Aus der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln Direktor: Universitätsprofessor Dr. med. Gerd Lehmkuhl Wirksamkeit der stationären Behandlung von Jugendlichen mit emotional bedingtem Schulabsentismus Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Hohen Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln vorgelegt von Saada Nicole Rizk aus Göttingen promoviert am 12. Juni 2013 Dekan: Universitätsprofessor Dr. med. Dr. h. c. Th. Krieg 1. Berichterstatter: Universitätsprofessor Dr. sc. hum. M. Döpfner 2. Berichterstatter: Pivatdozent Dr. med O. Fricke Erklärung Ich erkläre hiermit, dass ich die vorliegende Dissertationsschrift ohne unzulässige Hilfe Dritter und ohne Benutzung anderer als der angegebenen Hilfsmittel angefertigt habe; die aus fremden Quellen direkt oder indirekt übernommenen Gedanken sind als solche kenntlich gemacht. Bei der Auswahl und Auswertung des Materials sowie bei der Herstellung des Manuskripts habe ich Unterstützungsleistungen von folgenden Personen erhalten: Universitätsprofessor Dr. sc. hum. M. Döpfner Dr. rer. medic. Dipl.-Psych. Daniel Walter Dr. rer. medic. Dipl.-Psych. Christopher Hautmann Weitere Personen waren an der geistigen Herstellung der vorliegenden Arbeit nicht beteiligt. Insbesondere habe ich nicht die Hilfe einer Promotionsberaterin/eines Promotionsberaters in Anspruch genommen. Dritte haben von mir weder unmittelbar noch mittelbar geldwerte Leistungen für Arbeiten erhalten, die im Zusammenhang mit dem Inhalt der vorgelegten Dissertationsschrift stehen. Die Dissertationsschrift wurde von mir bisher weder im Inland noch im Ausland in gleicher oder ähnlicher Form einer anderen Prüfungsbehörde vorgelegt. Köln, den 14.11.2012 Das Thema der vorliegenden Arbeit habe ich mir gemeinsam mit Dr. Daniel Walter ausgesucht. Die dieser Arbeit zugrundeliegenden Daten wurden durch meine Mitarbeit in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln ermittelt. Die Rechnungen habe ich mit Unterstützung von Dr. Daniel Walter und Dr. Christopher Hautmann durchgeführt. Die ermittelte Datenlage und die Ergebnisse der Analysen sind teilweise zur Vorabveröffentlichung in folgende Artikel eingeflossen: „Short- and long term effects of inpatient treatment of adolescents with anxiousdepressed school absenteeism – a controlled study“ (Walter D, Hautmann C, Rizk S, Lehmkuhl G, Doepfner M, 2011 eingereicht) und „Short term effects of inpatient cognitive behavioral treatment of adolescents with anxious-depressed school absenteeism“ (Walter D, Hautmann C, Rizk S, Petermann M, Minkus J, Sinzig J, Lehmkuhl G, Doepfner M, 2010) Danksagung: An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die zur Fertigstellung dieser Arbeit beigetragen haben: Großer Dank geht an meinen Doktorvater, Universitätsprofessor Dr. sc. hum. Manfred Döpfner, für die Ermöglichung dieser Arbeit. Ich bedanke mich bei Dr. Daniel Walter für den Vorschlag dieses Themas und seine geduldige und zuverlässige Unterstützung in allen Phasen der Umsetzung dieser Arbeit. Ebenso bedanke ich mich bei ihm für die Ermöglichung der Teilhabe an den Veröffentlichungen. Außerdem danke ich herzlich Dr. Christopher Hautmann für seine hilfreichen und ausführlichen Erklärungen und Hilfestellungen und für seine dafür aufgebrachte Zeit. Ich möchte mich bei Joy Weigel bedanken, die mich während meines Auslandaufenthalts sehr unterstützt hat. Meiner Familie danke ich für die fortwährende Unterstützung und ihr Interesse an meiner Arbeit. Ebenso für die Ermöglichung des Studiums sowie ihre warme und gelassene Art. Ich danke meinen Freunden. Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 1 2 Einleitung ................................................................................................... 9 1.1 Einführung......................................................................................................... 9 1.2 Definition von emotional bedingtem Schulabsentismus .......................... 10 1.3 Epidemiologie ................................................................................................. 12 1.4 Erklärungsansätze und Klassifikationen .................................................... 12 1.5 Schulabsentismus und psychische Probleme........................................... 15 1.6 Therapie von emotional bedingtem Schulabsentismus ........................... 18 1.7 Fragestellungen und Hypothesen ............................................................... 21 Methoden .................................................................................................. 22 2.1 Ablauf der Studie ........................................................................................... 22 2.2 Stichprobenbeschreibung............................................................................. 23 2.3 Untersuchungsdesign ................................................................................... 25 2.4 Behandlung und Behandlungsintegrität ..................................................... 26 2.5 Messinstrumente............................................................................................ 29 2.5.1 Diagnostisches Interview ...................................................................... 30 2.5.2 Analyse des Schulverhaltens und Zählung der Schulfehltage ....... 30 2.5.3 Selbstbeurteilung und Elternurteil ....................................................... 31 2.6 3 4 Verwendete Verfahren zur Datenanalyse .................................................. 35 2.6.1 Statistische Signifikanz ......................................................................... 35 2.6.2 Klinische Signifikanz .............................................................................. 38 2.6.2.1 Reliable Change Index ........................................................... 39 2.6.2.2 Normorientierter Vergleich ..................................................... 40 Ergebnisse ............................................................................................... 41 3.1 Ergebnisse zum Schulbesuch und Schulverhalten .................................. 41 3.2 Veränderungen von psychischen Auffälligkeiten ...................................... 43 3.2.1 Psychische Probleme während der Behandlungsphase ................. 44 3.2.2 Psychische Probleme während der Behandlungsund Wartephase im Vergleich ............................................................. 46 3.2.3 Psychische Probleme im poststationären Verlauf ............................ 54 Diskussion................................................................................................ 57 4.1 Verlauf der Studie .......................................................................................... 57 4.2 Einordnung der Ergebnisse in den aktuellen Forschungsstand............. 60 4.3 Grenzen der Arbeit ........................................................................................ 61 4.4 Ausblick ........................................................................................................... 63 5 Zusammenfassung .................................................................................. 64 6 Literaturverzeichnis ................................................................................. 66 5 7 Vorabveröffentlichung von Ergebnissen ............................................... 74 8 Anhang ..................................................................................................... 75 9 8.1 Tabellenverzeichnis....................................................................................... 75 8.2 Abbildungssverzeichnis ................................................................................ 75 Lebenslauf ................................................................................................ 76 6 Abkürzungsverzeichnis ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung AFS Angstfragebogen für Schüler ANGDEP-E Composite Score aus Angst/Depression im Elternurteil ANGDEP-J Composite Score aus Angst/Depression im Jugendurteil ARBEIT-J Composite Score aus Arbeitsverhalten im Jugendurteil CBCL Child Behavior Checklist CBT Cognitive behavioral therapy, kognitive Verhaltentherapie DIKJ Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche DISYPS-KJ Diagnostik-System für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter DSM-IV Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders EXPANS-E Composite Score aus expansivem Verhalten im Elternurteil EXPANS-J Composite Score aus expansivem Verhalten im Jugendurteil FBB-ANG Fremdbeurteilungsbogen für Angststörungen FBB-DES Fremdbeurteilungsbogen für depressive Störungen FBB-HKS Fremdbeurteilungsbogen für hyperkinetische Störungen FU1 3. Messzeitpunkt: 1. Katamnese in der Follow-up-Phase: 2 Monate nach Behandlungsende FU2 4. Messzeitpunkt: 2. Katamnese in der Follow-up-Phase: 9 Monate nach Behandlungsende HAWIK-III Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder − III HAWIE-R Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene – Revision 1991 ICD-10 International Classification of Diseases/Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme LAVI Lern- und Arbeitsverhaltensinventar Prä1 1. Messzeitpunkt: Datenerhebung beim Screeningtermin Prä2 2. Messzeitpunkt: Datenerhebung am Aufnahmetag SBB-ANG Selbstbeurteilungsbogen für Angststörungen SBB-DES Selbstbeurteilungsbogen für depressive Störungen SBB-HKS Selbstbeurteilungsbogen für hyperkinetische Störungen 7 SELBST Therapieprogramm für Jugendliche mit Selbstwert-, Leistungsund Beziehungsstörungen YSR Youth Self Report 8 1 Einleitung 1.1 Einführung Es liegt in der Natur eines Heranwachsenden, vorgegebene Ordnungen und Regeln hinterfragen zu wollen und gegebenenfalls auch über Verweigerungshaltung, Positionen für sich zu entdecken. Gerade der Schauplatz Schule bietet als Knotenpunkt von sozialer und persönlicher Entwicklung, verbunden mit der Grundsteinlegung eigener Lebenswege, großen Raum sich auszuprobieren. Wobei der eigentliche Lehrstoff dabei zeitweise in den Hintergrund geraten kann. Etwa 60 % der Schüler von weiterführenden Schulen berichten, schon einmal der Schule unerlaubt ferngeblieben zu sein (Weiß 2007). Die meisten Kinder und Jugendlichen besuchen die Schule, wie die Gesellschaft und das Gesetz es erwarten, regelmäßig. Etwa 5 % der Schüler in Deutschland gelingt diese Regelmäßigkeit jedoch nicht (Buhse und Fileccia 2003). Kinder- und jugendpsychiatrisch bedeutsam wird das Fernbleiben der Schule oftmals erst bei deutlicher Ausprägung und dem Vorhandensein von psychischen Problemen. Ausgeprägtes schulverweigerndes Verhalten stellt ein zunehmendes Problem in unserer Gesellschaft dar. Es betrifft neben dem Jugendlichen selbst und seiner Familie die Verantwortlichen von Schule, Jugendhilfe sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Abkehr von der Schule bedeutet für die Jugendlichen eine erhebliche Gefährdung ihrer weiteren psychischen und psychosozialen Entwicklung. Die Ursachen für schulverweigerndes Verhalten sind vielfältig und vielschichtig und nicht immer sofort zu verstehen. Aus diesem Grund ist ein adäquates Behandlungskonzept Voraussetzung, um den betroffenen Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien sinnvoll begegnen und für den künftigen Lebensweg vorbeugend handeln zu können. Dass politischer Handlungsbedarf herrscht, zeigt ein nationaler Bildungsbericht aus dem Jahr 2008. Im Vergleich zum europäischen Ausland ist die Zahl der Schulabgänger ohne Schulabschluss in Deutschland hoch: Im Jahr 2006 verließen 76.000 Schüler die Schule ohne Abschluss und machten damit einen Anteil von 8 % aus (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008). 9 Obwohl langfristige Benachteiligungen in Bildungs- und Berufschancen, sozialen Beziehungen und Selbstständigkeit als Folgen von Schulabsentismus bekannt sind, gibt es nur wenige klinisch-therapeutische Studien zu den Behandlungsmöglichkeiten. Gegenstand dieser Arbeit ist die Vorstellung einer Studie, die weiteres Wissen über die Wirksamkeit eines standardisierten kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapieprogramms (CBT) für Jugendliche mit emotional bedingtem Schulabsentismus im stationären Setting liefert. Wichtige Erfolgskriterien bei der Überprüfung der Wirksamkeit stellen die Wiederherstellung eines regelmäßigen Schulbesuchs, die Reduktion komorbider psychischer Auffälligkeiten und die Stabilität der Effekte über einen poststationären Zeitraum von 9 Monaten dar. Vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstands bietet die vorliegende Studie methodisch den großen Vorteil der Implementierung einer experimentellen Kontrolle durch eine Wartelistenphase und zeichnet sich zudem durch eine großangelegte Stichprobe und ein großzügiges Follow-up aus. 1.2 Definition von emotional bedingtem Schulabsentismus Die meisten Jugendlichen besuchen die Schule regelmäßig und entsprechen den gesellschaftlichen Erwartungen an eine gute Ausbildung. Manchen Jugendlichen gelingt der regelmäßige Schulbesuch jedoch nicht, was in Fehlzeiten über einen langen Zeitraum gipfeln kann (King und Bernstein 2001; Kearney 2008). Dieses Phänomen kann mit dem Begriff „Schulabsentismus“ beschrieben werden. Es handelt sich dabei um eine rein deskriptiv angelegte Formulierung der Tatsache, dass ein Schüler der Schule fernbleibt, ohne dass eine somatische Erkrankung vorliegt (Kearney 2007). Moderne Studien beschreiben Schulabsentismus als ein adoleszentenspezifisches unentschuldigtes Fernbleiben, welches durch ein komplexes und wechselwirksames Auftreten verschiedener Gründe und Auslöser bedingt ist. Dabei sind sowohl Kinder und Jugendliche mitinbegriffen, die nur an einzelnen Unterrichtsstunden nicht teilnehmen, als auch die, welche den Schulbesuch komplett eingestellt haben (Kearney 2008; Walter 2010). 10 Der neutrale Begriff „Schulabsentismus“ versucht, Schwächen diverser früherer Begriffe wie „Schulangst“, „Schulphobie“, „Schulverweigerung“, “Schulmüdigkeit“, „Schulverdrossenheit“ und „Schulschwänzen“ zu überwinden, und ist vielmehr als Versuch eines vereinheitlichenden Konzeptes anzusehen (Walter und Döpfner 2009) ohne Annahmen über die zugrundeliegenden Ursachen zu machen (Walter und Döpfner 2005). International setzt sich dieser Begriff zunehmend durch. Dies erscheint vor dem Hintergrund sinnvoll, dass die meisten Studien herausgestellt haben, dass Schulabsentismus eine komplexe Ätiologie aufweist (Berg 1997; Walter und Döpfner 2009) und dass Beiträge und Wechselwirkungen der zugrundeliegenden Ursachen noch nicht hinreichend analysiert wurden (Egger, Costello und Angold 2003; Kearney 2008). In den Klassifikationssystemen ICD-10 (Dilling, Mombour, Schmidt und SchulteMarkwort 2006) und DSM-IV (American Psychological Association 2000) wird Schulabsentismus zwar thematisiert, ist aber nicht als eigenständiges Störungsbild zu finden (Lehmkuhl und Lehmkuhl 2004). Es stellt weder eine umschriebene psychische Störung noch eine diagnostische Entität dar (Jans und Warnke 2004). Der Zusatz „emotional bedingt“ kommt der Tatsache nach, dass die betroffenen Jugendlichen oft verschiedene Formen psychischer Auffälligkeiten, wie z. B. Angst- und depressive Störungen, somatisierendes Verhalten, expansive Verhaltensstörungen, oder Defizite in sozialen Fertigkeiten aufweisen (Carr 1999; Ihle, Jahnke und Esser 2003), die mit der Weigerung, die Schule zu besuchen, oder dem Unvermögen, den Schulalltag zu bewältigen, in Zusammenhang stehen. Emotionale Beeinträchtigungen des Schülers oder emotionaler Stress, der mit der Schule verbunden wird, spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung von emotional bedingtem Schulabsentismus. Emotional bedingter Schulabsentismus steht in klarer Abgrenzung zu schulischen Fehlzeiten, die ausschließlich durch körperliche Erkrankung bedingt sind oder bei dem emotionale Beeinträchtigung oder Stress als Grund für das Fernbleiben vom Unterricht gänzlich ausgeschlossen werden können. Eine klare Unterscheidung ist zu den Jugendlichen zu treffen, die der Schule fernbleiben, um attraktiveren Aktivitäten nachzugehen (King und Bernstein 2001; Egger, Costello und Angold 2003). Man bezeichnet diese Gruppe als Schulschwänzer. Das expansiv bedingte Schulfernbleiben ist häufig mit einer Störung des Sozialverhaltens assoziiert (Walter und Döpfner 2009). 