Erfindung der musikalischen Schrift ist also gerade nicht die
Möglichkeit entstanden, ein `musikalisches Objekt` eindeutig zu fixieren, sondern im Gegenteil die
Nötigung, die zugrundeliegende Schrift eines Komponisten aus der Individualität des Interpreten und
den unter Umständen andersartigen Bedingungen seiner Epoche heraus neu zu lesen.“ 121
117
Zitiert nach: Vogt, Harry: Musik der Zeit, S. 10.
Zender, Hans: Ein Vierteljahrhundert später, S. 7.
119
Vgl. Danuser, Hermann: Musikalische Interpretation, S. 56.
120
Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 20.
121
Zender, Hans: Gedanken über die Bedeutung der schriftlichen Aufzeichnung für die Musik, S. 200.
118
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
32
- JANINEZender
CHRISTGEN
versteht die Urschrift als Basis für alle sich aus ihr formierenden differenten Lesarten,
die einmalig und individuell sind aber dem Werk in jeder einzelnen Auslegung die
Möglichkeit zur lebendigen Entfaltung bietet.122
Die Zeichen des Notentextes sind also als zu interpretierende Symbolschichten zu verstehen.
Der Interpret kann „zwischen unendlich vielen Lesemöglichkeiten“123 wählen. Doch wie
entstehen diese Lesarten?
Grundlegend besteht ein „Mangel an Bestimmtheit.“124 Vergleicht man dies mit dem
zeichentheoretischen Modell Saussures, zeigt sich die Divergenz von Signifikat und
Signifikant. Bezeichnendes und Bezeichnetes lassen sich nicht zweifelsfrei zuordnen. Die
Arbitrarität des Zeichens wirft somit zum einen die Krisenerfahrung der Unmöglichkeit des
unfehlbaren sprachlichen Ausdrucks auf, der vor Augen führt, dass Sprachakte misslingen
können, zum anderen die Erfahrung der Interpretationsfreiheit, die dem Werk immer neue
Perspektiven und Lesarten eröffnet. „Während in der ternären Zeichenstruktur seit der Stoa
das Bezeichnende und das Bezeichnete durch eine Konjunktur verbunden sind, die einen
nicht-arbiträren Zusammenhang zwischen Sprache und Welt herstellt, [...] wird die
Anordnung der Zeichen binär, weil man sie seit Port Royal durch die Verbindung eines
Bezeichnenden und eines Bezeichneten definiert“125, die sich arbiträr zueinander verhalten.
Auch der Komponist erstellt daher in gewisser Weise durch die Verschriftlichung seiner
musikalischen Vorstellungen bereits eine Interpretation. Die Zeichen können nie exakt die
Autorintention wiedergeben. „Das Formgeben selbst ist also schon eine Interpretation durch
den Komponisten“126. In ähnlicher Weise äußert sich auch Ferruccio Busoni in seinem
„Entwurf“: „Jede Notation ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls. Mit dem
Augenblick, da die
Feder sich seiner bemächtigt,
verliert der
Gedanke seine
Originalgestalt.“127 Aus dieser Feststellung folgert Zender, dass, falls bereits die Schrift des
Autors Darstellung sei, das Tun des Interpreten zur Interpretation zweiter Ordnung werde, zur
„Darstellung der Darstellung“.128 Der „Leser“ oder Interpret ist nun vor die Aufgabe gestellt
122
Vgl.: Zender, Hans: Gedanken über die Bedeutung der schriftlichen Aufzeichnung für die Musik, S. 201.
Zender, Hans: Musikalische Interpretation und Übersetzungsarbeit, S. 226.
124
Cadenbach, Rainer: Der implizite Hörer?, S. 153.
125
Gebauer, Gunter/ Wulf, Christoph: Unsinnliche Ähnlichkeit: zur Sprachanthropologie W. Benjamins, S. 375f.
126
Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 216.
127
Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 22.
128
Vgl. Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 216-217.
123
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
33
- JANINE„herauszufinden,
CHRISTGENwas sich in der Schrift ausdrückt.“129 „Der Leser muss die Abstraktion der
Schrift wieder lösen, konkretisieren, mit >Leben< füllen.“130
d Der Akt des Lesens
Lesen bedeutet einen Text verarbeiten, mit ihm kommunizieren. Eine solche Kommunikation
ist nur durch die Interaktion zwischen Text und Leser möglich.131 Wolfgang Iser geht davon
aus, dass ein Text sich nicht auf eine einzige Wahrheitskonfiguration festlegen lässt. Schon
alleine, weil „die Schrift immer mehr ausdrückt, als dies dem Schreibenden bewusst ist“132.
Als Gründe für diesen Sachverhalt wurden bereits angeführt:
1.
2.
3.
Arbritrarität der Zeichen,
Wandel der Chiffren und ihrer Bedeutung,
Wandel der Rezipienten (u.a. aus historischen und soziologischen Gründen)
Dennoch werden Texte über Jahrhunderte rezipiert und immer neue Aspekte aus ihrer Textur
herausgearbeitet. Ein Text scheint kein Konsumgut zu sein, welches sich „verbraucht“.
„Es charakterisiert Texte, dass sie ihre Kommunikationsfähigkeit nicht verlieren, wenn ihre Zeit vorbei
ist; viele von ihnen vermögen auch dann noch zu `sprechen´, wenn ihre ´Botschaft` längst historisch
und ihre ´Bedeutung´ schon trivial geworden ist.“ 133
Es ist unmöglich, den einen Sinn als den eigentlichen Kern eines Werks aus dem Text
herauszulösen und jenen so als „leere Schale“, der „Bedeutung entrissen“ zu hinterlassen.134
Der „Text sperrt sich gegen seine Konsumierbarkeit“135 ebenso, wie gegen eindeutige
interpretatorische Festlegung. Der Leser muss sich gerade von vorgegebenen Lesarten
befreien. Iser nennt dieses Vorgehen „Negativierung“. Erst im Preisgeben der mitgebrachten
Maßstäbe, so Iser, liege die Möglichkeit, sich das vorzustellen, was durch den Sinn des Textes
real intendiert sei. Susan Sontag zentriert diese Aussage in ihrem Aufsatz „Against
interpretation“: „The modern style of interpretation excavates, and as it excavates, destroys; it
digs ´behind´ the text, to find a sub-text which is the true one.”136 Gäbe es nur diese eine
Möglichkeit der Interpretation, würde der Text seine Sprachfähigkeit einbüßen und jede
Überzeitlichkeit und Kontinuität von Text erlöschen. Es muss folglich ergründet werden, wie
129
Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Unsinnliche Ähnlichkeit: zur Sprachanthropologie W. Benjamins, S. 377.
Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Unsinnliche Ähnlichkeit: zur Sprachanthropologie W. Benjamins, S. 377.
131
Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 7-8.
132
Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Unsinnliche Ähnlichkeit: zur Sprachanthropologie W. Benjamins, S. 377.
133
Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 28.
134
Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 14.
135
Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 18.
136
Sontag, Susan: Against interpretation, S. 6f.
130
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
34
- JANINEein
CHRISTGEN
optimales Verhältnis zwischen Text und Leser aussehen könnte und welche Faktoren
dieses Verhältnis bestimmen. Dazu soll im Folgenden Isers Theorie des Impliziten Lesers und
jenes der Leerstellen, welches auf Roman Ingardens Konzept der Unbestimmtheitsstellen
beruht, erläutert werden. Die Darstellung folgt im Wesentlichen jener Konzeption, die
Wolfgang Iser in seinem Buch „Der Akt des Lesens“ darlegt.
I Das Konzept des „Impliziten Lesers“
Ein Werk wirft also, wie zuvor untersucht, unterschiedliche Deutungspotentiale auf, die zu
immer neuen Lesarten führen. Lesen wird zum Vorgang von Sinnkonstitution und somit zur
Interpretation. „Interpretation (aber) heißt nun nicht mehr Sinn entschlüsseln, sondern
Sinnpotentiale verdeutlichen, die ein Text parat hält, weshalb sich die im Lesen erfolgende
Aktualisierung als ein Kommunikationsprozess vollzieht.“137 Sicher ist aber auch, dass die
durch den Text eröffneten Sinnpotentiale niemals vollständig ausgeschöpft werden können.
Eine solche Ausschöpfung würde auch wiederum zur Entleerung des Werks führen und ihm
eine überzeitliche Gültigkeit verwehren. Ohne den Leser und seine schöpferische
Mitgestaltung allerdings würden sich keinerlei Sinnpotentiale erschließen und der Text somit
verschlossen bleiben. Die Leser- und Interpretationsrolle ist daher für die Lebendigkeit eines
Werkes unabdingbar, ja sogar, nach Iser, bereits in der Textkonzeption einbeschrieben, als
impliziter Leser. Er besitzt „keine reale Existenz, denn er verkörpert die Gesamtheit der
Vororientierungen, die ein Text seinen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet.“138 Iser
spricht bewusst von einem Angebot, welches der Text und nicht der Autor offenbart, denn der
Text offeriert, wie gezeigt, ein größeres Sinnangebot als das vom Autor intendierte. Man
könnte mit Foucaults Worten vom ´Tod des Autors´ sprechen. Schreiben ist für Foucault
selbstreferentiell geworden: „Schreiben ist ein Zeichenspiel, das sich weniger nach seinem
bedeuteten Inhalt als nach dem Wesen des Bedeuteten richtet. [...] In Frage steht die Öffnung
eines Raumes, in dem das schreibende Subjekt immer wieder verschwindet.“139 Wenngleich
es hier nicht um eine solch radikale Infragestellung der Autorposition geht, soll verdeutlicht
werden, dass der Text nicht nur den Autorwillen abbildet.
Aber auch der Leser kann nur gewisse Sinnangebote ausschöpfen. „Daraus folgt, dass die
Leserrolle des Textes historisch und individuell unterschiedlich realisiert wird, je nach den
lebensweltlichen Dispositionen sowie dem Vorverständnis, das der einzelne Leser in die
137
Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 42.
Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 60.
139
Foucault, Michel: Was ist ein Autor, S. 11.
138
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
35
- JANINELektüre
CHRISTGEN
einbringt.“140 Intention und Erfüllung können in Gänze nur im fiktiven Konzept des
impliziten Lesers zusammenfallen.
„Ist aber jede Aktualisierung eine bestimmte Besetzung der Struktur des impliziten Lesers, dann bildet
diese Struktur eine Referenz, die die individuelle Rezeption des Textes intersubjektiv zugänglich macht.
Damit kommt eine zentrale Funktion des impliziten Lesers zum Vorschein: Es ist ein Konzept, das den
Beziehungshorizont für die Vielfalt historischer und individueller Aktualisierungen der Texte
bereitstellt, um diese in ihrer Besonderheit analysieren zu können.“141
Der implizite Leser vereinigt also alle möglichen Lesarten und Leserrollen in sich. Nun ist zu
klären, wie die divergenten Lesarten entstehen können.
II Die „Leerstellentheorie“
Im Folgenden ist die „Text-Leser-Beziehung“ näher zu untersuchen.
„Das Lesen als eine vom Text gelenkte Aktivität koppelt den Verarbeitungsprozess des Textes als
Wirkung auf den Leser zurück. Dieses wechselseitige Einwirken aufeinander soll als Interaktion
bezeichnet werden.“142
Interaktion ist von Kontingenzbeträgen bestimmt. Die Kontingenz ist Konstituente jeder
menschlichen
Kommunikation.
Sie
ist
die
„in
aller
Interaktion
herrschende
Unvorhersehbarkeit“143, die zur Konstitutionsbedingung für Kommunikation überhaupt wird.
Der Text aber vermag keine solche dyadische Interaktion zu leisten. Da er auf die Fragen, die
der Leser ihm entgegen bringt nur bedingt zu antworten vermag, entsteht eine „konstitutive
Leere“144. Diesem Mangel muss der Leser durch „eigene Projektionen“ entgegenwirken. Es
sind kommunikative Unbestimmtheitsstellen, die vom Leser gefüllt werden müssen, damit die
Kommunikation gelingen kann. Hier entsteht also Kommunikation aus der Dialektik von
Verschwiegenem und Zusagendem. „Das Verschwiegene (wird zum) Implikat des
Gesagten.“145
Leerstellen sind also „bestimmte Aussparungen, die Enklaven im Text markieren und sich so
der Besetzung durch den Leser anbieten. Denn es kennzeichnet die Leerstellen eines Systems,
dass sie nicht durch das System selbst, sondern nur durch ein anderes System besetzt werden
140
Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 65.
Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 66.
142
Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 257.
143
Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 257.
144
Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 263.
145
Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 265.
141
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
36
146
- JANINEkönnen.“
CHRISTGEN
Leerstellen bringen die „Konstitutionsaktivität des Lesers in Gang“ und
„regulieren die Vorstellungstätigkeit des Lesers“147.
Isers Konzept ist verwandt mit dem der Ingardenschen „Unbestimmtheitsstellen“. Ingarden
begreift
jedes
Kunstwerk
als
schematisches
Gebilde
mit
verschiedenartigen
Unbestimmtheitsstellen, die durch den Betrachter gefüllt werden müssen. Interessant ist die
dabei
auftretende
Ambivalenz,
dass
der
Gegenstand
in
dem
Maße
neue
Unbestimmtheitsstellen aufwirft, wie andere geschlossen werden. Die „Konkretisation“148
eines Kunstwerks kann also nie vollständig erfolgen. Wie diese Ausfüllung der
Unbestimmtheitsstellen sich im Einzelnen darstellt, soll an dieser Stelle nicht ausgeführt
werden, da Zenders Theorien zur Interpretation von ihnen nicht gefärbt sind.
Daher seien an dieser Stelle noch einmal jene, die Leerstellen bestimmenden Faktoren
zusammengetragen, die auch Zenders Nutzung dieses Terminus und sein Verständnis von
diesem beeinflussen:
1.
Unbestimmtheitsstellen sind Aussparungen im Text, die durch den Leser besetzt werden müssen.
2.
Jede Leerstelle bricht die Textkohärenz, welche durch die Aktivität des Lesers wiederhergestellt werden
muss.
3.
Jede Leerstelle kann auf mannigfaltige Weise gefüllt werden, wodurch divergente Lesarten entstehen.
4.
Divergente Lesarten erhalten die Lebendigkeit des Textes, definieren ihn immer wieder neu und
verhelfen ihm zu überzeitlicher Wirkung.
5.
Texte, die keine oder geringe Leerstellen aufweisen, fordern den Leser nicht zur Kommunikation auf
und entbehren somit schließlich der Fähigkeit, überzeitliche Relevanz zu erhalten.
4 Gründe der und Wahrheitsgehalt von Interpretation
A Die Verantwortung des Interpreten
Es ist deutlich geworden, dass Zender Text als Vermittlungsmedium von Musik begreift,
welches nicht ohne die Aktivität des Lesers aktualisiert werden kann. Weiterhin ist ein
Musikwerk für Zender immer als Klingendes zu denken und daher nur in seiner akustischen
Umsetzung lebendig. Diese Lebendigkeit des Werks aber kann wiederum nur vermittelt
146
Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 266.
Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 266.
148
Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk, S. 250.
147
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
37
- JANINEwerden,
CHRISTGEN
wenn der „Geist“149 des Werkes erfasst und seine „Form“150 gemäß den gewandelten
Rezeptionsbedingungen umgeformt wird. Dies geschieht durch den zuvor erörterten Vorgang
der „lecture“.
Zender formuliert seine Überlegungen zur Notwendigkeit der Interpretation wie folgt: Es ist
„nicht allein die naive Vorstellung, die Schrift der Partitur sei ein Chiffre, die sich eindeutig
vom Spieler in Klang übertragen lasse“, sondern vor allem „die Tatsache, dass unsere
Empfindungen von Klang und Zeit ständig im Wandel begriffen sind und insofern jedes Werk
der Vergangenheit erst `gedolmetscht` werden muss.“151 Er führt im folgenden vier Gründe
für die Aktualisierungsnotwendigkeit (musikalischer) Werke an:152
1.
Bedeutungswandel der Schriftzeichen,
2.
Wandel des Instrumentariums und die daraus erwachsenden Veränderungen der Klangbalance,
3.
Wandel der Konzertlokalitäten,
4. Wandel des hörenden Bewusstseins.
Die Werke verlangen also nach der „Beteiligung der subjektiven Vorstellungen des
Interpreten.“153 Aber öffnet sich durch ein solches Verständnis von Interpretation nicht auch
„der Willkür Tür und Tor?“154 So fragt sich auch Zender, natürlich um dies im Folgenden zu
negieren. „Schöpferische Interpretation ist ohne kompositorisches Denken unmöglich, und
kompositorisches Denken heißt: verantwortlich mit Material umgehen.“155 Woraus resultiert
diese Verantwortlichkeit und welche Forderungen stellt sie?
B Das Erwachsen der Verantwortung
Zender sieht die Liebe zu einem Werk als konstitutive Voraussetzung zur verantwortlichen
Interpretation und zum produktiven Umgang mit einem Werk überhaupt.
„Erst durch den „enthousiasmo“, die Begeisterung, wird die Interpretation persönlich und so
schöpferisch. [...] Die schöpferische Interpretation sucht sich mit dem Geist des Werkes zu
identifizieren. Dies ist auch der Grund dafür, dass schöpferische Interpretation das Original nicht
beschädigt, auch wenn sie noch so frei damit umgeht. In der Interpretation wird sich zwar auch etwas
von der Individualität des Interpreten abdrücken, aber unabsichtlich und spontan. In dieser Spontaneität
wird die alte in eine neue Wahrheit verwandelt.“156
149
Vgl. Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 5.
Vgl. Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 5
151
Zender, Hans: Was kann Musik heute sein?, S. 148.
152
Vgl. Zender, Hans: Was kann Musik heute sein? S. 148.
153
Zender, Hans: Was kann Musik heute sein?, S. 149.
154
Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 219.
155
Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 219.
156
Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 217-218.
150
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
38
- JANINE CHRISTGEN
Diese Vorstellungen Zenders lassen sich in den philosophischen Überlegungen Adornos
wiederfinden. Adorno glaubt, dass ein Werk nur durch Hingabe erschlossen werden kann.
„Das Werk wird nicht untertan gemacht, sondern durch die aktiv-passive Angleichung des
Rezipienten vermag es in sein Inneres zu gelangen und dieses zu bereichern.“157 Es wird vom
Rezipienten als mit ihm identisch oder von ihm unterschieden erfasst. Aufgrund der
Hinwendung, mittels der „Erweiterung des Subjekts durch die Öffnung für die Welt“158
erfährt das Ich sich selbst neu. Indem es sich in die liebende Beziehung zum Werk setzt,
welches als sein Nicht-Ich (im Hegelschen Sinn) erscheint, kann es die Konturen des eigenen
Ichs fassen. Ziel dieser Bewegung ist die Vermittlung zwischen Werk und Rezipient, die aus
einer solchen Grundkonstellation resultiert.
„Wahrheit“, so Adorno, „zeigt sich zwischen dem Werk und dem Rezipienten im beide verbindenden
mimetischen Impuls, der den Kern ästhetischer Erfahrung ausmacht, in der eine Vermittlung von Ich
und Nicht-Ich erfolgt, die alle Zwecksetzungen, Nützlichkeitsüberlegungen, Instrumentalisierungen
hinter sich lässt und in der der Vorrang des Objekts, der Natur der Nichtidentischen vom Rezipienten
erfasst wird. [...] Wenn die ästhetische Erfahrung einen durch den Bezug auf Wahrheit gegebenen
Erkenntnisgewinn liefert, ist sie nicht als subjektive Erfahrung allein beschreibbar. Vielmehr enthält sie
objektive im Werk liegende Komponenten.“159
Das bedeutet, dass durch die liebende Hinwendung zu einem Werk sich eine Erkenntnis
desselben begründet, die nicht rein subjektiv und willkürlich ist, sondern in den Kern des
Werks eindringt und seinen „Geist“ auf diese Weise rekonstruktiv zu erfassen vermag.
C Die Implikate der Verantwortung
Zender weist darauf hin, dass diese Liebe zu einem Werk erst dann entstehen kann, wenn „der
schöpferische Funke vom Autor auf den Interpreten“ überspringt, was eben erst in jenem
Moment der Fall sein kann, indem sich der Interpret in die „Gestalt `verliebt`, dadurch dass er
von ihr „besessen“ wird.“160 Eine solche Beziehung zwischen Interpret und Werk kann
allerdings nur entstehen, wenn am Anfang der Beschäftigung die „genaueste und intensivste
Aneignung des Urtextes (steht), samt Studien über die Entstehungszeit (und der) Geschichte
der Interpretation.“161 Die Anstrengung des Interpreten müsse immer erst durch die Schalen
der bisherigen Rezeption eines Textes hindurchdringen, bis sie dem Original so direkt wie
157
158
159
Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Lebendige Erfahrung – Adorno, S. 399.
Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Lebendige Erfahrung – Adorno, S. 398.
Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Lebendige Erfahrung – Adorno, S. 401.
Vgl. Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 217.
161
Vgl. Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 217.
160
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
39
- JANINEmöglich
CHRISTGEN
begegneten. Diese Begegnung schaffe dann, wenn sie glückt, absichtslos das
„Aktuelle“ einer neuen Lesart.162 Zender stellt also auch die geschichtliche Bedingtheit eines
Werks heraus:
„Jedes neu komponierte Werk steht, indem es als Punkt in der Gegenwart doch immer verbunden bleibt
mit unzähligen Aspekten von Geschichte, ausdrücklich reflektiert. Dazu gehört auch die Einsicht in den
mimetischen Charakter von Schrift.“163
Was meint Zender nun mit dem mimetischen Charakter von Schrift? Zender folgt in seiner
Auffassung dieses Begriffs der Intertextualitätstheorie Derridas.
Jeder Text steht nach Derrida in einem mimetischen Verhältnis zu anderen Texten. Dieses
Verhältnis ist hauptsächlich kein bewusst impliziertes, sondern ein unbewusstes Verweisen.
„Es gibt keine erste Schrift und kein erstes Lesen; jedes Beginnen verdankt sich einer Doppelung. In
jedem Schreiben ist der Bezug auf etwas Vergangenes bereits gegeben. [...] Texte erschließen sich nicht
als begrenzte Wortkörper; sie haben eine Geschichte. [...] Sie haben so nie den Charakter von
Originalen.“164
Dieses mimetische Verweisspiel aber schmälert den Text nicht, sondern bereichert ihn. „Jeder
Text hat eine <unendliche> Dichte.“165 Nach Derrida wird der Text gerade von diesem
Vervielfältigungsprinzip, der „différence“ geprägt und konstituiert. „Différence“ ist das Spiel
zwischen An- und Abwesenheit von Sinn. Sie besteht auch zwischen dem lebendigen Wort
und dem Schriftzeichen, welches als Verdopplung des Wortes nur als Simulakrum für jenes
stehen kann. Der Tod der lebendigen Sprache ist Konstituente der Schrift. Die Schrift und die
durch sie entstehenden Begriffe werfen wieder eine Bedeutungsvielfalt auf, die sich je nach
Leser in unterschiedlichen Lesarten und Diskursen spiegeln können. Auf diese Weise
entstehen immer neue intertextuelle Bezüge, die dem Werk die Möglichkeit bieten, durch alle
Zeiten hindurch präsent zu bleiben und ihre Relevanz zu erhalten; lebendig zu bleiben,
Tradition zu kontinuieren und gleichzeitig produktiv Neues zu schaffen, zu bewahren und zu
gestalten, mit anderen Worten „gegenstrebige Fügung.“166 Dieses anfangs ausgeführte
Paradox Heraklitscher Provenienz beleuchtet hier noch einmal Zenders Gedanken. Harmonia
als
hervorgebrachte
Einheit
aus
Widerstrebendem.
