Fachtagung „Aus der Rolle wachsen! Zum Einfluss von

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Fachtagung „Aus der Rolle wachsen! Zum Einfluss von Rollenbildern
auf Lebenschancen“ am 02.12.2013 in Potsdam
Dr. Emily Ngubia Kuria, Humboldt-Universität zu Berlin:
„Wenn tote Lachse mit lebendigen Frauen verglichen werden“
Rollenklischees im Spiegel der modernen Hirnforschung und der
Umgang mit der Wiederbelebung behaupteter biologischer
Unterschiede
Das Gehirn ist der geheimnisvollste und doch faszinierendste Teil des
Körpers. Es ist ein hochkomplexes Netzwerk von Milliarden
Nervenzellen, das zwischen 1200 Gramm – 1400 Gramm bei einem
Erwachsenen wiegt, und das Zentrum unserer geistigen und
seelischen Fähigkeiten bildet. Das Gehirn ist für die Ausprägung von
Denken, Fühlen, Erinnern, für Bewusstsein und Intelligenz
verantwortlich. Wissenschaftler_Innen können seine Funktion immer
noch nicht vollständig beschreiben.
Das Gehirn hat die faszinierende Fähigkeit, neuen Sachverstand zu
erlernen und sich nach einer Verletzung zu regenerieren. Eine Frage,
die Wissenschaftler_innen seit Jahrzehnten fasziniert, ist, ob Genie
geboren oder geschaffen werden kann. Neurowissenschaftler_Innen
sind jetzt zu dem Schluss gekommen, dass neue Verbindungen mit
Training hergestellt werden und alte stärker gemacht werden. Dies
bedeutet, dass einige Bereiche des Gehirns sich mit dem Gebrauch
vergrößerni, wie das Beispiel von professionellen Musiker_innen im
Vergleich zu Nicht-Musiker_Innen zeigt. Diese Plastizität des Gehirns
ist nicht auf Musik beschränkt, sondern kann auch auf andere
Fähigkeiten erweitert werden.
Viele Leute einschließlich Wissenschaftler_Innen gehen davon aus,
dass männliche und weibliche Gehirne unterschiedlich sind. Der
Psychologe Simon Baron-Cohenii von der Universität Cambridge
[1]
erklärt zum Beispiel, dass weibliche und männliche Gehirne von
Natur aus unterschiedlich programmiert seien. Seiner These zufolge
können Männer von Geburt an überdurchschnittlich gut systematisch
denken und tragen ein "S-Gehirn", während Frauen die angeborene
Gabe der Einfühlsamkeit oder Empathie haben - das typisch weibliche
Denkorgan nennt er deshalb "E-Gehirn". Bis jetzt ist diese Idee immer
noch die populärste Theorie, und viele Bücher haben diesen Mythos
verkauft, vor allem, weil es eingängige, simple Herleitung bietet und
beispielsweise erklärt, warum die meisten Männer aggressiv und
triebhafter seien, warum die meisten Frauen empfindlich und
emotional seien, warum die meisten Frauen vom Beruf Lehrerin und
die meisten Männer Ingenieure seien, warum Männer vom Mars
seien und Frauen von der Venus ... Doch lassen sich diese
Behauptungen wissenschaftlich nicht belegen. Die Wissenschaft
beweist, dass Männer und Frauen eher ähnlich als unterschiedlich
sind.
Am Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten Wissenschaftler_Innen,
dass es tatsächlich einige anatomische Unterschiedeiii zwischen dem
männlichen und dem weiblichen Gehirn gibt. Sie entdeckten, dass
das männliche Gehirn beispielsweise etwa 9% größer ist als das der
Frauen. Einigen Wissenschaftler_innen dienten die Erklärungen
dazu, ihre eigenen Thesen zu stützen, nämlich dass Männer
intelligenter seien als Frauen, wie in dem Fall von Larry Summers,
Harvard-Präsident, der im Jahr 2006 argumentiert hat, dass Frauen
aufgrund mangelnder angeborener Fähigkeiten nicht in der
Wissenschaft
vorankommen.
Diese
Idee
kam
durch
Forschungsergebnisseiv in den späten 80er Jahren auf, die
propagierten, dass der Gender-Gap in der mathematischen Leistung
teilweise durch angeblich geringe räumliche Fähigkeitenv erklärt
werden könne. Wissenschaftler_Innen behaupteten, dass für
technische Berufe und Studienfächer wie Mathematik, Chemie,
[2]
Informatik und Engineering räumliche Fähigkeiten erforderlich
wären. Als Ergebnis wurde das mentale Rotation Experiment zum
unhinterfragten und unbestrittenen Instrument zur Messung des
geistigen Unterschieds zwischen den Geschlechtern in der
neurowissenschaftliche Praxis herangezogen.