11 1.3 Epidemiologie Das Fernbleiben von der Schule stellt ein zunehmendes Problem unserer Gesellschaft dar. Es tritt deutschen wie auch internationalen Studien zufolge bei etwa 5 % aller Kinder und Jugendlichen auf (Egger 2003; Buhse und Fileccia 2003). Die Geschlechterverteilung ist dabei ausgeglichen (Heyne 2001). Das Fernbleiben vom Unterricht steigt im Alter von 13 bis 18 Jahren stetig an, und die genaue Betrachtung einer Kölner Stichprobe durch Wagner und Kollegen hat gezeigt, dass es bei Schülern an Haupt- und Förderschulen (14,7 % bzw. 12,8 %) deutlich häufiger zu beobachten ist als bei denen an Gymnasien (4,7 %) oder Realschulen (6,1 %; Wagner et al. 2004). Dabei sind die Ausprägungen genauso vielfältig wie die Gründe, die zu diesem Verhalten führen. Die Dauer der Abwesenheit variiert bei den Betroffenen von einzelnen Schulstunden bis hin zu vielen Monaten oder gar Jahren (Wagner et al. 2004). Der Schulbesuch und die anschließende Aufnahme einer regelmäßigen beruflichen Tätigkeit sind unabdingbar für die finanzielle Sicherung und Unabhängigkeit. Im Erwachsenenalter gehören Schulverweigerer häufig einem niedrigeren Bildungsniveau an und sind schlechter sozial integriert (Flakierska-Praquien 1997; Spence 1999). Ebenso gelten die Wahrscheinlicheit der Entwicklung weiterer psychischer Störungen als erhöht und die berufliche Entwicklung als gefährdet (King und Bernstein 2001; Berg und Jackson 1985; Flakierska, Lindstrom und Gillberg 1988). 1.4 Erklärungsansätze und Klassifikationen Studien aus jüngster Zeit beschreiben das Phänomen „Schulabsentismus“ als ein adoleszentenspezifisches unentschuldigtes Fehlen in der Schule, welches stark im Kontext mit dem Umfeld, insbesondere den sozialen und psychiatrischen Bedingungen steht (Kearney 2008; Walter et al. 2010). Bei genauerer Betrachtung der schulischen Gegebenheiten kommt man zum Konsens, dass große Klassen, Probleme mit Mitschülern, hohe Ansprüche an die zu erbringende Arbeitsleistung der Schüler und ungünstige personelle Bedingungen seitens der Lehrerschaft schulverweigerndes Verhalten fördern (Kearney 2008; Walter und Döpfner 2009). Weiter findet man gehäuft Leistungs- und soziale Ängste, depressive und Somatisierungstendenzen, ungenügende soziale Fertigkeiten, wie z.B. den Mangel ausreichender Konfliktlösestrategien, bis hin zu dissozialen Verhaltenswei12 sen, die zur Ausgrenzung aus dem Klassenverband und des gemeinschaftlichen Miteinanders führen können, sowie Schwierigkeiten im Leistungs- und Arbeitsverhalten durch das Fehlen an organisatorisch-planerischen Fähigkeiten oder Lernstrategien. Auch die intellektuelle schulische Fehlplatzierung und nichterkannte Teilleistungsstörungen stehen oftmals hinter dem Symptom des Schulabsentismus (Walter und Döpfner 2009). Im familiären Kontext spielen ungünstige Umstände wie Armut, psychische Störungen der Eltern, insuffizientes Erziehungsverhalten, Arbeitslosigkeit oder das Vorliegen von inkompletten Familien („broken home“) eine Rolle und wirken sich negativ auf das Schulverhalten der Kinder und Jugendlichen aus (Rettig und Crawford 2000; McShane, Walter und Rey 2001; Tyrell 2005). Anamnestisch können häufig stressauslösende Life Events für das Kind oder den Jugendlichen im Zusammenhang mit dem Beginn des schulabsentistischen Verhaltens ausgemacht werden. Dabei kann es sich um einen Schulwechsel, eine Klassenwiederholung oder auch die Scheidung der Eltern handeln. Aber auch nach Fehlzeiten durch somatische Erkrankungen oder nach Schulferien kann eine Rückkehr in den schulischen Alltag oftmals nicht umgesetzt werden (King, Tonge, Heyne, Ollendick 2000; McShane, Walter und Rey 2001). Auch die eigentlich nicht fokussierte positive Verstärkung des schulverweigernen Verhaltens durch die Eltern (etwa entlastende Maßnahmen wie das Organisieren von Entschuldigungen und Attesten sowie Erlauben von Fernsehen, im Bett bleiben, Computer spielen) wie auch hoher elterlicher Leistungsanspruch spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Chronifizierung von Schulabsentismus (Kearney und Albano 2004; Carr 1999; Ihle et al. 2003). Die Ursachen sind vielfältig und komplex. Eine Studie von Knollmann und Kollegen aus dem Jahr 2009 untersuchte 89 Patienten (Alter = 14,4; 42 weiblich) einer auf Schulverweigerung spezialisierten kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz. Demnach ist schulvermeidendes Verhalten als Überforderungsreaktion auf schulische und familiäre Belastungen und Probleme im Gleichaltrigenkontext (Peergroup) zu verstehen, die stark mit der individuellen Vulnerabilität in Zusammenhang stehen (Kollmann 2009). Eine Arbeit von Bernstein und Borchardt (1996) weist darauf hin, dass Schulverweigerer oft aus konfliktreichen Familien kommen und nur über geringe Selbstwirksamkeit beim Umgang mit stressreichen Situationen verfügen. 13 Die Heterogenität der möglichen Ursachen dieses Phänomens führte in der Vergangenheit zu verschiedenen Versuchen der Verbegrifflichung. Der rein deskriptiv angelegte Begriff des Schulabsentismus, wird der Tatsache gerecht, dass unterschiedliche Gründe hinter dem Fernbleiben von der Schule stehen können, die erst nach einer genauen Anamnese als Konstrukt erkannt und behandelt werden können. Eine Kasuistik von Walter (2008) fasst die hohe Komorbiditätsrate psychischer Auffälligkeiten des Phänomens des Schulabsentismus zusammen. Walter unterscheidet in diesem Zusammenhang typische klinisch-psychiatrische Diagnosen: Bei Schülern, die der Schule fernbleiben, weil sie andere interessante Orte aufsuchen wollen (z. B. in die Stadt gehen), liegt oftmals eine dissoziale Schulverweigerung vor, und es wird häufig die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens gestellt. Bei Schülern, die der Schule primär aus ängstlichen Gründen fernbleiben, werden v. a. die Diagnosen emotionale Störung mit Trennungsangst und Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters oder generalisierte Angststörung vergeben. Bei Schülern, die der Schule primär aus Antriebsarmut oder trauriger Stimmung fernbleiben, wird häufig eine depressive Episode oder eine dysthyme Störung diagnostiziert. Am häufigsten findet man psychische Störungen sowohl aus dem expansiven als auch aus dem emotionalen Formenkreis, beispielsweise eine kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen oder eine Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung. Neben der Klassifizierung nach Begründungsmodellen gibt es auch den Ansatz, das Phänomen nach ihrer Funktionalität für das Kind oder den Jugendlichen zu beschreiben. Kearney unterscheidet 4 Funktionen schulvermeidenden Verhaltens (Kearney 2004): Vermeidung eines schulbezogenen Stimulus, der das Gefühl eines negativen Affekts auslöst (z. B. Angststörung, Depression) 14 Vermeidung von aversiv-erlebten und schulbezogenen Prüfungs- und sozialen Situationen Aufmerksamkeitssuchendes Verhalten/Trennungsangst (z. B. bezüglich der Eltern) Positive Verstärkung außerhalb der Schule (z. B. Treffen mit Freunden, Drogenkonsum) Dabei sind die ersten beiden Funktionen unter dem Aspekt der negativen Verstärkung zu betrachten und die dritte und vierte Funktion unter dem der positiven Verstärkung. Dabei sind Überschneidungen der Funktionen durchaus möglich und nicht selten. 1.5 Schulabsentismus und psychische Probleme Die genaue Identifikation von aufgetretenem Fernbleiben von der Schule und die genaue Differenzierung des Ausmaßes sind eminent. So zeigt eine vergleichende Sekundäranalyse von Weiß (2007), dass das Fernbleiben vom Unterricht ein gängiges Phänomen darstellt, was aber nicht unbedingt zur Besorgnis führen muss, sondern eher als entwicklungsbedingt beim Jugendlichen festgestellt werden kann und häufig frei von weiteren Konsequenzen ist. So geben bis zu 60 % der befragten Schüler von weiterführenden Schulen in Deutschland an, schon einmal einige Stunden oder den ganzen Tag absichtlich nicht am Unterricht teilgenommen zu haben und stattdessen der Schule ferngeblieben zu sein. Wichtig wird eine genauere Betrachtung der Schulvermeidung bei stärkerem Ausmaß der Fehlzeiten und beim Auftreten von psychischen Symptomen. Die betroffenen Jugendlichen zeigen häufig verschiedene Formen von psychischen Auffälligkeiten wie Angst- oder depressive Störungen, somatisierendes Verhalten, Verhaltensstörungen oder Defizite sozialer Fähigkeiten (Carr 1999; Ihle, Jahnke, Esser 2003). Dabei kann man bei Vorliegen von psychischen Problemen bei Schulabsentisten zudem von einem großen Risiko der Wechselwirkung und somit Verschlimmerung der psychischen Probleme bei langandauernder Schulverweigerung ausgehen (McShane 2001). Schulverweigerndes Verhalten birgt ein hohes Risiko der Chronifizierung, wenn eine frühe Identifikation und Behandlung ausbleiben (King und Bernstein 2001). Chronisches Fernbleiben von der Schule ist häufig mit dem Abbruch der schulischen Ausbildung verbunden (Kearney 2008; Alexander et al. 2002). 15 Dieser Ausstieg ist nicht nur eine vergebene Chance auf eine geregelte finanzielle Absicherung, er ist auch eine Abkehr vom gesellschaftlichen Leben. Eine sinnvolle Tages- und Wochenstruktur wird aufgegeben, und soziale Kontakte können oft nicht aufrechterhalten werden. Die Gefahr der sozialen Isolation ist durch den Verlust des Anschlusses an Gleichaltrige gegeben. Auch die Jugendarbeitslosigkeit ist eng mit dem Abbruch des Ausbildungsweges verknüpft (Last et al. 1990; King et al. 2001; Woodward und Fergusson 2000). Die Chronifizierung der Schulverweigerung bringt ein hohes Risiko einer gestörten psychosozialen Entwicklung mit sich (Elliot 1999), und im Erwachsenenalter stellt es einen Risikofaktor für psychische Erkrankungen dar (Tramontina et al. 2001). Als besorgniserregend gelten auch die Hinweise einer Studie, die die Risikofaktoren bezüglich Schulabsentismus genauer beleuchtete. Demnach ist chronisches schulabsentistisches Verhalten mit delinquentem Verhalten wie auch einer breiten Vielfalt an ökonomischen, psychischen, sozialen und partnerschaftlichen Problemen assoziiert (Kearney 2008). In einer australischen Studie von McShane, Walter und Rey 2001 wurden 192 Schulabsentisten hinsichtlich psychiatrischer Komponenten untersucht. Dabei zeigte sich ein hohes Vorkommen von psychiatrischen Problemen wie depressiven Störungen, Sozialphobie oder Verhaltensstörungen. Bei über der Hälfte der Probanden war eine familiäre Häufigkeit psychiatrischer Erkrankungen zu finden. In der Literatur gibt es unterschiedliche Angaben dazu, wie häufig Schüler mit schulabsentistischem Verhalten an einer klinisch-psychiatrischen Störung leiden: In der Great Smoky Mountain Study wurde eine Schülerpopulation (n = 1422) von 1992 bis 2003 untersucht. Bei den „Schulschwänzern“ fand man vor allem Störungen des Sozialveraltens, aber auch depressive Störungen. Bei den angstbedingten Schulverweigerern wurden eher Diagnosen der Trennungsangst und der depressiven Störung vergeben, aber auch Störungen des Sozialverhaltens waren zu finden. In 25 % der Fälle wurden die Kriterien zur Stellung einer psychiatrischen Diagnose erfüllt (Egger et al. 2003). Die Schüler mit einem Mischbild aus dissozial und angstbedingtem Schulabsentismus galten als 16 am stärksten beeinträchtigt. 88 % dieser Probanden erfüllten eine psychiatrische Diagnose, wobei hier vor allem expansive Störungen (Störungen des Sozialverhaltens, ADHS) und Symptome aus dem emotionalen Formenkreis, wie z. B. Trennungsangst, Panikstörungen und Depression, im Mittelpunkt standen. Tsujomoto und Kollegen (2007) diagnostizierten in einer ambulanten Stichprobe (n = 52) bei Jugendlichen, die sich mit schulabsentem Verhalten vorstellten, in 67,3 % der Fälle somatoforme Störungen und in 11,5 % affektive Störungen. Ähnliche Zahlen liefert auch der Bericht von Prabhu Swamy und Kollegen (2007). Hier lag bei 87,9 % einer Stichprobe (n = 33) schulabsenter Jugendlicher eine psychiatrische Störung vor. Depressive Störungen (63,6 %) und soziale Phobien (30,3 %) waren anteilig am stärksten vertreten. Kearney zeigte in einer Studie 2004, dass bei einer Stichprobe von 143 Schulabsentisten bei nur 32 % keine klinische psychiatrische Diagnose gestellt wurde. Wobei Pina (2009) in einer Übersichtsarbeit, die 15 Einzel- und Gruppendesigns hinsichtlich verschiedener Behandlungsansätze vergleicht, auch auf den oftmals signifikanten Anteil Jugendlicher in den Stichproben der verglichenen Studien hingewiesen hat, der keine Kriterien zur Diagnosestellung ausreichend erfüllte. Zusammenfassend kann jedoch eine starke Assoziation zwischen Schulabsentismus und dem Auftreten psychischer Störungen benannt werden. Dabei kann Schulabsentismus das Symptom oder die Folge einer psychischen Störung sein (Jans et al. 2004). Die häufigsten Diagnosen im Falle einer Diagnosestellung sind dabei in den Bereichen der Angststörungen, depressiven Störungen sowie Störungen aus dem expansiven Formenkreis zu finden. Je nach Zuordnung zur angstbedingten Schulverweigerung oder zum „Schulschwänzen“ ist hier die Häufigkeit der Diagnosen eine andere, dabei zeigen sich vor allem die Jugendlichen, die eine Mischform von dissozialem und angstbedingtem Schulabsentismus aufweisen, als psychisch beeinträchtigt (Egger et al 2003). 17 Häufig treten akkumulierte Symptome aus unterschiedlichen Störungsbereichen auf. Dabei stellt es sich als schwierig dar, sie mit Hilfe der ICD-10 und DSM-IV hinreichend abzubilden. Einzeln genommene Symptome erfüllen häufig nicht die Kriterien der Diagnosesysteme, um als Vollbild zu gelten, dabei sind Leidensdruck und Funktionseinschränkung für den Jugendlichen jedoch deutlich zu spüren. Diese Symptome betreffen vor allem den Bereich des Selbstwertes, die Beziehungen zu Erwachsenen und Gleichaltrigen, die Regulation von Affektivität und Affekt und die schulische Leistungsfähigkeit (Walter et al 2005). 