Zender
versucht,
in
seiner
Interpretationstheorie gerade ein Ideal aufzustellen, dass Geschichte und Gegenwart, Wort/
Klang und Schrift, sowie Zeichen und Deutungsvielfalt zum Ausgleich bringt.
162
Vgl. Zender, Hans: Auge und Ohr. Gedanken zum Theater – Exkurs: Autor und Interpret, S. 41.
Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 219-220.
164
Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Der Zwischencharakter der Mimesis – Derrida, S. 406.
165
Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Der Zwischencharakter der Mimesis – Derrida, S. 406.
166
Zender, Hans: Wir steigen niemals in denselben Fluß, S. 187.
163
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
40
- JANINEDazu
CHRISTGEN
ist jedoch auch die Rolle des Hörers neu zu definieren.
5 Die Rolle des Rezipienten
Zender geht es um eine neue Art des Hörens, um unmittelbare Rezeption und um Teilhabe an
der Werkgenese, um ein Hinaustreten aus einer reinen Konsumhaltung. Er folgt hier den
Gedankengängen Georg Pichts und vor allem den in dessen Werken „Kunst und Mythos“ und
„Real Presences“ formulierten Einsichten. „Für Picht sind die Sinne, ist das Ohr selbst schon
zu einer qualitativen Leistung fähig und nicht erst die reflektierende Vernunft.“167 Zender will
gerade diese Fähigkeit des Hörers fördern. Er wünscht sich einen Hörer, der „Ungewohntes,
Unerhörtes vorurteilsfrei“ aufnehmen kann. Er kritisiert, dass das Kunstwerk dem Hörer meist
durch eine Flut von Kommentaren, Vorinterpretationen und Einführungen vermittelt werde
und eine direkte Begegnung mit dem Werk somit ausgeschlossen sei.167 Um aus dieser
routinemäßigen Rezeptionsform auszutreten, bedarf es zum einen einer Neubelebung der
„existentiellen Wucht des Originals“168, auf die in Kapitel IV eingegangen werden soll, zum
anderen eines neuen Verständnisses der Hörerrolle. Das klassische Kommunikationsschema
wird aufgebrochen.
In jenem Modell wird einzig dem Komponisten schöpferisches Potential zugestanden. Der
Interpret hat rein darstellende Funktion, so daß die mimetische Werknachahmung fast Züge
eines blinden Gehorsams gegenüber dem Notentext aufweist, also gleichbedeutend mit einer
reinen Imitatio oder Mimikry ist. Dem Hörer fällt eine ausschließlich passive Rolle zu, indem
er die vom Interpreten erzeugte klingende Darstellung des produktiv durch den Komponisten
geschaffenen Notentextes rezipiert.
Das kommunikationstheoretische Modell Zenders macht sowohl den Interpreten zum
Mitschöpfer, wie den Hörer zum Handelnden. Die schöpferische Tätigkeit bezieht sich also
nicht mehr länger ausschließlich auf den Komponisten, sondern umschließt die Gesamtheit
der kommunikationstheoretischen Trias.
Zur Darstellung sei auf das von Katrin Bernhard in Anhang II.2 aufgestellte Schema
verwiesen, in dem oben das traditionelle Kommunikationsschema unten die Umdeutung durch
Zender abzulesen ist.169
167
Zender, Hans: Was kann Musik heute sein?, S. 154.
Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 223.
169
Bernhard, Katrin: Reisebericht, Sekundäres zur Winterreise, S. 57.
168
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
41
- JANINEInwiefern
CHRISTGEN
diese theoretischen Ideale Umsetzung und Eingang in Zenders Schaffen gefunden
haben und wie die moderne Rezeption in realiter mit einem Werk der Vergangenheit umgeht,
soll im Folgenden geklärt werden.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
42
- JANINE CHRISTGEN
IV Zenders komponierte Interpretation
1 Wege zu Zender
Seit dem 19. Jahrhundert hat es immer wieder kompositorische Versuche gegeben, auf die
spezifische Intensität der Schubertschen Musik aufmerksam zu machen, was, wie Hiekel
anmerkt, wohl in Verbindung mit dem enormen Potential an gestalterischen Möglichkeiten
steht, welches diese Musik bereithält und dazu anregt, sich produktiv mit „diesen Ideen
auseinander zu setzen, sie aufzunehmen und weitzuerdenken.“170
Die Betrachtung der Rezeptions- und Interpretationsgeschichte der „Winterreise“ ist daher gerade auch wegen ihrer Reichhaltigkeit - entscheidend für ein adäquates Verständnis von
Zenders Werk. Dieses steht nicht isoliert, sondern hat Vorläufer, von deren Techniken und
gedanklicher Vorstellungswelt es nicht unberührt bleibt. Anschließend an die im II. Kapitel
beleuchtete Überzeitlichkeitsthematik, die grundlegend für die Werkrezeption ist, soll an
dieser Stelle gezeigt werden, inwieweit diese Faktoren die Rezeption konkret beeinflussen.
Die zu Zender führenden Rezeptionsstationen sollen im Folgenden kurz umrissen werden, so
dass ihre substantiellen Eigenarten hervortreten. Zur Übersicht sei auf Anhang III verwiesen.
A Die Transkriptionen Liszts
Die produktiv variierende und neuschaffende Rezeption der „Winterreise“ beginnt mit Liszts
Klaviertranskription, die im Zuge der Bearbeitung von Schubertliedern in den Jahren 18331846 entstand, also in den Jahren extensiver Konzerttätigkeit Liszts in ganz Europa. Es
scheint zwei konstitutive Faktoren zu geben, die die Rezeption Liszts bestimmen. Diese sind
zum einen der Gedanke, das Werk durch Anpassung an die Hörgewohnheiten des Publikums
einem breiteren Rezipientenkreis zugänglich zu machen, zum anderen die Herausarbeitung
einer individuell interpretierenden Lesart.
Horst Weber sieht den komponierenden Virtuosen als Vermittler für Werke anderer
Komponisten.171 Jene Werke wurden zur Zeit Liszts nicht vornehmlich in originaler
Besetzung und Satzfolge gespielt. „Liszts Transkriptionen der Schubertschen Lieder kamen
den Hörgewohnheiten des Publikums entgegen.“172 So knüpft Liszt in gewisser Weise, wie
Zender später, am Bewusstsein des Hörers an.
170
Hiekel, Jörn Peter: Schubert und das eigene Selbstverständnis, S. 289.
Weber, Horst: Liszts Winterreise, S. 591.
172
Weber, Horst: Liszts Winterreise, S. 591.
171
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
43
- JANINEDie
CHRISTGEN
individuell interpretierende Lesart Liszts zeigt sich in zwei Aspekten: zum einen in seinen
interpretatorischen Eingriffen, zum anderen im Einfluss individuell biographischer Faktoren
auf die Interpretation.173 Zu den interpretatorischen Freiheiten, die Liszt verwendet, zählen:
-
die Erweiterung der Vor-, Zwischen- und Nachspiele, bzw. deren Neukomposition,
freie Kürzungen und Variationen (z.B. rezitativische Einschübe in „Nebensonnen“) der Lieder, die sich
immer weiter vom Original ablösen,
die Hinzufügung und Erweiterung der rhythmischen Schichten,
die Veränderung der Liedfolge, was zur Akzentuierung einer neuen Lesart der Winterreise führt, in der
Trotz und Mut sich über die Verzweiflung erheben,
die Veränderung der Klangfarbe durch die rein instrumentale Umsetzung (Klavier),
die Herausarbeitung der Wendepunkte der Lieder (Dur–Moll-Konfrontationen Schuberts) durch
raumgreifende Figurationen,
die Konstitution der Komposition aus dem Erfindungskern des Schubertschen Liedes,
174
die Ausgestaltung der onomatopoetischen Elemente (z.B.: Wind im „Lindenbaum“).
Hinzu tritt, nach Heinemann, die Bestimmung der Interpretation durch die biographischen
Faktoren einer gescheiterten Beziehung wegen eines divergenten Verständnisses von
Künstlertum und sozialer Verantwortung. Liszt sah sich zur Unterstützung der
Überschwemmungsopfer in Ungarn durch Benefizkonzerte verpflichtet. Diese Entscheidung
wurde von seiner Lebensgefährtin nicht mitgetragen. Heinemann glaubt nun, dass die
Auswahl der Lieder und ihre Anordnung nicht alleine vom Bekanntheitsgrad, sondern auch
von diesen subjektiven Erlebnissen getragen wurden, von eben jenem Trotz und jener
Auflehnung gegen die Erfahrung der verschmähten Liebe aus Einsicht in die Notwendigkeit
des eigenen So-handelns.175
So zeigt sich bereits in dieser frühesten Rezeption einer „Re-lecture,“176 wie der „Gehalt in
einem
kompositorischen
Akt
der
Interpretation
neu
erschlossen“177
wird.
Viele
Bearbeitungsmethoden Liszts werden sich bei Zender wiederfinden, während sich die
Bedeutung des poetologischen Gehalts der „Winterreise“ im Bewusstsein der Rezeption noch
steigert. In besonderem Maße gewann in der gesamten Schubertrezeption, „das weit über ihre
Zeit hinaus bis in die Gegenwart Weisende“178 der Musik Bedeutung.
B Die „Winterreise“ Bredemeyers
1984 entsteht die Rezeption Bredemeyers, die sich im Wesentlichen mit den Vorgaben des
literarischen Subjets beschäftigt, während sie nicht explizit auf Schuberts Vorlage
173
Vgl. Heinemann, Michael: Am Ende: Der stürmische Morgen, S. 193.
Weber, Horst: Liszts Winterreise, S. 591.
175
Heinemann, Michael: Am Ende: Der stürmische Morgen, S. 193.
176
Heinemann, Michael: Am Ende: Der stürmische Morgen, S. 191.
177
Weber, Horst: Liszts Winterreise, S. 597.
178
Hiekel, Jörn Peter: Franz, Morton und andere, S. 37.
174
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
44
- JANINEzurückgreift.
CHRISTGEN
„Die Winterreise“ von Wilhelm Müller ist längst kein Gedichtzyklus mehr,
sondern durch Franz Schuberts Vertonung ausschließlich Musik, ein Liederzyklus,“179
konstatiert Jürg Stenzel 1995 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und fährt fort:
„1984 hat der Komponist Reiner Bredemeyer Müllers Werk ohne Schuberts Töne gelesen und
komponiert. Als scharfsinniger Künstler, als Intellektueller in der DDR erkannte er in Müller den
Gleichgesinnten, einen politisch hellen Kopf im Lande der Metternich-Zensur, der durch die Blume
konkrete Wahrheiten trotzdem zu sagen suchte: `Vielleicht sind die vielen Fragezeichen - 25 Stück! –
die den Müllerschen Text durchwuchern, so verdammt zeitgenössisch und uns not-wendig vertraut. Der
tödliche Ernst der Situation, in der sich der ‚Reisende’ permanent befindet, duldet selten
temperamentvollen Widerspruch (Kontrapunkt)`, schrieb Bredemeyer zu seiner „Winterreise“ für
Bariton, Horn und Klavier und fügte hinzu: „Die elegische Privatgeschichte, die Franz Schubert
exzellent nachempfunden hat, wollte ich nicht repetieren. Meine sicher durch die DDR geprägte Lesart
dieser Flucht eines gefeuerten Liedermachers (Wolf Biermann!) muss, glaube ich, sehr, sehr trocken,
absolut unbedauernd und distanziert sachlich, nicht einmal anklagend vorgestellt werden.“ 180
Die Komposition Bredemeyers ist Abbild einer modernen, tragischen Welt.181 Die Bitterkeit
und Trostlosigkeit, die Erfahrung von Einsamkeit, von Resignation und Erstarrung in der
Gesellschaft seiner damaligen Wahlheimat Ost-Berlin verbindet ihn mit Müller und schafft
die Vorraussetzung zur Rezeption. „Dass die »Winterreise« ein soziales Klima bezeichnet,
dass sie auf gefrorene Zustände in der späten DDR weist, mag in jedem Takt hörbar sein. Der
Komponist sah damals viele Parallelen zum Klima einer Gesellschaft, die für ihn deutliche
Züge des Vereisens, Vergreisens, Frierens hatte.“182
Es ist nicht erstaunlich, dass Brecht und Eisler Vorbilder Bredemeyers waren, spiegelt doch
auch Eislers „Hollywood-Liederbuch“ (in dem er Texte Brechts vertont) als Komposition
eines im amerikanischen Exil lebenden Deutschen ähnliche Erfahrungen wieder, wie diese
auch von Bredemeyer formuliert werden.183 Die Komposition Eislers genauer zu untersuchen,
ist in diesem Rahmen nicht möglich, dennoch sei darauf hingewiesen, dass auch sie mit der
„Winterreise“ Schuberts nicht alleine durch das Sujet der Fremdheits- und Isolationserfahrung
verbunden ist. In dem Lied „Über den Selbstmord“ zitiert Eisler darüber hinaus die Takte 7-9
aus Schuberts „Gute Nacht“ und stellt somit eine explizite Verbindung zwischen den Zyklen
her.184 Mit Bredemeyers Komposition liegt folglich ein Werk vor, dass vor allem die
Überzeitlichkeit der Winterreisethematik betont und damit die Rezeptionsweise der modernen
Auseinandersetzung mit diesem Werk spiegelt.
179
Stenzel, Jürg: Standhaft und frech Einspruch erhoben. www.reiner.bredemeyer.de.
Stenzel, Jürg: Standhaft und frech Einspruch erhoben. www.reiner.bredemeyer.de.
181
Vgl. Müller, Gerhard: Zum Tode des Komponisten Reiner Bredemeyer. www.reiner.bredemeyer.de.
182
Arnzoll, Stefan: Bagatellen für B. www.reiner.bredemeyer.de.
183
Hufschmidt, Wolfgang: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?, S. 158.
184
Vgl. Hufschmidt, Wolfgang: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?, S. 175.
180
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
45
- JANINE CHRISTGEN
C Die Rezeption Döhls
Friedhelm Döhl hat sich im Jahr 1985 gleich zweimal der Auseinandersetzung mit der
Schubertschen „Winterreise“ gestellt, woraus zunächst die De-Collage „Winterreise
Bruchstücke“ für Klavier resultierte, welche im Folgenden schließlich zur Grundlage für sein
„Winterreise. Streichquintett“ wurde. Erstere Bearbeitung erscheint in Form von sieben
Miniaturen, in denen Döhl sieben Lieder der „Winterreise“ jeweils „auf Motive, die ihm nach
dem Konzert in der Erinnerung nachklangen,“185 reduzierte. Die Bruchstücke erscheinen
eingebettet in ein Gewebe von Pausen, isoliert durch den Pedalnachhall, in Zeitgestalt,
Dynamik und Lage verfremdet, aber immer in der Gestalt, dass das Original stets als Folie
präsent bleibt.185 Ohne Worte soll „etwas der Ausdrucksvielfalt von Schuberts Winterreise
Vergleichbares (entstehen). Das Ziel ist deren klangliche Veranschaulichung, im Bewusstsein,
dass darin „unsere aktuelle menschliche Situation“186 reflektiert wird. Durch die Betonung des
Fragmentcharakters und der Pause als deren Zentralelement wird die Stille zum Mittel
musikalischen Ausdrucks. Diese Dekonstruktion sieht Döhl im Werk Schuberts selbst
verankert. „Der Leiermann“ sei Ausdruck des Verschwindens des Ichs, die Kolportierung
persönlichen Ausdrucks, Erkenntnis der Hoffnungslosigkeit und Einblick in die Sinnlosigkeit
des unablässigen Wanderns.187 Diesen bei Schubert angelegten Ausdruck zentriert Döhl in
seiner Rezeption. Noch deutlicher tritt Döhls Interpretation der „Winterreise“ als „Irrfahrt
eines Menschen in zunehmende Einsamkeit und Ausweglosigkeit“ in seinem Streichquintett
hervor.188 Die Wahl des Streichquintetts schafft den Verweis auf Schuberts C-Dur-Quintett,
weshalb Döhl bewusst die Besetzung mit zwei Violoncelli wählt, um die Verbindung zu
Schubert eindeutig zu gestalten. Darüber hinaus gibt Döhl seinen Liedern je ein Gedicht
Georg Trakels bei. Über Trakels Gedichte schreibt er, dass er in ihnen eine innere
Verwandtschaft zur Winterreise empfinde.189 Auf diese Weise schafft Döhl eine stimmige
Neukomposition, „die im assoziationsreichen Kommentieren von Schubert´schem Material
authentisch wird.“190 Er kommentiert Schubert und lässt die Literatur dabei eine vermittelnde
Rolle übernehmen. Somit zentriert Döhl die Aussage Schuberts durch eine individuelle
Lesart, die die „Winterreise“ für den Hörer auf ganz neue Weise zugänglich macht. Einige
185
Förstel, Francois: Winterreise 2001, S.121.
Hiekel, Jörn Peter: Schubert und das eigene Selbstverständnis, S. 283. [Hervorhebung im Original]
187
Vgl. Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 56.
188
Zitiert nach: Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 59.
189
Zitiert nach: Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 58.
190
Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 61.
186
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
46
- JANINEdieser
CHRISTGEN
Vorstellungen und Bearbeitungsformen werden sich auch in der Zugangsweise Zenders
spiegeln.
D Das „Experiment“ Rühms
Im Jahr 1990 entsteht aus der Auseinandersetzung mit Sprachverlusst und Sprachzerfall
Gehard Rühms „die winterreise – dahinterweise“, die sowohl als szenische Version für LiveAufführungen, wie auch als rein akustische Version von zwölf Hörbildern für den Rundfunk
vorliegt. Es handelt sich dabei um eine assonantische Übersetzung von Müllers Text, die den
Vokalbestand weitestgehend übernimmt, so dass trotz der nun entstehenden semantischen
Korrumpierung des Sinns „die klangliche Schale fast identisch mit dem Gedicht Müllers“191
bleibt. Dieser neue Text wird nun zu dem im Hintergrund abgespielten Werk Schuberts
rezitiert. Auf diese Weise werden Bekanntes und Fremdes verknüpft und das durch
alltäglichen Gebrauch Abgenutzte neu gehört. Rühm erläutert die Intention seiner Gestaltung
im Einführungstext des Programmbuchs:
„Die eigentümlich verzerrt wirkende Klanggestalt der Gedichte signalisiert eine halluzinative
Aussageschicht, die dahinter, nämlich hinter den Originalworten, zu liegen scheint und sie zugleich
konterkariert. So entsteht durch die intendierte semantische Unschärferelation eine Sinnvernebelung, die
eine tagträumerische Assoziationstätigkeit in Gang setzten mag.“192
Durch die multimediale Struktur wird ein komplexeres und genaueres Hören gefordert und
gefördert und der Rezipient aus seiner Konsumentenhaltung gerissen. Auch dies ist ein
Aspekt, der sich in Zenders Interpretation wiederfinden lässt.
Die dargestellten Rezeptionsformen, die der Interpretation Zenders vorausgehen und sich in
gewissen Aspekten von dessen Werk wiederfinden, ebnen nun den Weg zu einem
facettenreichen Verständnis der „Winterreise“ Zenders. Dieses soll nun sowohl im Ganzen
überblicksmäßig wie auch en detail an ausgewählten Beispielen besprochen werden. Daran
anschließend soll schließlich betrachtet werden, wie sich die auf Zenders Werk folgende bzw.
auf diesem aufbauende Rezeption darstellt.
191
192
Gruhn, Wilfried: Interpretation im Verstehensprozeß, S. 73.
Zitiert nach: Gruhn, Wilfried: Interpretation im Verstehensprozeß, S. 73.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
47
- JANINE CHRISTGEN
2 „Lecture“ als Vermittlung einer „verlorenen“ Sprache – Zenders Weg
zu Schubert
„Meine „lecture“ der Winterreise sucht nicht nach einer neuen expressiven Deutung, sondern macht
systematisch von Freiheiten Gebrauch, welche alle Interpreten sich normaler Weise auf intuitive Weise
zubilligen: Dehnung bzw. Raffung des Tempos, Transposition in andere Tonarten, Herausarbeiten
charakteristischer farblicher Nuancen. Dazu kommen die Möglichkeiten des „Lesens“ von Musik:
innerhalb des Textes zu springen, Zeilen mehrfach zu wiederholen, die Kontinuität zu unterbrechen,
verschiedene Lesarten der gleichen Stelle zu vergleichen...,“193
Auf diese Weise erläutert Zender sein Bearbeitungsverfahren. Zu den Formen der
Interpretation und des Lesens führt er als weitere Aspekte seiner Bearbeitungstechnik die
Orchestration, die Kontrafaktur, die Bewegung und die Klangchiffre an. Alle jene Techniken
bestimmen, so Zender, seine Interpretation. Daher sei im Folgenden kurz veranschaulicht,
welche Faktoren Zender unter den einzelnen Begrifflichkeiten subsumiert:194
Interpretation:
Lesen:
Orchestration:
Kontrafaktur:
Bewegung:
Klangchiffre:
Dehnung bzw. Raffung des Tempos, Transposition in andere Tonarten,
Herausarbeiten charakteristischer farblicher Nuancen
innerhalb des Textes springen, Zeilen mehrfach wiederholen, Kontinuität
unterbrechen, verschiedene Lesarten der gleichen Stelle vergleichen
Permutation von Klangfarben; Ausnutzung von besonderen
Klangmöglichkeiten
Hinzufügung frei erfundener Klänge als Vor-, Zwischen-, Nach- oder
simultane Zuspiele; Überleitungen; Verschiebung der Klänge im Raum
Gänge der Musiker im Raum
keimhafte musikalische Figur, aus der das ganze Lied sich zeitlich entfaltet;
Stimuli und Onomatopoetik
Die jeweils konstitutiven und signifikanten Bearbeitungsmerkmale der einzelnen Lieder
können Anhang VIII entnommen werden. Genauer veranschaulicht werden sollen die
einzelnen Merkmale schließlich an ausgewählten Liedern, die den Zyklus zentral bestimmen
und an denen sich Zenders Arbeitsweise prototypisch darstellen lässt.
Entscheidend ist jedoch nicht allein wie, sondern vor allem auch warum Zender Schubert
gerade so interpretiert, wie er es tut. Hier spielen jene Aspekte eine entscheidende Rolle, die
in den Kapiteln II und III dargestellt wurden, also zum einen die Überzeitlichkeit des Sujets,
wobei sich Zender besonders auf Padrutts lebensphilosophische Auslegung bezieht,195 zum
anderen die Wiederherstellung der Sprachfähigkeit von Musik vergangener Epochen. An
letztgenanntes schließt auch jene Überlegung an, die an früherer Stelle (Kapitel III) bereits
erwähnt aber noch nicht ausgeführt wurde. Es handelt sich um Zenders Idee, die „existentielle
193
Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 221.
