Prof. Dr. Mouhanad Khorchide, Universität Münster

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Prof. Dr. Mouhanad Khorchide, Universität Münster, zum Islam, 29. August 2014
Prof. Dr. Mouhanad Khorchide, Universität Münster,
zum Islam
im Rahmen des interreligiösen Sommersymposiums
29. August 2014 in Ins Bern Schweiz
Bevor ich etwas über das Praktizieren meines Glaubens erzähle, möchte ich Ihnen kurz etwas
über den Hintergrund meines heutigen Verständnisses vom Praktizieren von Religion erzählen.
Aufgewachsen bin ich in Saudi-Arabien, wo meine palästinensische Familie und ich als Migranten gelebt haben. Im Religionsunterricht habe ich das Praktizieren von Religion im Sinne der
Ausübung religiöser Rituale gelernt. Dabei geht es vor allem um das Verrichten des rituellen
Gebets fünf Mal am Tag und das Fasten im Monat Ramadan. Als Migrant in Saudi-Arabien
musste ich allerdings viele Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten erfahren. So wurden zum
Beispiel in bestimmten Krankenhäusern nur Inländer medizinisch versorgt; als Ausländer durfte
man keine Eigentumswohnung besitzen und bis auf ganz wenige Ausnahmen gibt es kein Einbürgerungssystem. Auch durften damals Ausländer nur bestimmte Fächer an den Universitäten
studieren usw. Es fehlt nach wie vor ein Rentensystem für Ausländer. Für meine Eltern war es
sehr wichtig, dass wir Kinder studierten, um eine gute Zukunftsperspektive zu haben. Und deshalb kam ich nach Österreich, um zu studieren. Die erste Überraschung in Österreich war für
mich, dass ich mich – obwohl Ausländer – gleich im ersten Jahr meines Studiums krankenversichern durfte. Damals zahlte ich als Student 50 Schilling monatlich (ca. 3,50 €) und durfte
feststellen, dass ich zu jedem Arzt und in jedes Krankenhaus gehen konnte wie mein österreichischer Nachbar auch. Für manche mag dies unbedeutend erscheinen, aber für mich war es
eine sehr wichtige und einschneidende Erfahrung.
Als 17-Jähriger war es für mich nicht einfach, mir einzugestehen, dass ich in dem islamischen
Land, in dem ich aufgewachsen war, und in dem ununterbrochen vom wahren Islam die Rede
war, kein Recht auf Krankenversicherung hatte, nicht zum selben Arzt wie ein Saudi gehen
durfte, kein Recht auf ein Studium hatte und deshalb meine Familie schon in jungen Jahren
verlassen musste. Und dass mir all dies, was mir in Saudi-Arabien verwehrt worden war, nun in
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einem »nichtislamischen« Land, von – wie es immer geheißen hatte – »Ungläubigen« geboten
wurde, die als moralisch verfallen und ungerecht galten! Sehr viele Fragen über Sinn und Zweck
von Religion tauchten bei mir auf. Im Laufe meines Soziologiestudiums an der Universität Wien
durfte ich Dozentinnen und Dozenten kennenlernen, die mich im Studium sehr unterstützt
haben. Zu ihnen gehört meine Doktormutter, die zuvor auch schon meine Magisterarbeit
betreut hatte. Sie ist bekennende Atheistin, die mir in einigen Gesprächen erklärte, warum es
für sie plausibel ist, dass die Welt ohne einen Gott funktioniert. Für sie ist die Idee eines Gottes
eine menschliche Konstruktion, um einige Phänomene in der Welt besser verstehen oder
bestimmte Fragen beantworten zu können, wie Schöpfung, Tod, der Sinn des Lebens usw.
Meine Doktormutter lebte bei ihrer Mutter und kümmerte sich selbstlos um sie bis diese starb.