1.6 Therapie von emotional bedingtem Schulabsentismus Die erwähnten Risiken großer Beeinträchtigungen der psychosozialen Entwicklung und der Chronifizierung bis ins Erwachsenenalter machen eine rasche und professionelle Behandlung notwendig (Elliot 1999). Ist die schulabsentistische Problematik durch Intervention im ambulanten Setting nicht in den Griff zu bekommen, ist eine stationäre Behandlung indiziert (Lauchlan 2003). Es wurden zur Problematik Schulabsentismus in der Vergangenheit verschiedene Interventionsansätze entwickelt und angewandt. Doch nur zum Teil fanden Evaluationen statt. Sowohl spiel- als auch familienzentrierte Therapieformen sowie Psychoanalyse kamen zum Einsatz. Dabei konnte kein valider Nachweis der Wirksamkeit erbracht werden, da es sich bei den meisten Auswertungsarbeiten um klinische Falldarstellungen oder Studien mit zu kleinen Stichproben handelte. Daher gilt die Forschungsliteratur dazu als knapp bemessen und kann nur zurückhaltend interpretiert werden. Zudem erscheinen viele Ergebnisse widersprüchlich (King, Tonge, Heyne und Ollendick 2000; King und Bernstein 2001). Dennoch gelang es Pina (2009) in einer Übersichtsarbeit, in der Daten zur Wirksamkeit aus acht Studien verschiedener Einzelfälle und sieben Therapieverläufe im Gruppendesign miteinander verglichen wurden, einen eindeutigen empirischen Beweis für die Wirksamkeit von psychosozialen Interventionen zur Verbesserung des regelmäßigen Schulbesuchs und Verminderung psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen zu liefern. Dieser war verbunden mit der Postulation nach weiteren Untersuchungen der potenziellen Moderatoren der sehr unterschiedlichen Interventionsformen, um die Veränderungen im Schulverhalten durch die Therapien besser verstehen zu können. 18 In den letzten Jahren zeichnete sich in den Forschungsergebnissen ab, dass die kognitive Verhaltenstherapie (CBT) ein möglicherweise gut wirksamer Interventionsansatz bei Schulabsentismus ist. Vier Studien haben den Einsatz und die Wirksamkeit von manualgeleiteter kognitiver Verhaltenstherapie bei Schulabsentismus untersucht und gelingt es, die hohen methodischen Kriterien zu erfüllen (Blagg und Yule 1984; King et al. 1998; Last, Hansen und Franco 1998; Walter et al. 2010). Drei dieser Studien fokussierten die ambulante Behandlung von angstbasiertem Schulabsentismus, dabei legten sie ihren Schwerpunkt nicht auf Jugendliche, sondern untersuchten nur zum Teil Jugendliche in klinischen Inanspruchnahmepopulationen über Rekrutierungen via Schulen oder Zeitungsannoncen usw. Allerdings wurden schulverweigernde Jugendliche mit expansiven Störungen ausgeschlossen, und die Stichproben beinhalteten überwiegend Schulabsentisten mit nur geringer Chronifizierung (Blagg und Yule 1984; King et al. 1998; Last, Hansen und Franco 1998). Alle drei Arbeiten demonstrierten eine zufriedenstellende Reduktion des schulabsentistischen Verhaltens unter kognitiver Verhaltenstherapie. Zwei der vier Studien prüften auch die Therapieform im stationären Setting (Blagg und Yule 1984; Walter et al. 2010). Bei der Studie von Blagg und Yule (1984) wurde die Wirksamkeit einer stationären Therapie untersucht. Bei dieser nichtrandomisierten Studie handelte es sich jedoch nicht um eine spezifische kognitive Verhaltenstherapie, da man auf ein Manual verzichtet hatte. Von den 16 ängstlich motivierten Jugendlichen gelang 28 % der regelmäßige Schulalltag ein Jahr nach Behandlungsende im Followup. Jedoch muss die Aussagekraft dieser Ergebnisse vor dem Hintergrund methodischer Schwächen, wie beispielsweise geringer Stichprobengröße und fehlender Kontrollgruppe, als begrenzt angesehen werden. Walter und Kollegen (2010) prüften als einzige Forschungsgruppe die Wirksamkeit von stationärer, manualgeleiteter kognitiver Verhaltenstherapie anhand einer Stichprobe von 82 Jugendlichen, die sich mit schwerer Form von Schulabsentismus und ausgeprägten Angststörungen mit und ohne komorbiden expansiven Störungen für eine Behandlung entschlossen hatten. Am Ende der Therapie wurde eine beachtliche Reduktion des schulabsentistischen Verhaltens und der psychiatrischen Probleme erreicht. Darunter gab es vor allem Erfolge bei den Angststörungen, depressiven und expansiven Störungen. Die Ef19 fekte zeigten im Follow-up zwei Monate nach Behandlungsende eine weitgehende Stabilität. Als Schwäche der Studie muss hier allerdings das Fehlen einer Kontrollgruppe angeführt werden, so dass der Beweis nicht gewährleistet war, dass die beobachteten Effekte auch nur der Therapie zuzuschreiben sind. Ebenso ist das poststationäre Beobachtungsintervall von zwei Monaten sehr klein. Während demnach drei Studien einen Beweis der Wirksamkeit ambulanter, kognitiver Verhaltenstherapie bei Jugendlichen mit ängstlich motiviertem Schulabsentismus liefern, gibt es keine systematisch prüfenden Arbeiten zur Effektivität stationärer, kognitiver Verhaltenstherapie mit schwer beeinträchtigten Jugendlichen mit stark chronifizierter Form von Schulabsentismus und zusätzlichen psychiatrischen Störungen inklusive expansive Verhaltensstörungen. Die vorliegende Studie versucht, diese Lücke zu schließen, und prüft die Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie im stationären Setting bei schwer beeinträchtigten Jugendlichen mit angst- und depressionsbasiertem chronischen Schulabsentismus mit und ohne expansive Störungen (Walter 2010 und 2011). Im Gegensatz zu anderen Studien wurden hier Patienten mit komorbiden expansiven Verhaltensstörungen in die Stichprobe miteingeschlossen, denn eine Studie von Egger und Kollegen (2003) misst dieser Gruppe bei den Schulabsentisten die größte Prävalenz und Beeinträchtigung bei. Die erwähnte Heterogenität und Vielfalt der Faktoren und der adoleszentenspezifischen Probleme, die im Kontext mit dem Phänomen Schulabsentismus stehen, erklären die Problematik der diagnostischen Erfassung und viel mehr noch der adäquaten Behandlung. Die ausführliche Exploration und Testung der Patienten sind zugleich unabdingbar für die Therapie und deren feste Bestandteile. Eine frühe und umfassende Intelligenzdiagnostik ist eine primäre Maßnahme, um schulische Unter- oder Überforderung für die Problematik auszuschließen, oder eine Umplatzierung einzuleiten (Döpfner und Walter 2006). 20 Elliot (1999) formulierte in einer Arbeit Prinzipien zur Behandlung von Schülern mit Schulverweigerung: Ausführliche Diagnostik in Form von Testung des Jugendlichen und Exploration unter Mithilfe der Eltern und Lehrer Rasche Rückführung zur Schule Aufhebung von Maßnahmen, die schulvermeidendes Verhalten fördern, wie z. B. Krankschreibungen oder Hausbeschulung Enge Zusammenarbeit der an der Behandlung beteiligten Institutionen von Gesundheit und Ausbildung Psychoedukation der Eltern über das Krankheitsbild des Kindes und Integration in die Therapie. Ebenso Sensibilisierung der Lehrer Implementierung eines multimodalen Behandlungskonzepts, welches nach individuellen Anforderungen kognitiv, verhaltenstherapeutisch und pharmakologisch interveniert Erarbeitung eines Konzepts, welches die Prüfung des weiteren schulischen Verlaufs prüft und die Behandlung von Rückfällen garantiert. Wie im Kapitel zur Behandlung und Behandlungsintegrität (2.4.) ersichtlich wird, bieten die von Elliot (1999) geforderten Prinzipien eine Grundlage zur angewandten Therapieform dieser Studie. 1.7 Fragestellungen und Hypothesen Die vorliegende Studie hat das Ziel, die Wirksamkeit von stationärer kognitivbehavioraler Therapie von Jugendlichen mit primär emotional bedingtem Schulabsentismus (mit und ohne expansive Störungen) zu beurteilen. Man stellte dazu die Hypothesen auf, dass während der Behandlungsphase eine deutliche Reduktion des Schulfernbleibens (1) und der komorbiden psychiatrischen Probleme (2) stattfindet und dass diese Verminderungen signifikant größer sind als die Veränderungen während der Wartezeit vor der Behandlung (3). Weiter wurde angenommen, dass die Effekte der Therapie bezüglich des Schulabsentismus und psychischer Auffälligkeiten über einen Zeitraum von neun Monaten nach Entlassung stabil bleiben (4). 21 Die vorliegende Arbeit prüft die Wirksamkeit der stationären Behandlung sowohl in Bezug auf die Veränderung des Schulverhaltens als auch auf die Entwicklung der psychischen Störungen. Dabei können die Analysen in zwei Ebenen unterteilt werden. Im ersten Teil wird die Effektivität der Therapieform auf ihre statistische Signifikanz hin untersucht. Im zweiten Schritt werden die Ergebnisse auf ihre klinische Signifikanz hin überprüft. Die vorangegangenen Kapitel spiegeln die Notwendigkeit einer validen Reflexion eines Therapiekonzepts für emotional bedingten Schulabsentismus wider. Dabei wurde bereits auf die dazugehörige Problematik Schulabsentismus und deren Behandlungsmöglichkeiten ausführlich verwiesen. 2 Methoden 2.1 Ablauf der Studie Die Stichprobe der vorliegenden Arbeit bestand aus schulabsentistischen Jugendlichen, die im Zeitraum zwischen Dezember 2006 und Februar 2008 in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Klinikum der Universität zu Köln vorstellig wurden (Walter 2011). Um in die Stichprobe der Studie aufgenommen zu werden, mussten die Jugendlichen folgende Einschlusskriterien erfüllen: ein Alter zwischen 12 und 18 Jahren, ein seit mindestens 14 Tagen eingestellter Schulbesuch oder mindestens 50 Fehlstunden auf dem letzten Zeugnis und eine freiwillige Teilnahme an der stationären Therapie. Ebenso musste eine der folgenden Störungen nach ICD-10-Klassifikation als Kriterium zutreffen: Angststörung (soziale oder spezifische Phobie, Trennungs- oder generalisierte Angst), depressive Störung, kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen. Die Eltern waren aufgefordert, einem wöchentlichen Elterngespräch zuzustimmen. Zum Ausschluss aus der Studie führten das Vorhandensein von Intelligenzminderung, operationalisiert über einen Gesamt-IQ-Standardwert von unter 70 (SW < 70; Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder: HAWIK-III, Tewes et al. 1999; Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene: HAWIE-R, Tewes 1991), Autismus, einer Psychose, Persönlichkeitsstörung oder Essstörung. Auch galten der Missbrauch von Alkohol oder der Konsum anderer Drogen, iso22 lierte Delinquenz und dissoziales Verhalten als Ausschlusskriterien. Der Jugendliche durfte sich weder parallel in psychologischer oder psychopharmakologischer Behandlung befinden noch eine Indikation einer geschlossenen stationären Therapie aufweisen. Zwischen Dezember 2006 und Februar 2008 wurden 61 Jugendliche auf oben genannte Ein- bzw. Ausschlusskriterien hin bemessen. Von dieser Vorauswahl erfüllten 41 Jugendliche die Kriterien, wovon 39 diese stationäre Therapie begannen. 2 Jugendliche entschieden sich stattdessen für eine ambulante Behandlung und gingen in der Zeit, in der sie auf der Warteliste standen, doch wieder regelmäßig zur Schule. 3 Probanden brachen den Aufenthalt in der Klinik vorzeitig am ersten Tag ab, weil das nötige stationäre Setting aufgrund der Schwere der vorhandenen trennungsängstlichen Probleme nicht eingehalten werden konnte, so dass sie an anderer Stelle im Setting einer geschlossenen Station behandelt wurden. Schließlich durchliefen 36 Probanden den Weg der Behandlung vollständig, so dass Daten über ihren stationären Verlauf erhoben werden konnten und in die Analysen eingingen. 2.2 Stichprobenbeschreibung Die Gruppe der Teilnehmer dieser Studie (Walter 2011) setzte sich aus 21 Jugendlichen männlichen Geschlechts und 15 weiblichen Geschlechts zusammen. Das Alter lag zwischen 13 und 18 Jahren (M = 15,1; SD = 1,3). Das Intelligenzniveau wurde mit dem Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder (HAWIK-III) oder dem Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (HAWIE-R) bemessen, dessen Standardwerte sich von SW = 86 bis SW = 126 erstreckten (GIQ: M = 106,9; SD = 13,0). Bei Betrachtung der besuchten Schultypen ergab sich folgende Verteilung: Hauptschule (n = 5), Realschule (n = 14), Gesamtschule (n = 5), Gymnasium (n = 9), Berufsschule (n = 1) und Förderschule (n = 2). Auch bei der Beurteilung des schulischen Verlaufs stellte sich die Gruppe heterogen dar. Die Hälfte der Jugendlichen bot keine Unregelmäßigkeiten in der schulischen Laufbahn, 15 wiederholten eine Klasse einmal, und drei weitere taten dies mindestens zweimal. Zum Zeitpunkt der Aufnahme hatten 29 (80,6 %) von den 36 Teilnehmern den Schulbesuch komplett eingestellt. Die durch23 schnittliche Dauer des Fehlens betrug M = 20,4 Wochen (SD = 12,5; Intervall = 6,5 bis 57,0) bis zum Beginn der stationären Aufnahme. Die anderen sieben Patienten (19,4 %) besuchten die Schule in den 6 Monaten zuvor unregelmäßig, so dass sie auf dem letzten Halbjahreszeugnis eine mittlere Anzahl von 100,2 Fehlstunden (SD = 86,0; Intervall = 5 bis 281) aufwiesen. Betrachtete man das therapeutische Vorfeld, das die Patienten mitbrachten, war es bezüglich Intensität und gewählter Methoden ganz unterschiedlich. Neben keinerlei psychiatrischen oder psychologischen Vorerfahrungen war in 13 Fällen (36,1 %) eine stationäre Aufnahme in die Klinik indiziert gewesen. In 24 anderen Fällen (66,7 %) war ein ambulanter Kontakt zu einer psychotherapeutischen Einrichtung als ausreichend erachtet worden. Die dabei gewählten Heilverfahren gestalteten sich ebenso unterschiedlich. So nahmen 6 Jugendliche (16,7 %) eine ambulante Übungsbehandlung wie Ergo- oder Logopädie in Anspruch. Bei 7 (19,4 %) Probanden waren Psychopharmaka in Form von Psychostimulanzien oder selektiven Serotoninwiederaufnahme-Hemmern (SSRIs) zum Einsatz gekommen. Dabei standen die Diagnosen Angststörung oder spezifische Phobie, die bei 16 Jugendlichen (44,4 %) vergeben waren, im Vordergrund. Von einer depressiven Störung waren 10 Jugendliche (27,8 %) betroffen und weitere zehn (27,8 %) von einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen. Zur Absicherung der klinischen Diagnosen wurden Diagnosechecklisten aus dem Diagnostiksystem für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD-10 und DSM-IV durchgeführt (DISYPS-KJ, Döpfner und Lehmkuhl 2002), die sich als ausreichend reliabel und valide erwiesen haben (Döpfner et al. 2008). Zum Zeitpunkt des Studienbeginns waren alle Behandlungen beendet. 