Referat im PDF-Format - Deutsche Gesellschaft für

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Irene Poczka
Institut für Geschichte der Medizin
[email protected]
SFB 923
Bedrohte Ordnungen
Antibiotikaresistente Erreger
Eine Bedrohung der modernen medizinischen Ordnung?
Bedrohung durch antimikrobiellen Resistenz
Was ist eine bedrohte soziale Ordnung?
Das Wissen über die Mechanismen und das Ausmaß der Resistenzen hat seit den 1940er Jahren
stetig zugenommen. Aber erst Mitte der 1990er Jahre haben die WHO und nationale Regierungen,
die Bedrohung durch wachsende antimikrobielle Resistenzen (AMR) in ihrer sozialen, politischen
und globalen Dimension problematisiert und kommuniziert. Zuletzt verkündete die WHO im April
2014, eine „post-antibiotische Ära“ nahe: „Antibiotic resistance is no longer a prediction for the
future; it is happening right now, across the world“. Wichtige Errungenschaften der modernen
Medizin stünden auf dem Spiel. Ähnlich alarmierende Töne schlug in den USA der „Threat Report“
der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) an: „Antimicrobial resistance is one of our
most serious health threats.“ ( 2013).
Als Reaktion auf die Bedrohungskommunikation schlugen Wissenschaftler und Public HealthOrganisationen unterschiedliche Strategien vor. Der Ruf nach traditionellen Schutzstrategien
(Hygiene, Isolation) und Befürchtungen eines Rückfalls in „prä-antibiotische“ Therapien wurde laut,
während zahlreiche Forscher etwa aus dem Bereich der Mikrobiologie auch die Forderung
erhoben, das Verhältnis von Mensch und Mikrobe grundsätzlich neu zu denken.
Die Schwerfälligkeit mit der jedoch medizinische-wissenschaftliche Gewissheiten, klinische
Verfahrensmodi und die sozialen Praxen im Umgang mit Infektionskrankheiten neu geordnet
werden und der Widerstand, der sich vielerorts zeigt, verweisen auf die Wirkmächtigkeit und
Stabilität der vorhandenen sozialen und medizinischen Ordnung.
Der Sonderforschungsbereich 923 „Bedrohte Ordnungen“ versammelt in sich Forschungsprojekte,
die aus einer interdisziplinären Perspektive historische und gegenwartsnahe Phänomene des
schnellen sozialen Wandels in Reaktion auf eine wahrgenommene und kommunizierte Bedrohung
untersuchen. Unter Ordnungen werden Gefüge von Elementen verstanden, die in einem
bestimmten Verhältnis zueinander stehen und soziale Gruppen oder ganze Gesellschaften
strukturieren. Sie gelten dem SFB als bedroht, wenn Akteure zu der Überzeugung gelangen, dass
Handlungsoptionen unsicher werden, Verhaltensweisen und Routinen infrage stehen, sie sich jetzt
oder in naher Zukunft nicht mehr aufeinander verlassen können, und wenn es ihnen gelingt, eine
Bedrohungskommunikation zu etablieren.
In der zweiten Arbeitsphase des Forschungsverbundes geht es nun darum, den Prozess
des Neu- und Wiederordnens (re-ordering) in
Gesellschaften im Angesicht der Bedrohung zu
untersuchen. Unter „re-ordering“ versteht der
SFB
den
mit
der
Selbstalarmierung
einhergehenden ergebnisoffenen Prozess, in
dem die aus den Fugen geratene und
veränderbare Ordnung neu gestaltet werden
muss, mit für die Akteure unabsehbaren
Folgen. (Website des SFB 923)
Die „moderne medizinische Ordnung“
Dem Begriff der „modernen medizinischen Ordnung“ liegt die These zugrunde, dass der heute
bestehende Bereich der Medizin und Krankenversorgung ein sich historisch in der Moderne
herausgebildetes, relativ autonomes, soziales Teil-oder Funktionssystem ist, in welchem
medizinisches Wissen produziert, nach bestimmten Regeln und Codes kommuniziert, diskursiv
geordnet und zur Rationalisierung von Handlungen genutzt wird. Diese These stützt sich zum
einen auf soziologische Theorien der Moderne als sozialer Differenzierungsprozess, zum anderen
auf historische Analysen der Herausbildung der „westlichen“ Medizin als moderne Wissenschaft
und als Profession (Luhmann [1984] 2015, 1997; Pelikan 2007; Stollberg 2009; Sarasin et al.
