Wahnhafte Störungen im Alter - geri

Werbung
DIE JUNGEN GERIATER
B. Truttmann, W.H. Uhde, Gerontopsychiatrisches Zentrum Hegibach, Zürich
Wahnhafte Störungen im Alter
Es ist immer wieder beeindruckend, über wie viele Jahre ältere Patienten mit einer wahnhaften Störung sich beeinträchtigt, verfolgt, an Leib und Leben bedroht fühlen, einsam und unverstanden gegen einen nicht als Krankheitsfolge erkannten Feind kämpfen,
bis sie den Weg zum Arzt finden und dort die richtige Diagnose gestellt wird.
B
isher ging man bei wahnhaften
Störungen von einer relativ seltenen Krankheit aus [2].
Epidemiologie
In der Berliner Altersstudie [12] betrug
die Prävalenz von chronisch wahnhaften
Störungen 0,5%. Bei einer Gesamtmorbidität psychiatrischer Erkrankungen von
24% fanden sich dagegen Depressionen
in 9,1 und Demenzen in 14% – in dieser
Studie wurden 516 hochbetagte über 70jährige Menschen aus Westberlin auf
interdisziplinär breiter Basis von 1990 bis
1993 untersucht.
Entgegen diesen Erwartungen haben
Östling und Skoog [13] in ihrer diesjährig publizierten Arbeit wesentlich höhere
Prävalenzraten gefunden. Von 347 untersuchten 85-Jährigen litten 10,1% unter
mindestens einem psychotischen Symptom, 6,9% unter Halluzinationen, 5,5%
unter Wahn und 8,1 % unter Illusionen.
Die Auswertung der von 1986 bis 1987
erhobenen Daten stützte sich auf psychiatrische Untersuchungen, medizinische
Berichte und die Aussagen von «key-informants» (Ehepartnern, Geschwistern,
Kindern, nahestehenden Freunden, Pflegepersonen).
ernst genommen und nicht verstanden
zu werden, insbesondere nach vorausgehenden negativen Erfahrungen mit nahe
stehenden Menschen oder Personen, von
denen sie sich Hilfe versprochen hatten.
Da der Wahn nicht als Krankheit erkannt
wird, scheint der Arzt nicht der richtige
Ansprechpartner zu sein. Auf der anderen Seit wäre zu fragen, ob der Behandler
nicht möglicherweise diskrete Hinweise
auf wahnhafte Vorstellungen überhört,
nicht ausreichend nachfragt oder zu wenig nahe Bezugspersonen miteinbezieht.
Wahn
Wahn ist nach Scharfetter [14] eine persönlich gültige, starre Überzeugung, dessen sich der betroffene Mensch gewiss ist,
für die es keine Beweise braucht und die
deshalb auch nicht durch Argumente zu
erschüttern ist. Von Wahn spricht man erst,
wenn diese Überzeugung lebensbestimmend
geworden ist: Das Erleben und Handeln
des Menschen wird hauptsächlich durch
seinen Wahn bestimmt. Er hat sich damit
eine private Wirklichkeit aufgebaut, die
oftmals mit der Sichtweise der Mitmenschen nichts mehr gemeinsam hat. Dabei
ist allerdings nicht der Inhalt des Wahns,
die Richtigkeit oder Falschheit der Überzeugung das Entscheidende, sondern die
Art, wie und mit welcher Begründung er
zu seiner Überzeugung kommt und an ihr
festhält und damit die mitmenschliche
Gemeinsamkeit, den intersubjektiven Konsens verlässt. Damit wird der Wahn auch
zu einer privativen Überzeugung, in der der
Zeichen ernst nehmen
Diese Zahlen könnten darauf hinweisen,
dass das Vorkommen wahnhafter Störungen im Alter deutlich unterschätzt wird.
Denkbar wäre, dass viele Patienten ihre
Wahnvorstellungen dem Arzt gegenüber
nicht erwähnen, da sie befürchten, nicht
36
Abbildung: Bild aus der Maltherapie eines wahnhaft erkrankten Patienten.