24 Darstellung 1 Verteilung der Diagnosen psychischer Erkrankungen nach ICD-10 (n = 36) F92.8 / Sonstige kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen F92.0 / Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen mit depressiver Störung F32.1 / Mittelgradige depressive Episode F32.0 / Leichte depressive Episode F93.2 / Emotionale Störung des Kindesalters mit sozialer Überempfindlichkeit F93.0 / Emotionale Störung des Kindesalters F41.2 / Angst und depressive Störungen F40.2 / Isolierte Phobien F40.1 / Soziale Phobien F40.0 / Agoraphobie 0 2 4 6 2.3 Untersuchungsdesign Im Zeitraum von Dezember 2006 bis Februar 2008 (Walter 2011) stellten sich die Schulabsentisten zur kognitiv-behavioralen Therapie vor. In dieser Zeit wurden die Jugendlichen, die Interesse an der angebotenen Therapieform zeigten, in einem Vortermin auf oben genannte Ein- und Ausschlusskriterien hin überprüft. Die Rekrutierung erfolgte kontinuierlich. Dabei betrug die maximale Zahl der Studienteilnehmer, die in einem Zeitraum in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln zugleich behandelt wurden, fünf. Die Datenerhebung zur Studie fand zu fünf Messzeitpunkten statt. Zu allen Messzeitpunkten wurden Informationen zum Schulbesuch eingeholt. Die erste Datenerhebung fand im Rahmen des Screenings bei einem Vortermin (Prä1) statt. Dieser lag bei der Stichprobe wenigstens 11 bis hin zu 31 Tagen (M = 17,3; SD = 7,3) vor dem stationären Therapiebeginn. Den zweiten Messzeitpunkt stellte die Eingangsmessung (Prä2) dar und fiel auf den Aufnahmetag. Am Entlasstag, d. h. zum Therapieende, wurde der dritte Messzeitpunkt (Post) installiert. Zwei Monate nach Beendigung der Therapie wurden die Jugendlichen bei einem vierten Messzeitpunkt, dem sogenannten Follow-up 1 (FU1) beurteilt, des Weiteren zum Follow-up 2 (FU2) nach 9 Monaten. Die Katamnesen dienten dem Interesse, ob der Transfer der Therapieerfolge in den Alltag 25 8 der Jugendlichen nachhaltig geglückt ist. Zu allen Messzeitpunkten wurden sowohl durch die Jugendlichen selbst als auch durch die Eltern standardisierte Fragebogen zur Beurteilung des Schulverhaltens und der emotionalen Verfassung des Jugendlichen beantwortet. Allein auf eine Beurteilung durch die Eltern zu Post wurde verzichtet, da diese die Jugendlichen nur an den Besuchskontakten am Wochenende gesehen haben und so keine valide Einschätzung über das Verhalten des Kindes getroffen werden konnte. Neben der schriftlichen Befragung fanden zu FU1 und FU2 telefonische Interviews statt. Auch floss Datenmaterial aus Therapeutenbogen und aus der Basisdokumentation der Klinik in die Datenbank ein. Bei dem Design der Studie handelte es sich um ein Eigenkontrollgruppendesign. Das bedeutet, dass die experimentelle Kontrolle durch eine zusätzliche Datenerhebung während der Wartelistenphase ermöglicht wurde. Die Dauer der Wartezeit hing von der Möglichkeit zur stationären Aufnahme ab, d. h. von der Verfügbarkeit eines Behandlungsplatzes nach Beendigung einer anderen Therapie auf der Station. Die Stichprobe durchlief zunächst eine Wartephase, in der Messungen angestellt wurden, dann die Behandlungs- und die Follow-upPhase, in denen ebenfalls Messungen durchgeführt wurden. Diese Art von Design bietet allgemeine Vor- und Nachteile. Die Vorteile liegen darin, dass man mit nur einer Gruppe eine geringere Anzahl von Patienten rekrutieren muss und dass jeder Patient die Möglichkeit einer Behandlung erhält. Als nachteilig können sich Übertragungseffekte auswirken, so wie Lerneffekte der Probanden insbesondere bezüglich der Testinstrumente. Eine randomisierte Kontrollgruppenstudie wäre zu bevorzugen, es wäre allerdings ethisch als bedenklich anzusehen, würde man Jugendlichen die Möglichkeit, von der Therapie zu profitieren, vorenthalten. 2.4 Behandlung und Behandlungsintegrität Die schulabsentistischen Probanden wurden auf einer Jugendstation der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln behandelt. Die Station wurde eigens für die Anforderungen dieser Studie (Walter 2011) eingerichtet und von einer Ärztin und drei DiplomPsychologen betreut. Im Vorfeld erhielten die Betreuer eine sechswöchige spezielle Vorbereitung durch die Studienleitung. In wöchentlichen zweistündigen 26 Supervisionsrunden stellte man die Integrität der Behandlung sicher. Auch wurde die Behandlungsplanung des einzelnen Patienten in einem zusätzlichen Termin pro Woche supervidiert. Zwei- bis dreimal in der Woche nahmen die Jugendlichen an einer therapeutischen Sitzung teil. Hinzu kam ein wöchentlicher Termin der Eltern bzw. der Familie, die damit in den therapeutischen Prozess aktiv einbezogen wurden. Die Mitarbeiter der Station wurden ebenso im Vorfeld hinsichtlich der Bedürfnisse der Studienteilnehmer geschult, so dass sie hochfrequente graduierte Expositionen und Hausaufgabentrainings durchführen konnten. Auch halfen sie bei der Restrukturierung eines geregelten Wochenablaufs und beim Aufbau von Freizeitaktivitäten. Der Jugendliche sollte zügig in den Schulalltag zurückgeführt werden. Hier entschied man je nach Schwere des schulverweigernden Verhaltens, wie niederschwellig man die anfängliche Beschulung anbieten sollte. Zwar war es das Ziel, dass der Jugendliche so schnell wie möglich dem Besuch der heimatlichen Regelschule selbstständig nachkommt, dennoch war es bei schweren Fällen von Schulabsentismus notwendig, zuerst alternativ zu beschulen. Schwerer Schulabsentismus wurde über ein Fernbleiben von der Schule von mehr als drei Monaten zum Messzeitpunkt Prä2 (n = 25; 69,5 %) definiert. War der Jugendliche psychisch zu stark beeinträchtigt, wurde zunächst eine Eingliederung in die Klinikschule angestrebt. War dies initial auch nicht möglich oder lag dieser Zeitpunkt in den Schulferien, half die Einrichtung des „Lerncamps“ auf Station. Hier konnten Hausaufgaben erledigt, versäumte Schulinhalte nachgeholt und neue Lern- und Arbeitstechniken erprobt werden. Sowohl zu diagnostischen als auch zu perspektivischen Zwecken hielt man engen Kontakt zur Klinikschule respektive zur Regelschule. Im Abstand von 14 Tagen wurden gemeinsame Besprechungen abgehalten („Schulbesprechung“). Dabei half die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, die über eine Sozialarbeiterin koordiniert wurde. Es wurde beabsichtigt, eine optimale Rückführung des Patienten auf die Regelschule zu bahnen oder eine adäquate neue Schulform bei schulischer Fehlplatzierung für ihn zu finden. Patienten, die während des stationären Aufenthalts in der Klinikschule unterrichtet wurden, konnten diese zeitlich begrenzt auch poststationär besuchen, falls eine Rückführung auf die Regelschule keinen Erfolg für den Jugendlichen versprach oder nicht möglich 27 war. Das Angebot galt unter der Bedingung, dass im ambulanten Rahmen wöchentliche, verhaltenstherapeutische Termine weiterhin wahrzunehmen waren. Die kognitiv-behaviorale Therapie erfolgte manualgeleitet in Anlehnung an das Therapiemanual zur Behandlung von Schulabsentismus von Kearney und Albano (2003) und an das Therapieprogramm SELBST (Walter, Rademacher, Schürmann und Döpfner 2007; Walter und Döpfner 2009). Das Konzept der multimodalen stationären Kurzzeittherapie zeichnete sich durch jugendlichen-, eltern- und familienzentrierte Interventionen aus. Kernstücke des multimodalen Gedankens stellten neben der Erarbeitung eines Störungsmodells, der Psychoedukation, Expositionsbehandlungen, dem Aufbau positiver Aktivitäten und der kognitiven Umstrukturierung vor allem soziale Fertigkeiten- und Elterntrainings, mit dem Ziel, das Erziehungsverhalten der Eltern zu stärken, dar (Walter 2008; Walter und Döpfner 2009). Tabelle 1 stellt eine Übersicht zu den am häufigsten durchgeführten Interventionen dar. Zusätzlich wurden bei 5 Jugendlichen (13,9 %) im stationären Verlauf psychopharmakologische Interventionen erprobt, da sie psychisch zu stark beeinträchtigt schienen, als dass eine isolierte kognitiv-behaviorale Therapie als ausreichend erachtet werden konnte. 3 der Jugendlichen wurden mit einer Fluoxetin-Medikation entlassen, weitere 2 waren medikamentös mit Methylphenidat eingestellt. Tabelle 1 - Art der Intervention und prozentualer Einsatz Intervention % der Stichprobe (n = 36) Erarbeitung eines Störungsmodells mit dem Jugendlichen 100,0 Erarbeitung eines Störungsmodells mit den Eltern 100,0 Kognitive Umstrukturierung des Jugendlichen 91,7 Schulbezogene Exposition mit Therapeuten zur Verminderung 72,2 schulischer Ängste Andere Exposition mit Therapeuten (z. B. zur Reduktion sozia- 61,1 ler Ängste) Verstärkerplan auf Station 25,0 Verstärkerplan in der Schule 11,2 Verstärkerplan zu Hause (am Wochenende) 19,5 Hausaufgabentraining 77,8 28 Einübung sozialer Fertigkeiten 72,5 Integration im Freizeitbereich (z. B. Vereine) 58,3 Wiederaufnahme von Sozialkontakten (z. B. regelmäßige Ver- 66,6 abredungen initiieren) Elterntraining zur Stärkung der Erziehungskompetenzen 97,2 Beratung durch Sozialarbeiter zur Information über Jugendhil- 52,8 femaßnahmen Vermittlung an das Jugendamt zur Beantragung einer Hilfe zur 64,0 Erziehung Vermittlung an ambulante Therapie 94,4 Die mittlere Behandlungsdauer betrug 8,2 Wochen (Spanne von 2,4 bis 17,8 Wochen), für 66,7 % der Patienten lag die Verweildauer zwischen 4 und 10 Wochen. Die Wochenenden verbrachten die Teilnehmer in häuslicher Umgebung. Im letzten Drittel der Behandlungsphase ging man dazu über, dass die Jugendlichen einige Nächte zu Hause verbrachten und von dort aus selbstständig den Schulbesuch realisieren sollten, um die Behandlungsziele auf die Probe zu stellen. Das Angebot, nahtlos eine ambulante Therapie anzuschließen, wurde von 94,4 % der Patienten angenommen. Zum FU1 befanden sich 75,0 % der Patienten der Stichprobe in einer ambulanten Therapie mit einer mittleren Anzahl von 6,3 Sitzungen (SD = 3,3) während der vergangenen 8 Wochen. Zum Zeitpunkt des FU2 erhielten 29 Jugendliche (80,6 %) eine ambulante kognitive Verhaltenstherapie, wobei hier das Mittel der therapeutischen Treffen 9 Monate nach Behandlungsende bei 24,8 (SD = 11,4) lag (Walter 2011). 2.5 Messinstrumente Im folgenden Kapitel werden die für die vorliegende Arbeit relevanten Messinstrumente beschrieben. Daten wurden in drei unterschiedlichen Vorgehensweisen erhoben. So gewann man mittels Interviews Informationen über den Jugendlichen und sein schulverweigerndes Verhalten, sowie über die Zählung der Schulfehltage als auch über die Auswertung diverser Testinstrumente im Selbst- und Fremdurteil. 29 2.5.1 Diagnostisches Interview Die Jugendlichen und ihre Eltern wurden in einem halbstrukturierten klinischen Interview unter Verwendung von klinisch erprobten Beurteilungsskalen des DISYPS-KJ befragt. Das DISYPS-KJ basiert auf Diagnosekriterien der ICD-10 und des DSM-IV (Döpfner und Lehmkuhl 2002). Das DISYPS-KJ zeigt eine gute Reliabilität und Validität (Döpfner, Görtz-Dorten und Lehmkuhl 2008). 2.5.2 Analyse des Schulverhaltens und Zählung der Schulfehltage Einen direkten Aufschluss über die Veränderung des Schulverhaltens lieferte die Zählung der Schulfehltage. Es wurde eine Verminderung des Schulfernbleibens angestrebt. Als die zentrale abhängige Variable galt der Schulbesuch, sie wurde an allen Messzeitpunkten ermittelt. Der Schulbesuch innerhalb der letzten 2 Wochen vor dem jeweiligen Messzeitpunkt wurde operationalisiert als eine dichotome Variable: regelmäßiger Schulbesuch versus unregelmäßiger Schulbesuch. Ein unregelmäßiger Schulbesuch folgerte sich aus einem unbegründeten Fernbleiben der Schule von mindestens einem Tag. Es wurden ebenso Informationen über die Fehlzeiten seit dem letzten Zeugnis bzw. dem letzten Messzeitpunkt erfasst (Schulstunden bzw. Fehltage). Zu den Messzeitpunkten Prä1 und Prä2 wurden die Informationen durch den engen Austausch des Therapeuten mit dem Jugendlichen, den Eltern und der Schule gewonnen. Zu Post konnte anhand der Dokumentation des stationären Verlaufs eine Zählung der Schultage angestellt werden. Zu den beiden Katamnesen FU1 und FU2 wurden die Eltern mittels Telefoninterviews zur Regelmäßigkeit des Schulbesuchs ihres Kindes befragt. Die Validität der Aussagen der Eltern konnte als sichergestellt gelten, denn während des stationären Aufenthalts wurde ein enges Rückmeldesystem zwischen Schule und Eltern etabliert. Zusätzlich zu der Befragung zur Regelmäßigkeit des Schulverhaltens wurden bei jeder Datenerhebung Informationen über die Art der Beschulung und über das schulische Umfeld eingeholt. Nach der Wiedereingliederung in das reguläre Schul- oder Ausbildungssystem erkundigte man sich, ob ein geschützter Rahmen erforderlich sei, wie beispielsweise Unterricht, der in kleinen Klassengrößen oder durch speziell geschulte Lehrpersonen abgehalten wird. Ebenso wurde überprüft, ob ein ungünstiger Verlauf der Bildungskarriere besteht, was bedeuten würde, 30 dass der Proband weder dem Schulbesuch noch einer Berufsausbildung nachgekommen wäre. 2.5.3 Selbstbeurteilung und Elternurteil Es kam eine große Auswahl an Testinstrumenten zum Einsatz, sie werden im Folgenden erläutert. Zu Post wurde auf die Elternurteile in den jeweiligen Testinstrumenten verzichtet. Man entschied sich dazu, da die Eltern ihre Kinder nur innerhalb der Besuchskontakte und der Beurlaubungen am Wochenende gesehen haben, so dass man von keiner validen Einschätzung ausgehen konnte. Hamburg-Wechsler-Intelligenztest (HAWIK-III und HAWIE-R) Es wurde zunächst das Intelligenzniveau des Jugendlichen geprüft. Dabei konnte durch den Hamburg-Wechsler-Intelligenztest ermittelt werden, ob durch den besuchten Schultyp eine intellektuelle Über- oder Unterforderungssituation bestand, die durch eine Anbindung an eine andere, adäquatere Schulform gelöst werden könnte. Außerdem konnte das Ausschlusskriterium der Lernbehinderung für diese Studie geprüft werden. Der HAWIK-III (Tewes et al. 1991) und der HAWIE-R (Tewes 1999) sind standardisierte mehrdimensionale Intelligenztests, die in der psychologischen Intelligenzdiagnostik zu den Standardverfahren gehören. Bei Kindern im Alter von 6,0 bis 16,11 Jahren wurde der HAWIKIII verwendet, der HAWIE-R wurde bei Jugendlichen ab dem 17. Lebensjahr eingesetzt. Beide Instrumente setzen sich aus einem Handlungs- und einem Verbalteil zusammen, deren Gesamtwert die allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit indiziert. Child Behavior Checklist (CBCL) und Youth Self Report (YSR) Zur Beurteilung der Jugendlichen bezüglich Verhaltensauffälligkeiten wurden die deutschen Versionen der Child Behavior Checklist (CBCL, Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998 a) und des Youth Self Reports (YSR, Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998 b) herangezogen. Der CBCL-Fragebogen erfasst die Einschätzung von Eltern hinsichtlich der Kompetenzen und Probleme ihres Kindes. Die Items des YSR-Fragebogens beantwortet der Jugendliche selbst. 31 Die Tests setzen sich analog zueinander jeweils aus 3 Kompetenzskalen (Aktivität, Soziale Kompetenz und Schule) und 8 sogenannten Syndromskalen (Sozialer Rückzug, Körperliche Beschwerden, Angst/Depressivität, Soziale Probleme, Schizoid/ Zwanghaft, Aufmerksamkeitsstörung, Delinquentes Verhalten und Aggressives Verhalten) zusammen, die Aufschluss über die psychosozialen Kompetenzen, Verhaltensauffälligkeiten und Auffälligkeiten in der Gefühlswelt des Jugendlichen geben sollen. Auch wird die Komponente körperlicher Beschwerden berücksichtigt. Die verschiedenen Arbeiten (Döpfner, Schmeck, Berner, Lehmkuhl und Poustka 1994; Döpfner, Schmeck, Berner, Lehmkuhl und Poustka 1995; Schmeck et al. 2001) zeigen eine gute Reliabilität und Validität der deutschen Versionen. Beide Tests beurteilen auf der Grundlage der ICD-10 und des DSM-IV. Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche (DIKJ) Zusätzlich wurde das Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche (DIKJ) angewandt. Es stellt einen Selbsteinschätzungsfragebogen für Kinder und Jugendliche im Alter von 8,0 bis 17,11 Jahren zur Erfassung der Schwere einer depressiven Erkrankung dar. Auch dieser Test zeigt gute Ergebnisse bezüglich seiner psychometrischen Eigenschaften (Stiensmeier-Pelster et al. 2000). Da er sensibel für Veränderungen im Schweregrad einer depressiven Störung ist, konnte er als Verlaufsparameter dienen und wurde daher bei den verschiedenen Messzeitpunkten eingesetzt. Lern- und Arbeitsverhaltensinventar (LAVI) Inwieweit der Jugendliche in der Lage ist, sich selbst zu einer Leistung zu motivieren und sich selbst zu organisieren, wurde mit dem Lern- und Arbeitsinventar (LAVI) getestet. Dieser Test dient der differenzierten Erfassung des Lern- und Arbeitsverhaltens und besteht aus 58 Fragen, die auf typische Arbeits- und Lernsituationen abzielen und vom Probanden zu beantworten waren. Das LAVI baut sich über 3 Skalen auf: 1. Arbeitshaltung (A) zur Erfassung der Bereitschaft und des Pflichtbewusstseins, sich zu konzentrieren, zu lernen und Probleme zu lösen 2. Stressbewältigung (STR) zur Erfassung der Fähigkeit, Lernprozessstörungen zu meistern 32 3. Lerntechnik (LT) zur Erfassung der Fähigkeit der wirksamen Lernstoffverarbeitung Das Inventar ist für Schüler der Klassen 5 bis 10 konzipiert. Ausreichende Reliabilität und Validität zeigen die Arbeiten von Thiel und Keller (1998). Angstfragebogen für Schüler (AFS) Der Angstfragebogen für Schüler (AFS; Wieczerkowski, Nickel, Janowski, Fittkau und Rauer 1981) prüft die Angstkomponente, mit der das Thema Schule beim Jugendlichen verknüpft ist. Der Test besteht aus 50 Fragen und ist multifaktoriell aufgebaut. Es setzt sich aus den Bereichen Prüfungsangst (PA), allgemeiner (manifester) Angst (MA), Schulunlust (SU) und sozialer Erwünschtheit (SE) zusammen. Die Skala Prüfungsangst erfasst Angst vor einem Leistungsversagen sowie emotionale Überforderung und Insuffizienzgedanken, die der Schüler in Prüfungssituationen erlebt. Häufig spielt hier auch das Auftreten von vegetativen Reaktionen eine Rolle. Die Skala allgemeiner (manifester) Angst gibt das Maß allgemeiner Symptome von Angst und Furcht, die sich in Form von Herzklopfen, Nervosität, Einschlafund Konzentrationsstörungen darstellen können, sowie des erniedrigten Selbstbewusstseins an. Die Skala der Schulunlust stellt die Aversion und die fehlende Motivation des Schülers gegenüber dem Bild der Schule im Allgemeinen und gegenüber negativ erfahrenen Schulfächern und Situationen innerhalb des Schulablaufs dar. Die Skala zur sozialen Erwünschtheit indiziert die Furcht davor, nicht der erwünschten sozialen Norm zu entsprechen. Wenn die Testperson die Fragen eventuell überangepasst beantwortet und seine Selbstdarstellung so verfälscht, erhöhen sich damit die Testwerte. Liegen erhöhte Werte auf dieser Skala vor, ist anzunehmen, dass die Angstwerte der anderen 3 Skalen in der Realität auch deutlich höher anzusiedeln sind, als es der Test zunächst vermuten lässt. Das Verfahren kann bei Schülern im Alter von 9 bis 17 Jahren eingesetzt werden. Es liegt eine Normierung nach Altersklassen vor, wie auch Untersuchungen zur Gültigkeit und Zuverlässigkeit. 33 Phobiefragebogen für Kinder und Jugendliche (PHOKI) Der Phobiefragebogen für Kinder und Jugendliche (PHOKI) stellt eine modifizierte Übersetzung des bearbeiteten Fear Survey Schedule for ChildrenRevised (FSSC-R) dar. Er testet die Probanden auf phobische Ängste vor Objekten und Situationen. Die Items werden zu 7 Skalen zusammengefasst. Das Testinstrument bietet eine Normierung sowohl getrennt für Altersgruppen als auch für das Geschlecht für Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 18 Jahren und erfüllt die Untersuchungskriterien zur Validität und Reliabilität (Döpfner, Schnabel, Goletz und Ollendick 2006). DISYPS-KJ Das Diagnostik-System dient der Erfassung psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 11 bis 18 Jahren gemäß den Diagnosekriterien der ICD-10 und des DSM-IV (Döpfner und Lehmkuhl 2002). Die wichtigsten Störungsbereiche des Kindes- und Jugendalters werden hiermit abgedeckt. Für diese Studie wurde das Augenmerk auf die 3 Bereiche Depression, Angststörung und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätstörungen gelegt. Im Elternurteil kamen die Fremdbeurteilungsbogen zu Angststörungen (FBB-ANG), depressiven Störungen (FBB-DES) und hyperkinetischen Störungen (FBB-HKS) aus dem Testkatalog zur Anwendung. Analog dazu konnten die Jugendlichen sich mit den Selbstbeurteilungsbogen SBB-ANG, SBB-DES und SBB-HKS selbst einschätzen. Das DISYPS-KJ zeigt eine gute Reliabilität und Validität (Döpfner, Görtz-Dorten und Lehmkuhl 2008). Eine Normierung der Bogen liegt getrennt für Altersgruppen und Geschlecht vor (Görtz-Dorten 2005). SELBST- Fragebogen Der SELBST-Fragebogen ist Teil des Behandlungsprogramms SELBST (Walter, Rademacher, Schürmann und Döpfner 2007), das im eigenen Haus entwickelt wurde. Dieses Instrument kann zum Screeningverfahren bei Jugendlichen mit Selbstwert-, Leistungs- und Beziehungsstörungen eingesetzt werden. 23 Items, die zu fünf Skalen zusammengefasst werden, prüfen auf adoleszentenspezifische Probleme in Eltern- und Jugendlichenversionen: Item 1−8: Selbstwertprobleme Item 9−14: Beziehungsprobleme 34 Item 15−18: Leistungsprobleme Item 19: Schulbesuchsprobleme Item 20−23: Angst und Somatisierung Während der Entwicklung des Verfahrens beschrieb eine Arbeit von Feldkötter (2003) eine ausreichende Reliabilität und Validität. 2.6 Verwendete Verfahren zur Datenanalyse Statistische Analyse Die vorliegende Analyse kann in 2 Ebenen unterteilt werden. Im ersten Teil wird die Effektivität der Therapieform auf ihre statistische Signifikanz hin untersucht. Im zweiten Schritt wird die klinische Signifikanz der Ergebnisse geprüft. 2.6.1 Statistische Signifikanz Die Hauptanalyse des ersten Teils beschäftigte sich mit dem Verlauf des Schulverhaltens auf der Ebene der Schulfehltage. Für das Schulfernbleiben, das in dichotomen Fragebogen festgehalten wurde, wurden standardisierte Regressionskoeffizienten errechnet (Menard 2010). Werte von 0,10, 0,30 und 0,50 können gemäß Menard als leicht-, mittel- und hochgradig angesehen werden. Zu allen fünf Messzeitpunkten wurden Rechnungen zum Schulbesuch angestellt. Die Nebenanalyse konzentrierte sich auf die Veränderungen der mentalen Gesundheit auf Basis der Fragebogen, die durch die Eltern und Jugendlichen ausgefüllt wurden. Zur Durchführung der Analysen wurde die Studie in drei zeitliche Abschnitte unterteilt. Der erste Abschnitt stellt die Wartezeit bis Beginn der Therapie (Prä1 bis Prä2) dar, der zweite die stationäre Behandlungsphase (Prä2 bis FU1) und der dritte ein poststationäres Intervall, das sogenannte Follow-up (FU1 bis FU2). Aus klinischen Gründen wählte man als zeitlichen Endpunkt der Bewertung für die stationäre Behandlungsphase FU1 und nicht Post. Auf ein Elternurteil bezüglich der psychischen Probleme konnte zu Post im Vergleich zu FU1 nicht zurückgegriffen werden. Die Eltern sahen die Jugendlichen nur in Besuchskontakten oder kurzen Beurlaubungen, was keine sichere Einschätzung durch die Eltern gewährleisten konnte. Zu Identifizierungsgründen des Analysemodells sind 35 für die Berechnung der Steigungskoeffizienten in der Behandlungsphase Daten aus der Post-Erhebung mit eingeflossen. Die erhobenen Daten wurden bezüglich der Rechnungen zur statistischen Signifikanz über eine Multilevel-Analyse mit Hilfe der Version 6 des Softwareprogramms HLM (Raudenbush, Bryk und Congdon 2008) ausgewertet. Für die vorliegende Rechnung wurden stückweise lineare Wachstumsmodelle berechnet (Raudenbush und Bryk 2002). Es wurden verschiedene Wachstumskurven für die jeweiligen Zeitabschnitte berücksichtigt. Für jedes der drei Zeitintervalle wurde ein separater Steigungskoeffizient berechnet: für die Zeit, in der sich die Jugendlichen auf der Warteliste befanden, für die Behand- lungsphase und für die poststationäre Zeit. Bei den Konstanten wurde im Modell eine interindividuelle Variation zugelassen (Random Intercept). Der Steigungskoeffizient wurde modellimplizit fix gehalten, und es wurde keine interindividuelle Variation zugelassen (Fixed Slope). Letzteres wurde aus Gründen der Modellidentifikation vorgenommen. Als Effektstärkemaß für abhängige Variablen mit Intervallskalenniveau wurde Cohen′ s d bei abhängigen Stichproben berechnet (Cohen 1988). Gemäß Cohen (1988) indiziert ein Wertebereich um 0,20 einen kleinen Effekt, um 0,50 einen mittleren und um 0,80 einen großen Effekt. Formel 1 Effektstärke nach Cohen für abhängige Stichproben M = Mittelwert SD = Standardabweichung r = Korrelation nach Spearman Die Analyse der mentalen Gesundheit fand unter Zuhilfenahme mehrerer Fragebogen statt. Diverse Skalen wurden hierbei zu sogenannten Composite Scores zusammengefasst. Die Aggregation zu 5 im Folgenden beschriebenen Composite Scores sollte der Kumulation des Alphafehlers entgegenwirken. Die 36 genauen Modalitäten der Generierung werden in einer Arbeit von Walter und Kollegen von 2010 beschrieben. Hier nun eine Auflistung der Zusammensetzungen der einzeln gebildeten Composite Scores: 1. Angst und Depression im Jugendlichenurteil (ANGDEP-J): YSR (Problemskalen: Sozialer Rückzug, Körperliche Beschwerden, Angst/Depressivität), DIKJ, SBB-DES, SBB-ANG (Trennungsangst, soziale und generalisierte Angst, spezifische Phobie), AFS (Problemskalen: PA: Prüfungsangst, MA: Allgemeine manifeste Angst), PHOKI (Problemskalen: Schulangst, soziale Angst, Trennungsangst) und LAVI (Stressbewältigung [STR]: Fähigkeit des Schülers, Lernprozessstörungen zu meistern) 2. Angst und Depression im Elternurteil (ANGDEP-E): CBCL (Problemskalen: Sozialer Rückzug, Körperliche Beschwerden, Angst/Depressivität), FBB-DES, FBB-ANG (Trennungsangst, soziale und spezifische Phobie, generalisierte Angststörung) 3. Expansives Verhalten im Jugendlichenurteil (EXPANS-J): YSR (Problemskalen: Aufmerksamkeitsprobleme , Delinquentes Verhalten und Aggressives Verhalten) und SBB-HKS (Selbsturteil für Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität) 4. Expansives Verhalten im Elternurteil (EXPANS-E): CBCL (Problemskalen: Aufmerksamkeitsprobleme, Delinquentes Verhalten und Aggressives Verhalten) und FBB-HKS (Fremdurteil für Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität) 5. Arbeitsverhalten im Jugendlichenurteil (ARBEIT-J): LAVI (Skalen zur Arbeitshaltung [A]: grundsätzliche Bereitschaft des Schülers zum pflichtbewussten, konzentrierten und gründlichen Lernen und Problemlösen sowie Lerntechniken [LT]: Fähigkeit des Schülers zur wirksamen Stoffverarbeitung) und AFS (Problemskala: Schulunlust [SU]) Diese übergeordneten Summenwerte wurden nur zu Analysen bezüglich der Behandlungsphase eingesetzt. 37 Für den Vergleich der Wartephase mit dem Behandlungsabschnitt wurde eine reduziertere Menge an Testinstrumenten ausgewählt: die Selbst- und Fremdfragebogen des DISYPS-KJ (SBB-DES, SBB-ANG, SBB-HKS, FBB-DES, FBBANG und FBB-HKS). Hierzu trug man die linearen Verläufe der Ausprägungen der Bereiche Depression, Angst und HKS während der Wartezeit ( der Behandlungszeit ( ) auf. Die jeweiligen Steigungsgeraden ) und und wurden einander gegenübergestellt. Man erwartete eine deutliche Verminderung der Störungen während der therapeutischen Phase im Gegensatz zur Wartephase. Zum Abschluss der Untersuchungen interessierte zudem, ob man die Therapieeffekte bezüglich der mentalen gesundheitlichen Verbesserung als stabil ansehen könnte. Demensprechend wurde für die Zeit des Follow-up ebenso ein linearer Verlauf ( ) unter Auswertung der Gesamtergebnisse aus den SELBST-Fragebogen abgebildet, die zuvor von Eltern und Jugendlichen ausgefüllt worden waren. 2.6.2 Klinische Signifikanz Die Ergebnisse der vorangegangenen Analysen zur statistischen Signifikanz wurden zudem hinsichtlich ihrer klinischen Signifikanz reflektiert. Das Konzept der Clinical Significance (CS; Jacobson und Truax 1991) hilft bei der Beantwortung der Frage, ob die gewonnenen statistischen Veränderungen eine klinische Relevanz beinhalten. Der Gedanke, die Veränderung von Symptomen mit der Normalität von Veränderung im Sinne einer Spontanheilungsquote in Relation zu stellen, liegt implizit dem Kontrollgruppendesign zugrunde. Verglichen werden die Symptomausprägungen bei den Patienten während der unbehandelten Wartezeit und während der Behandlungsphase. Zielsetzung des CS- Konzepts stellt die Bestimmung des Erfolgs einer therapeutischen Maßnahme dar (Malewski 2004). Aus klinischer Sicht gilt eine psychotherapeutische Intervention als erfolgreich, wenn eine bedeutsame positive Änderung des Gesundheitszustands oder eine Gesundung erreicht werden konnte. 38 Formal kann diesen Forderungen durch Analyse auf der Ebene der Berechnung des Reliable Change Index (RCI) nach Jacobson und Kollegen (Jacobson und Truax 1991) sowie auf der Ebene normativer Klassifikation nachgekommen werden. Die klinische Signifikanz wurde auf beide Arten geprüft. Für die Analysen dieser Untersuchungen zur klinischen Signifikanz wurde die Statistik-Software SPSS Version 19.0 (SPSS Inc. 2010) eingesetzt. 2.6.2.1 Reliable Change Index Beim Reliable Change Index (RCI) wird auf Veränderungen im zeitlichen Verlauf geachtet, um die klinische Signifikanz bewerten zu können. Dabei muss die Änderung der Merkmalsausprägung so bedeutsam sein, dass sie über dem messfehlerbedingten Bereich liegt, und man möchte Aussagen über die Art der Veränderungen des Zustands treffen: Reliable Verbesserung, keine Veränderung oder reliable Verschlechterung. Der Reliable Change Index (RCI) nach Jacobson und Kollegen ist wie folgt definiert: Formel 2 Reliable Change Index (RCI) nach Jacobson Dabei stellt den individuellen Rohwert zum späteren Messzeitpunkt und den zum früheren Messzeitpunkt des zu betrachtenden Intervalls dar. Das bedeutet, dass der Messzeitpunkt 1 dem Beginn des Zeitabschnitts entspricht und der Messzeitpunkt 2 das Ende darstellt. zum Messzeitpunkt 1. Die Variable entspricht der Standardabweichung steht für die Reliabilität des Messinstru- ments. Mit dieser statistischen Methode wurden die Ergebnisse zu den Selbstbeurteilungsbogen (SBB) und Fremdbeurteilungsbogen (FBB) des DISYPS-KJ auf ihre therapeutische Wichtigkeit hin überprüft. Die Reliabilitäten zu den einzelnen 39 Rechnungen wurden aus den Werten zur internen Konsistenz aus dem DISYPS-II, Manual zum Diagnostik-System für Psychische Störungen nach ICD10 und DSM-IV für Kinder und Jugendliche – II (Döpfner, Görtz-Dorten und Lehmkuhl 2008) entnommen. Fällt der RCI größer als 1,96 aus, kann die Veränderung als signifikant auf der 0,5-Ebene angesehen werden. Der Wert 1,96 ist als die Irrtumswahrscheinlichkeit nach der Standardnormalverteilung definiert. Die Ergebnisse der Analysen zu den SELBST-Fragebogen im poststationären Verlauf fanden ebenfalls den Weg in die Berechnungen zum Reliable Change Index. Hier dienten die Reliablitäten aus der Arbeit von Feldkötter (2003) zum Therapieprogramm SELBST als Grundlage. Als Beobachtungsintervall galt die Zeit zwischen FU1 und FU2. Ziel dieser Analyse war es, die Entwicklung der emotionalen Probleme nach der Behandlung zu untersuchen. Die Frage nach der Stabilität der Behandlungseffekte stand hier im Vordergrund. 2.6.2.2 Normorientierter Vergleich Beim normativen Vergleich werden die individuellen Testergebnisse der Probanden ins Verhältnis zu Normwerten gesetzt. Diese Bezugsnorm entstand bei der Entwicklung des oben genannten Manuals. Als normorientierter Vergleich der Testergebnisse des DISYPS-KJ wurde das 90. Perzentil als Kriterium gewählt. Das bot den praktischen Vorteil, dass die alters- und geschlechtsspezifischen Normen direkt dem Manual entnommen werden konnten. Entsprechen die Symptomausprägungen des Jugendlichen der 90. Perzentile, bedeutet dies, dass 10 % der Jugendlichen desselben Alters schwerere Symptome aufweisen und 90 % gleichausgeprägte bzw. geringere. Liegt die Symptomausprägung des Patienten unter dem 90. Perzentil, gilt er als „unauffällig“. War die Ausprägung jedoch gleich oder größer dem 90. Perzentil, wurde der Proband als „klinisch“ klassifiziert. Die Daten zu den Messzeitpunkten Prä1, Prä2 und FU1 wurden analysiert, und es wurde eine Verlaufsbeobachtung der Störungsfelder angestellt. Grafisch kann dies über einen Kurvenverlauf dargestellt werden (Seite 52f). 