SLAVOJ ŽIŽEK UND DIE GEGENWARTSPHILOSOPHIE

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Slavoj Žižek und die
Gegenwartsphilosophie
Посвящяется Ольге ...
Erik M. Vogt
Slavoj Žižek und die
Gegenwartsphilosophie
Agamben, Vattimo, Dennett,
Badiou, Fanon, Rancière
Mit einem Vorwort von
Slavoj Žižek
V e r l a g T u r i a + K a n t
W i e n – B e r l i n
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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The Deutsche Bibliothek lists this publication in the
Deutsche Nationalbibliografie;
detailed bibliographic data is available
on the internet at http://dnb.ddb.de.
ISBN 978-3-85132-614-7
Covergestaltung: Bettina Kubanek
© Verlag Turia + Kant, 2011
Verlag Turia + Kant
A-1010 Wien, Schottengasse 3A/5/DG1
Büro Berlin: D-10827 Berlin, Crellestraße 14 / Remise
[email protected] | www.turia.at
Inhalt
Vorwort von Slavoj Žižek
Eppur si mouve! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Agamben (mit Adorno) / Žižek:
Logik der Ausnahme und katastrophisches Denken . . . . 21
Vattimo / Zizek:
Das Un / Behagen in der virtuellen Realität . . . . . . . . . . . 66
Dennett / Žižek:
Die »abwesende Ursache« des Kognitivismus
(und seiner Politik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Badiou / Žižek:
Liberal-demokratischer Multikulturalismus, globaler
Kapitalismus und (die Idee des) Kommunismus . . . . . . 153
Fanon / Žižek:
Von der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
Badiou / Rancière / Žižek:
Wider die Ethisierung von Kunst? . . . . . . . . . . . . . . . . 253
Vorwort: Eppur si mouve!
Slavoj Žižek
Als Gianni Vattimo neulich während einer mehrsprachig ge­­führ­
ten öffentlichen Konferenz in Spanien Englisch sprach, wurde
eine seiner Bemerkungen, die vom anwesenden Dolmetscher
für die anderen Konferenzteilnehmer selbstverständlich in eine
der anderen Konferenzsprachen übersetzt hätte werden sollen,
fälschlicherweise in die von ihm verwendete englische Sprache
zurück übersetzt, und er beschwerte sich auf spötti­sche Weise:
»Ich brauche keinen Übersetzer, um mich selbst zu verstehen!«
Nach der Lektüre des Buches von Erik Vogt hatte ich hingegen
das Gefühl, dass ich einen Übersetzer benötige, um mich wirklich selbst zu verstehen. Dieses Buch gab mir nicht nur viel
deutlicher zu verstehen, in welchem Maße mein Denken in
Zwiegesprächen mit anderen zeitgenössischen Denkern verwickelt ist; viel wichtiger war, dass es mich auch dazu zwang, den
Grundlagen meines Werkes ins Auge zu sehen: Wo stehe ich in
Bezug zur philosophischen Vergangenheit und Gegenwart?
Hier ist das Ergebnis meiner Selbstprüfung.
Es heißt, dass Galileo Galilei im Jahre 1633, nachdem er vor
der Inquisition seine Theorie, dass sich die Erde um die Son­ne
bewegen würde, widerrufen hatte, folgenden Satz murrte:
»Eppur si muove – sie bewegt sich doch!« Er wurde zwar nicht
gefoltert, aber es genügte offenbar, ihn auf einen Rundgang
zu nehmen und ihm die Folterinstrumente zu zeigen. Es gibt
keine zeitgenössische Evidenz dafür, dass er diesen Satz tatsächlich murrte. Heutzutage wird diese Redensart verwendet,
um anzuzeigen, dass, obgleich jemand, der die wahre Erkenntnis besitzt, gezwungen wird, diese zu verleugnen, dies nichts
daran ändert, dass sie wahr ist. Aber das Interessante an dieser Redensart besteht darin, dass sie auch im gegensätzlichen
Sinne verwendet werden kann: um nämlich eine »tiefere« symbolische Wahrheit von etwas zu behaupten, das buchstäblich
nicht wahr ist – wie »Eppur si muove« selbst; denn man kann
behaupten, dass dieser Satz als historische Tatsache über das
Leben Galileos falsch ist, aber gerade wahr ist als Bezeichnung
von Galileos subjektiver Position, als er gezwungen wurde,
seine Ansichten zu verleugnen. In diesem Sinne kann ein Materialist sagen, dass ihn die Idee eines Gottes, obwohl es keinen
Gott gibt, nichtsdestotrotz »bewegt«. Interessant ist auch der
Hinweis, dass in »Terma«, einer Episode aus der vierten Staffel
der Akte X, die Phrase »Eppur si muove« das übliche »Die
Wahrheit ist irgendwo dort draußen« ersetzt. Dies bedeutet,
dass außerirdische Monster, auch wenn ihre Existenz von der
offiziellen Wissenschaft verleugnet wird, sich nichtsdestotrotz
dort draußen bewegen. Aber es kann auch bedeuten, dass die
Fiktion einer Invasion durch Außerirdische (wie diejenige in
Akte X), auch wenn es dort draußen keine Außerirdischen
gibt, uns dennoch bewegen und fesseln kann – jenseits der Fiktion der Wirklichkeit gibt es die Wirklichkeit der Fiktion.