GERIATRIE PRAXIS 5/2002
DIE JUNGEN GERIATER
Tabelle 1:
Wahndefinition (nach Schaffetter [14])
Wahn als:
➢ Persönlich gültige Überzeugung,
kein Beweis notwendig
➢ Private Wirklichkeitsüberzeugung
➢ Lebensbestimmende Wirklichkeit
➢ Privative (isolierende) Überzeugung
➢ Grundsätzliche Möglichkeit des
Menschen
Einzelne sich von seinen Mitmenschen
isoliert und ihnen entfremdet. So erschafft
er sich seine je eigene Welt, und hat sich
selbst verändert, indem er die Welt verändert erlebt. Auch wenn einzelne Wahnvorstellungen einem völlig fremd und nicht
nachvollziehbar erscheinen, ist jeder Mensch
grundsätzlich wahnfähig (Tabelle 1).
Ein Fallbeispiel:
Eine 89-jährige, in einem Pflegeheim
wohnende, langjährig verwitwete Patientin wähnt, ihre Töchter und die
Krankenschwestern im Heim würden
von ihr denken, sie sei eine «warme
Schwester» (lesbisch). Auf die Frage,
ob diese ihr das gesagt hätten, gibt sie
zur Antwort: «Nein. Ich weiss es!».
Auf weiteres Nachfragen, wie sie zu
ihrer Überzeugung gekommen sei,
reagiert sie gereizt und ärgerlich. Im
Pflegeheim war die Zusammenarbeit
mit ihr nicht mehr möglich, so dass
sie stationär zur Behandlung eingewiesen werden musste.
Tabelle 2:
Diffenzialdiagnose wahnhafter Störung
(nach Scharfetter [14])
➢ Experimentelle Situationen:
z.B. sensorische Deprivation
➢ Wahnbildung als erlebnisreaktive
Form, wie z.B. unter Einzelhaft
➢ Wahn bei Affektpsychosen
(Depression, Manie)
➢ Wahn bei Schizophrenien
➢ Wahn bei körperlich begründeten
Psychosen, z. B. Delir, organisch
wahnhafte Störung, Demenz
GERIATRIE PRAXIS 5/2002
Wahnhafte Störungen
im Alter
Wahnhafte Störungen im Alter, auf die
wir uns in diesem Artikel konzentrieren
möchten, kommen als gesonderte Kategorie im ICD-10 [3] nicht vor. Sie sind
unter der altersunabhängigen Diagnose
wahnhafter Störung (F22.0) zu klassifizieren. Als entscheidendes Kriterium
werden Wahnvorstellungen gefordert, die
oftmals jahrelang bestehen, aber seit mindestens drei Monaten bestehen müssen.
Dabei handelt es sich oft um Verfolgungswahn, hypochondrischen Wahn,
Grössenwahn, Querulantenwahn, Eifersuchtswahn oder Wahnformen, der eigene Körper sei deformiert, man rieche
schlecht, andere hielten einen für homosexuell. Depressive Symptome und Halluzinationen können hinzutreten, sofern
sie nur einen kleinen Teil des klinischen
Bildes ausmachen und der Wahn das entscheidende Charakteristikum bleibt. Die
wahnhafte Störung ist von anderen Erkrankungen, die mit Wahn einhergehen,
differenzialdiagnostisch abzugrenzen (Tabelle 2). Dabei ist umstritten, ob die
wahnhafte Störung im Alter eine eigenständige nosologische Kategorie gegenüber der Spätschizophrenie darstellen sollte oder nicht [8,9].
Risikofaktoren
In der Literatur werden unterschiedliche
Risikofaktoren beschrieben, die mit einer
erhöhten Wahrscheinlichkeit an einer
wahnhaften Störung zu erkranken einhergehen (Tabelle 3). Dazu gehören das
weibliche Geschlecht, sensorische Defizite, lebensgeschichtlich kränkende Ereignisse, eine prämorbide Persönlichkeit mit
paranoiden und schizoiden Zügen sowie
soziale Isolation.
■ Geschlecht: Die meisten Autoren sind
sich darin einig, dass wahnhafte Erkrankungen im Alter bei Frauen häufiger
sind. Es werden unterschiedliche Verhältnisse von 3:1 bis zu 45:2 zuungunsten des
weiblichen Geschlechtes beschrieben [1].