40 Eine normative Analyse des Testinstrumentes SELBST zum poststationären Verlauf fand nicht statt, da keine Normstichprobe vorliegt, die eine gute Klassifikation erlauben würde. Das Gleiche gilt für die Composite Scores. Hier steht ebenfalls keine Normstichprobe zur Verfügung. 3 Ergebnisse Die Ergebnisse zu den obig formulierten Hypothesen werden in diesem Abschnitt beschrieben. 3.1 Ergebnisse zum Schulbesuch und Schulverhalten Schulbesuch Darstellung 2 zeigt die Häufigkeitsverteilung der Jugendlichen mit regelmäßigem Schulbesuch versus den Jugendlichen mit unregelmäßigem Schulbesuch zu allen Messzeitpunkten. Während zu den ersten beiden Messzeitpunkten Prä1 und Prä2 keiner der 36 Jugendlichen regelmäßig die Schule besuchte oder einem vergleichbaren Beschäftigungsverhältnis nachging, ist nach der Therapie eine deutliche Verbesserung des Schulverhaltens festzustellen. Am Entlasstag besuchen 88,9 % der Probanden regelmäßig die Schule. Zum Zeitpunkt FU1 zwei Monate nach Entlassung gelingt 86,1 % der Jugendlichen der regelmäßige Schulbesuch und zu FU2 nach 9 Monaten noch 63,9 %. Darstellung 2 - Ergebnisse der Analysen zum Schulbesuch (n = 36): regelmäßig vs. unregelmäßig 100 % 4 90 % 5 13 80 % 70 % 60 % 50 % 36 Schulbesuch: unregelmäßig 36 32 40 % 31 Schulbesuch: regelmäßig 23 30 % 20 % 10 % 0% Prä1 Prä2 Post FU1 FU2 41 Zwischen den Zeitpunkten Prä1 und Prä2 konnte keine Multilevel-Analyse durchgeführt werden, da es keine Streuungen in der Stichprobe gab. Weder zu Prä1 noch zu Prä2 ging ein Jugendlicher der Stichprobe zur Schule. Es fanden keine Veränderungen in der Wartephase statt. Die Ergebnisse der Multilevel-Analyse demonstrieren eine große signifikante Verbesserung auf der Ebene des regelmäßigen Schulbesuchs von Prä2 zu FU1 ( = 1,53; t = 5,35; p < 0,001; = 0,81). Man kann des Weiteren beobachten, dass zwei der fünf Schulverweigerer zum Zeitpunkt FU1 einen beziehungsweise zwei Schulfehltage seit Behandlungsende aufwiesen, was eine leichte Form des Schulabsentismus indiziert, während die anderen drei im gleichen Zeitraum mit mittlerer schulabsentistischer Ausprägung zwischen 8 und 14 Schulfehltage (M = 1,42 Schulfehltage pro Woche, SD = 0,38) hatten. Für das poststationäre Zeitfenster von FU1 bis FU2 verläuft die lineare Gerade negativ und zeigt eine statistische Signifikanz in Bezug auf die Abnahme für die Wahrscheinlichkeit des regelmäßigen Schulbesuchs ( 141; t = −3,75; p < 0,001, = −0,43; df = = −0,47). Von den 13 schulverweigernden Jugendlichen fehlten zum FU2 8 Probanden an 3 bis 15 Tagen in der Schule für einige Unterrichtsstunden oder zeigten eine vollständige Verweigerung innerhalb der vergangenen 7 Monaten, d. h. seit FU1. Diese Beobachtung konnte mit durchschnittlichem Fehlen von 0,27 kompletten oder inkompletten Schultagen pro Woche (SD = 0,18) als milde Form des Schulabsentismus eingestuft werden. Bei den übrigen 5 Fällen mit unregelmäßigem Schulbesuch stellte man eine Spanne von 20 bis 130 kompletten oder inkompletten Tagen des Schulfernbleibens in den vergangenen 7 Monaten (SD = 1,66) fest. Im Mittel wurden 1,67 vollständige oder unvollständige Schultage pro Woche zwischen FU1 und FU2 versäumt. Dies wird als ein leichter Wiederanstieg des schulabsentistischen Verhaltens festgehalten. Schultypen In Darstellung 3 sind die verschiedenen Schultypen, die zu den jeweiligen Messzeitpunkten von den Probanden besucht wurden, zusammengefasst. Zu den ersten beiden Messzeitpunkten, Prä1 und Prä2, waren mit Ausnahme eines Jugendlichen nahezu alle Teilnehmer der Stichprobe in regulären schulischen Einrichtungen angemeldet. Eine reale Partizipation am Schulalltag fand jedoch nicht statt. 42 Zum Zeitpunkt FU1 waren 25 Probanden (70,0 %) und zu FU2 26 (72,8 %) im regulären Schulsystem oder in einem stabilen Beschäftigungsverhältnis integriert. Damit blieb der Anteil dieser Gruppe auch im Vergleich zum Entlasstag stabil. In 11 Fällen (30,8 %) wurde der Schulbesuch im geschützten schulischen Rahmen (Förderschule oder Klinikschule) bis zum Entlasstag realisiert. Zu FU1 wurde dieses Angebot von 9 (25,2 %) Schülern angenommen und zu FU2 noch von 6 (16,8 %). Ein negatives Outcome bei Beendigung der stationären Therapie kam nur in einem (2,8 %) Fall der Stichprobe vor. Hier stand man am Entlassungstag einem kompletten Abbruch der Schullaufbahn mit fehlender weiterer schulischer oder beruflicher Perspektive gegenüber. 2 Monate später zu FU1 stieg die Zahl auf 2 (5,6 %) Jugendliche, 9 Monate später zu FU2 auf 4 (11,2 %). Darstellung 3 - Anbindung an die verschiedenen Schulformen 100 % 1 1 1 2 11 9 90 % 80 % 4 6 Abbruch der schulischen Karriere 70 % 60 % 50 % 35 Geschützter schulischer Rahmen 35 40 % 30 % 24 25 26 Post FU1 FU2 20 % Reguläres Schulsystem/stabiles Beschäftigungsverhältnis 10 % 0% Prä1 Prä2 3.2 Veränderungen von psychischen Auffälligkeiten In den folgenden Abschnitten werden die Ergebnisse zur Entwicklung der psychischen Probleme während des gesamten Studienverlaufs vorgestellt. Es finden sowohl eine genaue Beobachtung der Behandlungsphase wie auch ein Vergleich dieser zur Wartephase und zum poststationären Verlauf statt. 43 Die psychische Entwicklung während der Behandlungsphase wird durch die Multilevel-Analyse und die Darstellung der Effektstärken der Composite Scores ausgewertet. Der direkte Vergleich des Verlaufs der psychischen Probleme während der Wartephase und während der Behandlungsphase wird durch die Ergebnisse der Multilevel-Analysen und die Darstellung der Effektstärken der Selbst- und Fremdbeurteilungsbogen des DISYPS-KJ dargestellt. Ebenso werden dazu die Ergebnisse zur RCI-Berechnung und auf normativer Ebene vorgestellt. Eine Einschätzung des Behandlungserfolgs im poststationären Verlauf bietet die Auswertung des Testinstrumentes SELBST. 3.2.1 Psychische Probleme während der Behandlungsphase Tabelle 2 stellt die Ergebnisse der Multilevel-Analyse und die Effektstärken der psychischen Probleme dar. Diese waren zu fünf sogenannten Composite Scores aggregiert. Die Veränderungen werden hier als Steigungsraten von Prä2 bis FU1 veranschaulicht. Das entspricht dem Behandlungsintervall. Signifikante mittlere bis große Effekte in den Jugend- und Elternfragebogen konnten als Indikatoren für eine mittlere bis große Reduktion der mentalen gesundheitlichen Störungen zur Beurteilung der Therapieeffekte während der Behandlungsphase gelten. 44 Tabelle 2 - Ergebnisse der Multilevel-Analysen und Darstellung der Effektstärken (Cohen′s d) im Jugend- und Elternurteil (n = 36) – Composite Scores Prä2 b Follow-up 1 Multilevel-Analyse Unstandardisierter Koeffizient a Skala Effektstärke d M SD M SD ANGDEP-J 0,00 0,71 −0,49 0,70 ANGDEP-E 0,00 0,58 −0,73 0,65 EXPANS-J 0,00 0,69 −0,36 0,70 EXPANS-E 0,00 0,75 −0,50 0,59 ARBEIT-J 0,00 0,73 −0,39 0,74 bbehandl bbehandl bbehandl bbehandl bbehandl T df p −0,14 −5,12 70 < 0,001 0,85 −0,21 −7,04 70 < 0,001 1,17 −0,10 −3,35 70 < 0,01 0,56 −0,14 −5,28 70 < 0,001 0,88 −0,11 −2,39 70 < 0,05 0,40 a ANGDEP-J: Composite Score aus Angst/Depression im Jugendurteil; ANGDEP-E: Composite Score aus Angst/Depression im Elternurteil; EXPANS-J: Composite Score aus expansivem Verhalten im Jugendurteil; EXPANS-E: Composite Score aus expansivem Verhalten im Jugendurteil; ARBEIT-J: Composite Score aus Arbeitsverhalten im Jugendurteil b bbehandl – Kurvenverlauf während der Behandlungsphase von Prä2 bis FU1 45 3.2.2 Psychische Probleme während der Behandlungs- und Wartephase im Vergleich Ergebnisse auf Ebene der Multilevel-Analysen und Effektstärken In Tabelle 3 sind die Ergebnisse der Multilevel-Analyse der Selbst- und Fremdfragebogen bezüglich der Störungsbilder Angst, Depression und ADHS (SBBANG, SBB-DEP, SBB-HKS, FBB-ANG, FBB-DEP und FBB-HKS) für die Zeiträume Prä1 bis Prä2 (Steigungskurven kurven ) und Prä2 bis FU1 (Steigungs- ) zusammengefasst. Keines der Messinstrumente zeigte eine signifikante Reduktion der untersuchten Problematiken Angst, Depression und ADHS während der Wartezeit an. Während der Behandlungsphase hingegen konnten mittlere bis große Veränderungen mit Ausnahme der Werte der ADHS-Selbstfragebogen (kein signifikanter Therapieeffekt) erzielt werden. Der Vergleich dieser Steigungskurven versus brachte keine signifikanten Unterschiede, das heißt, dass im engeren Sinne keine signifikanten Behandlungseffekte belegt werden konnten. 46 Tabelle 3 - Ergebnisse der Multilevel-Analysen und Darstellung der Effektstärken (Cohen′s d) im Jugend- und Elternurteil (n = 36) – DISYPS-KJ b Prä1 Prä2 FU1 Multilevel- Analyse Effektstärke d a Skala bwarte Unstandardisierter Koeffizient Prä1 bis Prä2 Prä2 bis FU1 vs bbehandl M SD M SD M SD t df p bwarte −0,12 −0,92 105 n.s. SBB-DES 0,85 0,45 0,77 0,49 0,51 0,68 n.s. −0,27 −0,43 bbehandl −0,07 −2,96 105 <0,01 bwarte −0,06 −0,64 105 n.s. SBB-ANG 0,67 0,47 0,63 0,55 0,34 0,37 n.s. −0,14 −0,66 bbehandl −0,08 −4,54 105 <0,001 bwarte −0,26 −1,43 105 n.s. SBB-HKS 0,78 0,50 0,61 0,49 0,52 0,81 n.s. −0,40 −0,10 bbehandl −0,02 −0,71 105 n.s. bwarte −0,12 −1,03 105 n.s. FBB-DES 1,12 0,51 1,04 0,49 0,47 0,45 n.s. −0,21 −1,23 bbehandl −0,16 −7,57 105 <0,001 bwarte −0,07 −0,69 105 n.s. FBB-ANG 0,76 0,41 0,71 0,42 0,42 0,39 n.s. −0,08 −0,61 bbehandl −0,08 −4,18 105 <0,001 bwarte −0,12 −0,99 105 n.s. FBB-HKS 0,84 0,52 0,76 0,55 0,45 0,44 n.s. −0,20 −0,59 bbehandl −0,09 −3,80 105 <0,001 a SBB-DES, FBB-DES: Selbst- und Fremdbeurteilungsbogen für depressive Störungen; SBB-ANG, FBB-ANG: Selbst- und Fremdbeurteilungsbogen für Angststörun- gen und Phobien; SBB-HKS, FBB-HKS: Selbst- und Fremdbeurteilungsbogen für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung b bwarte – Steigungskurve während der Wartezeit von Prä1 zu Prä2; bbehandl – Steigungsrate während des Behandlungsintervalls von Prä2 zu FU1 47 Ergebnisse auf Ebene des Reliable Change Index Im Folgenden sind die Ergebnisse zur Bildung des Reliable-Change-Index zu den Selbst- und Fremdfragebogen des DISYPS-KJ beschrieben. Die Gegenüberstellung der Wartephase zur Behandlungsphase zeigt eine deutliche Tendenz: So gibt es bei jedem Fragebogen zu den drei Störungsfeldern aller 36 Patienten sowohl im Eltern- als auch im Selbsturteil eine Reduktion in der Angabe „keine Veränderung“ von der Wartezeit bis zur Behandlungsphase, was bedeutet, dass eine Veränderung durch die Behandlung stattfindet. Zudem entwickelt sich die Qualität der psychischen Probleme in allen Fragebogen mehr in Richtung einer „reliablen Verbesserung“ als in Richtung einer „reliablen Verschlechterung“. Tabelle 4 - Ergebnisse der RCI-Berechnung (n = 36) − DISYPS-KJ Wartephase Behandlungsphase Skala SBBDES SBBANG SBBHKS FBBDES FBBANG FBBHKS (Prä1 bis Prä2) (Prä2 bis FU1) Häufigkeit Prozent Häufigkeit Prozent Reliable Verschlechterung 2 5,6 4 11,1 Keine Veränderung 31 86,1 20 55,6 Reliable Verbesserung 3 8,3 12 33,3 Reliable Verschlechterung 2 5,6 0 0 Keine Veränderung 30 83,3 25 69,4 Reliable Verbesserung 4 11,1 11 30,6 Reliable Verschlechterung 2 5,6 4 11,1 Keine Veränderung 30 83,3 22 61,1 Reliable Verbesserung 4 11,1 10 27,8 Reliable Verschlechterung 2 5,6 0 0 Keine Veränderung 30 83,3 13 36,1 Reliable Verbesserung 4 11,1 23 63,9 Reliable Verschlechterung 1 2,8 2 5,6 Keine Veränderung 31 86,1 24 66,7 Reliable Verbesserung 4 11,1 10 27,8 Relilable Verschlechterung 3 8,3 2 5,6 Keine Veränderung 26 72,2 19 52,8 Reliable Verbesserung 7 19,4 15 41,7 Reliable Change Index Fasst man die Aussagen aller Fragebogen zu den Störungsbereichen Angst, Depression und ADHS zusammen, stellt sich die reliable Verschlechterung zu 48 beiden Phasen als gleichwertig dar (5,6 %). Keine Veränderungen in der Selbst- und Fremdbeurteilung werden in der Wartephase in 82,4 % der Fälle angegeben. Während der Behandlungsphase sinkt diese Zahl auf 56,9 %. Dafür wird eine reliable Verbesserung der Symptomatiken erkannt, denn diese steigt von 12,0 % in der Wartephase auf 37,5% in der Behandlungsphase an. Darstellung 4 - Ergebnisse der RCI-Berechnung bei den 216 insgesamt ausgewerteten Fragebogen (n= 36) – DISYPS-KJ 100 % 90 % 26 81 80 % 70 % 60 % 50 % Reliable Verbesserung Keine Veränderung 178 40 % Reliable Verschlechterung 123 30 % 20 % 10 % 0% 12 12 Wartephase Behandlungsphase Diese Entwicklung sei am Beispiel der Entwicklung der Ergebnisse des SBBDES exemplarisch veranschaulicht: Während der Wartephase geben 31 Probanden (86,1 %) keine reliable Veränderung bei der Selbsteinschätzung der depressiven Störung an. 2 Jugendliche verschlechtern sich reliabel und stehen 3 Jugendlichen, die sich reliabel verbessern, mengenmäßig ausgewogen gegenüber. Während der Behandlungsphase findet eine Abwanderung derer statt, die vorher keine Veränderung aufwiesen. Lediglich 20 Jugendliche (55,6 %) propagieren, keine Veränderung in der depressiven Störung erfahren zu haben. Dieser Anteil hat sich im Behandlungsverlauf zugunsten der reliablen Verbesserung verschoben. Hier sind mengenmäßig die Probanden, die eine reliable Verbesserung bieten, denen, die die Bewertung einer reliablen Verschlechterung erhalten, klar überlegen. Es liegt ein Verhältnis von 4 Jugendlichen (11,1 %) mit reli- 49 abler Verschlechterung im SBB-DES zu 12 Jugendlichen mit reliabler Verbesserung (33,3 %) vor. In den Fremdbeurteilungsbogen zur Depression erhält kein Patient mehr die Bewertung einer reliablen Verschlechterung, wohingegen es im Verlauf der Wartezeit immerhin noch zwei Jugendliche waren. Stattdessen steigt die Zahl derer, die sich reliabel in ihrer Symptomatik verbessern, von 4 Jugendlichen (11,1 %) auf 23 (63,9 %). Darstellung 5 - Ergebnisse der RCI-Berechnung (n =36) − DISYPS-KJ: Depression: Warte- und Behandlungsphase im Vergleich 3 4 12 23 31 30 20 2 4 2 0 SBB-DES (Behandlungphase) FBB-DES (Wartephase) FBB-DES (Behandlungsphase) 13 SBB-DES (Wartephase) 100 % 90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0% Reliable Veränderung Keine Veränderung Reliable Verschlechterung Ergebnisse auf Ebene des normativen Vergleichs Die normorientierte Berechnung zu den Selbst- und Fremdfragebogen des DISYPS-KJ fand zu den Messzeitpunkten Prä1, Prä2 und FU1 statt. Die Ergebnisse werden in Tabelle 5 dargestellt. Bei der Kategorisierung der Studienteilnehmer in „unauffällig“ und „klinisch“ fällt im Verlauf der drei Messpunkte ein deutlicher Trend bei allen Testinstrumenten auf. Der Anteil der „Klinischen“, in allen drei Störungsfeldern zusammenfassend betrachtet, verringert sich von 56,9 % (123 klinische Klassifikationen) zu Prä1 auf 22,2 % (48 klinische Klassifikationen) zu FU1 (Prä2: 45,3 %; 98 klinische Klassifikationen). 50 In allen Testinstrumenten ist der Teil der Probanden, die in den Störungsfeldern Depression, Angst und ADHS zu Prä1 als klinisch galten, größer als nach der Behandlung zu FU1. Während der Wartephase bleibt das Ausmaß der Symptome entweder gleich (FBB-DES, FBB-ANG) oder erfährt nur einen leichten Rückgang. Bedeutsam ist hierbei, dass die Veränderungen der psychischen Verfassung im Zuge der Therapie in Richtung von „klinisch“ nach lig“ passieren. In keinem Fall (Ausnahme: SBB-HKS) übersteigt das Ausmaß der positiven Veränderung auf Ebene der psychischen Veränderungen die, die während der Behandlungsphase erreicht werden. Dies bedeutet, dass sich die stationäre Behandlung positiv auf die psychischen Störungsbilder Depression, Angst und ADHS auswirkt. Dies wird in den Darstellungen 6 und 7 grafisch gezeigt. Die Symptome vieler Patienten mindern sich in ihrer Ausprägung so stark, dass sie nach der Behandlung als im Normbereich liegend klassifiziert werden. 