Vgl. Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 221.
195
Vgl. Gruhn, Wilfried: Wider die ästhetische Routine, S. 46.
194
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
48
- JANINEWucht
CHRISTGEN
des Originals“196 wiederzubeleben. Zender betont, dass Schubert während der
Komposition dieser Lieder nur selten und sehr verstört bei seinen Freunden erschienen sei.
Die ersten Aufführungen hätten daher eher Schrecken als Wohlgefallen ausgelöst. 197 In
Aufzeichnungen Spauns über den Briefverkehr mit Schubert lässt sich dies verifizieren:
„Schubert wurde durch einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen. Auf meine Frage, was in
ihm vorgehe, sagte er nur, `nun ihr werdet es bald hören und begreifen.´ Eines Tages sagte er zu mir,
`komm heute zu Schober, ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen. Ich bin begierig,
was ihr dazu sagt. Sie haben mich mehr angegriffen, als dies je bei anderen Liedern der Fall war.´ Er
sang uns nun mit bewegter Stimme die ganze `Winterreise´ durch. Wir waren über die düstere
Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft, und Schober sagte, es habe ihm nur ein Lied, ´Der Lindenbaum´
gefallen. Schubert sagte hierauf nur, „mir gefallen diese Lieder mehr als alle, und sie werden euch auch
noch gefallen.“198
Zenders Ziel ist es daher, die ästhetische Routine der Klassiker-Rezeption aufzubrechen.199 Er
glaubt eben nicht, dass man einem Werk wie der „Winterreise“, welches Zender als Ikone
unserer Musiktradition und als großes Meisterwerk Europas bezeichnet, gerecht werden kann,
indem man es in „heute üblicher Form - zwei Herren im Frack, Steinway, ein meist sehr
großer Saal“200 darstellt. Das Werk soll für den Hörer wieder unmittelbar zu fassen sein. Wie
Zender dieses Ideal verfolgt, soll im Weiteren dargestellt werden.
3 Schubert und Zender - Gemeinsamkeiten und Divergenzen
Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern die Werke Schuberts und Zenders in
werkbestimmenden Aspekten Gemeinsamkeiten erkennen lassen bzw. an welchen Punkten
Zender durch seine Bearbeitung eine andere Gewichtung dieser Gesichtspunkte vornimmt
oder gar gänzlich divergente Neuerungen schafft. Im Anschluss sollen diese und andere
Determinanten in einer Detailanalyse anhand ausgewählter Lieder veranschaulicht werden.
A Zyklusbildung und Tonartendisposition
Zender folgt in seiner Interpretation größtenteils der „originalen“ Tonartendisposition
Schuberts, also jener, welche in der autographen Fassung zu finden ist (vgl. Anhang IV). Um
diese Konzeption genauer zu betrachten, ist es sinnvoll, zunächst die Überlieferungssituation
der „Winterreise“ Schuberts darzustellen und darauf aufbauend zu verfolgen, welche
196
Zender, Hans: Notizen zu meiner Komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise“, S. 223.
Vgl. Zender, Hans: Notizen zu meiner Komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise“, S. 223.
198
Spaun, Joseph von: Aufzeichnungen über meinen Verkehr mit Franz Schubert, S. 117.
199
Vgl. Zender, Hans: Notizen zu meiner Komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise“, S. 223.
200
Zender, Hans: Notizen zu meiner Komponierten Interpretation von Schuberts „Winterreise“, S. 221.
197
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
49
- JANINEVeränderungen
CHRISTGEN
wodurch begründet sind und warum Zender einige von ihnen revidierte. Dies
soll zu einem tieferen Verständnis des Werks führen.
„Die Winterreise ist in zwei autographen Handschriften überliefert. Die Handschrift der ersten
Abteilung stellt, von zwei Ausnahmen abgesehen (Nr. 1 und Nr. 8), eine erste Niederschrift
dar; das Manuskript der zweiten Abteilung ist eine autographe Reinschrift, die zugleich für
den Druck als Stichvorlage diente.“201
Diese Autographe weisen zahlreiche Abweichungen im Vergleich mit dem Erstdruck auf, die
sich auf zwei divergente Umstände zurückführen lassen. Zunächst ergaben sich Varianten von
Seiten Schuberts, später nahm der Verleger Haslinger Veränderungen vor.
Schubert, der die ersten 12 Lieder der Winterreise bereits im Februar 1827 nach Müllers
Gedichten konzipiert und komponiert hatte, ergänzte diese schließlich im Oktober 1827 um
12 Lieder, nachdem ihm die erweiterte Fassung von Müllers Winterreise zugänglich wurde.
War Schubert zunächst von der Geschlossenheit des Zyklus ausgegangen, den Müller in dem
Almanach Urania unter dem Titel „Wanderlieder von Wilhelm Müller. Die Winterreise. In 12
Liedern“ veröffentlicht hatte, so musste er diese Konzeption nachträglich verändern und
öffnen. Dies bedingte insbesondere eine Veränderung der Tonart des 12. Liedes von d-Moll
nach h-Moll: „Während ursprünglich der erste Teil gleichsam harmonisierend disponiert ist
(das erste Lied beginnt in d-Moll, das letzte Lied schließt in d-Moll), hat Schubert
nachträglich
den
harmonisierenden
Tonartenbogen
nicht
nur
geöffnet,
sondern
zerbrochen.“202 Die Begründung liegt in der Tonartendisposition der zweiten Abteilung. Sie
endet nach der autographen Überlieferung mit dem „Leiermann“ in h-Moll, eine Tonart die
die Rückkehr zum Zyklusbeginn zu verwehren scheint. „Schubert setzt also den Schluss der
ersten und den Schluss der zweiten Abteilung zueinander in Beziehung; er stellt damit einen
Bedeutungsbezug zwischen der Einsamkeit und dem Leiermann her.“203 Im Erstdruck aber hat
der Verleger Haslinger bereits in diese Disposition eingegriffen und den „Leiermann“ in aMoll veröffentlicht. „Da Schubert die Veröffentlichung des zweiten Teils der Winterreise
nicht mehr erlebte,“204 erscheint die Veränderung durch Haslinger als dessen eigenmächtige
Handlung. Elmar Budde kritisiert Haslingers Umgestaltung, da die durch die Tonart h-Moll
zum Ausdruck kommende Richtungslosigkeit des Zyklus zurückgenommen werde: a-Moll
(Dur) verwiese als V. Stufe von d-Moll zurück auf den Beginn des Zyklus und schlösse somit
den Kreis. Ein solches harmonisierendes Zusammenschließen sei aber sicherlich nicht von
201
Budde, Elmar: Franz Schubert und das Lied, S. 242.
Budde, Elmar: Franz Schubert und das Lied, S. 242.
203
Budde, Elmar: Franz Schubert und das Lied, S. 243. [Hervorhebung im Original]
204
Budde, Elmar: Franz Schubert und das Lied, S. 243. [Hervorhebung im Original]
202
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
50
- JANINESchubert
CHRISTGEN
intendiert gewesen.205 Dieser Gedankengang scheint sich auch in der Konzeption
Zenders niederzuschlagen. Zenders Interpretation versperrt sich dem Glauben an eine
intendierte zyklische Geschlossenheit der „Winterreise“. Er folgt den autographen Angaben
Schuberts und beendet seine Interpretation in h-Moll. Zenders Einschätzung, dass die
„Winterreise“ Schuberts im zweiten Teil immer mehr zu einer Auseinandersetzung mit dem
Tod, dem Abschied von der Geliebten und dem Abschied vom Leben überhaupt werde, 206 es
dem Wanderer folglich immer unmöglicher wird, zurückzukehren, verbietet eine
Tonartendisposition, die eine solche Rückkehr eröffnet. Interessant ist, wie Zender den
tonalen Zusammenhang zwischen den Liedern 12 und 24 verdeutlicht und gleichzeitig der
ursprünglichen Konzeption Schuberts, des geschlossenen ersten Teilzyklus, Transparenz
verleiht. Zender beginnt seine Interpretation des Liedes „Einsamkeit“ in d-Moll, jener Tonart,
die Schubert für den Abschluss des Zyklus gewählt hatte, in dem er die ersten 12 Lieder
Müllers vertonte. Dann jedoch sinkt Zenders Interpretation harmonisch ab, bis sie schließlich
die von Schubert revidierte Tonart h-Moll in Takt 48 erreicht. Auf diese Weise verweist
Zender zum einen auf die ursprüngliche Abgeschlossenheit und öffnet zum anderen die
Verbindung zur zweiten Abteilung und vor allem zum „Leiermann“.
Für Lied 22 greift Zender hingegen nicht auf die autographe Tonart zurück, sondern erreicht,
nach einer Phase der harmonischen Orientierungslosigkeit, in Takt 37 Haslingers Tonart gMoll. Auch hier wurde die Tonart im Erstdruck vom Verleger Haslinger geändert. Warum
revidiert Zender diesen Eingriff nicht? Während die Lieder 21-23 in Schuberts Autograph
durch ihre Tonartenfolge im Zusammenhang stehen (F – a – A), entfällt diese Verknüpfung
durch die Intervention Haslingers. Das Lied „Mut“ steht nun isoliert. Verständlich werden
kann diese doch scheinbar bewusste Abwendung Zenders von der autographen Tonart nur
durch seine „lecture“. Betrachtet man die Lieder in Zenders Interpretation so hebt sich „Mut“
durch eine besondere Verklanglichung hervor. In Nr. 21 werden die choral-funeralen
Elemente durch die reine Bläserbesetzung unterstrichen. Der daktylische Schreitrhythmus, die
trauermarschartige Anmutung, all dies unterstreicht die resignativ ausichtslose Lage des
Wanderers, die sich aus Müllers Text herauslesen lässt. Dieser resignative Charakter tritt auch
im Text von Lied 23 zutage, während Lied 22 den subjektiven Willen zur Veränderung
postuliert, wo der letzte Versuch unternommen wird, sich aus eigener Kraft aus den Fängen
des Schicksals zu befreien. Dass dies nicht gelingen wird, zeigt die autographe
205
206
Vgl. Budde, Elmar: Franz Schubert und das Lied, S. 243.
Vgl. Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 222.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
51
- JANINETonartendisposition,
CHRISTGEN die alle drei Lieder in Beziehung setzt. Der harmonische Ausbruch nach
g-Moll (dies mag womöglich auch Zender so gesehen haben) aber eröffnet vielleicht die
Möglichkeit eines unvoreingenommeneren Hörens und weist zudem auf die divergenten
Grundeinstellungen des Wanderers in diesen Liedern hin.
Fraglich bleibt, warum Zender für Lied 10 nicht auf die autographe Tonart (d-Moll)
zurückgriff. Eine mögliche Erklärung mag sein, dass diese Transposition der Tonart von
Schubert vorgenommen wurde und Zender daher legitimiert erscheint, was auch den
Rückgriff auf die autographe Tonart für Lied 6 verdeutlicht.
Abschließend kann also festgehalten werden, dass Zender der autographen Disposition der
Tonarten im Wesentlichen folgt. Wo er dies vermeidet, scheint sein Vorgehen durch eine
persönliche
Lesart
motiviert.
Entscheidend
ist
jedoch,
dass
gerade
durch
die
Rücktransposition des letzten Liedes erneut jene antizyklische Grundhaltung hervortritt, die
von Schubert intendiert war und mit dessen Verständnis von Müllers Text konvergiert.
Zenders Lesart ähnelt jener Schuberts, was sich auch an der zunehmenden Auflösung der
musikalischen Faktur zeigt. „Die am Anfang trotz aller Verfremdung noch eindeutige
Beziehung zum historischen Original wird [...] immer labiler, die „heile Welt“ der Tradition
verschwindet immer mehr in eine nicht rückholbare Ferne.“207
Eine zyklische Rückkehr ist somit sowohl bei Zender, als auch bei Schubert ausgeschlossen.
Die einzige verbindende Konstante ist der insistierende Wanderrhythmus, der in Form von
konstant repetierter Achtelbewegung in Lied 1, 8, 9, 20 und 24 ebenso zu finden ist, wie in
der von Zender hinzukomponierten „Zwischenaktmusik“, welche die beiden Abteilungen
miteinander verbindet.
B Die Bedeutung von und der Umgang mit den Tongeschlechtern
Konstitutiv für die Lieder in Schuberts Winterreisezyklus ist die Verwendung von Dur und
Moll als sprechende Tongeschlechter. Dur dient Schubert als Metapher für Traum und
Scheinwelt, für eine täuschende Idylle, Moll bildet die Realität ab.
„Moll ist für Schubert der gesellschaftliche Normalzustand, der nicht mehr, wie noch bei Beethoven –
überwunden werden kann, sondern ein Moll–Zustand als Realität. Dur hingegen ist immer nur das, was
einmal war, was Vergangenheit ist oder was [...] Vergangenheit, [...] Traum, [...] Vorstellung, [...]
Schein ist, oder wie Theodor W. Adorno sagen würde – falscher Schein ist. Der Gebrauch von Moll und
Dur ist eine Metapher, auf welcher der ganze Zyklus basiert.“ 208
207
208
Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 222.
Hufschmidt, Wolfgang: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?, S. 71.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
52
- JANINE CHRISTGEN
Die „Winterreise“ ist, wie bereits im II. Kapitel gezeigt, von Antagonismen durchwebt. Als
bedeutendste divergente Paarungen treten Heimat und Fremde, Ruhe und Bewegung, Natur
(Objektwelt) und Ich (Subjekt), Realität und Weltflucht/Traum hervor. Zu ihrer
Versinnbildlichung greift Schubert auf die Konfrontation der Tongeschlechter zurück.
„Reflexion bedeutet in der „Winterreise“ gewöhnlich Desillusionierung und geht folglich mit
einer Moll-Wendung einher.“209 Solche Moll-Dur-Konfrontationen finden sich in den Liedern
1, 2, 5, 7, 8, 11, 13, und 17 - 23, in welchen sie eine Spannungs- und Gliederungsfunktion
erfüllen. Zur Veranschaulichung der bei Schubert auftretenden Konfrontationen, der durch sie
verdeutlichten Antagonismen und ihrer Rezeption von Zender sei auf Anhang V verwiesen.
An dieser Stelle sollen nur drei Beispiele einer genaueren Betrachtung unterzogen werden, die
verdeutlichen, dass Zender die Besonderheiten der Liedkonzeption Schuberts nicht nur
aufgreift, sondern diese teilweise durch deutliche akustische Umsetzung in solcher Weise
hervorhebt, dass sie dem Rezipienten ohrenfällig wird.
Zunächst sei die Konzeption Zenders in Lied Nr. 11 („Frühlingstraum“) näher betrachtet.
Diese Lied lässt sich in 2x3 Strophen gliedern, da eine Parallelisierung zwischen den zwei
Strophenblöcken festgestellt werden kann. Jeder dieser beiden Blöcke gliedert sich in drei
Strophen, welche durch wechselnde Tempoangaben (Etwas geschwind; schnell; langsam)
getrennt sind. Die jeweils mittlere Strophe wird durch ihre Mollwendung von den beiden
anderen Strophen abgesetzt. Zender arbeitet diesen Kontrast zum einen durch einen
bewussten Einsatz von Bühnen- bzw. Fernorchester, zum anderen durch eine ausgeprägte
Onomatopoetik aus. Während die erste Strophe ausschließlich vom Bühnenorchester (Harfe,
Violinen, Bratschen, Cello) begleitet wird, setzt Zender für die sich nach Moll wendende
zweite Strophe ausschließlich das Fernorchester I ein, zu welchem die Spieler von Oboen,
Klarinetten, Fagotte, Horn, Trompete und Posaune während der vorausgehenden Lieder
gewandert sind. Dieses weit vom Bühnenorchester entfernte, aber noch sichtbare und gut
hörbare Orchester210 mit reiner Bläserbesetzung versinnbildlicht den Einbruch der Realität in
der zweiten Strophe. Während der Hörer durch den warmen Klang der Streicher und die Nähe
des Bühnenorchesters den Traum des Wanderers als angenehm liedhaft und den
Rezeptionsgewohnheiten
entsprechend
empfinden
konnte,
werden
seine
Rezeptionsgewohnheiten im Folgenden erschüttert. Der Orchesterklang entzieht sich dem
Hörer durch die räumliche Entfernung. Der Bläserklang wirkt hart im Kontrast zur
209
210
Stoffels, Ludwig: Die Winterreise, S. 206.
Vgl. Zender, Hans: Über die Gänge der Musiker – Vorwort zur Partitur.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
53
vorrangehenden Streicherbesetzung und den von ihr gespielten Dreiklangsbrechungen. Auch
- JANINEdie
CHRISTGEN
von Zender geforderte Artikulation (forte, con sordino, spitz) unterstreicht diesen
Kontrast. In den Mittelpunkt des Interesses tritt die onomatopoetische Umsetzung des
Krähens der Hähne, welches seine Begründung aus der Textvorlage zieht. Das „Kikeriki“ der
Hähne findet Ausdruck in dem von Schubert vorgezeichneten Rhythmus: einer Triole mit
folgender Viertelnote. In der anschließenden dritten Strophe setzt dann erneut das
Bühnenorchester ein. Wenngleich Zender für die vierte Strophe, die sich wiederum nach Moll
wendet und von den beiden Strophen vier und sechs umrahmt wird, nicht auf die
Fernorchesterbesetzung zurückgreift, wird hier im Streichersatz von Zender besonders das
Krähen der Hähne herausgearbeitet. Diesen onomatopoetischen Verweis erfährt der Zuhörer
als Signal für das Ende der Träume, das Erwachen, den Einbruch der Realität.
Zur weiteren Veranschaulichung von Zenders Umgang mit den Schubertschen Vorgaben des
Dur-Moll-Kontrastes soll Lied 19 (Täuschung) betrachtet werden. Hier arbeit Zender nicht
mit onomatopoetischen oder orchestralen Mitteln, sondern mit seiner Bearbeitungsmethode
des „Lesens“, welches ihm die Möglichkeit eröffnet, Textstellen mehrfach zu wiederholen.
Auf diese Weise kann Zender dem Hörer den Einbruch der Realität durch die Repetition des
nach Moll gewendeten Ausrufs „Ach“ verdeutlichen. Zender lässt den Text ins Stocken
geraten. Er bricht den Fluss und schafft so Aufmerksamkeit. Damit wird aus dem einmaligen
Ausruf bei Schubert ein zweimaliger Anlauf Zenders, der schließlich in einem geglückten
dritten Versuch endet. Das Seufzen betont das Elend, welches sich in der Realität offenbart
und führt zugleich auf das Wort „elend“ im Textfluss hin, da es dessen Artikulation zweimal
verhindert. So heißt es zunächst „Ach“, dann „Ach, wer wie ich“ und dann schließlich „Ach,
wer wie ich so elend ist“.211 Von welch zentraler Bedeutung dieser Ausruf für das
Sinnverständnis von Text und Musik ist, betont auch Ludwig Stoffels, der den „Ach-Ausruf“
als Peripetie-Umschlag von der als positiv erlebten Flucht in die Illusion zur reflexiven
Desillusionierung beschreibt.212 Zender hat die Initialwirkung der sprachlichen Metapher
erkannt und auf Schuberts musikalische Umsetzung zurückprojiziert. Ein identisches
Vorgehen findet sich in Lied 23 (Die Nebensonnen): auch hier bildet Zender den Umschlag
nach Moll durch die Wiederholung des Schlüsselwortes „Ach“ ab. (vgl. T. 24f.)
211
212
Vgl. Zender, Hans: Schuberts „Winterreise“ eine komponierte Interpretation, S. 152. [Hervorhebung d. Verf.]
Vgl. Stoffels, Ludwig: Die Winterreise, S. 221.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
54
Eine weitere Variante der Darstellung des Dur-Moll-Kontrastes lässt sich exemplarisch an
- JANINELied
CHRISTGEN
21 (Das Wirtshaus) aufzeigen. Hier leitet Zender die Desillusionierung des Minoreteils
durch einen Trommelwirbel ein (T. 22). Er nutzt also die Signalwirkung der Trommeln um
den Einbruch der Realität zu verdeutlichen.
Es kann festgehalten werden, dass Zenders Umsetzung des Schubertschen Spezifikums der
Dur-Moll-Konfrontationen auf einem genauen Studium der Vorlage beruht und er durch die
Verwendung diverser Interpretationstechniken versucht, diese für das Publikum unmittelbar
erfahrbar werden zu lassen.
C Onomatopoesie und Stimuli – Textausdeutung durch Malerei
Wie bereits ausgeführt, prägen eine Reihe von Antagonismen das Bild der Winterreise. Zu
diesen zählt auch der Antagonismus von Ich und Natur. Jedoch stehen sich beide nicht nur
divergent gegenüber, denn gleichzeitig erscheint die Natur als visuelles Abbild der
Gefühlswelt des Ichs. In Müllers Gedichten treten daher viele Naturelemente auf, die
konstitutiv für den Topos des Locus Desertus sind. In Schuberts Vertonung werden sie häufig
onomatopoetisch dargestellt, so dass ihre Aussagekraft dem Hörer unmittelbar entgegentreten
kann. Zu diesen „Naturbildern“ zählen zum einen jene, die eine rein darstellende Funktion
erfüllen und auf die Gefühlswelt des Ichs verweisen (Wind, Eis, Schnee, Tränen, Irrlichter,
etc.) zum anderen jene, welche Ludwig Stoffels213 als Stimuli bezeichnet (Hundegebell,
Posthornsignal, Krähen der Hähne, Krächzen der Raben, etc.). Die Stimuli führen zu einer
Verschmelzung von „objektiver Anschauung und subjektiver Reflexion. [...] (Sie)
überspringen gleichsam das Stadium bloßer Gegenständlichkeit und treffen unmittelbar das
Ich-Zentrum als bedrohliches und verlockendes Signal.“214
Gleichzeitig ist der Gehalt dieser Naturbilder nicht festschreibbar. In ihrem allegorischen
Charakter215 liegt ihr Potenzial zur überzeitlichen Offenheit. Elmar Budde sieht Schuberts
Naturzeichnungen im Zusammenhang mit der Landschaftsgestaltung Caspar David
Friedrichs. Naturphänomene können hier wie dort zwar visuell bzw. akustisch
wahrgenommen werden, jedoch kann diese Wahrnehmung nicht zu einer eindeutigen
Interpretation führen. Die verwendeten Chiffren sind „offen für Assoziationen und
213
Vgl. Stoffels, Ludwig: Die Winterreise, S. 206f.
Stoffels, Ludwig: Die Winterreise, S. 206.
215
Vgl. Budde, Elmar: Modulationsmanie und Perspektivenwechsel, S. 124-125.
214
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
55
- JANINEAllusionen.
CHRISTGEN
[...] So fordert Schuberts Musik, ähnlich wie die Bilder Friedrichs zu ständiger
interpretatorischer Auseinandersetzung heraus.“216
Anhand dieser Ausführungen wird ersichtlich, welch bedeutende Funktion diese
Klangchiffren der Naturdarstellung für die „Winterreise“ haben. Zender geht in seiner
Auseinandersetzung mit diesem Werk sogar so weit, dass er diese Chiffren als Grundlage für
jede einzelne Liedkomposition betrachtet.
