Zur Freiheit befreit? Ethische Aspekte zu Selbstbestimmung und

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Fachtag der Evangelischen Gesellschaft am 29.9.2010
„Und bist du nicht willig…
Zur Ambivalenz von Zwang in der Sozialen Arbeit“
Zur Freiheit befreit? Ethische Aspekte zu Selbstbestimmung
und Zwang in der Sozialen Arbeit
Prof. Dr. Annette Noller – Theologie und Ethik in der Sozialen Arbeit / Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg
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Zur Freiheit befreit? Ethische Aspekte zu Selbstbestimmung
und Zwang in der Sozialen Arbeit
Annette Noller
1. Zwang und Gewalt: Definitionen und Differenzierungen
Der Begriff Zwang wird in der Sozialen Arbeit, in der Friedens- und Konfliktforschung
synonym verwendet zum Begriff Gewalt. Zwang wirkt moralisch weniger anstößig als
das Wort Gewalt, das dem Empfinden nach negativ besetzt ist. Dass Menschen
Zwängen ausgesetzt sind, ist akzeptierbarer als dass sie Gewalt erleiden. Für beide
Begriffe gilt, dass das moralische Empfinden, wie auch der ethische Diskurs über die
legitime und illegitime Anwendung von Zwang/ Gewalt, auf Interpretationen beruht,
kulturell geprägt und wandelbar ist. Übereinstimmung herrscht in den unterschiedlichsten Kulturen darüber, dass Zwangsmaßnahmen ethisch fragwürdig und zu regeln sind.
Was ist Zwang? Was ist Gewalt und wie sind sie ethisch zu bewerten und in der Sozialen Arbeit zu gestalten? Ich verwende zu Beginn die Begriffe Zwang und Gewalt
synonym1.
Gewalt wird als Anwendung von psychischem oder physischem Zwang gegenüber
Menschen (oder Tieren) definiert.2 In seiner negativen Bedeutung wird unter Gewalt
der Zwang verstanden, der ausgeübt wird mit dem Ziel, Schaden zuzufügen, Herrschaft auszuüben, Kontrolle zu gewinnen. Gewalt äußert sich in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen: von Drohungen, Erpressung über Schläge bis hin zu
Terror und Krieg. Mit Gewalt werden Straftatbestände wie z.B. Raub, Widerstand
1
Die folgende Passage zur Definition von Gewalt wurde zuerst veröffentlicht in: A. Noller, Menschenwürde –
Interpretationen einer Fundamentalnorm gegen Gewalt, in: Collmar, N./ Noller, A. (Hg.), Menschenwürde und
Gewalt, Stuttgart 20072, 29ff.,
2
Büttner, Ch., Gewalt, in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hg.), Fachlexikon der
5
Sozialen Arbeit, Frankfurt a. M. 2002 , 415ff.; Heitmeyer, W./ Soeffner, H.-G. (Hg.), Gewalt, Frankfurt
a.M. 2004.
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gegen die Staatsgewalt oder Vergewaltigung bezeichnet, aber auch der Einsatz narkotisierender Mittel oder die Blockade von Zufahrtsstraßen durch Sitzstreik oder das
bewusste Verhindern des Überholens im Straßenverkehr werden in unserer Rechtssprechung als Anwendung von Gewalt betrachtet. Gewalt ruft Gegengewalt hervor.