51 Tabelle 5 - Ergebnisse der normorientierten Berechnung (n = 36) − DISYPS-KJ Prä1 Prä2 FU1 Normative Skala Analyse Häufigkeit Prozent Häufigkeit Prozent Häufigkeit Prozent Unauffällig 90. 16 44,4 19 52,8 27 75,0 SBB- Perzentil DES Klinisch 90. 20 55,6 17 47,2 9 25,0 Perzentil Unauffällig 90. 24 66,7 27 75,0 31 86,1 SBB- Perzentil ANG Klinisch 90. 12 33,3 9 25,0 5 13,9 Perzentil Unauffällig 90. 27 75,0 31 86,1 29 80,6 SBB- Perzentil HKS Klinisch 90. 9 25,0 5 13,9 7 19,4 Perzentil Unauffällig 90. 5 13,9 5 13,9 22 61,1 FBB- Perzentil DES Klinisch 90. 31 86,1 31 86,1 14 38,9 Perzentil Unauffällig 90. 8 22,2 8 22,2 24 66,7 FBB- Perzentil ANG Klinisch 90. 28 77,8 28 77,8 12 33,3 Perzentil Unauffällig 90. 23 63,9 28 77,8 35 97,2 FBB- Perzentil HKS Klinisch 90. 13 36,1 8 22,2 1 2,8 Perzentil In der Fremdbeurteilung zur depressiven Störung werden zum Screening und zur Aufnahme noch 31 Jugendliche als klinisch erkannt, zum FU1 sind es nur noch 50 % – und zwar 14 Probanden. 52 Darstellung 6 - Ergebnisse der normorientierten Berechnung (n = 36) − DISYPS-KJ: Depression und Angst, Prozentsatz klinisch auffälliger Kinder 100 % 90 % 80 % 31 31 28 28 70 % 60 % SBB-DES 20 FBB-DES 50 % 17 40 % 30 % 14 12 12 9 SBB-ANG FBB-ANG 9 20 % 5 10 % 0% Prä1 Prä2 FU1 Gesondert ist die Kurve zum Testinstrument SBB-HKS zu beschreiben. Beim SBB-HKS gelten zur ersten Erhebung 9 Jugendliche (25 %) als klinisch, zu Prä2 sind es 5 Patienten (13,9 %), und zum FU1 sind es wieder 7 (19,4 %). Dieses Testinstrument zeigt als einziges eine Verschlechterung der ADHSProblematik während der Behandlungsphase. 53 Der Verlauf der Erkrankung ADHS ist im Folgenden gesondert dargestellt: Darstellung 7 - Ergebnisse der normorientierten Berechnung (n = 36) − DISYPS-KJ: ADHS, Prozentsatz klinisch auffälliger Kinder 50 % 45 % 40 % 35 % 13 30 % 25 % 9 SBB-HKS 8 20 % FBB-HKS 7 15 % 5 10 % 5% 1 0% Prä1 Prä2 FU1 3.2.3 Psychische Probleme im poststationären Verlauf Zur Bewertung des poststationären Verlaufs wurde das Testinstrument SELBST eingesetzt. Die Ergebnisse wurden zunächst über Multilevel-Modeling auf ihre statistische Signifikanz hin analysiert. Zur Klärung der klinischen Signifikanz wurden RCI-Berechnungen durchgeführt. Ein normorientierter Vergleich wurde mit dem SELBST nicht angestellt, da es keine beschriebene Bezugsstichprobe in der Literatur gibt. Ergebnisse auf Ebene der Multilevel-Analysen und Effektstärken Zwecks Prüfung der Entwicklung der psychischen Probleme während der Follow-up-Phase (von FU1 bis FU2: ) wurden die Gesamtskalen der SELBST-Fragebogen im Eltern- und Jugendlichenurteil ausgewertet. Wie Tabelle 6 zeigt, resultierten keine signifikanten Veränderungen während der Follow-up-Periode. Die erzielten Werte waren sehr niedrig und indizierten geringfügige mentale gesundheitliche Probleme (ein Mittelwert von 1 steht für Ein- 54 schränkung kleiner Ausprägung; Walter, Radermacher, Schürmann und Döpfner 2007). Tabelle 6 - Ergebnisse der Multilevel-Analysen und Darstellung der Effektstärken (Cohen′s d) im Jugend- und Elternurteil (n = 36) − SELBST Effektstärke d FU1 FU2 Multilevel-Analyse b Follow-Up a (FU1 bis FU2) Skala SELBSTJugendurteil SELBSTElternurteil Unstandardisierter M SD M SD 1,01 0,22 1,12 0,26 bfollow-up 1,07 0,24 1,10 0,27 bfollow-up bfollow-up t Df p 0,01 1,85 70 n.s. 0,29 0,01 0,73 70 n.s. 0,12 Koeffizient vs bbehandl a SELBST: SELBST-Fragebogen im Jugend- und im Elternurteil b bfollow-up – Steigungskurve während der Follow-up-Phase von FU1 bis FU2 Ergebnisse auf Ebene des Reliable-Change-Index Um die Entwicklung der psychischen Probleme nach Beendigung der stationären Therapie genauer zu klären, wurden die Ergebnisse des SELBST dann auch auf ihren RCI hin begutachtet. Hier konnten zufriedenstellende Werte herausgearbeitet werden. Tabelle 7 zeigt, dass in der Mehrzahl der Fälle die Probanden keine Veränderungen erlebten und damit die Therapieeffekte für den Follow-up-Zeitraum als stabil gelten können. Der Reliable-Change-Index zeigte für die Jugendlichen im Jugendurteil in 66,7 % und im Elternurteil in 75 % der Stichproben keine Veränderung an. Dieses Ergebnis entspricht denen des SELBST auf Mittelwertsebene, denn diese sprechen durch das Ausbleiben von Veränderungen auch für Stabilität (siehe Tabelle 6). 55 Tabelle 7 - Ergebnisse der RCI-Berechnung im Jugend- und Elternurteil (n = 36) − SELBST Follow-up (von FU1 bis FU2) Skala Reliable Change Index Häufigkeit Prozent SELBST – im Jugendurteil SELBST – im Elternurteil Reliable Verschlechterung 7 19,4 Keine Veränderung 24 66,7 Reliable Verbesserung 5 13,9 Reliable Verschlechterung 7 19,4 Keine Veränderung 27 75,0 Reliable Verbesserung 2 5,6 Bei genauerer Betrachtung der Patienten, die hier keine Stabilität erreichen, fällt das leicht ungleiche Verhältnis zugunsten der reliablen Verschlechterung auf. Im Jugendurteil verbessern sich reliabel 5 (13,9 %) Jugendliche. Diesen stehen 7 Jugendliche (19,4 %) gegenüber, die sich verschlechtern. Im Elternurteil verteilen sich die reliablen Veränderungen auf 2 Verbesserungen (5,6 %) und 7 (19,4 %) Verschlechterungen. Diese Entwicklung ist als leichter Wiederanstieg der emotionalen Probleme bei sonst zufriedenstellender Stabilität zu charakterisieren. Grafisch ist die Stabilitätsprüfung in Darstellung 8 umgesetzt. Darstellung 8 - Ergebnisse der RCI-Berechnung (n = 36) − SELBST 100 % 90 % 5 2 80 % 70 % Reliable Verbesserung 60 % 50 % 24 27 Keine Veränderung 40 % Reliable Verschlechterung 30 % 20 % 10 % 7 7 Jugendurteil Elternurteil 0% 56 4 Diskussion 4.1 Verlauf der Studie Diese Studie (Walter 2011) stellt die erste kontrollierte Studie in der Literatur dar, die eine kognitive Verhaltenstherapie im offen stationären Setting für die Behandlung von Jugendlichen mit chronischem Schulabsentismus und psychischen Einschränkungen (emotionalen Störungen mit oder ohne zusätzliche expansive Auffälligkeiten) untersucht. Die gewonnenen Ergebnisse liefern Hinweise für die Wirksamkeit der hier angewandten kognitiven Verhaltenstherapie. Zu Studienbeginn zeigten alle Patienten ein ausgeprägtes und chronisches schulverweigerndes Verhalten, kombiniert mit einer breiten Facette an psychischen Störungen. Während der Wartezeit traten keine Veränderungen des schulabsentistischen Verhaltens oder der emotionalen Störungen auf. Mit Beginn der stationären Therapie von Prä2 bis 2 Monate nach Beendigung dieser (FU1) wurde ein starker und hochsignifikanter Rückgang des Schulfernbleibens erreicht. Dann musste ein moderates und signifikantes Nachlassen der Effekte in der poststationären Beobachtung von FU1 bis FU2 akzeptiert werden. Dennoch fällt die Ausprägung des Schulfehlens 9 Monate nach Therapieende (FU2) beachtlich geringer aus als zu Beginn der Behandlung; zum FU2 bestand ein regelmäßiger Schulbesuch in 63,9 % der Fälle im Vergleich zu 86,1 % zum Messzeitpunkt FU1. Das Nachlassen des regelmäßigen Schulbesuchs um 22 % muss vor dem Hintergrund der gestellten Operationalisierung der zentralen abhängigen Variablen (regelmäßiger Schulbesuch versus unregelmäßiger Schulbesuch) gesehen werden. Die Wertung „unregelmäßiger Schulbesuch“ ergibt sich schon aus einem Fernbleiben der Schule von mindestens einem Tag innerhalb von 2 Wochen. Zieht man nun weitere Analysen zur Charakterisierung des schlechter werdenden Schulverhaltens zu den Messpunkten FU1 und FU2 hinzu, wird demonstriert, dass der große Teil der schulverweigernden Probanden zu den beiden poststationären Erhebungszeitpunkten einen unregelmäßigen Schulbesuch in milder Form aufweisen. Die mittlere Ausprägung beläuft sich auf M = 0,5 versäumte Schultage pro Woche seit des letzten Erhebungszeitpunkts. Lediglich 3 Probanden (8,3 %) brachten es zum FU1 und 5 (13,9 %) zum FU2 zu einem 57 eher ungünstigen Outcome mit einer Fehltagerate von M = 1,42 Tagen pro Woche zu FU1 und von M = 1,67 zu FU2 jeweils seit der letzten Erhebung. Die Mehrheit der Probanden, die wieder in unregelmäßiges Schulverhalten zurückfiel, wies zu FU1 nur ein paar einzelne Fehltage auf. Das Gleiche galt auch zum Zeitpunkt der zweiten Katamnese, so dass man auch hier von Schulverweigerung in milder Form innerhalb der vergangenen 7 Monate sprechen kann. Während im poststationären Verlauf zwischen FU1 und FU2 ein mittleres und signifikantes Nachlassen des regelmäßigen Schulbesuchs auftrat, blieben die Behandlungserfolge hinsichtlich psychischer Störungen in allen Prüfungen stabil (Walter 2011). Mit dem zweiten Analysebereich wurde versucht, die Entwicklung der psychischen Probleme zu beurteilen. Hierzu wurden 5 Composites Scores für die große Menge an Testinstrumenten erstellt. Es ergaben sich überwiegend mittlere bis große Effekte für die Störungsbilder Angst, Depression, expansive Störungen und Lernverhaltensstörungen bei der Auswertung der Eltern- und Jugendlichenurteile während der Behandlungsphase. Zur Bewertung der Therapiewirksamkeit bezüglich spezifischer psychischer Probleme (Angst, Depression und ADHS) wurden die Testergebnisse aus der Wartezeit mit denen der Behandlungsphase mittels Multilevel-Analyse verglichen. Die Ergebnisse während der Wartezeit zeigten keinerlei Veränderungen und die der Behandlungsphase meist mittlere bis große Effektgrößen. Gleichwohl konnte die Gegenüberstellung der Steigungskurven keine signifikanten Effekte hinsichtlich dieser Variablen zeigen. Als mögliche Erklärung könnte hier gelten, dass die eingesetzten Testinstrumente nicht sensibel genug für die Veränderungen der psychischen Probleme waren. Als andere mögliche Erklärung könnte herangezogen werden, dass die spezielle Form der angebotenen Therapie mehr auf die Verminderung des Schulfehlens und auf die Reintegration in das Regelschulsystem abgezielt hatte, nicht aber den Anforderungen zur Verbesserung der psychischen Komorbiditäten genügte. In diesem Fall müsste das Behandlungskonzept modifiziert werden, um auch den psychischen Problemen noch gerechter zu werden. Dazu muss kritisch angemerkt werden, dass jedoch die im Einleitungsteil beschriebenen Ergebnisse der vier klinischen Untersuchungen, die durch Anwendung kognitiver Verhaltenstherapie große Effekte in 58 der Verbesserung der psychischen Probleme zeigten, der Forderung nach notwendiger Modifikation des Behandlungskonzeptes entgegenstehen. Ein dritter möglicher Ansatz wäre, dass die Verwendung von MultilevelAnalysen unter Einteilung von Zeitabschnitten zu berücksichtigen ist. In den Analysen konzentrierte man sich auf zwei verschiedene zeitliche Abschnitte. Man versuchte, durch Gegenüberstellung von und die Behand- lungseffekte hinsichtlich der psychischen Probleme herauszustellen. Bei genauerer Betrachtung der Längen der Zeitabschnitte wird offensichtlich, dass sie unterschiedlich ausfallen. So erstreckt sich die Wartephase über ein Mittel von 16,7 Tagen, und der deutlich längere Behandlungszeitraum umfasst eine mittlere Dauer von 16,2 Wochen (zusammengesetzt aus M = 8,2 Wochen für den Abschnitte der stationären Behandlung plus M = 8,0 Wochen bis zum Messzeitpunkt FU1). Die Reduktion der Symptome während der kurzen Wartephase könnte letzten Endes zumindest teilweise den Wiederholungseffekten der eingesetzten Messinstrumente zugeschrieben werden, die unabhängig von der Dauer zwischen zwei Messzeitpunkten kaum zu verhindern sind und bei sehr kurzen Zeitabschnitten zusätzlich größer ausfallen. Es kann daher über einen Ansatz einer zeitlichen Ausdehnung der Wartephase nachgedacht werden, so dass mit ähnlich absoluter Reduktion und mit niedrigeren Steigungskurven gerechnet werden könnte. Um aber wieder auf die Ebene der praktischen Umsetzung zu gelangen, sei an den unethischen Aspekt von artifiziellen und für den Patienten mit seinem Leidensdruck unnötig längeren Wartezeiten erinnert. Die Multilevel-Analyse wurde als moderne Berechnungsmethode für das vorliegende Eigenkontrollgruppen-Design ausgewählt (Raudenbush und Bryk 2002). Die Entscheidung fiel gegen Alternativen wie ANOVA oder MANOVA, die mit wiederholenden Messinstrumenten arbeiten und zur Wirksamkeitstestung bei einem direkten Vergleich von Symptomentwicklungen über verschiedene Zeitabschnitte nicht einsatzfähig sind. Die allgemeinen Vorteile des Eigenkontrollgruppendesigns wurden bereits im Abschnitt über das Untersuchungsdesigns benannt (geringerer Aufwand der Rekrutierung der Probanden sowie die Möglichkeit der adäquaten Behandlung für jeden einzelnen Probanden). Als allgemeine Nachteile des Designs müssen die Lerneffekte der Probanden gelten, die sich auf die Testergebnisse auswirken könnten, allerdings wurde in dieser Studie auf den Einsatz von wechseln59 den Testinstrumenten bereits hingewiesen. Damit schließen sich mögliche Übertragungseffekte sowie Lerneffekte weitgehend aus. Weitere Erhebungen mittels anderer Designs (z. B. mit Installation einer parallelen Kontrollgruppe) müssten angestellt werden, um diese potenziellen methodologischen Schwächen auszuräumen. 4.2 Einordnung der Ergebnisse in den aktuellen Forschungsstand Abschließend kann festgehalten werden, dass die Ergebnisse eine starke Reduktion des schulabsentistischen Verhaltens unter der angewandten kognitivbehavioralen Therapie zeigen und mit den vier oben beschriebenen Studien, die ebenfalls eine starke Reduktion von Schulabsentismus unter kognitiver Verhaltenstherapie zeigen, übereinstimmend vergleichbar sind. Drei der Studien (Blagg und Yule 1984; King et al. 1998; Last, Hansen und Franco 1998) erbringen den Beweis der Wirksamkeit kognitiver Verhaltenstherapie im ambulanten Setting bei Jugendlichen mit ängstlich begründetem Schulabsentismus. Außerdem bietet der in dieser Arbeit zusätzliche Fokus auf Patienten mit schweren Beeinträchtigungen (mit einer größeren Vielfalt an komorbiden psychischen Problemen und in den meisten Fällen gescheiterten ambulanten Behandlungsversuchen im Vorfeld) eine weitere Bekräftigung der sich abzeichnenden Meinungsbildung dieses Behandlungsfeldes. Eine vorausgegangene Studie von Walter und Koautoren (2010), die sich durch eine größere Stichprobe auszeichnete, stellt neben dieser die einzige systematisch prüfende Arbeit zur Wirksamkeit stationärer leitliniengerechter kognitiver Verhaltenstherapie dar. Im Gegensatz zu der zuletzt genannten Forschungsarbeit, die auch eine starke Reduktion von schulabsentistischem Verhalten unter Begleitung von psychischen Störungen zeigte, wurden hier die großen Schwächen beseitigt, indem nun eine Kontrollgruppe geschaffen wurde und auch der langzeitliche Verlauf hinsichtlich der Stabilität der erzielten Therapieerfolge analysiert wurde. Es gelang, die Ergebnisse zu bekräftigen, indem man Belege erbrachte, dass die beobachteten Effekte eindeutig der Behandlung zugeschrieben werden können. Darüber hinaus zeigen die neuen Ergebnisse, dass die Behandlungseffekte trotz eines poststationären Nachlassens des regelmäßigen Schulbesuchs über 9 Monate im Allgemeinen aufrechterhalten werden können, und damit als befriedigend und stabil angesehen werden können. Ein Vergleich der vorliegenden Arbeit mit der 60 von Walter und Koautoren (2010) ist übrigens angebracht, da die gleichen Outcome Scores zur Operationalisierung von Schulabsentismus eingesetzt wurden. Kombiniert man nun die Resultate beider Forschungsarbeiten, gelingt das Argument für die Wirksamkeit der eingesetzten kognitiv-behavioralen Therapie im stationären Setting. Auch die Übersichtsarbeit von Pina 2009 setzt 15 Einzel- und Gruppendesigns einem Vergleich hinsichtlich der Wirksamkeit der Behandlung von Schulabsentismus aus und formuliert eine Überlegenheit von verhaltenstherapeutischen und kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungsansätzen gegenüber anderen Interventionen. Analysen bezüglich der gruppierten Schultypen legen dar, dass zum FU1 9 Jugendliche (25, 2 %) und zum FU2 6 Jugendliche (16,8 %) eine spezielle Beschulung im geschützten Raum benötigten, was darauf hinweisen könnte, dass Jugendliche mit chronischem Schulabsentismus eines geschützten Schulsettings über mehrere Monate bedürfen, das kleinere Klassengrößen und spezial geschultes Lehrpersonal bietet, um einen erfolgreichen Schulbesuch aufzuweisen. Bei der Interpretation dieser Ergebnisse muss berücksichtigt werden, dass zu FU1 75 % der Probanden und zu FU2 80,6 % einen wöchentlichen ambulanten Therapietermin in Anspruch nahmen. Die nahtlose ambulante psychotheraupeutische Weiterbehandlung mit kognitiv-behavioralem Schwerpunkt mag den Therapieeffekten Stabilität gegeben haben. Weitere Analysen müssen den speziellen Beitrag des nahtlosen Übergangs in eine ambulante Therapie nach der stationären Behandlung klären. Auch in Hinblick auf die vielversprechenden Ergebnisse muss die Arbeit hinsichtlich einzelner Schwächen diskutiert werden. 