„Schubert arbeitet ja in seinen Liedkompositionen mit klanglichen „Chiffren“, um die magische Einheit
von Text und Musik zu erreichen, welche insbesondere seine späteren Zyklen auszeichnet. Er erfindet
zum „Kernwort“ jedes Gedichts eine keimhafte musikalische Figur, aus der das ganze Lied sich zeitlich
entfaltet. Die geschilderten strukturellen Veränderungen meiner Bearbeitung entspringen diesen Keimen
und entwickeln sie sozusagen über den Schubertschen Text hinaus: die Schritte in Nr.1 und Nr.8, das
Wehen des Windes (Nr. 2, 19, 22), das Klirren des Eises (Nr. 3, 7), das verzweifelte Suchen nach
Vergangenem (Nr. 4, 6), Halluzinationen und Irrlichter (Nr. 9, 11, 19), der Flug der Krähe, das Zittern
der fallenden Blätter, das Knurren der Hunde, die Geräusche eines ankommenden Postwagens...“ 217
Zender lässt der onomatopoetischen Gestaltung daher in seiner Interpretation viel Raum, was
häufig Kritik an seiner plakativen Gestaltungsweise evozierte. Doch bevor dies diskutiert
werden kann, soll Zenders Vorgehen an einigen Beispielen erörtert werden.
Gleich zu Beginn seiner Interpretation nutzt Zender die assoziative Wirkung der
Onomatopoesie. Dem ersten Lied des Zyklus wird eine 53-taktige Einleitung vorangestellt, in
der sich Zender auf die klangliche Darstellung des Wanderns konzentriert. Die Schritte des
Wanderers, dem der Zuhörer in Zenders Fassung der „Winterreise“ nun für die nächsten
eineinhalb Stunden ´folgen´ wird, lassen den Rezipienten die Situation des Wanderers
akustisch nachvollziehen. Durch schnelle Wisch-Bewegungen der Hände auf den Tom-Toms
entsteht der Eindruck eines sich durch den Schnee bewegenden Menschen. Die WischBewegungen sind durch Pausen in Gruppen gegliedert. Die Stille zwischen den Schritten
wirkt wie ein desorientiertes Umblicken des Wanderers, ein unschlüssiges Reflektieren über
den weiteren Verlauf des Weges. Der Wanderer erscheint aus der Stille, aus dem Nichts. Die
Stille ist für Zender denn auch Mittel zur Involvierung des Rezipienten in die Musik. Zender
wünscht sich ein neues Hören, das darauf angelegt ist, ein Werk im Hier und Jetzt zu erleben,
ein offenes pures Hören, das ohne eine kognitiv-verstandesmäßige Zugangsweise
auskommt.218 Die Stille erneuert die Musik, indem sie das Vorangegangene im Hörer
nachklingen, ihn das Kommende erwarten lässt und durch ihre „Formlosigkeit“ zur
Konstitution eigener Form animiert.219 Zender versucht somit vom Beginn seiner
216
Budde, Elmar: Modulationsmanie und Perspektivenwechsel, S. 136.
Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 222.
218
Vgl. Zender, Hans: Über das Hören, S. 181.
219
Vgl. Zender, Hans: Orientierung. Komponieren in der Situation der Postmoderne, S. 163.
217
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
56
- JANINEInterpretation
CHRISTGEN
an, den Rezipienten zur produktiven „Mitarbeit“ aufzufordern, indem er ihm
Freiräume gewährt, die ihn aus eingefahrenen Rezeptionsgewohnheiten hinaustreten lassen.
Die Schritte nun gewinnen immer deutlichere Konturen, werden schließlich von den
Streicherbattuti unterstützt, die ab Takt 11 in einen abwärtsgerichteten Bewegungsimpetus
verfallen, der bereits an den Einsatz der Singstimme gemahnt, doch diese gleichzeitig, durch
die Vermeidung absoluter Tonhöhen und den Einsatz von Stegschlüsseln, verschleiert.
„Sämtliche Saiten sind so abgedämpft, dass hinter den Schlaggeräuschen nur schwache
Tonfärbungen hervortreten.“220 Erst in Takt 16 fordert Zender eine Ablösung der
Dämpfergriffe durch gegriffene Tonhöhen. Chromatisch absteigende Skalenausschnitte
(immer noch col legno batutto) führen schließlich zur Einmündung in die Trillerbewegung. In
Takt 20 wird diese Bewegung von den repetierten d-Moll Akkorden der Gitarre abgelöst,
welche den pochenden Wanderrhythmus erneut aufgreift. Nach und nach treten nun die
Blasinstrumente auf die Bühne und nehmen ihren Platz im Orchester ein, während sie die
gleiche, melodisch auf das Liedthema hindeutende Abwärtsskala, welche zuvor von den
Streichinstrumenten im Bühnenorchester exponiert worden war, spielen. So formiert sich aus
der polyphonen, unstrukturierten Klangfülle schließlich ein vollständiges Bühnenorchester
und Schuberts „Winterreise“. „Die Introduktion ist eine klangliche, diastematische,
dynamische, rhythmische, metrische und durch den Einzug der Musiker zudem räumlich
szenische verdeutlichte Annährung an Schuberts Musik.“221 Da die Bewegung der Musiker im
folgenden dargestellt und untersucht werden soll, ist hier vor allem hervorzuheben, dass
Zender durch die Eröffnung seiner Interpretation unter zu Hilfenahme onomatopoetischer
Mittel bereits anklingen lässt, dass diese Elemente für ihn nicht nur grundlegend für die
Musik Schuberts sind, sondern auch in seiner Bearbeitung eine entscheidende Rolle spielen
werden. Dabei scheint ihm gerade auch die Einbeziehung der Gestaltungskraft des
Rezipienten wichtig zu sein.
Diese erste onomatopoetische Umsetzung fand keine unmittelbare Motivation im Notentext
Schuberts. Alle weiteren Ausgestaltungen Zenders erweisen sich jedoch als eindeutige
Klangvorgaben Schuberts. Zenders Ziel ist es, diese „für uns heute unauffälliger“ gewordenen
Elemente in ihrer „authentischen“ Aussageexpressivität einzuholen.
So nutzt er zur Verdeutlichung des Windes im Lied „Der stürmische Morgen“ zwei
Regenbleche, die den akustischen Dauerregen ebenso zum Hörer tragen wie die prasselnden
220
221
Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S. 72.
Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S. 73.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
57
- JANINETrommelwirbel
CHRISTGENund die „rauschenden Streicherklänge und clusterartige Holzbläserläufe,“222
so dass der Beginn gleichsam wie ein „großes Tableau in >Öl< ausgemalt“223 scheint. Das
Schwellen des Flusses in Nr. 7 erscheint als Crescendo der Bläser, die Echorufe im Lied
„Irrlicht“ wandern durch Raum und Orchester und lassen auf diese Weise den Hörer die
Empfindungen des Wanderers deutlicher spüren. Tränen erscheinen als Streicherbattuti, das
Zerspringen des Eises als Saltandi der Streicher (z.B. Lied 3). Für den lauen Wind verwendet
Zender Flageolettklänge (die aber auch für Eis und Frost Verwendung finden), für das
Zerrinnen des Eises absinkende Glissandi (z.B. Lied 6). Die Realität zieht in Lied 11 durch
das onomatopoetische Krächzen der Raben und das Krähen der Hähne ein, indem die 32stelTriolen aus dem Schubertschen Satz in die Bläser verlagert werden. „Die Post“ nähert sich
akustisch durch die Annährung des Horns an das Publikum, durch ihre sich verstärkende
Intensität des Posthornsignals. Und auch die Hunde in Lied Nr. 17 treten dem Zuhörer gleich
zu Beginn des Liedes akustisch entgegen, indem „bei minimalem Bogenverbrauch die Saite
der Violine] so gepresst [wird], dass ein leises Knurren [ohne exakte Tonhöhe] entsteht.“224
All diese onomatopoetischen Umsetzungen durchziehen Zenders Werk wie ein roter Faden.
Jene Vorgehensweise Zenders führt sicherlich zu einem sehr direkten Verständnis der
Schubertschen Bildsprache und versetzt den Hörer in die Lage, einen intuitiven Zugang zu
gewinnen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die „Direktheit der Aussage nicht zuweilen die
Grenze des
guten Geschmacks überschreitet.“225
Ist die Aussagegewalt
Zenders
unangemessen? Zwei divergente Positionen vertreten Rainer Nonnenmann, der die zuvor
aufgeworfene Frage bejaht, und Klaus Hinrich Stahmer, der sie verneint. Nonnenmann glaubt,
dass Schuberts musikalisch lyrischen Symbolen durch den manchmal schablonenhaften
Einsatz des Lautmalerischen viel von ihrer Aussagekraft genommen werde. Er befürchtet eine
Verkürzung auf eine illustrative Oberflächenwirkung anlässlich der Umsetzung der
Schubertschen Chiffren durch sinfonische Mittel des 19. und geräuschhaften Spieltechniken
des 20. Jahrhunderts. Dabei leide der allegorische Gehalt und die Aussage werde
eindimensional.226 Stahmer hingegen ist der Ansicht, dass Zender lediglich die Schubertschen
Mittel aufgreife und diese überhöhe. Ziel Zenders sei also nicht eine rein illustrative Wirkung,
sondern auch eine Desillusionierung und Irritation des Rezipienten durch die Überhöhung.227
222
Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S. 78.
Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S. 78.
[Hervorhebung im Original]
224
Zender, Hans: Schuberts „Winterreise“. Eine komponierte Interpretation, S. 134.
225
Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 52.
226
Vgl. Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S. 81.
227
Vgl. Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 52.
223
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
58
- JANINEMan
CHRISTGEN
kann dieses Vorgehen Zenders genauso wenig nur gutheißen wie man es ausschließlich
monieren kann. Sicherlich geht bei einer Überhöhung der Vorlage immer ein Teil ihrer
Filigranität verloren. In gleichem Maße kann auch eine „Übersättigung“ des Rezipienten mit
onomatopoetischen Mitteln hervorgerufen werden, da Zender, wie gezeigt wurde, nicht am
Einsatz dieser Faktoren spart. Dennoch schafft Zenders Interpretation durch solcherlei
Eingriffe auch Brüche und Irritationen, die den Zuhörer gerade zu neuen Denkanstößen
motivieren können. So ist es gerade wieder jene Dichotomie, jene Gradwanderung zwischen
der Eröffnung neuer Perspektiven und der zu plakativen, einseitigen Überformung, die
polarisierende Meinungen evoziert.
D Die Bewegungen der Musiker
Die Bewegungen der Musiker sind genuin den Gedanken Zenders entsprungen. Durch die
Gänge der Akteure nimmt er der Aufführungssituation die Statik. (Zur genauen Betrachtung
der Aufritte und Gänge der Musiker sei auch auf Anhang VII verwiesen, die dies schematisch
darstellt.)
Zender sieht drei verschiedene Orchesterpositionen vor: das Bühnenorchester, und die beiden
Fernorchester I und II. Als Bühnenorchester (BO) bezeichnet Zender die „normale“
Positionierung des Orchesters auf dem Podium vor dem Publikum (zur Aufstellung des BO
sei auf die Anhang VI verwiesen). Fernorchester I (FI) bezeichnet eine Position, die zwar weit
vom Bühnenorchester entfernt, aber dennoch für die Zuschauer gut sicht- und hörbar ist.
Fernorchester II (FII) hingegen ist so weit wie möglich vom Bühnenorchester entfernt,
eventuell sogar unsichtbar, so dass der Klang nur indirekt wahrgenommen werden kann. Zu
diesen Orchesterverteilungen tritt die zeitweilige Positionierung von Musikern im Publikum
hinzu.
Die einzelnen Orchesterpositionen werden durch die Gänge der Musiker erreicht. Diese
Gänge sollen, so Zender, „immer sehr langsam und in sich versunken“ genommen werden.
„Nur bei Nr. 8 und Nr. 13 ist der Bewegungscharakter lebhafter. Das Gehtempo muß konstant
und ohne Stockung, die Gänge müssen genau getimt sein.“228
Wie bereits erläutert nehmen die Musiker zu Beginn der „Winterreise“ erst allmählich ihre
Bühnenorchesterpositionen ein. Der Zuhörer ist also in der Lage die Formation des
Klangkörpers und seine spätere Deformation mitzuerleben.
228
Zender, Hans: Schuberts „Winterreise“. Eine komponierte Interpretation – Vorwort zur Partitur.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
59
- JANINEDie
CHRISTGEN
Orchesteraufstellung bietet für Zender Freiheiten und Möglichleiten, die dem
Komponisten und Interpreten zusätzliche Optionen offerieren.
„Begnügt er (der Komponist) sich damit, an der Stelle der „klassischen“ Orchesteraufstellung die
Musiker lediglich in bestimmten Mustern um die Zuhörer herum aufzustellen, so verspielt er für einen
allenfalls hübschen Effekt die Möglichkeit, den Raum in seiner bisher musikalische kaum erkannten
Potenz als Ermöglicher wie als Zerstörer von musikalischer Struktur erlebbar zu machen; entferne ich
die Klangquellen über einen kritischen Wert hinaus voneinander, so ist weder Zusammenspiel, noch
gleiche Intonation möglich.“229
Es ist also kein rein visueller, sondern ebenso ein akustischer Effekt mit Zenders planmäßigen
Gängen der Musiker verknüpft, und in gleicher Weise auch ein Konzept, welches aus der
intensiveren Auseinandersetzung mit der „Winterreise“ und ihren Liedern resultiert.
Das Wandern der Musiker scheint zunächst eine Weiterentwicklung der pochenden
Achtelbewegung zu sein, die sich im Schubertschen Klaviersatz gleich zu Beginn findet.
Zender nutzt diese Konfiguration, um die auf ihr basierende Einleitung zu gestalten. Nicht nur
die Wisch-Bewegung am Anfang versinnbildlicht die Wanderung auch die Musiker werden
von Zender in diese alles umgreifende Wanderung einbezogen. Die Musiker erscheinen als
reale Wanderer, die durch den Raum ziehen. Mit ihnen wandert der Klang: mal deutlich zu
vernehmen, dann verschleiert; mal dem Blick des Zuschauers entzogen, dann in dessen
unmittelbarer Nähe im Zuschauerraum. Immer aber sind die Gänge durchdacht und gelenkt,
niemals zufällig oder unmotiviert. Das Wandern führt die Musik zum Rezipienten, lässt ihn
Musik aus nächster Nähe, ohne Distanz erfahren. Die Musik tritt aus der Anonymität, die auf
dem Weg zwischen Bühne und Publikum in großen Konzertsälen so leicht entstehen kann.
Der Zuhörer aber soll zu-hören, hin-hören, sich emotional beteiligen, nicht zum bloßen
„Konsumenten“ verkommen. Als Schubert die Lieder seinen Freunden vorsang, waren sie
nicht durch große Entfernungen von ihm getrennt. Sie erfuhren die Musik direkt, ohne die
Distanz, die sich in der heutigen Zeit zwischen den Hörer und die „zwei Herren im Frack mit
Steinway“230 stellt.
Wie stellt sich nun die Wanderbewegung im Einzelnen dar?
„Während Lied 4 erheben sich die Spieler von Oboe I und Klarinette I und begeben sich mit ihren
Instrumenten langsam in den Zuschauerraum. [...] Während Nr. 5 bewegen sie sich -spielend- im Saal
umher; es muss der Eindruck von „Traumwandeln“ entstehen. Die Spieler bewegen sich unabhängig
voneinander in verschiedene Richtungen. Nach Abschluss von Nr. 5 gehen sie wieder in Richtung
Bühne und nehmen während Nr. 6 ihre Plätze ein.“ 231
229
Zender, Hans: Wegekarte zu Orpheus?, S. 87.
Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 221.
231
Zender, Hans: Wegekarte zu Orpheus?, S. 87.
230
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
60
- JANINEDas
CHRISTGEN
„Traumwandeln“ verdeutlicht den realitätsfernen, idealisierten Zustand des Ichs in Lied
Nr. 5. Während des Einbruchs der Realität im kontrastiven Moll-Teil des Liedes schweigen
die im Publikum wandelnden Musiker. Sie vermitteln dem Zuhörer das Bild eines träumend
abwesenden Wanderers, der sich von der Welt entfernt hat. Da beide Musiker in Nr. 5
wechselweise auch Mundharmonika spielen, tritt die Assoziation des einsamen Wanderers
hervor, der sein stupides Wandern durch das Mundharmonikaspiel angenehmer gestaltet. Dass
die Mundharmonika als Instrument Assoziationskreise aufblendet, welche Wanderung,
Nomadentum und Heimatlosigkeit inkludieren, verhilft dem Bild zu gesteigerter Prägnanz.
Die Mundharmonika bedarf keiner Begleitung. Diese Eigenschaft macht sie zum idealen
Begleiter des einsamen Wanderers.
In den Liedern 8 bis 13 lässt Zender die Musiker nicht nur ins Publikum wandern, sondern
verteilt sie auf die verschiedenen Orchesterpositionen, so dass nun auch die Komponente des
Raumklangs in besonderer Weise hervortritt. Während Nr. 8 beginnt eine langsame
Bewegung einzelner Musiker zu den Orchesterpositionen FI und FII. Auf diese Weise kann
das „Irregehen“ - oder das „irre Gehen“ - durch die Raumklangwirkung und die Bewegung
der Musiker explizit zum Ausdruck gebracht werden. Der indirekte Klang von FII und die
Klangkonfrontationen der verschiedenen Orchesterpositionen, führen zu einer „personalen
Projektion der Empfindungen und Aussagen“232 des Liedes. Das Lied 10, welches „Rast“
verspricht, diese Hoffnung aber nicht erfüllen kann, inszeniert Zender augenfällig. Am Ende
von Nr. 9 fordert er weitere Bewegungen der Musiker: Bewegungen, die aus dem Raum
führen, ins Publikum und zu FI. Auf diese Weise erhält Zender eine dezimierte Besetzung für
Nr. 10, welche die im Bühnenorchester verbliebenen Musikern einsetzt. Während sich das
Orchester weiter dezimiert, denn nun bewegen sich auch die restlichen Bläser zu FI, scheint
die Vereinsamung des wandernden Individuums visualisiert. Dass nur noch der Traum nah
und hilfeversprechend zu sein scheint, lässt Zender den Zuhörer in Nr. 11 erfahren. Das
Bühnenorchester, welches Zender während der Dur-Traumpassagen einsetzt, wird bei
Einbruch der Realität durch die onomatopoetischen Hahnenschreie aus FI unterbrochen. Der
Klang ist dem Zuschauer räumlich und visuell entzogen. Zum Schluss dieses Liedes verlässt
die Trompete den Raum, verschiedene Bläser verteilen sich im Zuschauerraum, wo sie weit
auseinanderliegende Positionen einnehmen. Nr. 12 markiert den „psychologischen
Tiefpunkt“233 dieser Liederfolge. Dem biedermeierlichen Streichquintett, bestehend aus zwei
Violinen, zwei Bratschen und einem Violoncello, wird die „rohe“ Schlagkraft der Holzbalken
232
233
Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme?, S. 153.
Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme?, S. 153.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
61
entgegengestellt, die mit ihren Nonolenschlägen drängend wirken und das Metrum des
- JANINEOrchesters
CHRISTGEN
als verschleppt empfinden lassen. Wenngleich das Orchester als Bühnenorchester
präsent ist, entzieht sich der warme Streicherklang doch durch die gegensätzliche Wirkung
der Holzbalkenschläge. Die minimale Besetzung zeigt die Vereinsamung des Wanderers, der
Titel „Einsamkeit“ findet Niederschlag in der Besetzung und der Abwesenheit der Musiker,
ihrem Entzug von der Bühne. Schließlich entzieht sich auch der Streicherklang, und die von
Zender eingefügte „Zwischenaktmusik“, die eine Brücke zwischen den beiden Abteilungen
der „Winterreise“ schlägt, konstituiert sich einzig aus den repetierenden Achtelnoten, welche
bereits für den Beginn von Zenders „Winterreise“ elementar waren. Bestehend aus
Generalpause,
Wanderrhythmus
und
einer
weiteren
Generalpause,
wird
die
„Zwischenaktmusik“ zur sprechenden, auskomponierten Stille. Symbolisiert die Einsamkeit
des Wanderers, Solipsie. „Als noch die Stürme tobten, war ich so elend nicht.“ So endet das
Lied Nr. 12 – aber die Stürme toben nicht mehr, das Subjekt kann sich nicht mehr in den
revolutionären Wirren ausdrücken, muss wegen der Zensur schweigen, oder ist mit den
Anforderungen der komplexerwerdenden Gesellschaft überfordert. Ohne Halt ist das
vereinzelte Subjekt auf sich zurückgeworfen. Was bleibt, ist ein ewig sich repetierender
Kreislauf einer unsinnigen, aber nicht zu durchbrechenden Wanderbewegung. „Die
Entfremdung des Individuums wird zu einem zentralen Gehalt“ der „Winterreise“ Zenders,
der sich „in der Polarität von Nähe und Ferne zum Schubertschen Klangbild“234 und in der
An- und Abwesenheit der Musiker spiegelt. Die Unmöglichkeit der Erfüllung der
angestrebten subjektiven Wünsche in der objektiven Sphäre treibt das Ich, den Menschen in
diese unaufhörliche Wanderschaft.235 Diese Konfiguration stellt sich in Zenders
„Zwischenaktmusik“ dar. Zender verlangt, dass am Ende von Nr. 12 und am Beginn von Nr.
13 keine Bewegung stattfindet. Alle externen Musiker sollen regungslos auf ihrem Platz
verharren. Die Suspendierung der Wanderbewegung ruft einen resignativen Charakter hervor.
Die „Erstarrung“ der Musiker versinnbildlicht dies. Am Beginn von Nr. 13 ist diese
Erstarrung der inneren Erregung der Musik nun diametral entgegengesetzt. Die Hoffnung des
drängenden Herzens aber ist vergeblich, was die Starre der Musiker versinnbildlicht. Doch
nun kehren die Spieler zum Orchester zurück. Das Herannahen der Post erscheint durch das
Herannahen des Horns und dessen Signal akustisch und visuell, die Musiker nehmen erneut
die Plätze im Bühnenorchester ein und verbleiben dort bis zum 24. Lied, bei dem alle Bläser
den Raum nacheinander verlassen und die letzten Takte auch schon außerhalb des Raumes
spielen können. Zenders Interpretation kommt aus dem Nichts und verklingt im Nichts. Der
234
235
Revers, Peter: „Schnee du weißt von meinem Sehnen“, S. 107.