■ Sensorische Defizite: Sensorische Defizite, insbesondere Schwerhörigkeit gelten seit langem als Risikofaktor für die
Entwicklung wahnhafter Störungen im
Alter. Bereits 1909 hat Kräpelin [15] von
der Psychose der Schwerhörigen gespro-
Tabelle 3:
Risikofaktoren für die Enstehung
wahnhafter Störungen
➢ Weibliches Geschlecht
➢ Sensorische Defizite: Hörstörung
➢ Prämorbide Persönlichkeit
➢ Lebensgeschichtliche Ereignisse wie
Vertreibung
➢ Soziale Isolation
chen. Seither wurde der Zusammenhang
zwischen sensorischen Defiziten und
wahnhaften Erkrankungen in mehreren
Untersuchungen immer wieder bestätigt.
Nach einer Übersichtsarbeit von Fuchs
[5] sind Hörstörungen bei wahnhaft
kranken alten Menschen signifikant häufiger als in der Durchschnittsbevölkerung
oder bei Depressiven. Die Prävalenz wird
mit 30–40% angegeben. Fuchs verweist
auf eine Untersuchung von Cooper et al.
(1974), in der sich affektive Patienten
und die Durchschnittsbevölkerung hinsichtlich der Prävalenz einer Hörstörung
nicht voneinander unterschieden, während sie bei den wahnhaften Patienten
dreimal höher lag. Visusstörungen können als erschwerender Faktor dazukommen, eine ursächliche Rolle konnte bisher nicht nachgewiesen werden.
Für die Schwerhörigkeit entwickelt
Fuchs ein eigenes Modell der Wahnentstehung: Durch die Hörstörung geht die
Verlässlichkeit und Klarheit des akustischen Raumes und damit der sprachlichen Verständigung verloren. Dadurch
entsteht Unschärfe, Verunsicherung, Zweideutigkeit. Um diese zu kompensieren,
sucht der Schwerhörige gezielt nach Bedeutung. So gibt er auch irrelevanten Stimuli vermehrte Bedeutung, während die
korrigierende Rückmeldung durch die
anderen aufgrund der Hörstörung und
auch durch soziale Rückzugstendenzen
zunehmend zurückgeht. Der Wahn wirkt
dann letztlich komplexitätsreduzierend
und bildet die Ersatzgestalt für die verloren gegangene Bedeutung.
Ein Fallbeispiel:
Die 83-jährige Witwe kommt ins Ambulatorium auf der Suche nach Hilfe. Die
Nachbarin würde in ihre Wohnung ein-
37
DIE JUNGEN GERIATER
dringen und lasse bei ihr Dinge verschwinden. Im Weiteren meint sie, die
Leute in der Stadt meinen, sie sei lesbisch und würden sie deshalb anfeinden. Bei ihr ist seit der Schulzeit eine
schwere Hörstörung bekannt und sie
liest zum Teil von den Lippen. Die wahnhafte Erkrankung dauert schon einige
Jahre. Nach sechs Konsultationen bricht
sie die Behandlung ab, da ihr bei ihrem
Grundproblem mit der Nachbarin bei
uns nicht geholfen werden konnte.
Sie hat zum Glück ein gutes Verhältnis
zu ihrer Hausärztin, von der sie auch
weiterhin betreut wird.
■ Paranoide und schizoide Persönlichkeitsstörungen: Diese konnten ebenfalls
als Risikofaktor nachgewiesen werden.
Zwischen 1992 und 1997 untersuchte
Fuchs [7] 38 paranoide und 38 depressive Patienten. Bei 39% der wahnhaften Patienten fand sich eine paranoide oder
schizoide Persönlichkeitsstörung, bei 24%
der depressiven eine ängstlich vermeidende oder abhängige Persönlichkeitsstörung. Die häufige soziale Isolation wahnhafter Patienten könnte so im Rahmen
einer vorbestehenden Persönlichkeitsstörung auch Folge einer lebenslangen Neigung sein, Intimität und Sozialkontakte
eher zu vermeiden und das Schwergewicht auf die eigene Autonomie zu legen.