Durch Ausübung von körperlichem oder seelischem Zwang wird versucht, als bedroht angesehene Interessen oder Territorien zu verteidigen. Die daraus resultierenden Eskalationen sind bekannt.3
Gewalt wird als konfliktverarbeitendes Verhalten erlernt und in Familien als Mittel der
Interaktion angewandt. Zwangsmaßnahmen sind in der Pädagogik als flankierende
Mittel zu wertschätzenden und positiv verstärkenden Methoden grundsätzlich akzeptiert. Die Grenzen und Mittel der Gewalt in der Erziehung sind aber seit Gründung der
Bundesrepublik deutlich enger definiert worden, was auch für die Gewalt in Ehe und
Partnerschaft gilt – auch hier gab es in den letzten Jahrzehnten deutlich engere
Grenzziehungen, Gewalt in Ehe und Partnerschaft gelten als Straftat.4
Der personal ausgeübten Gewalt wird in der Friedensforschung die Analyse struktureller und kultureller Gewalt an die Seite gestellt. Seit den einschlägigen Studien von
Johan Galtung5 in den siebziger Jahren hat sich in Sozialforschung und Ethik die Erkenntnis durchgesetzt, dass gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Stigmata
Menschen psychische und physische Zwänge auferlegen. Durch die ungerechte Verteilung von Macht und Besitz werden Menschen in ihren Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt oder beschädigt. Kulturelle Stigmata führen zu
Ausgrenzung und Gewaltreaktionen. Physische und psychische Zwänge entstehen
durch Armut, schlechte Wohnverhältnisse oder schlechte Gesundheitsversorgung. In
Anbetracht von kultureller und struktureller Gewalt kommt Johan Galtung zu folgender Definition von Gewalt: „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt wer3
Vgl. Gugel, G., Gewaltfrei leben lernen, Tübingen 2004. Vgl. dazu Seehars, Konfliktbearbeitung als
Gewaltprävention, in: Collmar u.a. (Hg.), Menschenwürde und Gewalt, 238ff.; Gugel, G., Gewaltfrei
leben lernen, Tübingen 2004.
4
Vgl. Gewaltschutzgesetz (GewSchG) und Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung.
5
Galtung, J., Gewalt, Frieden und Friedensforschung, in: Senghaas, D. (Hg.), Kritische Friedensfor5
schung, Frankfurt a. M. 1971/ 1979 , 55ff.; ders., Strukturelle Gewalt – Beiträge zur Friedens- und
Konfliktforschung, Hamburg 1975.
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den, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre
potentielle Verwirklichung.“6
Die ganze Breite dessen, was mit Gewalt bezeichnet wird, wird aber erst erfasst,
wenn man nicht nur die destruktive Bedeutungsebene des Begriffs Gewalt ins Auge
fasst. Mit dem Wort ‚
Gewalt’werden nicht nur negativ gewertete Zwangsausübungen
bezeichnet (im Sinne des lateinischen violentia / englisch: violence), sondern auch
lebenserhaltende, ordnungsstiftende Zwänge. Diese Bedeutungsebene spiegelt sich
z.B. im Wort ‚
staatliches Gewaltmonopol‘
. Der Begriff beschreibt die vom Staat wahrgenommene ausschließliche Befugnis, auf seinem Staatsgebiet physische Zwangsmaßnahmen anzuwenden oder deren Einsatz zuzulassen. Die Staatsgewalt oder
Staatsmacht (lat. potentia) wird durch Strafrecht und staatliche Organe (Polizei und
Armee) ausgeübt. Hier ist Gewalt bewusst und gezielt eingesetzt zur Herstellung von
Ordnung, zur Abschreckung von Kriegen und auch zur Wahrung der Würde der
Staatsbürger/innen. In Art. 1 GG heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt.“Dass auch
das staatliche Gewaltmonopol anfällig für Missbrauch und Fehlleistungen ist, ist bekannt.
Die positive Deutungsebene des Begriffs Gewalt begegnet auch in der älteren
Rechtssprache. Dort wird mit ‚
Gewalt’die Herrschaft (über ein Gebiet) bzw. Vollmacht bezeichnet. Bis zum Mittelalter bedeutete ‚
Gewalt‘die rechtmäßige Macht (lat.:
potestas).7 Erst seit dem Mittelalter bekam das Wort die negative Färbung, die heute
vor allem seinen Gebrauch bestimmt. Diese mittelalterliche, positive Deutung des
Wortes ,Gewalt’spiegelt sich noch heute in der Lutherübersetzung der Bibel wieder.
Den Taufbefehl Jesu (Mt 28, 18) übersetzt Martin Luther: „Mir (Christus) ist gegeben
alle Gewalt (griechisch: exousia) im Himmel und auf Erden, darum gehet hin und
machet zu Jüngern alle Völker und taufet sie auf den Namen des Vaters und des
Sohnes und des Heiligen Geistes...“. Die ‚
Gewalt’des Auferstandenen bezeichnet
6
Galtung, Gewalt, Frieden und Friedensforschung, 57.