Vgl. Schmid Noerr, Gunzelin: Der Wanderer über dem Abgrund, S. 90.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
62
- JANINEZuhörer
CHRISTGEN
war Zeuge eines kurzen Lebensausschnitts eines Wanderers. Er wanderte für eine
kurze Zeit mit ihm, nun gehen beide wieder ihrer Wege, beide werden weiter wandern auf
dem Lebensweg. Die Bühne zu verlassen und den Zuhörer im Verklingen des Werks alleine
zu lassen, führt Stahmer dazu, Analogien zu Haydns „Abschiedssinfonie“ und Becketts
„Come and go“ zu sehen.236 Bei Haydn kann jedoch lediglich eine Nähe zur Handlung, nicht
aber zu deren Motivation konstatiert werden, wollte dieser durch jenes Vorgehen doch
lediglich auf den unerfüllten Urlaubswunsch seiner Musiker seitens des Fürsten Esterházy
aufmerksam machen. „Come and go“ lässt sich hingegen einerseits mit Zenders „Kommen
und Gehen“ der Musiker in Verbindung bringen, andererseits aber ist hier auch die
poetologische Konzeption ähnlich. Trotz der Interaktion der drei Personen Ru, Vi und Flo
lässt sich kein realer kommunikativer Gehalt eruieren. Beckett erreicht dies durch sinnleere
Freilegung des sprachlichen Materials und schafft damit Einsicht in die Tatsache, dass
Sprache keine gelungene Kommunikation mehr hervorzubringen mag. Dies führt zur
Vereinzelung der Subjekte. Vielleicht ist dies auch bei Beckett im „Kommen und Gehen“ der
Personen zu sehen, in einem sinnlosen Umherwandern.
Auf diese Weise lässt Zenders Werk auch in der Wanderbewegung der Musiker eine
konsequente Auseinandersetzung mit Schubert und den überzeitlichen Gesichtspunkten des
Sujets erkennen.
4 Analyse einzelner Aspekte ausgewählter Lieder
Die folgende Analyse einzelner Lieder der Winterreise kann anhand von Anhang XVII
(Partitur Zenders) und XVIII (Partitur Schuberts) nachvollzogen und verglichen werden.
Gute Nacht
Da die von Zender hinzugefügte 53-taktige Introduktion bereits in Kapitel IV.3.C
(Onomatopoesie und Stimuli – Textausdeutung durch Malerei) besprochen worden ist, soll an
dieser Stelle gezeigt werden, wie Zender die Hörgewohnheiten des Rezipienten zunächst
(T.54-129) zu erfüllen scheint, diese dann jedoch gänzlich unterhöhlt. Den Eindruck einer
„heilen Welt“, den Schuberts Musik beim heutigen Hörer so häufig zu evozieren scheint, wird
durch Kontrastierung gebrochen. Die drei Grundthematiken der Winterreise, das Fremdsein,
die verschmähte Liebe, das Wandern in der Dunkelheit werden im ersten Lied des Zyklus in
236
Vgl. Stahmer, Hans Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 49.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
63
- JANINEihrer
CHRISTGEN
Gesamtheit exponiert. Wird der Zyklus häufig auf die Erfahrung verschmähter Liebe
und des aus ihr resultierenden Wanderns fälschlicher Weise reduziert, so hebt Zender die
Wanderschaft und die Heimatlosigkeit in seiner Interpretation hervor: das Wandern durch die
53-taktige Einleitung, die Erfahrung des Fremdseins durch den kontrastierenden zweiten Teil.
Dem Hörer wird Schuberts Werk „fremd“, die gewohnten Klänge distanzieren sich und lassen
den Rezipienten „neu“ hören. Der Titel „Gute Nacht“ scheint somit zu einer
programmatischen Erfahrung für Wanderer und Zuhörer zu werden.
Zender beginnt die erste Strophe mit einer reinen Streicherbesetzung. (Der Besetzungswandel
kann anhand von Anhang VII nachvollzogen werden). Die zwei Violinen, die zwei Bratschen,
das Violoncello und der Bass vermitteln den Eindruck der „heilen Welt“ durch die klangliche
Assoziation des biedermeierlichen Streichquintetts. Die zweite Strophe gestaltet Zender durch
den Einsatz der Klangfarben des gesamten Orchesters, bevor die Strophe erneut im vollen
Klang des Streichquartetts endet. Dieser Klangcharakter ist für Zender die Basis seiner nun
beginnenden Kontrastgestaltung: die plötzlich endende volle Orchesterbesetzung, die
Reduktion auf die volkstümlichen Instrumente Gitarre und Akkordeon, die bereits alle naiv
liedhaften Assoziationen des Rezipienten durch Überhöhung selbiger schwinden lassen, die
Akkordrepetitionen in pochenden Achtelnoten, die das Wandern des Individuums erneut
plastisch hervortreten lassen. All diese Elemente erwecken im Hörer bereits eine Vorahnung
auf das Kommende, eine gespannte Haltung, die aus der „Ruhe vor dem Sturm“ resultiert.
Zender lässt den Zuhörer nicht lange auf den „Sturm“ warten. Bereits in Takt 128 beginnen
die Holzbläser mit einer Trillerbewegung, die auf Zenders erste Collage in Takt 131
vorbereitet. Die Melodie, der Sprachduktus, der Satz werden zerschnitten. Die „heile Welt“
zerbricht. Jetzt gewinnt der Zuhörer einen Einblick in die Innenwelt des Wanderers. Der
Rezipient soll sich involvieren, emotional affiziert werden. Ein Entzug aus Zenders radikalem
Bruch ist kaum möglich. „Lass irre Hunde heulen vor...“ heißt es im Text, und darauf werden
alle Beteiligten noch einmal zurückgeworfen. Nun erscheint die Welt im wahrsten Sinne des
Wortes „ent-täuschend“. Die Blechbläser führen Triller in tiefer Lage aus, die Holzbläser
lassen in chromatisch verfärbten Skalen das Liedthema wiedererkennen, doch es ist dem
Hörer ebenso fremd geworden wie dem Wanderer die Heimat. Zender schlägt nicht nur eine
Verbindung zurück zum Anfang, sondern scheint gleichzeitig den Text onomatopoetisch
auszudeuten, das Heulen der irren Hunde plastisch hervortreten zu lassen. Der verstärkte
Gesang weist auf diese Bedeutung ebenso hin wie die Streicherglissandi, die, wie die
Holzbläser, an das Liedthema gemahnen und gleichzeitig das Heulen der Hunde darstellen. In
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
64
- JANINEden
CHRISTGEN
folgenden Takten scheint Zender zu dem gewohnten Schubertschen Klangbild
zurückkehren zu wollen, doch weist die erneute Überhöhung mittels der volkstümlichen
Instrumentation (Akkordeon, Gitarre, Harfe) bereits auf einen weiteren Realitätseinbruch in
die „Idylle“ hin. Der Wanderer liebt das Wandern nicht, und auch die fügende Allmacht
Gottes kann ihm als Begründung für sein Leid nicht genügen. Erneut bricht Zender den
musikalischen Fluss (T.141). Die melodiöse Artikulation der Sängerstimme versagt. Die
gesprochene Deklamation mit Verstärkung im Fortissimo wird unterstrichen von massivem
Schlagwerkeinsatz (hängende Zischbecken, 2 Metallblöcke, 3 Tom-Toms, Pauke mit
Holzschlägel), dem Staccatospiel der Holzbläser und der „harten, geräuschhaften“
Artikulation der Streicher, die alle Striche „extrem am Steg“ ausführen. In Takt 147 fordert
Zender das Auflegen einer schweren Metallkette auf die Pauke, so dass diese bei jedem
folgenden Schlag zu rasseln beginnt. Vielleicht ein akustisches Zeichen dafür, dass „die Liebe
(des Wanderers) keine Lust zum Wandern zeigt, sondern im Gegenteil mit aller Gewalt an das
Mädchen gekettet bleibt,“237 aber auch trotzige Auflehnung gegen die Fesseln, die ihm
Gesellschaft und Leben auferlegen, spiegelt. Das Rasseln der Ketten erscheint als lautliche
Ausgestaltung eines Protestwilligen, der sich zu befreien sucht, dessen Bürden jedoch von
solcher Immanenz geprägt sind, dass ein Entkommen unmöglich scheint. Dies wird auch
durch die Einwürfe der Piccoloflöten in Takt 150f. deutlich, die die Melodie zum Text „die
Liebe liebt das wandern“ höhnisch verfremdet aufgreifen und den Wanderer auszupfeifen
scheinen. Dieser zweiten Collage folgt die Vorbereitung auf die sich anschließende DurWendung, die Zender, in Anlehnung an den Beginn, der noch als „heile Welt“ erschien, mit
dem Klang des Streichquartetts beginnen lässt (T.177). In den 16 Takten zwischen der 3. und
4. Strophe lässt Zender ein „leuchtendes Klangfeld entstehen.“238 Beginnend mit arpeggierten
Harfenakkorden, die den Wanderrhythmus der repetierenden Achtel wieder aufgreifen, setzen
zunächst die Streicher in dichter Folge ein, dann mit dem selben abwärtsgerichteten
Skalenmotiv, welches erneut dem Liedthema entlehnt scheint, auch die Holzbläser. Durch die
Pizzicati der Streicher und das Leggiero-Spiel der Bläser, die sich ausnahmslos im
dynamischen Rahmen von Pianissimo und Pianopianissimo bewegen, entsteht ein klangliches
Bild, „eine impressionistisch flirrende Klanglandschaft, die in sich zu ruhen und außerhalb
der Zeit zu stehen scheint.“239 Es hat den Anschein, als ob Zender die „himmlischen Längen“
Schuberts, die auch besonders in seinen späten Klaviersonaten zu spüren sind, imitiere, ein
237
Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S.75.
Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S.77.
239
Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S.77.
238
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
65
- JANINEnicht
CHRISTGEN
zu Ende kommen können darstelle. Der äußeren Abgeschlossenheit steht die innere
Unabschließbarkeit gegenüber. Die äußeren Begrenzung des Individuums (wie zur Zeit
Schuberts so in der heutigen Zeit - vgl. Kapitel II) divergiert mit dem innere Drang nach
Individualismus
und Selbstverwirklichung.
Dem
Anpassungszwang setzt
sich ein
Aufbruchswille entgegen und die geschlossene musikalische Form unterliegt der Notdurft
einen unabschließbarer Gehalt auszudrücken. „Himmlische Längen“ sind der Versuch, die
Welt zum Stillstand zu bringen, einen Ausgleich zwischen Welt und Individuum
herzustellen.240 Es ist Schuberts Weg der Zeitstrukturierung, Musik dahinströmen zu lassen
und somit Freiheit zu eröffnen, gleichzeitig aber durch den repitierenden Charakter auf die
desillusionierend repristinierende Zeit hinzudeuten.241 Eine solche Konfiguration lässt sich
auch im Sujet der Winterreise, in der Person des Wanderers und vielleicht auch in jedem
selbst-bewussten Ich finden. Vielleicht ist diese der Grund für jene „lecture“ Zenders. Eine
Entsprechung würde ein solcher Gedankengang in dem plötzlichen Einbruch der „MollRealität“ in Takt 203 finden, den Zender mit gedämpften Paukenschlägen und tiefen
Blechbläserakkorden im Wanderrhythmus begleitet. Die repetierenden Achtel setzen sich in
der martelé-Strichführung der Streicher fort, akkompagniert von dem kommentierenden
„traurig-resignativen Tangorhythmus des Akkordeons.“242
Zender schafft mit seiner Bearbeitung von „Gute Nacht“, die zeitlich die doppelte
Ausdehnung der Schubertschen erreicht, nicht nur eine „dramatische Szene“ 243, sondern
gleichfalls eine Eröffnung des Zyklus, die dem Rezipienten das Sujet ebenso eindringlich vor
Augen
führt
wie
die
Möglichkeiten
Bearbeitungstechnik,
die
sich
auch
in
und
den
Ausdrucksformen
anschließenden
der
Zenderschen
Liedinterpretationen
unterschiedlich ausgeprägt zeigen wird.
Die Wetterfahne
Für die Interpretation von Lied 2 schöpft Zender hauptsächlich aus klangmalerischen
Bearbeitungselementen. Die „Klangchiffre“ des Windes stellt die Verbindung zu Lied 22 her,
in welchem dessen Verwendung jedoch noch exponierter hervortritt.
Über den Streichersatz, der sich an der Komposition Schuberts orientiert, legt Zender
schillernde aufwärtsgerichtete 32stel-Läufe in den Flöten, die in Wechselnoten enden,
240
vgl. Godel, Arthur: Schuberts letzte drei Klaviersonaten, S. 191-257.
Vgl. Schnebel, Dieter: Auf der Suche nach der befreienden Zeit, S. 505.
242
Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S.78.
243
Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S.77.
241
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
66
- JANINEdynamisch
CHRISTGEN
von p bis ff und zurückreichende aufbrausende Klangbögen der Windmaschine
und gleichfalls an- und abschwellende Luftgeräusche der Blechbläser. Diese werden dadurch
erzeugt, dass Luft tonlos durch das Instrument geblasen wird. Die Höhenveränderungen
werden, wie beim „normalen“ Spiel, durch die Lippenstellung erreicht. Auch bei den Flöten
nutzt Zender in Takt 10, nach anfänglichem chromatischen Abstieg, ein Glissandospiel, das,
da es wie die zuvor ausgeführten Spielarten, keine exakte Ausführung vorschreiben kann und
daher, gleich dem Wind, ein besonderes Klangbild entwickelt. Die Darstellung des
Auspfeifens des Flüchtlings in Violine und Piccoloflöte übernimmt Zender von Schubert,
zentriert den Gedanken jedoch gleichzeitig durch den ausgedünnten Klang im restlichen
Orchester. Die dritte Strophe setzt Zender klanglich von den vorausgehenden ab. „Der Wind
spielt drinnen mit den Herzen, wie auf dem Dach, nur nicht so laut“. Schubert setzt die
Begleitung an dieser Stelle eine Oktave tiefer. Zender reagiert auf diese Vorgabe, indem er
hier ausschließlich Cello und Kontrabass zur Begleitung einsetzt. Die Wirkung verstärkt sich
zusätzlich durch die Forderung nach Flautando-Spiel, wobei der Strich sehr nah am Steg
erfolgen soll. Zender fügt anschließend ein im Tempo freies Zwischenglied ein, das
ausschließlich zur onomatopoetischen Darstellung des Windes, durch die tonlos spielenden
Blechbläser, dient (T. 28; Wdh. T. 39). Die bereits bei Schubert angelegte Ausschmückung
des Begriffes „reich“ wird von Zender durch deren Aufgreifen in verschiedenen Stimmen in
sukzessiver Abfolge intensiviert (T. 45f.). Schließlich verklingt das Stück, wie bei Schubert,
nach dem Abflauen der Winde in einer Generalpause, die eingedenk der Zenderschen
Bedeutungskonnotation als sprechende Stille, dem Hörer Zeit zur Reflexion bietet.
Offen bleibt die Frage, warum Zender nicht auf Schuberts harmonische Vorgabe des
sogenannten „Schubertakkordes“244 (DD mit verminderter None, kleiner Septime und
verminderter Quinte - T. 31) reagiert. Er dient als Modulationsmittel für unvermittelte
Verbindungen harter tonaler Kontraste, die die psychologischen Konstitution des Ichs
widerspiegelt (hier: Armut des Wanderers – Reichtum der Geliebten). Es wäre vielleicht sogar
reizvoller gewesen, jene Darstellungsweise Schuberts durch Bearbeitungsmaßnahmen in ihrer
Zeichenhaftigkeit für den heutigen Hörer erfahrbar zu machen, als rein onomatopoetisch zu
arbeiten.
Der Lindenbaum
Bereits durch die Gestaltungsweise von Lied 4, durch die Dehnung von Vor-, Zwischen- und
Nachspielen, die im Kontrast zur sonst original übernommenen Strophengestalt stehen,
244
Zum Schubertakkord vgl. Hufschmidt, Wolfgang: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?, S. 111.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
67
- JANINEbereitet
CHRISTGEN
Zender den Hörer für den „Lindenbaum“ vor, der den „schönen Schein“ der Traumund Erinnerungswelt ebenfalls durch Brüche zu indeterminieren sucht.245 Auch Schubert
verbindet die Lieder 4 und 5 durch das Wiederaufgreifen der Basslinie (Nr. 4; T. 1) im
Säuseln der Lindenblätter (Nr. 5; T. 1) und verwandelt „die bittere Wirklichkeit der
„Erstarrung“, das vergebliche Suchen im Schnee, [...] in eine scheinbar bessere Welt des
Traumes. [...] Wirklichkeit und Traum werden eins, indem sich der Traum als Metamorphose
der Wirklichkeit offenbart.“246 (Vgl. Notenbeispiel: Anhang IX) Es ist die Realitätsflucht des
Wanderers, die hierin zum Ausdruck kommt, doch lässt Zender den Zuhörer bereits zu Beginn
erahnen, dass die Traumwelt keinen dauerhaften Bestand haben kann. Der Text Müllers ist
teilweise konjunktivisch gefärbt, die musikalische Linie ist volkstümlich liedhaft, was Zender
durch die Instrumentation ebenso wie durch die traumwandlerischen Gänge der Musiker im
Publikum unterstützt. Gitarren- und Harfenklänge überhöhen in gleichem Maße wie der
Einsatz von Mundharmonikaklängen den Topos der Volkstümlichkeit und lassen erwarten,
dass der Locus Amoenus sich in einen Locus Desertus verwandeln wird. Der Einbruch der
Realität, den Schubert mit dem Mittel der Dur-Moll-Konfrontation darstellt, wird von Zender
durch vorangehende Schläge von Trommel und Becken betont (T. 28). Das volkstümliche
Instrumentarium setzt aus. Drastischer aber wird die Aussagegewalt in der dritten Strophe, in
der Zender die dem Wanderer ins Gesicht blasenden Winde in Arpeggien der Harfe, den
geräuschhaften Streichertremoli (durch harten Strich am Steg), der Trommelwirbel und den
donnerartig wirkenden Tam-Tam-Schlägen darzustellen sucht. Es wird hinreichend deutlich,
dass das Ruheversprechen des Lindenbaums nur als Aufforderung zum Suizid zu verstehen
sein kann, lädt doch die Natur nicht zu träumendem Verweilen ein. Verdeutlicht wird dieser
Kontrast noch einmal, wenn Zender in Takt 57 die Streicher zur „normalen“ Artikulation
zurückkehren lässt und ihre geräuschhaften Tremoli sich in biedermeierlich anmutende
Klänge verfärben. Die weit entfernten Mundharmonikaklänge am Ende (T. 79 und 81) lassen
akustisch verzerrt die „heile Welt“ der volkstümlichen Artikulation, in Form von
Instrumentation und der bei Schubert angelegten obligaten Begleitfigur, die als „eine Art
Ländler [...], ein Symbol des Heimwehs nach dem unwiederbringlich verlorenem Glück“247,
erscheint, ins Wanken geraten. Doch ist die Polarisation der unterschiedlichen Klang- und
Ausdruckssphären bereits in der Transkription Liszts zu erkennen und keine genuin
245
vgl. Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 47.
Budde, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 80.
247
Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S. 78.
246
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
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- JANINEZendersche
CHRISTGEN
Bearbeitungstechnik (Vgl. Liszt „Der Lindenbaum“ T. 25f. dolente marcato; T.
37f. dolciss. armonioso; T. 46f. molto agitato; T.61f. dolce – Anhang X).
Einsamkeit
Begleitet durch den feinen Klang des biedermeierlichen Streichquintett könnte dieses Lied
dem resignativen Text ein Pendant bieten, doch wird diese Wirkung durch den Einsatz der
Holzbalkenschläge verkehrt. Sie sind „Sinnbild roher physischer Gewalt“248, entfalten den
Bruch von Subjekt und Welt in ganzer Härte. Hinzu kommt die rhythmische Verschiebung
der Nonole der Holzbalken gegen die „geraden“ Achtel der Streicher, so dass die Schläge den
Streichern vorauszueilen scheinen. Schließlich übernehmen die Holzbalken das Tempo der
Streicher, doch zur gleichen Zeit fordert Zender eine Verlangsamung des Gesamttempos, so
dass erneut eine rhythmische Verschiebung entsteht, die den Zuhörer eine gewisse Zähheit,
ein Verschleppen im Streichersatz erfahren lässt. Der Proportionalitätsfaktor zwischen den
drängenden Holzbalken und den schleppenden Streichern liegt zwischen 1,125 und 1,096
(Vgl. Anhang XI).249 Auf diese Weise verlangsamt sich das bereits geringe Ausgangstempo
so weit, dass die Zeit in der „Zwischenaktmusik“ fast stillzustehen scheint. Ähnlich wie
Schuberts „himmlische Länge“ scheint Zender hier erneut den Versuch zu unternehmen, die
Zeit zum Stillstand bringen zu wollen, gleichzeitig aber auch jede Sicherheit, jede gewohnte
Struktur durch den Einsatz der Holzbalken regelrecht zu „zerschlagen“. Dem inneren
Aufbruchswillen des Subjekts wird die äußere Begrenzung entgegengesetzt. „Als noch die
Stürme tobten“ war der Wanderer so elend nicht, doch die Auflehnung des Subjekts ist
niedergeschlagen. Der Mensch der Restaurationszeit unterliegt dem Metternischen Regime,
der Mensch der Postmoderne den Zwängen und Wirren einer sich ihm entziehenden Welt.
Das chromatische Absinken von d-Moll (Schuberts autographer Tonart) zu h-Moll (jener von
Schubert revidierten Tonart) unterstützt den „Fall“ des Subjekts ins Halt- und Bodenlose.
Dieses
Vorgehen
wurde
jedoch
bereits
in
Kapitel
IV.3.A
(Zyklusbildung
und
Tonartendisposition) dargestellt und soll daher hier nicht näher ausgeführt werden.
Die Post
Neben der onomatopoetischen Schilderung des Herannahens der Post mittels der
Raumklangwirkung und der instrumentalen Verdeutlichung der Dur-Moll-Konfrontationen
248
249
Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 52.
Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 52.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
69
- JANINEstellt
CHRISTGEN
Zender die Textvermittlung durch Tempovarianz in den Vordergrund. Jede
Enttäuschung, im wahrsten Sinne des Wortes Ent-Täuschung, Desillusionierung, ist mit einer
Tempoverlangsamung verbunden; der Gedanke an die Liebste führt zur Acceleration. Es
scheint, als zeichne Zender die Erregungskurve des aufgewühlten Wanderers nach, der
animiert durch die akustischen Stimuli des Posthorns zwischen erneut aufkeimender
Hoffnung und resignativer Einsicht in die Hoffnungslosigkeit schwankt. Je näher die Post
(versinnbildlicht durch das sich akustisch und visuell nähernde Hornsignal) kommt, desto
stärker ist die Aufregung des Wanderers zu spüren. Der Text thematisiert das Herz des
Wanderers, Stahmer sieht daher die Tempowechsel als „eine dem medizinischen EKG
abgelauschte Pulsfrequenz-Kurve mit zunehmender Tendenz in Richtung auf absoluten
Stillstand.“250 Zur Verdeutlichung dieser Annahme sei auf die graphische Darstellung der
Tempi in Anhang XII verwiesen. Zusätzlich gestaltet Zender die Resignation durch Reduktion
der Instrumentation nach den Generalpausen (T. 49; T. 96). In beiden Fällen handelt es sich
um jene Stellen, welche Schubert mit dem Umbruch von Maggiore zu Minore versehen hat,
dem Wandel von objektivem Schilderungsmoment zum Einblick in die innersten
Gemütsgründe des Wanderers. Auch hier „liest“ Zender Schubert genau. Er lässt die
Instrumentation in jenem Augenblick zunehmen, in dem das Herz „so wunderlich zu drängen“
beginnt. Die Vergeblichkeit des Rückblicks unterstreicht er in der zweiten Dur-MollKonfrontation (T. 96) durch die funerale Satztechnik und Klangfarbe der tiefen Holzbläser.