Mein Werk versucht einfach, alle ontologischen Konsequen­
zen aus diesem »Eppur si muove« zu ziehen. Hier ist die grund­
legende Formel: »Bewegen« ist das Streben, die Leere zu erreichen; das heißt, »Dinge bewegen sich« (es gibt etwas anstelle
von nichts), weil die Wirklichkeit weniger als nichts ist und
nicht weil die Wirklichkeit einen Überschuss gegenüber dem
bloßen Nichts darstellen würde. Aus diesem Grund muss die
Wirklichkeit durch Fiktion supplementiert werden: um nämlich
ihre Leere zu verschleiern. Man denke an den alten (von Derrida so geliebten) jüdischen Witz über eine Gruppe von Juden
in einer Synagoge, die öffentlich ihre Nichtigkeit vor Gott
eingestehen. Zuerst steht ein Rabbi auf und sagt: »Oh Gott,
ich weiß, dass ich wertlos, ein Nichts bin!« Nach ihm steht
ein reicher Geschäftsmann auf und sagt, während er sich auf
die Brust klopft: »Oh Gott, auch ich bin wertlos, von materiellem Reichtum besessen; ich bin ein Nichts!« Nach diesem
Schauspiel steht auch ein armer gewöhnlicher Jude auf und
verkündet ebenso: »Oh Gott, ich bin nichts [...]«. Der reiche
Geschäftsmann gibt dem Rabbi einen Stoß und flüstert verachtungsvoll in sein Ohr: »Welche Anmaßung! Wer ist dieser
Kerl, der da zu behaupten wagt, auch er sei nichts!« Man muss
also in der Tat schon etwas sein, um das reine Nichts erlangen
zu können, und diese seltsame Logik findet sich in den unterschiedlichsten ontologischen Bereichen, von der Quantenphysik zur Psychoanalyse.
»Eppur si muove« sollte aus diesem Grund im Gegensatz zu den vielen Spielarten der Auslöschung / Überwindung
des Triebs gelesen werden, die von der buddhistischen Idee,
Abstand gegenüber dem Begehren zu erlangen, bis zum
Heidegger’schen »Durchschreiten« des Willens, der das Zentrum von Subjektivität bildet, reichen. Ich versuche grundsätzlich zu zeigen, dass der Freud’sche Trieb sich nicht auf
das reduzieren lässt, was der Buddhismus als Begehren oder
Heidegger als Wille denunzieren: Auch nachdem man in dieser
kritischen Überwindung von Begehren-Wille-Subjektivität ans
Ende gelangt ist, bewegt sich etwas dennoch weiter. Was den
Tod überlebt, ist der Heilige Geist, der von einem obszönen
»Partialobjekt« gestützt wird, das für den unzerstörbaren
Trieb einsteht. Man sollte folglich (auch) Elisabeth KüblerRoss’ Formel umdrehen und ihre Reihe von fünf Einstellungen
zum Tod im Sinne von Kierkegaards »Krankheit zum Tode«
als die Reihe von Einstellungen gegenüber der unerträglichen
Tatsache der Unsterblichkeit lesen. Zuerst verleugnet man
diese: »Welche Unsterblichkeit? Nach meinem Tode werde ich
mich in Staub auflösen!« Dann bricht man in Zorn aus: »Welche schreckliche Zwangslage! Ich stecke in ihr fest und habe
keinen Ausweg!« Man fährt mit folgendem Übereinkommen
fort: »Gut, aber nicht ich bin es, der unsterblich ist, sondern
nur der untote Teil von mir; man kann also damit leben.«
Dann verfällt man in eine Depression. »Was kann ich mit mir
selbst anstellen, wenn ich dazu verdammt bin, für immer hier
zu bleiben?« Schließlich akzeptiert man die Bürde der Unsterblichkeit.
In der Geschichte der Philosophie (oder der westlichen Phi­
losophie – was auf dasselbe hinausläuft) erreichte dieses »Ep­­
pur si muove« seine folgenreichste Formulierung im deutschen
Idealismus, insbesondere in Hegels Denken. Wie passt diese
Bezugnahme auf Hegel zu unserem eigenen geschichtlichen
Augenblick? Es gibt vier Hauptpositionen, die zusammen das
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