Dann erscheint eine wahnhafte Dekompensation nachvollziehbar, wenn die bisherige Form der Lebensbewältigung
durch Herausforderungen und Veränderungen im Alter – wie Pensionierung,
körperliche Veränderungen, Multimorbidität, Verlust letzter vertrauter Menschen
Tabelle 4:
Therapie wahnhafter Störungen
im Alter
➢ Aufbau eines Vertrauensverhältnisses
➢ Behandlung mit Neuroleptika
➢ Bei Bedarf antidepressive
Behandlung
➢ Behandlung sensorischer Defizite
➢ Abbau von Vereinsamung, soziale
Einbindung
➢ Psychotherapie
38
❞
«Meine Nachbarin hört mein
Telefon ab und schikaniert mich!»
Eine 83-jährige Witwe
mit wahnhafter Störung
❝
– nicht mehr aufrecht erhalten werden
kann.
■ Diskriminierende, kränkende und bedrohliche Lebensereignisse: In derselben
Stichprobe bestätigte Fuchs [6] einen
weiteren Risikofaktor: diskriminierende,
kränkende und bedrohliche Lebensereignisse. Die wahnhaften Patienten hatten
in 53% der Fälle Vertreibung und Flucht
erlebt, in 32% eine Trennung oder Scheidung. Dagegen fand sich bei den depressiven Patienten in 18% der frühe Verlust
eines Elternteiles vor dem 14. Lebensjahr.
Auch hier erscheint plausibel, dass Veränderungen und Unsicherheiten im Alter
die früheren, prägenden Lebenserfahrungen wieder aktuell werden lassen und zu
einer besonderen Vulnerabilität für weitere verletzende und bedrohliche Situationen führen können.
■ Soziale Isolation: Auf die soziale Isolation als Risikofaktor wies Janzarik [11]
bereits 1973 hin. Dabei prägte er den Begriff des Kontaktmangelparanoids. In
dieser Arbeit bezog er sich auf 800 Probanden, die er im Rahmen seiner amtsärztlichen Tätigkeit von 1961 bis 1971
gesehen hatte. Dabei konnte er 56 Patienten mit Kontaktmangelparanoid –
wahnhafter Störung bei sozialer Isolation
– aber nur 21 Patienten mit florider Altersschizophrenie diagnostizieren. Von
den 56 Patienten entwickelten 36 das
Kontaktmangelparanoid ohne auffällige
lebensgeschichtliche Zäsur, zwölf in zeitlichem Zusammenhang mit eintretender
Vereinsamung und acht im Zusammenhang mit einer Veränderung der Wohnsituation. Janzarik interpretierte die Entstehung des Paranoids damit, dass der
unter Einsamkeit Leidende sich seinen
Partner im imaginären Raum suche. Die
sich entziehende Gesellschaft werde somit zwar zum Feind, damit aber gleichwohl auch wieder zum Partner.
Ein Fallbeispiel:
Die 68-jährige Patientin wird wegen
wahnhaftem Syndrom hospitalisiert. Sie
hört vor allem nachts die Stimmen eines
benachbarten Paares und fühlt sich durch
die Lautstärke dieser Stimmen in ihrem
Schlaf beeinträchtigt. Die Tochter hatte
anfänglich in Verkennung der Situation
die Polizei um Hilfe gerufen.
Fr. K. lebt seit mehr als 20 Jahren alleine,
nachdem sie sich hat scheiden lassen.
Sie hat eine erwachsene Tochter und
Grosskinder. Von ihrer Tochter wird sie
als eigenwillig beschrieben. Sie hat bis
zur Pensionierung gearbeitet. Kontakt zu
anderen Menschen hat sie wenig, ihre
einzige Freundin ist zur Zeit selbst erkrankt. Seit einiger Zeit leidet sie unter
einer störenden Dranginkontinenz, was
dazu geführt hat, dass sie auch nicht
mehr so häufig ins Städtchen zum Flanieren und Kaffeetrinken geht. Bei Spitaleintritt findet sich eine derartig ausgeprägte Hörstörung, dass auch ein Gespräch
zu zweit immer wieder beeinträchtigt
ist. Zudem zeigt das Assessment eine
linksbetonte Visusstörung bei Katarakt
rechts und Status nach Venenastthrombose links. Die neuropsycholgische Testung
ergibt ein leichtes kognitives Defizit.