Indem Zender die Textzeile im Folgenden noch einmal unter Verstärkung der Singstimme
und der Beimischung von Hall wiederholt, betont er durch die Verzerrung erneut die
Vergeblichkeit der Hoffnungen. In dem gedehnten Nachspiel greift Zender auf die
Posthornklänge zurück, bevor er den instrumentalen Satz ausdünnt und ihn schließlich im
Piano mit Pizzicatoklängen der Streicher verklingen lässt. Das Aufbäumen des Herzens, die
leidenschaftliche Affektion durch den Posthornklang konnte die Entfremdung des Wanderers
nicht auflösen. Der Bruch mit der Geliebten ist endgültig besiegelt. Nun bleiben ihm von den
drei Sonnen, die ihm einst in seinem Leben schienen (Glaube, Liebe, Hoffnung) nur noch
zwei. Die „Nebensonnen“ erweisen sich nach und nach als Trugbilder, doch vermag selbst die
eigentliche Sonne den Weg des Wanderers noch zu erleuchten? Dies sei schließlich im
Anschluss an die Analyse des Zyklus zu diskutieren.
250
Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 53.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
70
stürmische Morgen
- JANINEDer
CHRISTGEN
„Der stürmische Morgen“, der signifikanter Weise nur den Wanderer, nicht aber die
Menschen, die dort in ihren „Betten schnarchen“, tangiert, scheint durch die erweitertete
Windmetapher in Verbindung mit Lied 2, tonal hingegen auch mit Nr.1 zu korrespondieren,
da beide in d-moll stehen. Dies ist von Müllers Textvorlage her leicht ersichtlich. Der in
„Gute Nacht“ aus dem Dorf „vertriebene“, mit dem der Wind gleich einer „Wetterfahne“
spielt, während die Menschen im Dorf unberührt, vom Sturm nicht ergriffen, schlafen,
erscheint in allen drei Liedern als auf sich alleine gestellt. Er nimmt Abstand von den
schlafenden Zeitgenossen, wählt das Exil freiwillig, da er nicht mit der Einstellung der
übrigen Gesellschaftsmitglieder konform geht. Damit gibt er auch die Geborgenheit der
menschlichen Gemeinschaft auf, setzt sich dem Wind aus, doch sagt er selbst, dass ihm die
Welt der Stürme lieber ist, wahrer erscheint („Als noch die Stürme tobten, war ich so elend
nicht.“) als jene Ruhe, die durch Handlungsunfähigkeit und Resignation erkauft sein mag. Die
Konsequenz ist der Versuch, der Welt mutig entgegenzutreten. Dem Hörer schlägt daher ein
akustisches Kontinuum des Dauerregens entgegen. Die prasselnden Trommelwirbel, der
Einsatz der Regenbleche, die rauschenden Streicherklänge - sie alle bieten die Grundlage für
eine vom Sturm „zerrissene“ Umdeutung des Schubertschen Originals. Gleich zu Beginn
dehnt Zender das Vorspiel durch das Zerreißen der Melodielinie. Selbst der Wind kann nicht
ungestört wehen. Dem entsprechen die Einfügungen von Pausen in die Singstimme, die Worte
zerteilen, Sprachfetzen durch den Raum wehen lassen und durch ihr Auftreten die
rhythmischen Fügungen außer Kraft setzten und auf diese Weise immer wieder nach dem
Einschub von zusätzlichen Takten verlangen. Die Sprach- und Kommunikationsfähigkeit
leidet unter dem aufbrausenden Wind, der das Sinnverständnis zu kolportieren sucht. Dem
Hörer weht er in den Takten 14f. in 32stel-Sechstolen in den Holzbläsern, gespielt mit
Flatterzunge, entgegen, was eine Verstärkung von der durch Schubert angelegten
Triolenbewegung darstellt. Die Glissandi der Streicher und die Wirbel der Pauken verstärken
diesen Ausdruck. Der Sturm steigert sich in den folgenden Takten, wird durch dynamische
Bewegungen von forte bis piano unterstützt und führt zur permanenten Unterbrechung des
Sprach- und Melodieflusses. So sehr der Wanderer auf den Sturm gehofft und die Ruhe der
schnarchenden Menschen verachtet hat, so wird doch hier auch gerade durch Zenders
Interpretation deutlich, dass er dem Sturm alleine nicht standhalten kann, dass seine Worte
verweht werden, er sich in der Welt nicht mehr zu artikulieren vermag.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
71
- JANINEDer
CHRISTGEN
Wegweiser
Wenngleich der Titel die Assoziation von Orientierung aufzublenden scheint, so ist es doch
viel eher das Gegenteil, welches in diesem Lied zum Ausdruck gebracht wird und es in die
Nähe der Lieder „Irrlicht“ und „Täuschung“ rückt. Mit diesen gemein ist ihm auch der
resignative Zwang zur Wanderschaft. Schubert sucht die Unmöglichkeit des Entrinnens aus
der Wanderschaft durch seine vielfach analysierte und in Harmonielehren immer wieder
beispielhaft verwiesenen harmonischen Windungen und Irrwege aufzuzeigen. Die Reaktionen
auf diese Vorgaben Schuberts fallen bei Zender jedoch weniger ins Gewicht. Er konzentriert
sich auf die Hervorhebung des Wandermotivs und die Notenwertprolongation. Auf diese
Weise versucht er einmal mehr die Divergenz zwischen Außen- und Innenwelt darzustellen.
Dem Ruhebedürfnis, welches Ausdruck in der Augmentation der Notenwerte findet, wird der
repetierende Achtelrhythmus des stetigen „Wandern-müssens“ entgegengesetzt. Die
Trostlosigkeit und Ausweglosigkeit zeigt sich auch in der Orchesterbesetzung, die sich
zunächst ausschließlich aus tiefen Streichern und Bläsern speist und somit eine melancholisch
funerale Anmutung gewinnt. Der Maggioreteil (T. 22f.) erhellt den dunklen Satz, gibt der
illusionären Weltentflohenheit des Dur einen lyrisch choralhaften Ton. Die pulsierende
Achtelbewegung setzt dabei im gesamten Lied nicht aus. Sie läuft wie ein Perpetuum Mobile
auch gegen die zur Erstarrung führenden Prolongationen an. Die Notenwerte verlieren nach
und nach ihre Kraft des dynamischen Flusses. Gerade ab Takt 55 ist die zunehmende
Verlängerung der Notenwerte markant. Zender adaptiert dieses Vorgehen zwar von Schubert,
zentriert den Gedanken des Verlustes kleiner Notenwerte und das Erstarren aber durch die
Ausdünnung des Orchesters. Die Abwechslung der Klangfarben innerhalb dieser stereotypen
Repetitionen kritisiert Nonnenmann wie folgt:
„Er (Zender) nimmt ihnen ihre unerträgliche Monotonie, mit der Schubert den unausweichlich letzten
Gang eines jeden Menschen darzustellen suchte.“251
Sicherlich belebt der Klangfarbenwechsel die Repetitionen, aber er verdeutlicht auch die
Unmöglichkeit des Entrinnens, indem sich kein Musiker (der Sänger eingeschlossen) dem
Achtelrhythmus zu entziehen vermag. Zender führt die Prolongation der Notenwerte
konsequent zu Ende, dehnt die Notenwerte in den letzten Takten über die Vorgaben hinaus.
Nach dem Verschwinden der repetierenden Achtelbewegung, welche in Takt 77 in eine
Viertelrepetition mündete, lässt Zender das Lied in einer Vierschlagnote des Akkordeons
verklingen. Vielleicht ist dies bereits ein Hinweis darauf, dass auch Zender den einzigen
251
Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musiktheorie für das Musikleben, S. 80.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
72
- JANINEAusweg
CHRISTGEN
im Tod sieht, doch dieser Gedanke ist am Ende dieses Kapitels noch einmal
aufzugreifen. Erwähnt werden soll hingegen noch, dass Zender nicht nur das harmonische
Verwirrspiel Schuberts nicht akzentuiert, sondern auch das Stilmittel der Teufelsmühle 252, ein
harmonisches Labyrinth, in welchem der Basslauf gegen die Tonrepetitionen in der
Gesangsstimme chromatisch aufwärts schreitet (vgl. T. 56f.) und so eine harmonische
Zielsetzung verdunkelt, ebenfalls unberücksichtigt lässt.
Mut!
Während der Text Müllers ein letztes entschlossenes Aufbäumen des Subjekts nach dem
Tiefpunkt der Depression in Lied 12 („Einsamkeit“) vermittelt, lässt Zender in seiner
Bearbeitung ersichtlich werden, dass die Stürme, die sich der Wanderer wünschte, sein neu
aufkeimendes
„Selbst-bewusstsein“,
sein
Mut,
diesem
Unwetter
entgegenzutreten,
fassadenhaft äußere Erscheinungen sind, mit denen die innere Befindlichkeit des Wanderers
nicht kongruiert. Das vordergründige Verhalten des Wanderers scheint wie „das Singen im
Wald, um sich die Angst zu vertreiben. Was bei Schubert im marschmäßigen G-Dur-Teil
vordergründig so keck und lustig klingt, ist dennoch untergründig Ausdruck tiefster
Verzweiflung.“253 Diese Verzweiflung lässt sich in Zenders Interpretation in der Auflösung
des Originals, in dessen „zerrissener“ Gestalt wiederfinden. Die Motive Schuberts fliegen
dem Zuhörer entgegen, lassen ihn die innere Verstörung des Wanderers akustisch
nachempfinden. Die Windmetapher, die in Lied 2 erstmalig anklang und sich in Lied 18
steigerte, gipfelt nun in Lied 22. Konsequent zeigt Zender die zunehmende Verstörung des
Wanderers durch die Entwicklung der Windmetapher vom brausenden Wind zum alles
zerstörenden Sturm. Die Schubertschen Motive erscheinen nur noch als „Fetzen [...], die auf
die Folie eines von Zender komponierten Kontinuums von akustischem Dauerregen
aufgeklebt wurden.“254 Der Wind hat inzwischen eine solche Vehemenz erreicht, dass er den
Wanderer nicht mehr „aussingen“ lässt, ihn immer wieder zum Beginn zurückwirft. Dieses
beständige Zurückgeworfenwerden steht in direkter Verbindung zur Suche nach harmonischer
und metrischer Orientierung. Erst im vierten Anlauf gelingt es, nach einer Phase der
harmonischen Verwirrung (f-Moll, a-Moll, fis-Moll), zur Schubertschen Originaltonart gMoll vorzudringen und die erste Strophe nun endlich vollständig erklingen zu lassen. (Zur
schematischen Übersicht der formalen Gliederung sei auf Anhang XIII verwiesen.) Doch die
252
Vgl. Budde, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 89.
Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme?, S. 149.
254
Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 48.
253
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
73
- JANINEtonale
CHRISTGEN
Konsolidierung besteht nur für acht Takte (T. 44-51). Die zweite Strophe wiederholt
das harmonisch „suchende Verrücken und Verschieben“255. Daher führt der Einsatz der
Streicher (T. 52) nach gis-, jener der Bläser (T. 53) nach a-Moll, um schließlich in Takt 55, im
weiterhin chromatischen Gang, nach b-Moll zu gelangen. Aber auch hier wird keine tonale
Sicherheit gewonnen, so dass der Maggioreteil schließlich in E-Dur statt in G-Dur beginnt (T.
74). Diese harmonische Verwirrung „klärt“ Zender durch eine 13taktige Collage aus
Schubertschen Motiven (T. 77-90). Zender legt so beispielsweise in den Holzbläsern (T. 77f.)
die originale Melodie aus Schuberts T. 41 (A) über die Wiederholung des melodischen
Duktus „gegen Wind und Wetter“ (B) und die rhythmischen Bausteine des Schubertschen
Taktes 41 (li. Hand) (C). In den Streichern greift Zender erneut Motivteil B auf und unterlegt
es mit dem Rhythmus der Schubertschen Klavierbegleitung in Takt 45f. (D). Zur
Verdeutlichung dieser rhythmischen und melodischen Verwebung, die sich, aus selbigen
Elementen speisend, bis Takt 90 kontinuiert, sei auf Anhang XIV.1 und 2 verwiesen. Hier
sind zum einen die rhythmischen und melodischen Elemente verzeichnet, die Zender aus der
Schubertschen Vorlage übernimmt (XIV.1) und diese zum anderen im Notentext Zenders
vermerkt (XIV.2).
Diese Collage, die Zender durch den Einsatz von drei Windmaschinen in ihrer Wirkungsweise
unterstützt, führt zur Bereinigung der harmonischen Wirren und zur Etablierung des
Schubertschen g-Moll, das schließlich, wiederum von klangmalerischen Elementen des
Windes unterbrochen, in den G-Dur-Teil überführt wird. Der Satz scheint nun vorerst
transparenter, so wird die Singstimme abwechselnd durch Bläser- und Streicherklang
begleitet. Doch finden sich auch hier signifikante Eingriffe Zenders, die dieser mit dem
Terminus „Kontrafaktur“ bezeichnet und damit „frei erfundene Klänge zur Schubertschen
Musik“256 bezeichnet, womit er den Begriff nicht im Sinn der musikwissenschaftlichen
Fachterminologie benutzt. Diese sogenannten „Kontrafakturen“ treten beispielsweise in Takt
109 in den Streichern auf und gemahnen einmal mehr an das Liedthema aus Nr.1 durch ihren
abwärtsgerichteten Duktus. Die Botschaft des „Fremdseins“ trägt diese Kontrafaktur somit in
einen neuen Zusammenhang und lässt damit die Verbindung zwischen Orts- und Gottlosigkeit
aufscheinen, die gänzliche Vereinsamung und Solipsie des Subjekts versinnbildlichend. Auch
die onomatopoetische „Kontrafaktur“ in Takt 121 steht nicht im luftleeren Raum. Sie erinnert
an die Ausgestaltung der Winde in Lied 18 (T. 14f.; T. 30f.). Der Aufruf, selber Götter zu sein
schließlich klingt durch die Aufsplittung des Satzes (T. 125f.) falsch, „wie von einem
255
256
Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme, S. 152.
Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 222.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
74
- JANINEdefekten
CHRISTGEN
Tonträger vermittelt.“257 Die emphatische Wirkung des aufwärtsstrebenden
Dreiklangs wird somit, ebenso wie der Mut des stürmenden und drängenden Subjekts,
gebrochen. So verfährt Zender in der Gestaltungsweise nur folgerichtig, wenn er das Lied im
Sturm verwehen lässt, die Melodieelemente des Schubertschen Nachspiels aufbricht und, sie
in col legno- und pizzicato-Klängen auflösend, der revolutionären Textaussage ihre
Illusionshaftigkeit vor Augen führt. Die beständigen Taktbrüche tun hierzu ihr Übriges.
Der Leiermann
Zender formuliert die Intention seiner Interpretation des „Leiermanns“ wie folgt:
„Wird bei Schubert die Winterreise im zweiten Teil zunehmend zu einer Auseinandersetzung mit dem
Tod, der Abschied von der Geliebten zu einem Abschied vom Leben überhaupt, so zwang dies zu einer
besonderen Strategie in der Gestaltung des Schlusses. Die am Anfang trotz aller Verfremdung noch
eindeutige Beziehung zum historischen Original wird in meiner Bearbeitung immer labiler, die `heile
Welt´ der Tradition verschwindet immer mehr in eine nicht rückholbare Ferne. [...] Beim `Leiermann`
endlich verschwindet außer der zeitlich metrischen Orientierung auch noch die harmonisch-räumliche
Stabilität, indem durch immer neu hinzugefügte Unterquinten (abgeleitet aus dem 4. Takt des SchubertLiedes) die Gestalten ihre Standfestigkeit verlieren und am Schluss gleichsam `in die Erde sinken`.“ 258
Konnte man diese tendenziell sich steigernde Zergliederung der Schubertschen Vorlage schon
in den Liedern 18, 19 und 22 wahrnehmen, so lässt Zender den Zyklus in Leere und
Vereinsamung enden. Der Klang erstirbt, entzieht sich optisch (Abgang der Musiker) und
akustisch (Ausdünnung des Satzes). Dies wird durch die Rücktransposition in die
Originaltonart h-Moll unterstützt, die sich von der Ausgangstonart d-Moll uneinholbar
entfernt (vgl. Kapitel VI.3.A. – Zyklusbildung und Tonartendisposition) und somit die
zyklische in eine Spiralgestalt umgebogen hat (vgl. Kapitel II.3.C. – Sinn und
Zielkonfiguration). „Abgeleitet aus den leeren Quinten des Schubert-Lieds baut Zender ein
aus hoher Lage absteigendes Quintfeld von gis´´´(Picc) bis zum Kontra d (Fag) mit h als
Mittelpunkt auf.“259 Dieses Quintfeld findet sich erneut im von Zender frei hinzugefügten
Nachspiel, wo es aber „alle chromatischen Töne enthält und so ein gespreiztes Cluster
bildet,“260 der sich durch die Abgänge der Musiker und das Ausdünnen des Satzes allmählich
auflöst, den Wanderer ebenso im Nichts verschwinden lässt wie er zu Beginn aus dem Nichts
erschienen war. Die Konturen, die sich anfänglich verschärften, verblassen nun.
Die volkstümliche Instrumentenauswahl, die den Gesang zunächst begleitet und sich auf
Klarinette, Sopransaxophon, Akkordeon, Gitarre, Violinen und Bratschen beschränkt,
257
Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme, S. 152.
Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 222-223.
259
Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme?, S. 149.
260
Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme?, S. 149.
258
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
75
- JANINEverweist
CHRISTGEN
erneut auf Zenders Bruch von Schönklang durch den Topos der Überhöhung. Die
Auflösung des Originals und dessen Allgegenwart zeigt sich in der konsequenten Permutation
der „Leiermann-Melodie“, die in verschiedenen rhythmischen Verschiebungen zutage tritt
(vgl. Anhang XV). Der Abschied ist in Zenders Version des „Leiermanns“ deutlich
formuliert. Sicherlich lässt sich die Anlage für seine Gestaltung in der Vorlage Schuberts
finden, doch stellt sich die Frage, ob Zender hier nicht über die von Schubert intendierte
Aussage hinausgegangen ist, den Zyklus womöglich seiner Offenheit durch eindimensionale
Festlegung beraubt hat. Dieser Gedanke tritt in der Beschäftigung mit der „Winterreise“
Schuberts im Allgemeinen und jener Zenders im Speziellen nur recht selten zutage. Klaus
Hinrich Stahmer ist einer der Wenigen, die dies in ähnlicher Weise fassen:
„Man kann die Disproportionalität, die durch Schuberts Vermeiden von musikalischer Gestalt im
Schlusslied ausgelöst wird, auch als offenen Schluß sehen. Dem läuft die quasi-sinfonische
Ausarbeitung Zenders zuwider, indem sie das Schlusslied im Sinn des Abschieds [...] formuliert. Dies
wäre indessen wohl die einzige Stelle, wo die Ausarbeitung direkt ins Gegenteil dessen umschlägt, was
von Schubert intendiert wurde.“261
Sicherlich weist die Musik Schuberts durch die starren Quinten und die repetierten
Melodiemuster auf Erstarrung hin. Auch wurde die Figur des Leiermanns in der Literatur
häufig als Tod gedeutet und die Winterreise somit als Reise in den Tod betrachtet. Diese
Betrachtungsweise scheint allerdings unschlüssig. Die starre Bewegung der Leier scheint
nicht ausschließlich als negatives, erstarrendes Moment begreifbar, denn die Kreisbewegung
beleuchtet auch die Zirkularität, den Kreislauf des Lebens, Beginn und Ende.262 Aufgrund
dieser Ausführung ist es möglich, den Leiermann erneut als den „Tod“ zu deuten, der den
Lebenszyklus des Wanderes beendet, doch kann gerade auch hier ein neuer Aufbruch
beginnen. Wenngleich der Leiermann isoliert und von der Gesellschaft ausgeschlossen
erscheint („keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an“), so nimmt der Wanderer doch
erstmalig im gesamten Zyklus Kontakt zu einem anderen Individuum auf, einem Menschen,
der ihm ähnlich ist, der die gleichen Sorgen und Nöte erlebt. Die Musik verbindet sie, der
Leiermann geht auf das „Angebot“ des Wanderers ein, zu dessen Liedern seine Leier zu
drehen (akustisch durch die Zusammenkunft der Stimmen wahrzunehmen). Zudem ist im
Zyklus häufig hervorgetreten, dass der Wanderer sich nach Tod und Ruhe sehnte, diese aber
nicht finden konnte, ihm der Tod folglich verwehrt war (Vgl. Kapitel II.3. – Wenn die Heimat
zur Fremde wird – Müllers „Winterreise“) Aus welchem Grund sollte diese Konfiguration so
schnell und unmotiviert in ihr Gegenteil verkehrt werden? Es erschließt sich keine logische
261
262
Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 55.
Vgl.: Stoffels, Ludwig: Die Winterreise, S. 120f.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
76
- JANINEErklärung
CHRISTGEN
für eine solche Betrachtungsweise. Daher sollte eine einseitige Festlegung des
Zyklusendes vermieden werden. Sicher ist, dass am Ende ein neuer Aufbruch steht; wie dieser
sich jedoch gestaltet, ist der individuellen Interpretation des Rezipienten zu überlassen und
nicht zu determinieren.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
77
Schubert, Zender, Neumeier – Treffpunkt Zukunft?
- JANINE5CHRISTGEN
Zender, als einer derjenigen, der sich, wie sich gezeigt hat, in eine lange Rezeptionstradion
einfügt, gleichzeitig aber seine persönliche „lecture“ in seiner Interpretation zum Ausdruck
bringt, geht es folglich nicht um „eine konservative Aneignung des Gewesenen, sondern
vorrangig um eine Durchleuchtung von dessen Zukunftsgehalt, der aus der Vergangenheit in
die Gegenwart hineinreicht.“263 Wodurch die Überzeitlichkeit des Sujets bedingt ist, wurde
bereits in Kapitel II thematisiert. Es sind sicherlich grade diese Gedanken, die Zender zu einer
Interpretation der Winterreise bewogen haben. Die positiven bis euphorischen Reaktionen von
Presse und Publikum spiegeln, welche große Relevanz das Sujet in der heutigen Zeit hat, und
dass es nichts von seiner Aktualität eingebüßt zu haben scheint. Dass besonders Zenders
Werk aber eine Brücke in die Zukunft zu schlagen vermag, zeigt sich an der Rezeptionsflut,
die sein Werk auslöste. Kommentare, Kurzanalysen und Rundfunksendungen, Adaptionen für
den schulischen Musikunterricht entstanden und nicht zuletzt John Neumeiers Ballett,
welches er zu Zenders Interpretation im Jahre 2001 in der Hamburgischen Staatsoper zur
Aufführung brachte. Auch diese Inszenierung wurde begleitet von enthusiastischen
Reaktionen seitens des Publikums und der Presse. Neumeiers Inszenierung zentriert dabei die
Gedanken, welche auch Zenders Winterreise zugrunde liegen und setzt das Sujet
choreographisch in die Moderne. Neumeiers Auffassung der Winterreise spiegelt sich in der
Aussage: „Schuberts Liederzyklus ist nicht romantisch, „it´s modern and it´s very present.“ 264
Schon
das
Bühnenbild
reflektiert
diese
zentralen
Gedanken.
