Seite 8 FORSCHUNG UND WISSEN VON ANDRÉ AMMER Gegen „PB 3877“ ist die Erde eine ziemlich lahme Ente. Während unser Heimatplanet die Sonne mit einer Geschwindigkeit von etwa 107 000 Kilometern pro Stunde umkreist, rast der von Forschern der Uni Erlangen-Nürnberg entdeckte Doppelstern mit zwei Millionen Sachen durch die Außenbezirke unserer Galaxis. Welche Kräfte den Himmelskörper auf dieses enorme Tempo beschleunigt haben, ist den Forschern bislang ein Rätsel. BAMBERG — „Wir können uns keinen Mechanismus vorstellen, der es ermöglicht, ein Doppelsternsystem auf eine so hohe Geschwindigkeit zu bringen, ohne es dabei zu zerstören“, erklärt Peter Nemeth von der FriedrichAlexander-Universität (FAU). Zusammen mit Forschern des California Institut of Technology im US-amerikanischen Pasadena haben der aus Ungarn stammende Astronom und sein Mitarbeiterstab „PB 3877“ seit mehreren Jahren genau beobachtet, um seine Geheimnisse zu entschlüsseln. Das Bemerkenswerte an dem mutmaßlichen Besucher aus einer anderen Galaxie ist nicht sein Tempo, sondern die Tatsache, dass es sich um einen Doppelstern handelt. Während ihrer Expresstour durch die Milchstraße umkreisen sich die beiden Sterne von „PB 3877“ nämlich gegenseitig, und alle bislang bekannten Antriebskräfte im Weltall hätten die Reisegefährten unweigerlich auseinandergerissen. Für diese These spricht auch die Tatsache, dass die Sterne von „PB 3877“ nicht mehr die Allerjüngsten sind. Einer von ihnen ist wohl ein sogenannter heißer Unterzwerg, fusioniert in seinem Kern keinen Wasserstoff mehr zu Helium und hat bereits den größten Teil seiner Wasserstoffhülle verloren. Angesichts dieses Entwicklungsstadiums, erkennbar an der relativ geringen Leuchtkraft im Verhältnis zur Oberflächentemperatur, ist dieses Doppelsternsystem wohl schon einige Milliarden Jahre auf Achse. Beobachtet wird das rätselhafte Paar durch zwei Teleskope. Zum einen nutzt das internationale Forscherteam das Keck-Teleskop auf dem Gipfel des 4200 Meter hohen inaktiven Vulkans „Mauna Kea“ auf Hawaii, zum anderen spähen die Wissenschaftler aus Deutschland und den USA mit Hilfe des „Very Large Telescops“ der Europäischen Südsternwarte in der Atacamawüste in Chile in den Weltraum. Rätselhafter Doppelstern Weshalb fränkische Forscher die Milchstraße mit neuen Augen sehen Hyperschnell durchs All Schwarzes Loch der Motor? Bis zum jetzigen Zeitpunkt ist die Wissenschaft davon ausgegangen, dass das extrem massereiche Schwarze Loch im Zentrum unserer Galaxis der Motor sei, der Sterne auf so hohe Geschwindigkeiten beschleunigt. Nähert sich ein Doppelstern diesem einige Millionen Sonnenmassen schweren Schwarzen Loch, wäre für einen der beiden Himmelskörper die Reise zu Ende — so zumindest die allgemeine Annahme. Ein Stern wird ins Zentrum des Schwarzen Lochs gesogen, während sein Begleiter in die Weiten des Universums geschleudert wird. Auch andere Beschleunigungsszenarien wie die Kollision mit anderen Sternen oder eine Supernova, die Explosion eines Sterns, schließen Nemeth, der die Untersuchungen an der Dr.-Karl-Remeis-Sternwarte in Bamberg leitet, und seine Kollegen aus. Solche Ereignisse hätten die zwei Sterne von „PB 3877“ ebenfalls getrennt. „Rein theoretisch gibt es ein Szenario, dass ein ursprüngliches DreifachSystem von einem Schwarzen Loch angezogen und dann ein Doppelstern herausgeschleudert werden kann“, Die Geheimnisse eines von Erlanger Forschern entdeckten Doppelsterns — hier eine Szene von der Milchstraße, die den Himmel über einer Sternwarte in Chile erleuchtet — wollen die Wissenschaftler lüften. Foto: afp sagt Eva Ziegerer. Dann wären allerdings die Umlaufbahnen, auf denen sich diese zwei Sterne gegenseitig umkreisen, sehr viel kürzer und würden nur wenige Tage oder Wochen betragen. Angesichts der bisherigen Beobachtungen geht die FAU-Doktorandin, die die Flugbahn des schnellen Pärchens berechnet hat, aber von ei- ner Umlaufzeit von mehreren hundert Tagen aus. Diese Zeitspanne wollen Ziegerer und ihre Kollegen nun genauer bestimmen, um daraus auch Rückschlüsse auf den Ursprung von „PB 3877“ ziehen zu können. „Sehr wahrscheinlich ist er nie auch nur in die Nähe des galaktischen Zentrums gekommen“, vermutet die Astronomin der Uni Erlangen-Nürnberg. Laut Peter Nemeth befinden sich in den Randgebieten der Milchstraße viele Sternströme, die vermutlich Überreste von Zwerggalaxien sind. „Von dort aus könnte der Doppelstern, allmählich beschleunigt, seinen Weg in unsere Galaxis gefunden haben.