4.3 Grenzen der Arbeit Die Studienergebnisse sind vielversprechend. Dennoch müssen die Schwächen der vorliegenden Studie diskutiert werden. Die methodologische Schwäche, die sich aus der kurzen Wartephase ergibt, wurde bereits besprochen. Ebenso wichtig zu erwähnen ist aber auch die Tatsache, dass für die Analyse des Verlaufs der psychischen Einschränkungen ein Wechsel in den eingesetzten Testinstrumenten zu den verschiedenen Erhebungszeitpunkten stattgefunden hatte. 61 Hintergründe dafür waren der Wunsch, die psychischen Störungen mit einer großen Auswahl an standardisierten Testverfahren zu prüfen, und zweitens die Bedenken, die Compliance der Probanden durch Überfrachtung durch zu viele und sich ständig wiederholende Testfragen zu gefährden. Prä2 und FU1 wurden zu Hauptmesspunkten erklärt, zu denen alle beschriebenen Testinstrumente gleichermaßen zum Einsatz kamen. Bei den anderen Erhebungen konzentrierte man sich auf eine Auswahl an Tests. Allein bei den Analysen zu den Schulfehltagen werden Daten zu Post erhoben. Trotzdem wählte man die Einteilung der Zeitabschnitte der Behandlungsphase von Prä1 bis FU1 und der poststationären Phase von FU1 bis FU2. Kritisch könnte man sagen, dass alle Veränderungen zwischen Entlassung und FU1 stattgefunden haben könnten. Gründe für die Wahl dieser Zeitabschnitte lagen in der Möglichkeit der Vereinheitlichung und somit in der leichteren Vergleichbarkeit von Zeitabschnitten mit der größtmöglichen Anzahl an Testinstrumenten, da man bei Post z. B. auf die Fremdbeurteilungsbogen durch die Eltern verzichten musste. Die Arbeit von Walter und Kollegen (2011) kommt dieser deutlichen Schwäche nach, indem hier zeitliche Abschnitte zum Teil modifiziert wurden und sich die Behandlungsphase damit sich von Prä1 bis Post respektive poststationär von Post bis FU2 erstreckte. Zudem fehlt auch bei dieser Arbeit eine Kontrolle der Einflüsse begleitender Maßnahmen. Um den individuellen Beitrag der beschriebenen Interventionen genauer fassbar zu machen, sollten Moderator- und Mediatoranalysen untersucht werden. Die Effekte können nicht definitiv der beschriebenen manualgeleiteten kognitiv-behavioralen Behandlung zugeschrieben werden. In der Übersichtsarbeit von Pina von 2009 resultiert diese Forderung bei der Bewertung psychosozialer Interventionen im Vergleich der verschiedenen Behandlungsdesigns bei Schulabsentismus als eine der Kernforderungen. Als weitere methodologische Schwäche wird ebenfalls die Art der eingebrachten Kontrolleinheit gelten müssen. Kritisch könnte man nach einer Kontrollgruppe in randomisiertem Stil fragen, die mit einem alternativen Verfahren auch aktiv behandelt würde. Dann wäre eine höhere methodologische Qualität zu erzielen. 62 4.4 Ausblick Neben diesen Einschränkungen liefern diese Ergebnisse einen weiteren Beleg für die Wirksamkeit stationärer kognitiver Verhaltenstherapie (CBT) bei Jugendlichen mit Schulverweigerung und einer zusätzlichen Mischung von emotionalen und expansiven Symptomen. Die Ergebnisse legen nahe, dass es von großem Wert sein kann, die Eltern in die Therapie aktiv einzubeziehen und eine enge Zusammenarbeit mit der Institution Schule herzustellen. Offenbar benötigt ein Teil der Jugendlichen nach Abschluss der Therapie zusätzlich eine Schulform in geschütztem Raum. Kleinere Klassengrößen und speziell geschulte Lehrer mögen da hilfreich sein. Es ist wahrscheinlich, dass ein nahtloser Übergang in eine ambulante verhaltenstherapeutische Weiterbehandlung notwendig ist, um Therapieeffekte längerfristig aufrechterhalten zu können. Für die Zukunft bedeutet dies, dass weitere klinische Studien in randomisiertem Design und mit größerer Stichprobe zur weiteren Bekräftigung dieser Ergebnisse bezüglich der Behandlung von schulabsentistischen Jugendlichen mit komorbiden psychischen Beeinträchtigungen erforderlich sind. Spezifische Moderator- und Mediatoranalysen werden Einblick in den therapeutischen Ablauf schaffen können und so hilfreiche Schlüsse zum Verständnis der sich abspielenden Mechanismen liefern können. Ebenso berücksichtigt diese Arbeit nicht die Gruppe von Jugendlichen und Kinder, die der Schule fernbleiben, um attraktiveren Dingen nachzugehen. Grund für die unterrepräsentierte Gruppe kann sein, dass die betroffenen Jugendlichen eher in Kontakten zu Jugendämtern auffällig werden (Pina 2009; Lyon & Cotler 2007) und hier eine bessere Vermittlung zu kinder- und jugendpsychiatrischen Institutionen hergestellt werde sollte. Die Prüfung eines erfolgreichen Schulabschlusses oder einer beruflichen Ausbildung in einer Langzeitbeobachtung sowie des Verlaufs und der Behandlung der psychischen Probleme werden zeigen, ob die hier gewählte Form der Intervention zu einem hoffentlich besseren Outcome im jungen Erwachsenenleben führt. 63 5 Zusammenfassung Hintergrund: Der regelmäßige Besuch der Schule wird von der Gesellschaft erwartet und ist im deutschen Gesetz im Sinne der Schulpflicht verankert. Er bildet die Grundlage für einen erfolgreichen Schulabschluss und hat damit bedeutenden Einfluss auf spätere berufliche Qualifikationen und die soziale Position im gesellschaftlichen Leben (Walter et al. 2005). Doch nicht allen Jugendlichen gelingt der regelmäßige Besuch der Schule. Die Ursachen für Schulabsentismus sind vielfältig und komplex. Studien aus jüngster Zeit sind sich jedoch einig, dass unentschuldigtes Fehlen stark im Kontext mit dem Umfeld der Jugendlichen, insbesondere den sozialen und psychiatrisches Gegebenheiten steht (Kearney 2008; Walter 2010). In Hinblick auf das häufige Vorkommen des Phänomens Schulabsentismus und die damit verbundenen weitreichenden sozioökonomischen und gesundheitlichen Folgen, die im Kapitel 1 dargestellt wurden, stellt sich seit einigen Jahren die notwendige Forderung nach einem validen Konzept, um den Jugendlichen und ihren Familien sinnvoll begegnen zu können. Methoden: Die vorliegende Studie (Walter 2010 und 2011) prüft an einer klinischen Population von Jugendlichen mit chronifiziertem, primär ängstlichdepressivem Schulabsentismus mit oder ohne begleitende expansive Auffälligkeiten die Wirksamkeit stationärer, kognitiv-behavioraler Therapie (CBT). Das Schulverhalten und der Verlauf von psychischen Störungen (ADHS, Depression und Angststörungen) stellen die Hauptkriterien der untersuchten Wirksamkeit dar. Dabei kann die Studie in zwei Ebenen unterteilt werden. Im ersten Teil wird die Effektivität der Therapieform auf ihre statistische Signifikanz hin untersucht. Im zweiten Schritt wird die klinische Signifikanz der Ergebnisse geprüft. 36 Jugendliche im Alter von 12 bis 18 Jahren, die den Schulbesuch entweder komplett eingestellt hatten oder ausgeprägte Fehlzeiten aufwiesen und eine psychiatrische Komponente aufwiesen, wurden offen stationär und kognitivverhaltenstherapeutisch in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Klinikum der Universität zu Köln behandelt. Zwischen Dezember 2006 und Februar 2008 wurden 61 Jugendliche, die sich mit schulabsentistischem Verhalten in der Schwerpunktambulanz der Klinik vorstellten, auf die in Kapitel 2.1 beschriebenen Ein- und Ausschlusskriterien hin bemessen. Die Rekrutierung fand kontinuierlich statt. 64 Mit der Installation eines Eigenkontrollgruppendesigns analysierte man die Veränderungen des Schulverhaltens und die der mentalen gesundheitlichen Probleme. Die Behandlung erfolgte manualgeleitet unter Einschluss der Eltern und in enger Zusammenarbeit mit den Institutionen der Schule und Jugendfürsorge. Die Studie teilte sich in 3 Beobachtungsphasen, die Datenerhebungen fanden zu 5 Messzeitpunkten (Prä1, Prä2, Post, FU1 und FU2) statt: Die prästationäre Wartezeit, in der die Jugendlichen nicht behandelt wurden, diente als Kontrolleinheit. Dieser schloss sich die Behandlungsphase an. Nach Entlassung wurde ein Follow-up implementiert, das aus Katamnesen nach 2 Monaten (FU1) und nach 9 Monaten (FU2) bestand. Ergebnisse: Während der Wartezeit konnten keine signifikanten Veränderungen bei den unbehandelten Jugendlichen festgestellt werden. Mit Beginn der stationären Therapie zeichnete sich ein signifikanter Rückgang der Schulfehlzeiten bis zur ersten katamnestischen Untersuchung 2 Monate nach Beendigung des stationären Aufenthalts ab. 86,1 % der Jugendlichen besuchten 2 Monate nach Abschluss der Therapie regelmäßig die Schule oder gingen einer anderen beruflichen regelmäßigen Beschäftigung nach; 9 Monate später waren es 63,9 %. Poststationär benötigten 25,2 % der Stichprobe nach 2 Monaten weiterhin einen geschützten schulischen Rahmen (Förderschule oder Klinikschule), nach 9 Monaten nahmen 16,8 % der Jugendlichen diesen in Anspruch. Symptome von Angststörungen und Depression sowie von Störungen des Sozialverhaltens und Lernverhaltens konnten von Beginn der Therapie bis zur ersten Katamnese signifikant gesenkt werden, wobei sich die Effektgrößen im Bereich zwischen d = 0 ,40 und d = 1,17 ansiedelten. Allerdings blieben statistisch signifikante Veränderungen der psychischen Auffälligkeiten bei der Vergleichsanalyse der Warteperiode und der Behandlungsphase aus. Bei der Analyse auf Ebene des Reliable Change Index zeigte sich eine deutliche Verlagerung der Qualität der psychischen Probleme in Richtung einer reliablen Verbesserung im Zuge der Behandlung. Fasste man die Aussagen aller Fragebogen zu den Störungsfeldern Angst, Depression und ADHS zusammen, wurden in der Selbst- und Fremdbeurteilung in der Wartephase in 82,4 % der Fälle keine Veränderungen angegeben. Während der Behandlungsphase sank diese Zahl auf 56,9 %. Dafür wurde eine reliable Verbesserung der Symptomatiken erkannt, denn diese stieg von 12,0 % in der Wartephase auf 37,5% in der Behandlungsphase an. 65 Der gleiche positive Trend zeigte sich auf Ebene der normorientierten Berechnungen. Die Symptome minderten sich bei vielen Jugendlichen in ihrer Ausprägung so stark, dass sie nach der Behandlung als im Normbereich klassifiziert werden konnten. Der Anteil der klinisch auffälligen Kindern und Jugendlichen, in allen drei Störungsfeldern zusammenfassend betrachtet, verringerte sich von 56,9 % (123 klinische Klassifikationen) zu Prä1 auf 22,2 % (48 klinische Klassifikationen) zu FU1. Die Ergebnisse zur poststationären Beobachtung über einen Zeitraum von 9 Monaten zeigten eine zufriedenstellende Stabilität. Schlussfolgerungen: Für die Behandlung von Jugendlichen mit emotional bedingtem Schulabsentismus ist eine frühe Diagnostik und Intervention essenziell. Diese kontrollierte Studie liefert Belege für die Wirksamkeit von stationärer, kognitiv- behavioraler Therapie bei stark beeinträchtigten Jugendlichen mit Schulabsentismus mit und ohne begleitende expansive Störungen. Die Ergebnisse zeigen eine starke Reduktion des schulvermeidenden Verhaltens und eine Besserung der psychischen Probleme unter angewandter Therapie. Auch kann eine zufriedenstellende Stabilität der Therapieeffekte festgestellt werden. Diese Studie bestärkt das konzeptuelle Bemühen, schulabsenten Jugendlichen sinnvoll zu begegnen. Methodologisch von großem Vorteil sind die Stichprobengröße und die Installation einer Kontrollgruppe. 6 Literaturverzeichnis 1. Alexander KL, Entwisle DR, Kabbani NS (2001). The dropout process in life course perspective: Early risk factors at home and school. Teachers college Record 103, 760−822. 2. American Psychiatric Association (2000). Diagnostic and statistical manual of mental disorders. 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European Child & Adolescent Psychiatry 19, 835−44 74 8 Anhang 8.1 Tabellenverzeichnis Tabelle 1 - Art der Intervention und prozentualer Einsatz ................................ 28 Tabelle 2 - Ergebnisse der Multilevel-Analysen und Darstellung der Effektstärken (Cohen′s d) im Jugend- und Elternurteil (n = 36) – Composite Scores .......................................................................... 45 Tabelle 3 - Ergebnisse der Multilevel-Analysen und Darstellung der Effektstärken (Cohen′s d) im Jugend- und Elternurteil (n = 36) – DISYPS-KJ ..................................................................................... 47 Tabelle 4 - Ergebnisse der RCI-Berechnung (n = 36) − DISYPS-KJ ................ 48 Tabelle 5 - Ergebnisse der normorientierten Berechnung (n = 36) − DISYPS-KJ ..................................................................................... 52 Tabelle 6 - Ergebnisse der Multilevel-Analysen und Darstellung der Effektstärken (Cohen′s d) im Jugend- und Elternurteil (n = 36) − SELBST .......................................................................................... 55 Tabelle 7 - Ergebnisse der RCI-Berechnung im Jugendund Elternurteil (n = 36) − SELBST ................................................ 56 8.2 Abbildungssverzeichnis Darstellung 1 - Verteilung der Diagnosen psychischer Erkrankungen nach ICD-10 (n = 36)……………………………………………...25 Darstellung 2 - Ergebnisse der Analysen zum Schulbesuch (n = 36): regelmäßig vs. Unregelmäßig……………………………………41 Darstellung 3 - Anbindung an die verschiedenen Schulformen………………...43 Darstellung 4 - Ergebnisse der RCI-Berechnung bei den 216 insgesamt ausgewerteten Fragebogen (n= 36) – DISYPS-KJ…………….49 Darstellung 5 - Ergebnisse der RCI-Berechnung (n =36) − DISYPS-KJ: Depression: Warte- und Behandlungsphase im Vergleich……50 Darstellung 6 - Ergebnisse der normorientierten Berechnung (n = 36) − DISYPS-KJ: Depression und Angst, Prozentsatz klinisch auffälliger Kinder…………………………………………………...53 Darstellung 7 - Ergebnisse der normorientierten Berechnung (n = 36) − DISYPS-KJ: ADHS, Prozentsatz klinisch auffälliger Kinder…..54 Darstellung 8 - Ergebnisse der RCI-Berechnung (n = 36) – SELBST………….56 75 9 Lebenslauf Mein Lebenslauf wird aus Gründen des Datenschutzes in der elektronischen Fassung meiner Arbeit nicht veröffentlicht. 76