2007; Gradmann 2007, 2005, 1996; Latour, [1991] 2008, Foucault [1963] 1973, [1972] 2002,
[1977] 2002)
In Folge der „Laboratory Revolution“ (Cunningham 2002) im 19. Jahrhundert, produzierte und
integrierte diese moderne Medizin Wissen über Bakterien und später auch anderen pathogene
Mikroorganismen und entwickelte bald gezieltere Techniken und Chemotherapien zu ihrer
Bekämpfung. Mit diesem Wissen und diesen Techniken verknüpfte sich für lange Zeit ein nicht nur
medizinisches, sondern auch soziales Selbstverständnis der Überlegenheit und Beherrschbarkeit
von Infektionskrankheiten und der Welt der Mikroben schlechthin. In vielen Gesellschaften
etablierte sich vor diesem Hintergrund und im Vertrauen an die moderne Medizin, ein Gefühl der
Sicherheit und ein relativ sorgenfreier Umgang mit Infektionsgefahren und Krankheiten.
Befürchtungen und prognostizierte Folgen
Klinik
Arzt-Patient
Verhältnis
Konzepte und Bereiche des Regierbaren stehen in Frage:
- Verlust von Handlungsfähigkeit
- Stellenwert des Infektionsschutz steigt
- Rückgriff auf prä-antibiotische Techniken zur Kontrolle von Epidemien und Infektionskrankheiten
Ethische Herausforderungen: Screening, Isolation und Rationierung von Antibiotika können
gegen den Patientenwille, dessen Autonomie und individuelle Indikation stehen.
Folgen: Größeres Konfliktpotenzial, evtl. Vertrauensverlust, erhöhter Aufklärungsbedarf,
Traumatisierung von Patienten, ethische Konflikte und Unzufriedenheit beim Arzt.
Einfluss auf die Therapien: Längere Liegezeiten, verlangsamte Genesungszeit, Rückgriff auf
Maßnahmen der Isolation, in Zukunft evtl. Rückgriff auf intensivere Methoden in der Chirurgie,
oder Verzicht auf bestimmte Behandlungen aufgrund des eines erhöhten Risikos der Infektion mit
AR-Bakterien. Alternative und prä-antibiotische Therapien werden häufiger angewendet.
Strukturelle Veränderungen: Fachmedizinische Autonomien, Aufteilungen und
Hierarchisierungen von Aufgaben und Machtbereichen innerhalb der Klinik werden in Frage
gestellt. Mikrobiologen und Hygienebeauftragte gewinnen an Bedeutung. Äußere Einflüsse
greifen ein und verändern Arbeitsabläufe der Kilink (Richtlinien/Empfehlungen, SurvillianceProgramme). Steigende Kosten (für allgemeine bauliche und Hygienemaßnahmen, Material und
Personal) erhöhen den finanziellen Druck.
Erforschung neuer Antibiotika:
- Sind die Zielstrukturen natürlich begrenzt?
- Der Zeitraum der Wirksamkeit neuer Antibiotika wird kürzer und Indikation mehr eingegrenzt.
- Forschung alternativer Methoden zur Therapie von Infektionen, Infektionsprävention (z.B.
Impfstoffe) wird relevanter.
Veränderte Forschungsstrukturen: Kosten der Entwicklung von Antibiotika steigen. Private
Forschungsförderung stagniert (geringe Gewinnaussichten).