“ Leggings machen dem Rollator Konkurrenz Erlanger Mediziner wollen weg von sperrigen Gehhilfen und entwickeln eine intelligente Hose VON CHRISTINE THURNER Montag, 11. Juli 2016 sen“, erklärt Schülein. Schickt der Physiotherapeut und Leiter des MobiExoskelette, äußerlich tragbare Stütz- litätslabors einen Patienten über die apparate, helfen Querschnittsgelähm- Matte, registriert der schlaue Teppich ten wieder auf die Beine oder unter- feinste Abweichungen im Gang, misst stützen Lastenträger bei der Arbeit. In Schrittlängen und den Rhythmus der Erlangen entwickeln Wissenschaftler Beine. „Das ist wie beim Herz. Je unrenach diesem Prinzip eine Gehhilfe aus gelmäßiger das Gangmuster, desto intelligenten Materialien. Eine einfa- unsicherer ist der Patient auf den Beiche Hose könnte in Zukunft Krücken nen“, sagt Schülein. Kleine Wackler und Rollator überflüssig machen. der Beine, mit bloßem Auge nicht erkennbar, lassen sich damit auf dem ERLANGEN – Der Zauberteppich Rechner nachweisen. von Samuel Schülein ist sieben Meter lang und genau genommen nur eine Blitzschnelle Stütze Gummimatte. Trotzdem hat der Bisher wird der Hightech-Teppich schmucklose Läufer im Mobilitätsla- routinemäßig genutzt, um die Sturzgebor des Erlanger Waldkrankenhauses fahr bei Patienten zu bewerten oder St. Marien rund 50 000 Euro gekostet, die Resultate einer Behandlung zu prüso viel wie ein luxuriöser Perser. „Es fen. In den nächsten Monaten aber sind 24 000 Sensoren darin eingelas- wird er der Forschungsabteilung des Geriatrie-Zentrums bei der Entwicklung einer intelligenten Gehhilfe zuarbeiten. Eine „heiße Sache“ nennt es Chefarzt und Projektleiter Karl-Günter Gaßmann. Und auch das EU-Programm Horizon 2020 sieht Potenzial: 5,4 Millionen Euro an Fördergeldern haben Gaßmann und seine acht europäischen Partner für das Vorhaben XoSoft eingeworben. Hat es Erfolg, könnten sperrige Begleiter wie Rollatoren oder Krücken in naher Zukunft überflüssig werden. XoSoft steht für ein tragbares Exoskelett für die Beine, das nicht nur lernfähig, sondern auch noch flexibel ist. Und vor allem: dünn und unscheinbar. Denn ein Exoskelett, das wie ein roboterartiger Anzug daherkommt, würde kein Patient für den Alltag in Betracht ziehen. „XoSoft soll dagegen wie eine normale Leggings oder Socken anzuziehen sein“, erklärt Gaßmann. Allerdings verfügt das Beinkleid der Zukunft dank integrierter Sensoren über deutlich mehr Intelligenz als der Rest des Kleiderschranks: Steht oder geht der Nutzer sicher, ist XoSoft nicht mehr als eine weiche Hose. Die Sensoren, die das persönliche Gangmuster des Trägers kennen und auch dazulernen können, registrieren allerdings jede Bewegung. Sackt der Fuß ungewollt weg, greifen die kleinen Wächter ein. Elektrische Felder versteifen das Material der Hose in Millisekunden an der richtigen Stelle und steuern einem Sturz entgegen. Ist der Träger wieder im Lot, geben die Sensoren Entwarnung, die Hose entspannt sich und wird wieder flexibel. „Das Material ist noch geheim, es kommt aus der Meeresbiologie“, sagt Gaßmann. Getüftelt wird daran derzeit in Italien, die Daten aus Schüleins Mobilitätslabor fließen in die Entwicklung der Sensor-Software ein. Bislang sind rund zwei Dutzend solcher hyperschnellen Sterne bekannt, die sich schnell genug bewegen, um das gravitative Feld der Milchstraße verlassen zu