(Zur
visuellen
Vergegenwärtigung des Geschilderten sei auf die im Anhang XVI angefügten Bilder der
Inszenierung Neumeieres hingewiesen.) Im Hintergrund erblickt der Rezipient eine riesige
Photowand mit Bildern aus den Kindheitstagen der 13 Tänzer. Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft fließen zusammen. Die Lebensreise des Wanderers, der Akteure, der Zuschauer
blickt auf Relikte einer nicht mehr wiederherzustellenden Zeit auf die aktuelle Situation.
Während all dies geschieht, vergeht Zeit, bricht schon die Zukunft an, wird Klang und
Choreographie zu erlebter Zeit, die Impulse für die Zukunft setzten will, aufrütteln, bewegen
aus Rezeptionsgewohnheiten zu befreien sucht. Neumeier lässt zu der Musik Zenders
Episoden entstehen, die vereinzelte Subjekte zeigen und dieser Vereinzelung gleichzeitig
durch ihren Episodencharakter Ausdruck verleihen. Verbindend führt einzig der Tänzer in
seinem übergroßen Pullover und Brille durch die dunklen und teilweise beklemmend
263
264
Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S. 70.
Neumeier, John: Irritierende Aktualität. www.hamburgballett.de
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
78
- JANINEanmutenden
CHRISTGEN
Bilder. Das Orchester mitten auf der Bühne positioniert und über einen Steg mit
der verschneiten Bühne verbunden, kann mit Zenders onomatopoetischer musikalischer
Sprache nicht deutlicher akzentuieren, was Neumeier hier choreographisch umsetzt: Kälte,
Erstarrung und Solipsie, zum Ausdruck gebracht durch die 13 Tänzer, die Menschen mit
verschiedenen Habiten darstellen und doch alle fremd in der Umgebung wirken.
„Da gibt es den gealterten Dressman ebenso wie die wohlsituierte Dame, den notorischen
Existentialisten wie das scheinfröhliche Mädchen, den von Zweifeln unangekränkelten Businessman
und die traurige Unnahbare, die skeptische Beobachterin und, als historische Reminiszenz, offenkundig
aber als Blickfang, ein Paar wie aus dem Dreimäderlhaus: ein Herr in Frack und Zylinder, der immer
wieder wegzuknicken droht, und eine süße Blonde im Biedermeier-Kleid, deren niedliches Getrappel
urplötzlich erstirbt. Sie alle sind Einzelgänger. Ihre Bewegungen sind gefroren, tauen auf wie
Erinnerungen, unternehmen dann Ausflüge in Makellosigkeit.“ 265
Die
alle
Episoden
vermittelnde
Hauptperson
erfährt
so
gesellschaftliche
Kälte,
Verschlossenheit der Welt und Vereinsamung am eigenen Leib ebenso, wie der Beobachter.
„Reduzierte Bewegungssprache und beklemmende Bilder“266 wirft Neumeier dem
Rezipienten entgegen. Das reduzierte Bühnenbild kongruiert mit den Bewegungen. Eine
Straßenlaterne als „Assoziation von Unwirtlichkeit und auf der Straße sein.“267 Ein Bild, dass
Neumeier ähnlich jenem betrachtet, das einst die Telefonzelle vermittelte, als Mobiltelefone
noch keine allgegenwärtige Kommunikation ermöglichten. Es ist das „Gefühl der Isolation
und des Ausgesperrtseins, ein Synonym für Unterwegssein und gleichzeitig ein Signal für den
tiefen Wunsch nach Kommunikation, Nähe, inniger Zwiesprache.“267 Neumeier pointiert
diesen Gedankengang in der abschließenden Bemerkung:
„Es ist der Verlust des Vertrauten und auch vielleicht des Vertrauensvollen, den wir so stark spüren,
damals wie heute. Irgendwie ist es, als fühle man Symptome, aber kenne die Krankheit nicht. Die
`Winterreise´ konfrontiert uns mit einer sehr extremen Form von Exil … dem Exil in sich selbst,
verloren gegangen, mitten in der Welt.“268
Das Sujet hat also nicht an Relevanz verloren, es spiegelte, spiegelt und wird immer Ängste
und Nöte eines in die Krise geratenen „Selbst-bewusstseins“ spiegeln. Schuberts
„Winterreise“, ein Werk, das in die Zukunft weist und durch Zenders Aktualisierung der
teilweise zum reinen Genuss verkommenen Klassiker-Rezeption die „Urimpulse, die
existentielle Wucht des Originals“269 wiederzugeben sucht.
265
Edith Boxberger, Frankfurter Allgemeine Zeitung. www.hamburgballett.de
ARD Tagesthemen. www.hamburgballett.de
267
Neumeier, John: Irritierende Aktualität. www.hamburgballett.de.
268
Neumeier, John: Irritierende Aktualität. www.hamburgballett.de.
269
Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 223.
266
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
79
Schlussbetrachtung
- JANINEVI
CHRISTGEN
„Das Wesen der Zeit ist das Maß des Gewordenen in immer währender Bewegung“ 270. Durch
dieses Zitat des Philosophen Xenokrates zeigt sich für Zender, dass das Vergangene nur in
seiner Bewegung, in seiner vitalen Erneuerung, lebendig ist. Um in seiner „existentiellen
Wucht“ zum Rezipienten zu sprechen, sucht Zender das Werk von seiner „ordinären“
Rezeptionsweise zu befreien und den Hörer aus seiner passiven Rezeptionshaltung zu
dispensieren. Doch ist dies nur in sinnvoller Weise möglich, wenn das Werk Konstituenten
aufweist, die den heutigen Menschen ebenso betreffen, wie den in der Vergangenheit gelebt
habenden und den in Zukunft lebenden. Wenn das Werk, sein Sujet und sein
Ausdruckspotential anthropologische Grundkonstanten berühren. Müllers Text, Schuberts
Vertonung und Zenders Aktualisierung der „Winterreise“ bringen diese Faktoren zusammen.
„Die Sprache von Schubert ist Dialekt: aber es ist ein Dialekt ohne Erde. Er hat die
Konkretion der Heimat; aber es ist keine Heimat hier, sondern eine erinnerte.“ 271 Auf diese
Weise thematisiert Adorno das spezifisch dichotomische der Schubertschen Musik. Diese
bringt zum Ausdruck, wovon die „Winterreise“ spricht: Entfremdung des Menschen von der
Natur, von der Objektwelt. Die Hoffnung auf und Sehnsucht nach dem Vergangenen markiert
Schubert in verheißungsvollen Durpassagen, die durch den Einbruch der Realität in Moll in
ihr Gegenteil verkehrt werden. Modulationen in entfernte Tonarten vermittels des
Schubertakkordes (vgl. Kapitel 5.4.B.) zeigen die Brüche zwischen Innen- und Außenwelt,
zwischen Mut und Resignation. Die Tonartendisposition lässt gleichfalls Einblicke in die
Lesarten der Müllerschen „Winterreise“ durch Schuberts zu. Mit diesem feinen Geflecht
musikalischer Disposition setzt sich Zender auseinander. Er findet in der Sprache Schuberts
und in der „Winterreise“-Thematik, die darin zum Ausdruck kommt, immanent zeitaktuelle
Faktoren wieder, die er in seiner ganz eigenen „Lesart“ umsetzt und dem Rezipienten näher
zu bringen sucht. Selbst wenn man nicht in allen Lesarten mit Zender übereinstimmen mag,
wenn mancher Bruch zu hart, manche Überhöhung zu scharf erscheinen mag, so führt er den
Hörer doch zu einem Ausbruch aus der gewohnten „Konsumhaltung“, lässt ihn durch
Rezeptionsbrüche provoziert oder motiviert eigene Assoziationen entwickeln, von Neuem
über die Relevanz des Stoffes, die kunstvolle Umsetzung Schuberts sinnieren. Zender rüttelt
den Hörer auf, bietet Reibefläche. „Kunst muss Widerstand leisteten“272 zentriert Gerhard
Koch diesen Gedankengang, der selbiges auch über Neumeiers Ballett zu Zenders Werk hätte
270
Zender, Hans: Alte Musik – Neue Musik, S. 15.
Adorno, Theodor W.: Schubert, S. 29.
272
Koch, Gerhard: Kunst muß Widerstand leisten. www.breitkopf.de.
271
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
80
schreiben können. Er scheint damit die Meinung von Presse und Publikum zu spiegeln, die
- JANINEZenders
CHRISTGEN
Interpretation feierten und sich somit als Subjekte in der modernen Gesellschaft in
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MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
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Jg. 55, H. 1 1995, S. 183-216.
Youens, Susan:
“Wegweiser” in “die Winterreise”. In: The journal of
musicology Jg. 5, Nr. 1 1987, S. 357-379.
Zeller, Hans Rudolf:
Ferruccio Busoni und die musikalische Avantgarde um 1920.
In: Metzger, Heinz-Klaus (Hrsg.): Musik der anderen Tradition.
Mikrotonale Tonwelten. München: Ed. Text und Kritik 2003
(Musik-Konzepte, Sonderbd. 3), S. 9- 18.
Zenk, Martin:
Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts
Winterreise. In: [...] Archiv für Musikwissenschaft Jg. 44, H. 2
1987, S. 141-160.
d) www
Amzoll, Stefan:
Bagatellen für B. Wieviel Geschichte hat neue Musik? Dem
Komponisten Reiner Bredemeyer zum 75. Geburtstag. In: Junge
Welt 08.12.1995. www.jungewelt.de/2004/02-03/017.php.
[Abfragedatum: 09.08.2005].
ARD Tagesthemen:
Neumeiers “Winterreise”. 17.12.2001.
www.hamburgballett.de/d/rep.htm [Abfragedatum:
24.05.2005].
Boxberger, Edith:
Neumeiers „Winterreise“. In: FAZ 17.12.2001.
www.hamburgballett.de/d/rep.htm [Abfragedatum:
24.05.2005].
Bredemeyer, Reiner:
"... wir haben keinerlei Chance: nützen wir sie". www.reinerbredemeyer.de [Abfragedatum: 09.08.2005].
Conrad, Stefanie:
Reduziertes Bewegungsvokabular. John Neumeiers
„Winterreise“: Ecken und Kanten statt choreographischer
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
91
- JANINE CHRISTGEN
Schnörkel. In: Taz, die Tageszeitung 18.12.2001. www.taz.de
[Abfragedatum: 24.05.2005].
Kogler, Horst:
Neumeiers „Winterreise“. In: Kogler Journal.Tanznet.de
www.hamburgballet.de/d/rep.htm [Abfragedatum:
09.08.2005].
Kunckel, Susanne:
„Tanz ist nicht die Tageszeigung“. Ist das Ballett in der Krise? In:
Welt am Sonntag 01.07.2001.
www.wams.de/data/2001/07/01/503019.html?s=2
[Abfragedatum: 09.08.2005].
Müller, Gerhard:
Zum Tode des Komponisten Reiner Bredemeyer. Er konnte alles,
außer nach Noten schwindeln. In: Neues Deutschland 08.12.1995.
www.reiner-bredemeyer.de [Abfragedatum: 09.08.2005].
Neumeier, John:
Irritierende Aktualität. www.hamburgballett.de/d/rep.htm
[Abfragedatum: 24.05.2005].
Regnitz, Hartmut:
Neumeiers“ Winterreise“ . In: Die Welt 17.12.2001.
www.hamburgballett.de/d/rep.htm [Abfragedatum:
24.05.2005].
Rossmann, Ekkehard:
Neumeiers „Winterreise“. in: dpa
www.hamburgballet.de/d/rep.htm [Abfragedatum:
24.05.2005].
Schmalmack, Brigitte:
Reise ohne Wiederkehr. www.hamburgballett.de/d/rep.htm
[Abfragedatum: 24.05.2005].
Stenzel, Jürg:
Standhaft und frech Einspruch erhoben
Gebrauchsmusik ohne Qualitätsverlust: Zum Tod des Komponisten
Reiner Bredemeyer. In: Faz 07.12.1995.
www.reiner-bredemeyer.de [Abfragedatum: 09.08.2005].
Koch, Gerhard:
Kunst muß Widerstand leisten. www.breitkopf.de
[Abfragedatum: 24.05.2005].
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
92
- JANINE CHRISTGEN
VIII Anhangverzeichnis
Anhang I
Abfolge der Gedichte im Zyklus Müllers
In: Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung und Schuberts
Vertonung. Bonn: Verl. für syst. Musikwissenschaft 1987 (OrpheusSchriftenreihe zu Grundfragen der Musik, 48/62). Abbildung S.2
Anhang II
Kommunikationsschemata
In: Bernhard, Katrin: Reisebericht – Sekundäres zur Winterreise. In:
Schubert Perspektiven Jg. 3, H. 1 2003, Abbildung S.57, 61.
Anhang VI
Umgang mit den Tongeschlechtern Moll und Dur
In: Zender, Hans: Orchesteraufstellung und Besetzung. In: Zender, Hans:
Schuberts „Winterreise“. Eine komponierte Interpretation für Tenor und
kleines Orchester. [...] Wiesbaden: Breitkopf und Härtel 1996. Abbildung
im Vorwort.
Anhang IX
Vergleich der Melodieführung in Lied 4 und 5
In: Budde, Elmar: Schuberts Liederzyklen. Ein musikalischer Werkführer.
München: Beck 2003, Abbildung S. 80.
Anhang X
Liszts Transkription des „Lindenbaums“
In: Liszt, Franz: Winterreise. 12 Lieder von Franz Schubert, für Klavier
überragen von Franz Liszt. In: Krause, Andreas (Hrsg.): Transkriptionen
VI. Budapest: Ed. Musica 1995. (Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Ser. 2,
Bd. 21), Abbildung S.122-128.
Anhang XV
Rhythmusmodelle in Lied 24
In: Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme? Zu Hans
Zenders komponierter Interpretation von Schuberts Winterreise. In: Musica
Jg. 48 H. 3 1994, Abbildung S.149.
Anhang XVI
Bilder der Inszenierung Neumeiers
In: Neumeier, John: Bilder der Inszenierung von Zenders „Winterreise“ als
Ballett. www.hamburgballett.de /d/gallery.html.
Anhang XVII
Partitur ausgewählter Lieder aus Schuberts „Winterreise“
In: Schubert, Franz: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. [...] Serie IV: Lieder,
Bd.4 – Teil a. Kassel: Bärenreiter [...] 1979.
Anhang XVIII
Partitur ausgewählter Lieder aus Zenders „Winterreise“
In: Zender, Hans: Schuberts „Winterreise“. Eine komponierte Interpretation
für Tenor und kleines Orchester. [...] Wiesbaden: Breitkopf und Härtel
1996.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
93
- JANINE CHRISTGEN
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung und Schuberts Vertonung. Bonn:
Verl. für syst. Musikwissenschaft 1987 (Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik,
48/62). (Anhang I)
Bernhard, Katrin: Reisebericht – Sekundäres zur Winterreise. In: Schubert Perspektiven Jg.
3, H. 1 2003, S. 61. (Anhang II.I)
Bernhard, Katrin: Reisebericht – Sekundäres zur Winterreise. In: Schubert Perspektiven Jg.
3, H. 1 2003, S. 54-64. S. 57. (Anhang II.II)
Zender, Hans: Orchesteraufstellung und Besetzung. In: Zender, Hans: Schuberts
„Winterreise“. Eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester. [...]
Wiesbaden: Breitkopf und Härtel 1996. (Anhang VI)
Budde, Elmar: Schuberts Liederzyklen. Ein musikalischer Werkführer. München: Beck
2003, S. 80. (Anhang IX)
Liszt, Franz: Winterreise. 12 Lieder von Franz Schubert, für Klavier überragen von Franz
Liszt. In: Krause, Andreas (Hrsg.): Transkriptionen VI. Budapest: Ed. Musica 1995. (Neue
Ausgabe sämtlicher Werke, Ser. 2, Bd. 21), S.122-128. (Anhang X)
Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme? Zu Hans Zenders
komponierter Interpretation von Schuberts Winterreise. In: Musica Jg. 48 H. 3 1994,
S.149. (Anhang XX)
Zender, Hans: Schuberts „Winterreise“. Eine komponierte Interpretation für Tenor und
kleines Orchester. [...] Wiesbaden: Breitkopf und Härtel 1996. (Anhang XXI)
Schubert, Franz: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. [...] Serie IV: Lieder, Bd.4 – Teil a.
Kassel: Bärenreiter [...] 1979. (Anhang XXII)
Neumeier, John: Bilder der Inszenierung von Zenders „Winterreise“ als Ballett.
www.hamburgballett.de /d/gallery.html.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
94
- JANINEANHANGSÜBERSICHT:
CHRISTGEN
ANHANG I
GEDICHTABFOLGE UND ZYKLUSBILDUNG
ANHANG IIa
DIVERGENTE KONSTITUENTEN DES KUNSTWERKS
ANHANG IIb
KOMMUNIKATIONSSCHEMATA
ANHANG III
REZEPTIONSÜBERSICHT
ANHANG IV
TONARTENPLAN DER WERKE SCHUBERTS UND ZENDERS
ANHANG V
UMGANG MIT DEN TONGESCHLECHTERN DUR UND MOLL
ANHANG VI
ORCHESTERAUFSTELLUNG UND BESETZUNG
ANHANG VII
RAUMWEGE UND INSTRUMENTATION
ANHANG VIII
SIGNIFIKANTE BEARBEITUNGSMERKMALE
ANHANG IX
VERGLEICH DER MELODIFÜHRUNG IN LIED 4 UND 5
ANHANG X
LISZTS TRANSKRIPTION DES LINDENBAUMS
ANHANG XI
RETARDATION (LIED 12)
ANHANG XII
TEMPOVARIANZ (LIED 13)
ANHANG XIII
FORMALER ABLAUF (LIED 22)
ANHANG XIVa
RHYTHMUS- UND MELODIMODELLE SCHUBERTS (LIED 22)
ANHANG XIVb
ZENDERS COLLAGE DER MODELLE SCHUBERTS (LIED 22)
ANHANG XV
RHYTHMUSMODELLE (LIED 24)
ANHANG XVI
AUSGEWÄHLTER LIEDER ZENDERS
ANHANG XVII
PARTITUR DER LIEDER SCHUBERTS ZUM VERGLEICH
ANHANG XVIII BILDER DER INSZENIERUNG NEUMEIERS
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
95
- JANINE CHRISTGEN
I Abfolge der Gedichte im Zyklus Müllers
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
96
- JANINE CHRISTGEN
II Kommunikationsschemata
II.1 Durch Katrin Bernhard veranschaulichte divergenten Konstituenten des Kunstwerks
In der Zeit unveränderliche Faktoren Rasch alternde, vergängliche Faktoren, die
bewahren vor dem veralten:
der ständigen Erneuerung bedürfen:

Geist eines Kunstwerks


Maß der Empfindung

Das Menschliche, das in ihm ist
Form,
die
diese
drei
Faktoren
aufnimmt

Mittel, die sie ausdrücken

Geschmack der Entstehungs-Epoche
II.2 Von Katrin Bernhard aufgestelltes Schema, in dem oben das traditionelle Kommunikationsschema unten die
Umdeutung durch Zender abzulesen ist
aktiv
mitschöpferisch
Rein darstellend
Mimesis = imitatio
Mimikry, blinde
Nachahmung
KOMPONIST
INTERPRET
Mitschöpferisch
Mimesis = productio
schöpferisch
Text
passiv
rezipierend
klingende
Darstellung
HÖRER
handelnd
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
97
III Rezeptionsübersicht
- JANINE CHRISTGEN
JAHR
AUTOR
1823/24 Müller,
Wilhelm
1827/28 Schubert,
Franz
1838-40 Liszt, Franz
1984
Bredemeyer,
Reiner
1985
Döhl,
Friedhelm
1990
Rühm,
Wolfgang
1993
Zender, Hans
1997
Suzuki,
Yukikazu
1997/98 Florey,
Wolfgang
2001
Neumeier,
John
TITEL
Winterreise
BESETZUNG
Literarische Vorlage
ANMERKUNG
- Literarische Vorlage
- Reflex auf gesellschaftliche/
politische Zustände
Winterreise
Tenor und Klavier
- Kompositoischer Reflex auf
Müllers Winterreise
- Reflex auf gesellschaftliche/
politische Zustände und subjektive
Gefühlslage
Klaviertranskription
Klavier
- individuell interpretierende Lesart
„Winterreise“
der Winterreise Schuberts
- Reflex auf persönliche Umstände
- Werkvermittlung durch Erfüllung
der Hörgewohnheiten der
Rezipienten
„Winterreise“
Bariton, Horn, Piano - Frei von Schuberts
Kompositionsvorgaben
- in der Bitterkeit und Trostlosigkeit
der musikalischen Sprache drückt
sich die Vereinzelung der Subjekte
ebenso wie die gesellschaftliche
Resignation und Erstarrung aus
 Überzeitlichkeit des Sujets
1. „Bruchstücke zu
1. Klavier
- aktuelle menschliche Situation
Winterreise“
2. Streichqintett (mit reflektieren  autobiographisch
2. „Winterreise.