Zunahme staatlicher Investitionen.
Ziel: mehr Kooperation/weniger Wettbewerb/Konkurrenz.
Mikrobiologie
Wissenschaft / Forschung
Krankenversorgung
Elemente der Selbstkonzeption moderner Gesellschaften stehen in Frage:
- Sicherheitsgefühle
- Fortschrittsglaube
- „sozialer Konsens“
- das „Soziale“ als Handlunsrahmen und menschlicher Einflussbereich
Angst vor Infektionskrankheiten nimmt wieder zu:
- Krankenhäuser als Orte der Gefahr
- Vertrauen in die Medizin nimmt ab
- Relevanz mikrobiologischen Wissens in der Medizin nimmt zu.
- Probiotisches Ansätze gewinnen mehr Bedeutung gegenüber antibiotischen Ansätzen.
- Ausweitung des Wissens über Resistenzentwicklung in der Umwelt.
Literatur
Cunningham, Andrew/Williams, Perry (2002): The Laboratory Revolution in Medicine. Cambridge University Pres
Foucault, Michel (1973): Die Geburt der Klinik: eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München: Hanser.
Foucault, Michel (2002): Die wesentlichen Funktionen der Medizin in unserer Gesellschaft (1972). In: Defert, Daniel/Ewald, François/Lagrange, Jacques/Ansén, Reiner (Hrsg.), Schriften in vier Bänden: Dits et écrits Bd. II, Bd. II,. Frankfurt am
Main: Suhrkamp, 474–476.
Foucault, Michel (2003): Die Geburt der Sozialmedizin (Vortrag, 1977). In: Defert, Daniel/Ewald, François/Lagrange, Jacques (Hrsg.), Schriften in vier Bänden: Dits et écrits Bd. III, Bd. III,. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 272–298.
Gradmann, Christoph (1996): Bazillen, Krankheit und Krieg: Bakteriologie und politische Sprache im deutchen Kaiserreich. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte,.
Gradmann, Christoph (2005): Krankheit im Labor: Robert Koch und die medizinische Bakteriologie. Göttingen: Wallstein.
Gradmann, Christoph (2007): Unsichtbare Feinde. Bakteriologie und politische Sprache im deutschen Kaiserreich. In: Sarasin, Philipp/Berger, Silvia/Henseler, Marianne/Spörri, Myriam (Hrsg.), Bakteriologie und Moderne: Studien zur Biopolitik
des Unsichtbaren 1870-1920. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 327 –353.
Latour, Bruno (1995): Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin: Akademie Verlag.
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (2015): Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. 16. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Pelikan, J.M (2007): Zur Rekonstruktion und Rehabilitation eines absonderlichen Funktionssystems. Medizin und Krankenbehandlung bei Niklas Luhmann und in der Folgerezeption. In: SOZIALE SYSTEME, 13 (1/2), 290–303.
Sarasin, Philipp/Berger, Silvia/Henseler, Marianne/Spörri, Myriam (Hrsg.) (2007): Bakteriologie und Moderne: Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870-1920. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Stollberg, Gunnar (2009): Das medizinische System. Überlegungen zu einem von der Soziologie vernachlässigten Funktionssystem. In: The Medical System. Considerations on a Functional System Disregarded by Sociology., 15 (1), 189–217.
Informationen zum Sonderforschungsbereich „Bedrohte Ordnungen“ finden Sie unter: https://www.uni-tuebingen.de/forschung/forschungsschwerpunkte/sonderforschungsbereiche/sfb-923/ueberblick.html.
Warum ist die „moderne medizinische
Ordnung“ bedroht?
Es ist bekannt, dass die Bedrohung etwa durch antibiotikaresistente Bakterien, wie z.B. S. aureus,
nicht nur Bereiche der Medizin berührt, die sich auf die Diagnostik und Behandlung von
Infektionskrankheiten konzentrieren. Auch weite Teile der Chirurgie, viele Krebstherapien und die
Transplantationsmedizin wären ohne wirksame Antiinfektiva nur noch sehr eingeschränkt möglich.