Ich habe mich immer und immer wieder gefragt, wie es sein kann, dass eine solche Person, die
vorbildlich lebt und niemandem Schaden zufügt – ja sogar ganz im Gegenteil bemüht war und
ist, junge Menschen, wie ich damals einer war, zu motivieren und ihnen Möglichkeiten der
Selbstentfaltung zu bieten –, auf ewig in die Hölle kommen soll. Denn dies steht ihr als
Ungläubiger ja laut der traditionellen islamischen Theologie, wie ich sie in der Schule gelernt
und später auch studiert habe, bevor. Ich konnte und kann dies nicht mit meinem gesunden
Menschenverstand vereinbaren.
Im Laufe meines Studiums lernte ich viele Studierende und Dozenten kennen. Manche waren
mehr und manche weniger freundlich, manche waren sehr und manche weniger aufrichtig. Aber
dies hatte absolut nichts mit ihrer religiösen Zugehörigkeit zu tun. Ein muslimischer Mitstudent
erzählte mir immer von seinen Abenteuern beim Stehlen von Uhren und Schmuck, ging aber
öfters mit zum Freitagsgebet in die Moschee. Für mich war das alles äußerst irritierend. Warum
soll meine österreichische, nichtmuslimische Doktormutter auf ewig in die Hölle kommen,
während dieser unsympathische Mitstudierende, der Menschen bestiehlt, für immer das
Paradies genießen wird? Nur weil er die Überschrift »Muslim« trägt? Was ist das für ein Gott,
der das so bestimmt hat und will?! Nach der traditionellen islamischen Theologie kommt jeder
Muslim ins Paradies, egal, was er in seinem Leben angestellt hat – solange er als Muslim stirbt.
Es kann sein, dass er zuerst für eine Zeit, die Gott bestimmt, in der Hölle verweilen muss, damit
er von seinen Sünden befreit wird. Aber möglicherweise vergibt ihm Gott auch alle seine
Sünden – durch seine Gnade bzw. aufgrund der Fürbitte des Propheten Muhammad. Viele
muslimische Gelehrte glauben, dass die Fürbitte des Propheten und der Märtyrer Muslime
direkt ins Paradies eintreten lässt. Ich fragte mich nach dem Sinn und Zweck von Religion.
Was will Gott von uns Menschen eigentlich? Und was will dieser Gott für sich? Warum
überhaupt das Ganze? Wie kann es sein, dass dieser Gott Menschen, die ungerecht sind und
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andere Menschen abfällig behandeln, ins Paradies eingehen lässt, andere aber, die gerecht sind
und andere Menschen respektvoll behandeln, für immer in die Hölle verbannt? Weil sie die falsche Überschrift tragen?! Weil sie sich nicht Muslime nennen?! Geht es Gott wirklich nur um
Überschriften?! Geht es Gott wirklich nur darum, dass an ihn geglaubt wird? Geht es ihm
darum, dass nur auf eine bestimmte Art und Weise an ihn geglaubt wird? Geht es Gott also um
sich selbst? Braucht er uns, um von uns angebetet zu werden, hat er uns deshalb erschaffen?
Wer sich ihm also unterwirft, den belohnt er mit dem Paradies, und wer sich ihm nicht
unterwirft, dem zeigt er im Jenseits, wer das letzte Wort hat, wer der Chef ist? Geht es Gott
wirklich darum, seine Macht zu demonstrieren? Ist Gott wirklich so klein? Ich kam zu der
Antwort: Mit Sicherheit nicht! Gott ist kein Diktator. Gott ist in sich vollkommen. Er braucht
unsere Anbetung nicht. Gott braucht gar keine Bestätigung, weder eine Selbst- noch eine
Fremdbestätigung seiner Vollkommenheit.
Es ist bis heute im muslimischen Bewusstsein üblich, dass ein Muslim nur dann als ein praktizierender Muslim bezeichnet wird, wenn er das rituelle Gebet verrichtet bzw. im Ramadan fastet.