Therapie
Vertrauensverhältnis
herstellen
Das Herstellen eines Vertrauensverhältnisses (Tabelle 4) ist gerade bei Patienten,
die an einer wahnhaften Störung leiden,
unabdingbar und Voraussetzung, damit
sie sich überhaupt in eine Behandlung
einlassen können. Der Aufbau eines Arbeitsbündnisses hat im Konfliktfall in der
Regel Vorrang vor medikamentöser Behandlung und Konfrontation mit der Realität. Um einen Zugang zum Patienten
zu finden und den Rapport zu halten, ist
es immer wieder hilfreich, sich in dessen
Erlebniswelt hineinzuversetzen: in sein
Leiden, sein Gefühl belästigt, beeinträchtigt oder lebensgefährlich bedroht zu sein
und dabei keine Hilfe zu finden, einsam
und allein zu sein und nicht ernst genommen zu werden.
Medikamentöse Therapie
Eine neuroleptische Therapie sollte begonnen werden – heute mithilfe atypi-
GERIATRIE PRAXIS 5/2002
DIE JUNGEN GERIATER
scher Neuroleptika wegen der besseren
Verträglichkeit und der geringeren Nebenwirkungen von an das Alter angepassten
Dosen. Auch wenn damit keine Auflösung des Wahnes erreicht werden kann,
kommt es doch häufig zu einer Entaktualisierung mit einer meist deutlichen Beruhigung der sozialen Konfliktsituationen.
Auch sind die Patienten häufig erst unter
medikamentöser Behandlung weiterführenden psycho- und soziotherapeutischen
Massnahmen gegenüber aufgeschlossen.
Ist es im Rahmen der wahnhaften Störung zu einer depressiven Verstimmung
gekommen, sollte diese adäquat mit neueren Antidepressiva behandelt werden.
Sensorische Defizite
ausgleichen
Sensorische Defizite, insbesondere Hörstörungen sollten behandelt werden. So kann
die Kommunikation verbessert und ein
bekannter Risikofaktor verringert werden.
Soziale Einbindung anstreben
Bei Vereinsamung sollte versucht werden,
den Patienten wieder sozial einzubinden.
Dabei kommt dem Hausarzt als langjährigem und vielleicht letztem Vertrauten des
Patienten eine Schlüsselrolle zu. Er kann
dem Patienten beispielsweise Mut machen,
Spitex in seine Wohnung zu lassen, Kontakt zu Nachbarn und früheren Freunden
wieder aufzunehmen und ambulante psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Ein Fallbeispiel:
Der Ehemann der 80-jährigen kinderlosen Patientin ist vor sechs Jahren gestorben. Die Patientin erzählte nach
dem Tod sei ihr der Ehemann regelmässig erschienen. Sie habe das als normal
angesehen. Später seien andere Leute
durch die geschlossene Wohnungstüre
gekommen und hätten ohne Beine auf
ihrem Sofa gesessen. Sie hatte derartige
Angst, dass sie die Nacht im Treppenhaus verbracht hat. Eine Nachbarin beobachtete dies und besuchte sie deshalb
häufiger. Sie stellte fest, dass dadurch
die geäusserten Ängste weniger wurden.
Psychotherapie
In der psychotherapeutischen Begleitung
des Patienten stehen der Aufbau und die
GERIATRIE PRAXIS 5/2002
Aufrechterhaltung einer vertrauensvollen
Beziehung und die stützende Begleitung
zunächst im Vordergrund. Mit zunehmender Vertrautheit wird man sich ein
zunehmend besseres Bild von der Persönlichkeit des Patienten, seinen prägenden Lebenserfahrungen und dem im aktuellen Wahn verborgenen Anliegen machen können. Diese Anliegen kann man
dann indirekt aufgreifen und durch IchStützung und Mobilisierung von Ressourcen eine weitere Stabilisierung anstreben. Im weiteren Verlauf kann man
dann versuchen, diese Themen vorsichtig in
das therapeutische Gespräch einzuführen. Durch diese Interventionen sollte
die stabilisierende Funktion des Wahnes
für den Patienten langsam immer weniger wichtig werden.
Ein Fallbeispiel:
Die 83-jährige langjährige Witwe
kommt in unser Ambulatorium und beschwert sich: «Meine Nachbarin hört
mein Telefon ab und schikaniert mich!».