Meine hier dargelegte Untersuchung erweitert den Blick auf diese Bedrohung jedoch um eine
sozialwissenschaftliche und zeit- sowie medizinhistorische Perspektive und versucht auf diese
Weise zu erfassen, welche Auswirkungen und Reaktionen die Prognose eines post-antibiotischen
Zeitalters für eine, durch die moderne Medizin geprägte soziale Ordnung hat.
Die Bedrohung durch Resistenzen führen bei einer Reihe von sozialen Akteuren und in
unterschiedlichen sozialen Teilbereichen zu einer Verunsicherung von Verhaltensweisen, Routinen
und Handlungsoptionen. Ärzte, Klinikpersonal, Patienten aber auch Regierungen werden unsicher
über ihre zukünftigen Handlungsmöglichkeiten.
Die wirksame Therapie von Infektionen scheint in der Zukunft nicht mehr gesichert. Damit ist auch
das, an das Vertrauen in die Medizin geknüpfte Sicherheitsgefühl moderner Gesellschaften mit
bedroht. Bei Patienten und medizinischen Laien führen Vertrauensverlust in die Medizin und Angst
vor den resistenten Mikroben zu einem erhöhten Informationsbedarf. Die Grenze der sozialen
Ordnung, nach der die Mikroorganismen traditionell als Bedrohung von außen wahrgenommen
wurden, erscheint kontingent: Die Verbreitung von MRSA, etwa, lässt sich weder als ein Problem
rein sozialen noch rein natürlichen Ursprungs verstehen. Das vorherrschende Bild der Bakterien
als äußere Feinde des menschlichen Organismus oder der menschlichen Gesellschaft wird durch
popularisiertes Wissen etwa aus der Mikrobiomforschung kontrastiert.
Das Forschungsprojekt ist noch nicht abgeschlossen. Die hier präsentierten Ergebnisse sind
daher nur vorläufig.
Vorläufige Ergebnisse
Die bisherige Analyse von wissenschaftlichen Publikationen, Veröffentlichungen von
Fachgesellschaften und politischen Organisationen/Institutionen im Zeitraum von 1940 bis 2000
zeigt, dass die Bedrohungskommunikation und die Impulse des „re-orderinng“ zur Bewältigung
des Resistenz-Problems von den Operationsmodi und Rationalitäten der jeweiligen sozialen
Teilbereiche geprägt sind. Diese Differenzen erschweren die Kommunikation und behindern
gemeinsame Bewältigungsstrategien. Dies zeigt sich etwa im Wissenstransfer von der
mikrobiologischen Grundlagenforschung in die medizinische Praxis und auf die Ebene politischer
Institutionen, oder bei der Übertragung politischer Ziele des antibiotic Stewardship in die Klinik.
Bedrohungskommunikation und „re-ordering“ im sozialen System
(Soziales System und Teilsysteme, frei nach Niklas Luhmann, 1997)
Soziales System
Krankenversorgung
Bedrohungskommunikation
Politik
Erziehung
„re-ordering“
Medien
Recht
Religion
Wissenschaft/
Forschung
Wirtschaft
Umwelt / Natur?
Laut Niklas Luhmann entstehen soziale Systeme durch Abfolgen gleicher Operationen. Sie sind
autopoietisch, das bedeutet, sie reproduzieren sich selbst durch ihre eigene Operationsweise und
Rationalität und indem sie Differenz zur Umwelt herstellen. Soziale Systeme reagieren auf Irritationen
und kommunizieren mit anderen sozialen Teilsystemen, die für sie Umwelt sind. Niemals können sie
jedoch die Operationen oder Rationalitäten eines anderen Teilsystems übernehmen oder integrieren.
(Luhmann, 1997, Ders. 2001)
Weitere Literatur und Quellen bei der Autorin
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