Mentale Rotation ist eine Komponente der Raumkognitionvi.
Typische Tests bestehen aus einer Referenzfigur und einer entweder
gleichen oder ungleichen Vergleichsfigur, die unterschiedlich weit in
den Raumebenen verdreht sein kann. Die Aufgabe der
Testrobanden_Innen besteht dann in der Regel darin, die
Vergleichsfigur durch mentales Drehen in die Referenzfigur zu
überführen, um eine Entscheidung bezüglich der Gleichheit zu fällen.
Ergebnisse zeigten, dass Männer um etwa 0,1 Sekunde schneller als
Frauen waren. Dieses für eine lange Zeit reproduzierbare Ergebnis
überzeugte die Wissenschaft, dass Männer besser für das Räumliche
ausgestattet seien. ..bis Claude Steelevii in den USA im Jahr 1995
zeigte, dass Stereotypen die kognitive Leistungsfähigkeit belasten
können.
‚Stereotype Threat‘ ist ein Phänomen, das aktiviert wird, wenn eine
Gruppe von Menschen an einem Stereotyp, das zu ihrer Gruppe
zugeordnet wird, erinnert wird. Werden Frauen zum Beispiel mit der
These konfrontiert, "Frauen sind genetisch nicht für Mathe geeignet",
so werden ihre Leistungen schlechter als die der Männer. ‚Stereotype
Threat‘ wurde bezogen auf räumliche Fähigkeiten im Jahr 2006
getestet. Das Ergebnis war eine Bestätigung dieses Phänomens.
Andererseits sind in Betrachtung der Selbstbestätigungviii keine
Unterschiede in der Leistung zu sehen gewesen.
Wie vorher erwähnt, ist das Gehirn plastisch. Das heißt, je mehr Sie
Ihr Gehirn trainieren, desto mehr Fähigkeiten können entwickelt
werden. Im Jahr 2007ix weisen Neurowissenschaftler_innen nach,
[3]
dass Computerspielen die räumlichen Fähigkeiten der Frauen
begünstigt.
Nichtdestotrotz
besitzen
Studierende
der
x
Naturwissenschaften , unabhängig ihres Geschlechts, eine höhere
Kompetenz in der räumlichen Manipulation als die der
Sozialwissenschaften. Es ist wichtig zu erkennen, dass räumliche
Fähigkeiten sich nach der Beschäftigung in wissenschaftsbezogene
Disziplinen entwickeln. Diese wichtigen äußeren Einflüsse von
Umwelt und Sozialem stehen in Opposition zur Materialität eines
Sex-basierten Geschlechtsunterschieds der räumlichen Fähigkeiten.
Ist es möglich, dass Wissenschaftler_innen anstelle der Messung
angeborener
Geschlechtsunterschiede
eigentlich
nur
die
Erschließungen der Kultur, Vielfalt, Erfahrung und Ausbildung auf das
soziale Gehirn abschätzen? Interessant zu bemerken ist die
Aktivierung verschiedene Teile des Gehirns der männlichen und der
weiblichen Teilnehmer_innen nach gleicher Aufgabe. Es gibt einige
Hinweise, warum das so ist, dass die Hirnaktivierung vielleicht
verschiedene Strategienxi verfolgt, die von den Teilnehmer_innen
genutzt
werden.
Hirnaktivitäten
werden
in
populärwissenschaftlichen Artikeln immer wieder thematisiert.
Beliebtes
Mittel
dafür
ist
die
funktionelle
Magnetresonanztomographie, die Aktivitäten im Gehirn messen und
darstellen kann. Wir müssen jedoch vorsichtig sein, wenn es um
Hirnaktivitäten geht, denn das Gehirn ist immer aktiv, wie im Fall des
toten Lachses.
Hier sehen wir einen Dendriten1. Wenn Dendriten bis zu 15 Minuten
Stress ausgesetzt werden, so ändern sie ihr Aussehen. Dendriten vom
“männlichen“ Körper reagieren anders als die vom „weiblichen“
Körperxii. Ich verwende die Begriffe männlich und weiblich hier nur zu
1
Dendriten sind baumartigen Erweiterungen zu Beginn eines Neurons, die dessen Oberfläche vergrößern
helfen. Dendriten erhalten Informationen durch elektrische Stimulation von anderen Neuronen, übertragen sie
an diese und an den Kern. Dendriten sind mit Synapsen bedeckt.