Art. Gewalt – Gewaltlosigkeit, in: Biser, E. u.a. (Hg.), Der Glaube der Christen, Bd. 2, München/
Stuttgart 1999, 164; zur biblisch-theologischen Diskussion der Gewalt vgl. Dietrich, W./ Mayordome,
M., Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, Zürich 2005.
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seinen Herrschaftsbereich, der über allen Völkern dieser Erde im Himmel anzusiedeln ist. Seine Gewalt ist die ordnende, göttliche, friedenstiftende Macht, die die
Macht der Menschen in ihre Schranken weist, die Gerechtigkeit schafft und am Ende
Gottes Reich heraufführen wird.
Betrachtet man die verschiedenen Interpretationslinien der Gewalt, so ist bemerkenswert, dass Gewaltausübung einerseits als zerstörerisch und deshalb als moralisch verwerflich gilt. Gewalt wird andererseits aber ethisch positiv bewertet im Sinne
der Aufrechterhaltung von Frieden, Völker- und Menschenrechten. Die Wertungen
sind veränderbar. Ob in den globalisierten und individualisierten Kulturen des 21.
Jahrhunderts überhaupt noch von einheitlichen ethischen Wertbeständen ausgegangen werden kann, wird kritisch diskutiert.8
Sozialarbeiter/innen bewegen sich im Spannungsfeld von Gewalt und Interventionen
gegen Gewalt. Sie sind mit Konflikten und Gewaltsituationen konfrontiert. Ihre Aufgabe im Sinne einer Ethik der Sozialen Arbeit ist dabei eine doppelte: Sie sollen einerseits Ursachen von Konflikten verstehen, Stigmatisierungen und soziale Ungerechtigkeiten aufzeigen und verändern, die Wertschätzung und Integration der Täter oder
Täterinnen aufrecht erhalten und gemeinsam mit den Klient/innen Ressourcen für
Veränderungen erarbeiten. Zugleich ist ihre Aufgabe aber andererseits, das Vertrauen in die Gültigkeit ethischer Grundwerte zu erhalten. Sie sind Vertreter/innen öffentlicher Institutionen und daher mit verantwortlich für die Glaubwürdigkeit der sozialen
Ordnung und ihrer Regeln. Jugendliche beispielsweise müssen vor Übergriffen geschützt und Täter in ihre Schranken gewiesen werden. Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe unterstützt werden. Wenn das Kindeswohl gefährdet ist, muss zugunsten des
Kindes interveniert werden. Sozialarbeiter/innen verstehen sich als Unterstützer/innen von Kindern, Jugendlichen und Familien. Sie ermöglichen Hilfen zur Selbsthilfe für Menschen mit Lebensrisiken, für Menschen mit Assistenzbedarf oder in Fällen von psychischen und physischen Erkrankungen. Ziel sozialen Handelns ist die
8
Vgl. dazu den Begriff der ‚
sozialen Binnenkulturen’den Wilhelm Korff geprägt hat, zitiert bei: Gruber,
H.-G., Ethisch denken und handeln, Grundzüge einer Ethik der Sozialen Arbeit, Stuttgart 2005, 46.
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Erweiterung von Handlungs- und Lebensmöglichkeiten im Sinne der Selbstbestimmung und Verantwortungsübernahme der Klient/innen bzw. Kund/innen. Aber Professionelle sind auch Vertreter/innen und Anwält/innen staatlicher Fürsorge. Intervention im Falle von Fremd- und Selbstgefährdungen gelten als legitim und professionell
geboten (Missbrauch, Körperversetzung, Kindeswohl, Suizid). Bei allen Eingriffen
gegen Gewalt ist kritisch zu prüfen, ob der ausgeübte Zwang ethischen Grundwerten
entspricht, ob der ausgeübte Zwang also ethisch legitimiert und rechtlich legitim ist.