können. Aktueller Rekordhalter ist „US 708“, der ebenfalls von den Forschern der FAU beobachtet wird und mit einer Geschwindigkeit von 4,3 Millionen Kilometern pro Stunde im Sternbild des Großen Bären unterwegs ist. Im Gegensatz zu „PB 3877“ sind jedoch all diese anderen Raser solo auf der Reise. In einigen Wochen werden sich zahlreiche Astronomen in Bamberg zu einer Konferenz treffen und dabei über die möglichen Ursprünge und den weiteren Weg des rasenden Sternenpärchens diskutieren. Gerade die Zukunft von „PB 3877“ könnte den Wissenschaftlern spannende neue Erkenntnisse über die Natur der Milchstraße liefern. Denn ob der Doppelstern unsere Galaxis tatsächlich eines Tages verlässt, hängt auch von der sogenannten Dunklen Materie und deren unsichtbare Wirkung auf die gegenseitige Anziehung von Massen ab. „Hyperschnelle Sterne geben uns die Möglichkeit, der Dunklen Materie im Universum auf die Spur zu kommen“, ist Peter Nemeth überzeugt. Redaktion Forschung und Wissen: Kirsten Waltert (09 11/2 16-24 33) Christine Thurner (09 11/2 16-24 05) Lorenz Bomhard (09 11/2 16-24 12) E-Mail: [email protected] Knoblauch für den Säugling Lebensmittelchemiker weisen Geruch in der Muttermilch nach Lebensmittelchemiker der Uni Erlangen-Nürnberg haben erstmals nachgewiesen, dass sich der Verzehr von Knoblauch im Geruch der Muttermilch niederschlägt. ERLANGEN – Was die Mutter isst, nimmt auch der Säugling an der Brust auf. Allerdings ist beim Stillen der Stoffwechsel der Mutter vorgeschaltet: manches, was beim Baby ankommt, hat chemisch und aromatisch wenig mit dem zu tun, was bei der Mutter auf dem Teller lag. Schon in früheren Studien konnte das Team der Erlanger Lebensmittelchemikerin und Aromaforscherin Andrea Büttner nachweisen, dass beispielsweise Fischöl oder Stilltee das Aromaprofil der Muttermilch nicht verändern. In fünf Jahren marktreif? „Die Gehhilfe soll am Ende so konzipiert sein, dass Patienten sie den ganzen Tag unter der eigenen Kleidung tragen und ohne Unterstützung ausund anziehen können“, formuliert Schülein den Anspruch. In fünf Jahren, schätzt er, könnte die helfende Hose marktreif sein. Klappt das, hätte XoSoft viele Vorteile. Gehbehinderte wären weniger stigmatisiert als mit einem Rollator und hätten zudem die Hände frei. Wer nur in wenigen Situationen Hilfe braucht, gewöhnt sich nicht an eine ständige Gehhilfe. „Manche sind zum Beispiel durch einen Rollator überversorgt und verlernen dadurch sogar Bewegungskompetenzen“, sagt Gaßmann. Gemeinsam mit Schülein wartet er gespannt auf den XoSoft-Prototypen. „Wir werden ihn am echten Menschen testen und sehen, ob sich das in der Praxis bewährt.“ Im September, so die Planung, könnten die ersten Probanden in Erlangen zu Testzwecken bereits in einer Werden die Krücken in Zukunft überflüssig? Karl-Günter Gaßmann (links) und Samuel Schülein testen einen Patienten auf unscheinbaren Leggings über einen dem Gangteppich. Foto: Harald Sippel unscheinbaren Teppich spazieren. Anders sieht es beim Knoblauch aus, wie die Wissenschaftler jetzt in einer aktuellen Studie nachgewiesen haben. In der Milch von stillenden Müttern, die 2,5 Stunden zuvor frischen Knoblauch gegessen hatten, konnte nicht nur der charakteristische Geruch von geschulten „RiechExperten“ wahrgenommen werden, sondern auch chemische Zwischenprodukte aus den Knollen nachgewiesen werden. Darunter Allylmethylsulfid, das den typischen Knoblauchgeruch verströmt. Ob und wie die KnoblauchMilch die Säuglinge beeinflusst oder für später prägt, ist noch unklar. „Wir können diese Frage gegenwärtig nicht beantworten“, erklärt Andrea Büttner. Dass das besondere Aroma die Säuglinge vom Genuss der Muttermilch abhalten könnte, steht indes nicht zu befürchten – es scheint vielmehr den Appetit anzuregen, wie in einer anderen Studie gezeigt wurde. Dort tranken die Babys sogar mehr Milch, wenn die Mutter Knoblauch gegessen hatte. thu/Foto: colourbox.de