Sie erhielt die Adresse unseres Ambulatoriums von der Stiftung für Alterswohnen, sie hat dort vergeblich um eine
neue Wohnung nachgesucht. Seit zehn
Jahren fühlt sie sich bestohlen und von
ihren Nachbarn schikaniert. Einzig einem Polizisten konnte sie noch ihre Sorgen anvertrauen. Ein erstes Mal zügelte
sie und hatte daraufhin angeblich fünf
Jahre Ruhe. Nun höre die Nachbarin wieder ihr Telefon ab, diese schaue durch die
Wand hindurch bei ihr TV. Die Nachbarin
könne das, weil sie mit Computern gearbeitet habe und deshalb mit der Technik
vertraut sei.
Es zeigt sich unter anderem, dass die
Frau mit ihren schriftlichen Dingen überfordert ist und die behandelnde Ärztin
veranlasst regelmässige Hilfe durch eine
Frau vom Finanzdienst der Pro Senectute.
Sie findet zu der Frau schnell Vertrauen
und sofort kommt es zu einer Besserung
der Symptomatik.
Fazit
Wir halten die Diagnose und Behandlung wahnhafter Störungen im Alter für
eine therapeutische Herausforderung.
Möglicherweise wird die Häufigkeit dieser Störung deutlich unterschätzt, so dass
man daran denken und bei Verdacht aktiv nachfragen sollte. Wir haben mehr-
fach erfahren, dass die Begleitung dieser
Patienten eine dankbare Aufgabe sein
kann. Entgegen früheren negativistischen
Überzeugungen lassen sich in neueren
Untersuchungen durchaus günstige Prognosen und positive Verlaufsbeeinflussungen feststellen [8].
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Berta Truttmann, Weihersteig 8,
CH-8037 Zürich.
Literatur
1. Almeida OP, Howard RJ, Levy R, David AS:
Psychotic states arising in late life (late paraphrenia), the role of risk factors. Bri J Psychiatry
(1995), 166: 215-228.
2. Breitner J: Paranoid psychoses in old age,
much more common than previously thought?
Arch Gen Psychiatry (2002), 59: 60-61.
3. Dilling H, Mombour W, Schmidt MH. (Hrsg):
Internationale Klassifikation psychischer
Störungen. Verlag Hans Huber, Bern, 1991.
4. Förstl H.: Lehrbuch der Gerontopsychiatrie.
Enke Verlag, Stuttgart, 1997.
5. Fuchs T: Wahnsyndrome bei sensorischer
Beeinträchtigung – Überblick und
Modellvorstellungen. Fortschr Neurol Psychiat
(1993), 61: 257-266.
6. Fuchs T.: Life events in late paraphrenia and
depression. Psychopathology 32 (1999), 60-69.
7. Fuchs T: Patterns of relation and premorbid
personality in late paraphrenia and depression.
Psychopathology 32 (1999), 70-80.
8. Fuchs T.: Wahnkrankheiten. In: Helmchen H
et al. (Hrsg.): Schizophrene und affektive
Störungen. Psychiatrie der Gegenwart, Band 5,
Springer Verlag, Berlin, 2000.
9. Häfner H., Löffler W., Riecher-Rössler A.,
Häfner-Ranabauer W.: Schizophrenie und Wahn
im höheren Lebensalter. Epidemiologie und
ätiologische Hypothesen. Nervenarzt (2001), 72:
347-357.
10. Howard R, Almeida O, Levy R:
Phenomenology, demography and diagnosis in
late paraphrenia. Psychological Medicine
(1994), 24: 397-410.
11. Janzarik W: Über das Kontaktmangelparanoid des höheren Alters und den Syndromcharakter schizophrenen Krankseins.
Nervenarzt (1973), 44: 515-526.
12. Mayer KU, Baltes PB (Hrsg): Die Berliner
Altersstudie. Akademie Verlag, Berlin, 1999.
13. Östling S, Skoog I: Psychotic symptoms and
paranoid ideation in a nondemented population-based sample of the very old. Arch Gen
Psychiatry (2002), 59: 53-9.
14. Scharfetter Ch.: Allgemeine Psychopathologie. Georg Thieme Verlag, Stuttgart,
New York, 1996.
15. Spitzer M.: Was ist Wahn? Springer Verlag,
Berlin, 1989.
39
Herunterladen