**Ich habe hier die Synapsen betont um den Punkt deutlicher zu machen.
[4]
Demonstrationszwecken. Wenn wir jetzt die Bedingungen für
denselben Dendriten verändern, so würde sich folgendes zeigen: Das,
was vorher als eine „männliche“ Form gekennzeichnet war, weist nun
Merkmale der „weiblichen“ Form auf. Diese umgekehrte Reaktion
zeigt, dass das Gehirn gleichzeitig verschiedene Handlungsweisen
verkörpert, welche wir manchmal als weiblich oder männlich
bezeichnenxiii. Diese Studie zeigt, dass bezogen auf die Funktion des
Gehirns die Begriffe "männlich" oder "weiblich" vielleicht nicht so
hilfreich sind, denn was als "männlich" oder was "weiblich" gelesen
wird, hängt von den Umweltbedingungen ab. Abhängig von der
Umgebung verändern einige Funktionen der Bestandteile des
Gehirns. Kognitive Unterschiede sind demnach nicht stabil, sondern
im Kontext flexibel und veränderbar. Sie sind nicht auf ein Geschlecht
festgeschrieben. „Zwischen weiblichen und männlichen Merkmalen
(Persönlichkeitsmerkmale,
Einstellungen,
Interessen
und
Verhaltensweisen, die einen Geschlechtsunterschied zeigen) und dem
Geschlecht bestehen nur geringe Korrelationen […] das Gehirn ist ein
einzigartiges Mosaik von sowohl männlichen als auch weiblichen
Eigenschaften. Bezogen auf die Funktion des Gehirns wäre Intersex
ein stimmiger Begriff“ xiv. Das Gehirn wird sich auch weiterhin in
unserem Leben verändern auf der Grundlage unserer einzigartigen
Erfahrungen.
i
. The musician's brain as a model of neuroplasticity (2002). Thomas F. Münte, Eckart Altenmüller and Lutz
Jäncke. Nature, VOLUME 3 | JUNE 2002 |pp 473
ii
Sex differences in the brain: Implications for explaining autism (2005). Baron-Cohen S, Knickmeyer RC and
Belmonte MK, Science, 310: 819–823
iii
Das Normgewicht des Gehirns beim Erwachsenen in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht, Körpergröße und
Gewicht (1994). P. Hartmann, A. Ramseier, F. Gudat et al. Der Pathologe, 1994, Volume 15, Number 3, pp 165
iv
Human spatial abilities: psychometric studies and environmental, genetic, hormonal, and neurological
influences (1979). McGee, M.G. Psychological Bulleting September 86(5): 889–918
v
MENTAL ROTATIONS, A GROUP TEST OF THREE-DIMENSIONAL SPATIAL VISUALIZATION. Perceptual and
Motor Skills (1978). STEVEN G. VANDENBERG and ALLAN R. KUSE, Volume 47, Issue , pp. 599-604
vi
Rethinking Gender Politics in Laboratories and Neuroscience Research: The Case of Spatial Abilities in Math
Performance (2011). Kuria, E.N. & Hess,V., Medicine Studies, 3(2): 117–123
vii
A Threat in the Air: How Stereotypes Shape Intellectual Identity and Performance, (1997). Steele, C. M.
American Psychologist, 52(6) pp 613–29: Stereotype Threat and the Intellectual Test Performance of African
Americans, (1995). Steele, C. M. and Aronson, J. Journal of Personality and Social Psychology, 69(5) pp 797–811
[5]
viii
Combating Stereotype Threat: The Effect of Self-affirmation on Women’s intellectual Performance, (2006).
Martens, A. et al. Journal of Experimental Social Psychology, 42(2) pp 236–43
ix
Playing an Action Video Game Reduces Gender Differences in Spatial Cognition, (2007). Feng, J., Spence, I.,
and Pratt, J. Psychological Science, 18(10) pp 850–55
x
Mental rotation test performance in four cross-cultural samples (n = 3367): overall sex differences and the
role of academic program in performance (2006). Peters, M., et al. Cortex; a Journal Devoted to the Study of
the Nervous System and Behavior 42(7) pp 1005–1014
xi
A Lateralization of Function Approach to Sex Differences in Spatial Ability: A Reexamination, (2008). Rilea,
S. L Brain and Cognition, 67(2) pp 168–82.
xii
Sex differences and opposite effects of stress on dendritic spine density in the male versus female
hippocampus, (2001). Shors TJ, Chua C, Falduto J, Journal of Neuroscience pp 6292–6297
xiii
Genetic-gonadal-genitals sex (3G-sex) and the misconception of brain and gender, or, why 3G-males and
3G-females have intersex brain and intersex gender, (2012). Daphna Joel, Biology of Sex Differences 3, pp 27
xiv
Ref. xiii
[6]
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