2 Celli, wie im
- Auffallende Elemente durch
Streichquintett“
Schubertschen
Einbettung in Pausen zu
Quintett)
Bewusstsein bringen (1)
- Ausdrucksvielfalt Schuberts ohne
Worte entstehen lassen (2)
- zusätzliche semantische Bezüge,
durch Anreicherung mit Gedichten
Trakls u. Verweis auf Schuberts
Quintett  Intertextualität
Die Winterreise –
Szenische Version
- Auseinandersetzung mit
Dahinterweise
für Live-Aufführung Sprachverlust und Sprachzerfall
u. akustische Version - Sinn soll durch hintergründige
in 12 Hörbildern für Assoziation des Schubertschen
Rundfunk
Werks erschlossen werden
- neuer
- Abnutzung soll aufgebrochen
assonantischer Text werden
wird über Schuberts - multimediales Zusammenwirken
Vertonung gelegt
verschiedener Schichten
Schuberts „Winterreise“ Tenor und kleines
- Ausdruck der Überzeitlichkeit der
Eine komponierte
Orchester
Thematik
Interpretation
- Wiederherstellung der
„Existentiellen Wucht der
Originals“
„Winterreise“
Orchestration
„Winterreise“
Streichquartett und
Tonband
Ballett zu Zenders
komponierter
Interpretation
„Winterreise“
- Auseinandersetzung mit der
Überzeitlichen Thematik durch die
choreographische Umsetzung der
Vorlage Zenders
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
98
- JANINE CHRISTGEN
IV Tonartenplan der Werke Schuberts und Zenders
IV.1 - Schubert
NR TITEL
TAKT TEMPOBEZEICHNUNG
TONART
1
2
3
4
5
6
Gute Nacht
Die Wetterfahne
Gefrorene Tränen
Erstarrung
Der Lindenbaum
Wasserflut
2/4
6/8
2/2
C
3/4
3/4
Mäßig
Ziemlich geschwind
Nicht zu langsam
Ziemlich schnell
Mäßig
Langsam
7
8
9
10
Auf dem Flusse
Rückblick
Irrlicht
Rast
2/4
3/4
3/8
2/4
Langsam
Nicht zu geschwind
Langsam
Mäßig
11
12
Frühlingstraum
Einsamkeit
6/8
2/4
Etwas bewegt
Langsam
13
14
15
16
17
18
6/8
3/4
2/4
3/4
12/8
C
19
20
21
22
Die Post
Der greise Kopf
Die Krähe
Letzte Hoffnung
Im Dorfe
Der stürmische
Morgen
Täuschung
Der Wegweiser
Das Wirtshaus
Mut
6/8
2/4
C
2/4
Etwas geschwind
Etwas langsam
Etwas langsam
Nicht zu geschwind
Etwas langsam
Ziemlich geschwind, doch
kräftig
Etwas geschwind
Mäßig
Sehr langsam
Ziemlich geschwind, kräftig
d-Moll
a-Moll
f-Moll
c-Moll
E-Dur
e- Moll (Haslinger) 
fis-Moll (= Autograph
Schubert)
e-Moll
g-Moll
h-Moll
c- Moll (Schubert) 
d-Moll (Autograph)
A-Dur
h-Moll (Schubert) 
d-Moll (Autograph)
d-Moll
c-Moll
c-Moll
Es-Dur
D-Dur
d-Moll
23
24
Die Nebensonnen
Der Leiermann
3/4
3/4
Nicht zu langsam
Etwas langsam
A-Dur
g-Moll
F-Dur
g-Moll (Haslinger) 
a-Moll (Autograph)
A-Dur
a-Moll (Haslinger) 
h-Moll (Autograph)
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
99
- JANINE CHRISTGEN
IV.2 - Zender
NR TITEL
1
Gute Nacht
TAKT TEMPOBEZEICHNUNG
4/4
273
Mäßig, in gehender Bewegung
TONART
d-Moll
274
2
3
4
5
6
Die Wetterfahne
Gefrorene Tränen
Erstarrung
Der Lindenbaum
Wasserflut
6/8
4/4
C
3/4
3/4
7
8
9
10
11
12
Auf dem Flusse
Rückblick
Irrlicht
Rast
Frühlingstraum
Einsamkeit
2/4
3/4
3/8
2/4
6/8
2/4
13
14
15
16
17
18
6/8
3/4
2/4
3/4
12/8
C
19
20
21
22
Die Post
Der greise Kopf
Die Krähe
Letzte Hoffnung
Im Dorfe
Der stürmische
Morgen
Täuschung
Der Wegweiser
Das Wirtshaus
Mut!
a-Moll
f-Moll
c-Moll
E-Dur
fis-Moll (vgl.
Autograph Schubert)
Mäßig
e-Moll
Nicht zu geschwind
g-Moll
Langsam
h-Moll
Mäßig
c- Moll
Etwas geschwind
A-Dur
d-Moll (vgl. Autograph
Langsam
Schubert)
Herabsinken nach hMoll (von Schubert
revidierte Tonart)
Etwas geschwind
d-Moll
Etwas langsam
c-Moll
Etwas langsam
c-Moll
Nicht zu geschwind
Es-Dur
Etwas langsam
D-Dur
Ziemlich geschwind, doch kräftig d-Moll
6/8
2/4
8/8
2/4
Etwas geschwind
Mäßig
Sehr langsam
Ziemlich geschwind, kräftig
23
24
Die Nebensonnen
Der Leiermann
3/4
3/4
Nicht zu langsam
Etwas langsam
273
274
Ziemlich geschwind, unruhig
Nicht zu langsam
Nicht zu geschwind
Mäßig langsam
Langsam, streng im Takt
A-Dur
g-Moll
F-Dur
g-Moll  wird erst
nach Phase tonaler
Orientierungslosigkeit
erreicht
A-Dur
h-Moll (vgl. Autograph
Schubert)
Änderungen Zenders, die nicht Schubertsscher Provinienz sind.
Diese Bezeichnungen übernimmt Zender aus der Autographen Niederschrift Schuberts.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
100
- JANINE CHRISTGEN
Lied Takt1
Tonarten1 Antagonismen
Umsetzung durch Zender
1
T. 71-99
D-d
Realität -Traum
2
5
T. 32f. + 44f.
T. 25-37
a- A
E–e
7
8
T. 27-40
T. 27-48
e-E
g-G
Armut - Reichtum
Traum/Erinnerung Realität
Gegenwart - Rückblick
Gegenwart - Rückblick
Kontrastverstärkung durch vorrausgehende
Collagen
Ausschmückung des Klaviersatzes
Onomatopoetische Ausschmückung;
Instrumentationswandel,
11
T.15f-26; 59-71
A–a
13
T. 27ff.; 72ff.
Es - es
17
T. 16-18
D–d
18
T. 10-13
d-B
Traum/Rückblick/Liebe
–Realität/Einsamkeit 
Vermittlung: Stimuli
Hoffnung –
Desillusionierung 
Vermittlung: Pausen
Träumende Welt –
Zerrinnen der Träume
Klangwechsel; Tempowechsel „etwas
ruhiger“
Fernorchester im Mollteil  Ferne des
Traumzustands; Bühnenorchester im
Durteil  Nähe, Wärme, Traumzustand
Temporeduktion; Reduktion des
Orchesters; Aufnehmen der Generalpausen
Schuberts  sprechende Stille
Folgt Schuberts Vorgaben: Leere keine
akk. Ergänzung; Umschlagen der
Bewegungsrichtung der Triller
Realität – Illusion
Umgang mit den Tongeschlechtern Moll und Dur
1
bezieht sich auf Schuberts „Winterreise“
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
101
19
T. 21-31
- JANINE20CHRISTGEN
T. 22-40
A–a
Illusion - Realität
g-G
Wandern – Reflexion
des unsinnigen Tuns
Hoffnung auf Erlösung
durch den Tod –
Abweisung
Protest/Willensstärke –
Infragestellung der
Textaussage
Rückblick Desillusionierung
21
T. 22-23
F–f
22
T. 37-47
g-G
23
T. 16-23
A-a
Hervorheben der Last der Realität durch in
Moll repetiertes „Ach“
Ausdünnung des Orchesters
Überleitung in den Mollteil wird mit
Trommelwirbel verdeutlicht
Mehrfacher „Anlauf“ zum Durteil
Protestoption wird in Frage gestellt
Hervorheben der Last der Realität durch in
Moll repetiertes „Ach“
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
102
VI Orchesteraufstellung und Besetzung
- JANINE CHRISTGEN
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
103
- JANINE CHRISTGEN
VII Raumwege und Instrumentation
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
104
Raumwege und Instrumentation
- JANINEVII
CHRISTGEN
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
105
Instrumentation und Raumwege
- JANINEVII
CHRISTGEN
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
106
Raumwege und Instrumentation
- JANINEVII
CHRISTGEN
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
107
- JANINE CHRISTGEN
VII Raumwege und Instrumentation
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
108
- JANINE CHRISTGEN
VII Raumwege und Instrumentation
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
109
VIII Signifikante Bearbeitungsmerkmale
- JANINE CHRISTGEN
Die Begriffe, die in untenstehender Tabelle für die Bearbeitungsmerkmale verwendet werden (Interpretation,
Lesen, Kontrafaktur, Klanchiffre) sind dem Vokabular und der Bestimmungsweise Zenders entnommen und
subsumieren die im Folgenden aufgeführten Bestimmungen 275:
INTERPRETATION:
Dehnung bzw. Raffung des Tempos, Transposition in andere Tonarten,
Herausarbeiten charakteristischer farblicher Nuancen
innerhalb des Textes springen, Zeilen mehrfach wiederholen, Kontinuität
unterbrechen, verschiedene Lesarten der gleichen Stelle vergleichen
Permutation von Klangfarben; Ausnutzung von besonderen
Klangmöglichkeiten
Hinzufügung frei erfundener Klänge als Vor-, Zwischen-, Nach- oder
simultane Zuspiele; Überleitungen; Verschiebung der Klänge im Raum
Gänge der Musiker im Raum
keimhafte musikalische Figur, aus der das ganze Lied sich zeitlich entfaltet;
Stimuli und Onomatopoetik
LESEN:
ORCHESTER:
KONTRAFAKTUR:
BEWEGUNG:
KLANGCHIFFRE:
ABKÜRZUNGEN:
Nr. Interpretation
F I:
BO:
Fernorchester I
Bühnenorchester
F II:
P:
Fernorchester II
Publikum
Lesen
Orchester
Kontrafaktur
Wdh., Springen
im Text,
Lesartenvergleich,
Collage,
herausgeschnittene
Passagen
werden neu
zusammengestellt
Beginnt mit
bidermeierlichem
Streichquartett
um sich im
Folgenden vom
„Schubertschen“
Klang
fortwährend zu
distanzieren
- Introduktion:
Fl., Ob., Kl., Trp.,
58 Takte
Hn.,  ziehen erst im
onomatoVerlauf des VS ein
poetsiches
Marschieren
- Verstärkung der
Stimme
- 16taktiges
Zwischenspiel
(T. 161-176)
Bewegung
Klangchiffre
1
- ändert Taktart:
2/44/4
- Taktwechsel
- autographe
Tempoangabe
- Rezitierte
Textpassagen
werden den
gesungenen
gegenüber
gestellt
2
- ändert Taktart:
6/84/4
- Tempowechsel
- Taktdehnung
- autographe
Tempoangabe
Windmetapher
wird durch
Windmaschine,
Becken und
„tonloses“
Blasen der
Blechbläser
ausgefüllt.
Wehen
des
Windes
3
- autographe
Tempoangabe
Xylorimba,
Harfe=
transparent
gläserner Klang
Streicher: c.l.b.;
pizz., trem.; 
Frost u. Eis /
Biedermeierliches
Steichquartett 
Wärme (T.33f.)
Klirren
des
Eises
275
Schritte
Vgl.: Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 222-223.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
110
- Taktwechsel
- autographe
CHRISTGEN
Tempoangabe
4
- JANINE
Ob.I, Kl.I  in
Zuschauerraum
Ob.I, Kl.I  spielend
im Zuschauerraum /
Verzweifelte
Suche
nach
Vergangenem
Säuseln
der
Blätter
im Wind
5
- autographe
Tempoangabe
- Tempowechsel
6
- Transposition
in Schuberts
autographe
Tonart fis-moll
- abweichende
Tempoangabe
- Hervorhebung
des daktylischen
Rhythmus
Absetzen der
Strophen: 2.
Str.: Melodie in
Pos., Text
rezitiert 
Zenders
Auseinandersetzung mit der
Problematik
strophischen
Vertonens
Eis = Streicher:
c.l.b., gliss., salt.,
trem., Flageolett/
Posaunenkantilene
Assoziation
jüngstes Gericht
7
- autographe
Tempoangabe
Wdh,
Unterbrechung
des
Sprachflusses/
der Kontinuität,
Lesartenvergleich
Instrumentation
wächst mit der
Zunahme der
Aufregung des
lyr. Ich
- Dehnung des
VS
- Auskomponiertes
„Schwellen“
Dur-MollKonfrontation 
Wechsel des
Klangcharakters
- löst Melodiesegmente aus
Schuberts
Vorspiel und
gestaltet aus
diesem Material
ein neues
Klangbild
Trp., Pos.  F I
Schritte
Schlagzeug III, Fg. I,
Kl.I  F I
Fl.I, Ob.I , Schlagzeug
IV FII
- Raumklang
durch Verteilung
der Musiker auf
die
verschiedenen
Orchesterpositio
nen
- Echos: machen
die Verirrung des
Wanderers
räumlich deutlich
Trp., Pos. = F I
Schlagzeug III, Fg. I,
Kl.I = F I
Fl.I, Ob.I, Schlagzeug
IV = F II
8
9
Volkstümliche
Instrumentation
 Überhöhung/
Kitsch 
offenbart den
falschen Schein /
Kontrast zur
onomatopoetisch
gestalteten 3.
Strophe
Abspaltungen
aus Melodiesegmenten bilden
VS, ZS und NS
 Kontrast zur
originale
Strophengestalt
Mundharmonika
entfernt sich 
Raumklang
Ob.I, Kl.I  zurück
zum Orchesterplatz
Verzwei
felte
Suche
nach
Vergangenem
Klirren
des
Eises
Halluzination und
Irrlichter
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
111
Zurückgenomme
ne Besetzung:
Streicher,
Akkordeon,
Xylorimba,
Harfe
10
- JANINE CHRISTGEN
11
- autographe
Tempoangabe
- Rezitierter
Text:
Hervorhebung,
wirkt wie
Apostrophe ans
Publikum
Traum:
biedermeierliche
Streicher;
Realität: Bläser
12
- Suche nach der
„richtigen“
Tonart
Herabsinken
von d-moll nach
h-moll
- kontinuierliche
Verlangsamung
des Tempos 
„Verschleppen“
Wdh, Collage
von Textfragmenten,
Kontinuitätsbruch,
Lesartenvergleich
Harter Klang der
Holzbalken als
Kontrast zum
Klangcharakter
des biedermeierlichen Streichquartetts
Ü
13
- Tempowechsel
Collage, Wdh.,
Lesartenvergleich,
Fl.I+II, Ob.I+II, Kl.
I+II, Fg. I+II, Hn.,
Trp., Pos., = F I
- Klangopposition von
Bläsern und
Streichern
Nach 11:
Trp., Schlagzeug IV
 verlassen Raum
Fg. I+II, Schlagzeug
III BO
Ausschließlich
Holzbalken
Zwischenaktmusik
KEINE BEWEGUNG Schritte
Horn, Trompete
und Trommel
nähren sich 
onomatopoetische
Umsetzung der
Postkutsche
(Nahen)
- Dehnung des
VS
- Raumklang,
durch verteiltes
Orchester
- Verstärkung
- Dehnung des
NS 
Auflösung/
Fragmentierung
Rückweg der Bläser
 BO
Schlagzeug IV, Trp.
 Auftritt von außen
ins BO
14
- Dehnung NS
15
- freie
Zusammenstellung von
Melodiesegmenten aus
Schuberts
Vorlage in VS
und NS
16
17
- Kontradiktion
von legato und
c.l.b., pizz.,
stacc.,
Antagonismus von
Rast in
Wanders
chaft
Funerale
Bläsergruppe /
biedermeierliche
Streichergruppe
- trem.=
zitterndes Laub
- Erweiterung
des
unaufhörlichen
Fallens der
Blätter 
Onomatopoesie
- Ende: G.P.
- Knurren der
Hunde: Vl. Und
Trommel  dem
VS vorausgesetzt
- Halluzination und
Irrlichter
- Krähen
der
Hähne
Ob. I+II, Kl. I+II, Hn., Innere
Pos.,  P
Zerrissenheit
Posthorn
Alter
und Tod
Flug
und
Rufe der
Krähe
Zittern
der
fallenden
Blätter
Knurren
der
Hunde
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
112
18
- Triolen 
Sechstolen
- JANINE CHRISTGEN
- Kontinuitätsbruch,
Akustischer
Dauerregen
durch Einsatz
von
Regenblechen
- Erweiterung
des VS
- Erweiterung
des
„Zwischenspiels“
- Erweiterung
des NS
- Zerreißen der
Motive 
Collage
Original gänzlich
zerrissen
- Einfügungen
von Pausen
Innere
Zerrissenheit
- Wdh.,
Kontinuitätsbruch,
Lesartenvergleich,
- durchsichtige/
transparente
Instrumentation
- häufige
Flageoletts,
c.l.b., pizz. 
Täuschung
- 35 Takte
„Täuschung“
gehen dem VS
voraus
- erweitertes ZS
- erweitertes NS
Wehen
des
Windes
+
Halluzination und
Irrlichter
- Erweitert
Prolongationen
der
Schubertschen
Vorlage 
Verlust des
Bewegungsimpulses
Wandermotiv
(unfreiwilliges
Wandern und
Orientierungslosigkeit)
- Funeraler
Bläsersatz 
keine Streicher
- Trommelwirbel: Zeichen
zur Hinrichtung
Auskomponierte
Fermate
Schuberts
Resignation
choral
funerale
Elemente
- 3 Windmaschinen
- exponiertes
Schlagwerk
- Onomatopoetischer
Einschub mit
Motivverarbeitungen
(T.77-90)
Wehen
des
Windes
- Erweiterung
des VS 
Aufbau einer
polyrhyth.
Gesamtstruktur
konkurrierende
Tempi
- Erweiterung der
ZS
- Erweiterung NS
3 Sonnen = 3
Rhythmusvarianten
- Einfügungen
führen zu
Taktwechseln
19
20
21
- ändert Taktart:
C 8/8
22
- g-Moll erst
nach Phase
tonaler
Orientierungslosigkeit erreicht
- Schwanken der
Metrik/
Taktwechsel
- Taktwechsel
- polyrhythmische
Gesamtstruktur
23
- Wdh.,
Springen im
Text, Lesartenvergleich
- wdh.,
Kontinuitätsbruch
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
113
- Transposition
in Schuberts
CHRISTGEN
autographe
Tonart h-moll 
versperrt den
Bezug zum
Beginn
- Taktwechsel
24
- JANINE
- Verklingen
durch sich
entfernen der
Musiker
- Erweiterung
von VS/ NS
- Ereiterung der
Quintschichtung
- polyrhyth. Und
polymel.
Schichtungen 
harmonisch –
räumliche
Stabilität
schwindet
Alle Bläser (außer
Pos.) verlassen
nacheinander den
Raum
Leere
Quinten
der
Leier
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
IX Vergleich der Melodieführung in Lied 4 und 5
„Der
Lindenbaum“
-Nr. 5-
„Einsamkeit“
-Nr. 4-
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
X Liszts Transkription des „Lindenbaums“
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
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121
- JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
XI Retardation (Lied 12)
Retardation
140
120
Tempo
100
80
Holzbalken
60
Streicher
40
20
0
1
2
3
4
Abschnitt
Holzbalken Streicher
115
102
91
83
Proporz
102
91
83
74
1,125
1.121
1,1
1,1
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
XII Tempovarianz (Lied 13)
120
100
Tempo
80
60
40
20
0
1
34
45
48
56
60
68
80
86
90
95
102 106 124
Takte
TAKT 1
TEMPO 66
34
88
45
99
48
66
56
77
60
66
68
77
80
99
86
88
90
99
95
66
102
55
106
22
124
66
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
124
- JANINE CHRISTGEN
XIII Formaler Ablauf von Lied 22
Formteil
Benennung
Ablauf
I
VORSPIEL
T.1-17
II
1. STROPHE (Minore)
1. Anlauf: T.18-19 (f-Moll)
Wind:
T. 20-23
2. Anlauf: T. 24-27 (a-Moll)
Wind:
T. 28
3. Anlauf: T. 29-33 (fis-Moll)
Wind:
T. 34-36
4. Anlauf
T. 37-41 (g-Moll = Originaltonart)
Wind:
T. 42-43
Fortsetzung: T. 44-48
(g-Moll)
III
IV
COLLAGE
2. STROPHE
V
VI
VII
WIND -COLLAGE
2. STROPHE - NEU
MAGGIORETEIL
T. 49-59  Verarbeitung des Schubertschen Materials
T. 59-66 – setzt nicht in g-Moll, sondern in b-Moll an  Suche nach
der „richtigen Tonart“ beginnt von Neuem
T. 65-66 – Zwischenspiel
T. 67-71 – Ansatz in a-Moll statt g- Moll  Suche nach richtiger
Tonart setzt sich fort
T. 72-73 – „Echo“ der Singstimme
T. 74-77 – Beginn des Maggioreteils, aber E-Dur statt G-Dur
T. 77-90 – Verarbeitung Schubertscher Motive
T. 90-104 – Minoreteil wird in der Originalgestalt wiederholt
T. 105-127
T. 128-147 – Abspaltungen und Zerreißen des Schubertschen Materials
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
125
- JANINE CHRISTGEN
XIV Rhythmus und Melodieschichten in Lied 22
XIV.1 Rhythmus und Melodiemodelle Schuberts
A1
A2
Vgl:: Schubert Lied 22
Takt 41 – li. Hand Klavier
A
B1
B
C
D
B2
Vgl.: Schubert Lied 22
Takt 39f. - Singstimme
Vgl.: Schubert Lied 22
Takt 41 – li.Hand Klavier
Vgl.: Schubert Lied 22
Takt 45 - Klavier
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
126
XIV.2 Zenders Collage der Melodie- und Rhythmusmodelle Schuberts
- JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
XV Rhythmusmodelle in Lied 24
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- JANINE CHRISTGEN
XVI Bilder der Inszenierung Neumeiers
BILD I: BÜHNE MIT DEN JUGENDBILDERN DER TÄNZER IM HINTERGRUND
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
131
- JANINE CHRISTGEN
BILD II: BÜHNE MIT VIDEOSEQUENZEN AUS DER JUNGEND DER TÄNZER
BILD III/ IV: VERDEUTLICHUNG DER QUALEN DES WANDERERS DURCH DEN MYTHOLOGISCHEN VERWEIS AUF THANTALUS
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
132
- JANINE CHRISTGEN
BILD V: DURCH GLASCHEIBE GETRENNTE MENSCHEN – ZUR VERDEUTLICHUNG DER DISTANZ
ZWISCHEN DER INDIVIDUEN, BEI GLEICHZEITIGER VISUELLER NÄHE.
BILD VI: DURCH GLASCHEIBE GETRENNTE MENSCHEN – ZUR VERDEUTLICHUNG DER
DISTANZ ZWISCHEN DER INDIVIDUEN, BEI GLEICHZEITIGER VISUELLER NÄHE.
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
133
- JANINE CHRISTGEN
BILD VI: VEREINZELTES INDIVIDUUM, MIT ÜBERGROSSEM PULLOVER, DER DIE
UNVERBINDBARKEIT VON SUBJEKT UND WELT SPIELGELT, DA DIESE JENEM GLEICHFALLS ZU
GROSS GEWORDEN IST, IHN ÜBERFORDERT.
BILD VII: DAS VEREINZELTE INDIVIDUUM VERSUCHT ZUGANG ZUR WELT ZU FINDEN.
BILD VIII: KONTAKT – GLEICHE BEWEGUNGSABLÄUFE SIGNALISIEREN KOMMUNIKATION
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134
- JANINE CHRISTGEN
BILD IX/X/XI: VEREINZELTE INDIVUDUUEN AUF DER BÜHNE
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135
- JANINEXVII
CHRISTGEN
Partitur ausgewählter Lieder aus Schuberts „Winterreise“
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136
- JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
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139
- JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
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146
- JANINE CHRISTGEN
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147
- JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN
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- JANINEXVIII
CHRISTGEN
Partitur ausgewählte Lieder aus Zenders „Winterreise“
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