Niemand würde auf die Idee kommen, einen Muslim, der zwar regelmäßig betet und fastet,
jedoch üble Nachrede betreibt, als nichtpraktizierend zu bezeichnen. Niemand würde einen
Muslim, der sich an das Ritual des Betens und Fastens hält, jedoch überheblich ist, als
nichtpraktizierend bezeichnen. Und genau hier liegt unser Problem, wir reduzieren den Islam
auf einige Elemente, manche davon gehören in der Tat zum Islam, wie das Gebet und das
Fasten, und manche nicht, wie Diskussionen um Nagellack oder Piercing. Wir blenden zugleich
sehr viele andere Elemente aus, die zentral sind, und dementsprechend ist unser islamisches
Bewusstsein geprägt. Deshalb haben viele Muslime Schuldgefühle, wenn es um Nagellack oder
Gelatine geht, jedoch kaum, wenn es um Ungerechtigkeit oder unfreundliche
zwischenmenschliche Gesten geht.
Ich sehe heute religiöse Rituale nicht als Selbstzweck. Ich bete nicht, um gebetet zu haben oder
um Gott einen „Gefallen getan zu haben“. Das Gebet ist eine Reise in sich selbst vor dem Angesicht Gottes. Dadurch nehme ich mir Auszeit um in mich hineinzugehen, mit Gott in ein tiefes
und intimes Gespräch zu kommen, um mich selbst und mein Inneres, aber auch mein Handeln
vor dem Angesicht Gottes kritisch zu reflektieren. Beim Fasten soll sich dem Menschen durch
die Enthaltung von körperlichen Bedürfnissen die Möglichkeit eröffnen, sich mit seinem Inneren
auseinanderzusetzen sowie über seine Beziehung zu Gott, zu dessen Schöpfung und zu sich
selbst kritisch zu reflektieren.
Religiöse Rituale sind für mich an erster Stelle spirituelle Erfahrung, die einen an andere Werte
erinnern als nur materielle. Meinen Glauben zu praktizieren, verstehe ich aber umfassender als
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nur im Sinne der Einhaltung religiöser Rituale. Meinen Glauben zu praktizieren, bedeutet für
mich das Göttliche in mir hervorzuheben. Gott hat laut der islamischen Vorstellung jeden Menschen von seinem Geiste eingehaucht. Und so ist dieses Göttliche in jedem von uns. Das ist das,
was unsere Sehnsucht nach innerer Vollkommenheit erklärt. Das Göttliche in sich
hervorzuheben bedeutet, ein Mensch auf dem Weg der Vervollkommnung zu sein, auch wenn
man nie vollkommen sein wird, aber zumindest das Anstreben nach dieser Vollkommenheit
sollte das Ziel sein. Im Alltag heißt das, zu lernen geduldig zu sein, zu vergeben, aufrichtig zu
sein, liebevoll zu sein, für seine Mitmenschen bedingungslos da zu sein, hilfsbereit,
verantwortungsvoll und aktiv zu sein usw.
Im Zentrum meines Verständnisses vom Islam steht der Mensch selbst. Religiös zu sein
bedeutet, den Stellenwert des Menschen in der Schöpfung als das edelste Geschöpf zu wahren.
Gottesdienst ist Dienst an seiner Schöpfung. Religiöse Praxis findet daher nicht lediglich in
Moscheen und Kirchen statt, sondern überall dort, wo der Mensch wirkt. Gott greift nicht direkt
in die Welt ein, um seine Intention nach Liebe und Barmherzigkeit zu erfahrbarer Realität zu
machen, sondern greift hauptsächlich durch den Menschen ein. Der Mensch dient also als
Medium der Verwirklichung göttlicher Intention. Nach dieser Vorstellung ist das Menschsein ein
Auftrag am Menschen, sich verantwortungsvoll im eigenen Sinne, aber auch im Sinne seiner
Mitmenschen und der Schöpfung einzusetzen. Den Islam so zu praktizieren, schenkt dem
Menschen auch im 21. Jahrhundert spirituelle Kraft, erinnert ihn aber auch an seinen Auftrag in
dieser Welt. Wir sind Teil einer großen Gemeinschaft, zu der alle Menschen gehören.
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Gemälde des Künstlers Peter Wettach. Entstanden während des Vortrags.
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