2. Autonomie, Selbstbestimmung, Freiheit und Achtsamkeit
Die Frage des Zwanges wird in der Regel als ein Konflikt von Autonomie/ Freiheit/
Selbstbestimmung und Fürsorge/ Zwang andererseits gedeutet. Man könnte auch an
eine Güterabwägung zwischen Eigensinn/ Eigennutz und Gemeinnutz/ Gemeinwohl
denken. Dabei sind alle Begriffe positiv gewertet, die nicht nach Fürsorge oder
Zwang konnotiert sind. Bevor ich mich solchen Güterabwägungen zuwende möchte
ich die Begriffe Autonomie, Selbstbestimmung und Freiheit einer genaueren Betrachtung unterziehen und sie um den weniger Bekannten, aber dafür nicht weniger interessanten Wert der Achtsamkeit ergänzen.
2.1. Autonomie – philosophische Ethiktraditionen
Heiner Bielefeld bezeichnet die Autonomie als „Leitidee der Moderne“.9 Der selbstbewusste, autonom agierende Mensch gilt als Inbegriff der Selbstentfaltung und
Selbstverwirklichung. Diese moderne Auslegung zeigt allerdings Abweichungen zur
philosophischen Herkunft des Begriffs, die folgenreich ist für eine tehische Reflexion
des Begriffs.
Der Ursprung des Begriffs Autonomie liegt in der griechischen Antike. Das Wort bedeutet ursprünglich „nach den eigenen Gesetzen lebend“(auto-nomos). Autonomie
9
Bielefeld, H., Autonomie, in: Handbuch der Ethik, hg. v. Düwell, M. u.a., Stuttgart / Weimar 2006,
311.
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bezeichnet die Selbst-Gesetzgebungsmacht der antiken Stadtstaaten (Polis). Die
Bürger der Polis geben sich darin ihre eigene Lebensordnung. Diese wird dem antiken mythischen Weltbild entsprechend ihrem Ursprung nach einer göttlichen oder
menschlichen gesetzgebenden Macht verdankt. ‚
Autonomia’besagt, dass die Bürger
sich in einem Eid an dieses im Gemeinwesen geltende Gesetz binden und es verantwortlich weiterentwickeln. Das autonome Gemeinwesen ist von keiner fremden
Staats- oder Gesetzgebungsinstanz abhängig. Die „Autonomia“ist Inbegriff der (politischen) Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Freiheit (noch heute: Autonomiebestrebungen von Staaten, Bevölkerungsgruppen).10
Seine nachhaltig wirksame philosophische Prägung erhält der Begriff Autonomie in
der Ethik Immanuel Kants. In Analogie zum antiken Verständnis wird bei Kant die
Ethik (das sittliche Gesetz) als „Selbstbindung des Menschen an von ihm selbst ausgestaltete Normen“verstanden.11 Zwei Aspekte sind in Kants Definition der Autonomie von Bedeutung: Erstens wird das sittliche Gesetz nicht mehr theonom, von Gott
herkommend und damit nicht mehr religiös begründet. Das sittliche Gesetz wird in
Übereinstimmung mit dem sittlichen Willen gemäß den Prinzipien der Vernunft gewonnen (Kategorischer Imperativ: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte“12). Inbegriff sittlichen, autonomen Willens ist nach Kant die Einsicht, dass das sittliche Gesetz (Ethik) sich aus einem eigenen selbständigen, vernünftigen Prinzip schöpft und
nicht von anderen Impulsen (bei Kant: Religion heute: z.B. Lust oder Unlust) bestimmt wird.13 Bei Kant wird zweitens deutlich, dass Autonomie mit normativer Verbindlichkeit gepaart ist. Der freie vernunftbegabte Wille unterwirft sich den selbst gegebenen Gesetzen der Moral: Kant schreibt: „Der Wille wird also nicht lediglich dem
Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, dass er auch als selbstgesetzgebend
10
Vgl. Pohlmann, R., Autonomie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Ritter, J., Bd. 1,
Darmstadt 1971, Sp, 701ff.; Menge, H. (Hg.), Langenscheidts Grosswörterbuch Griechisch - Deutsch,
26
Berlin u.a. 1987 , 122; Art. Autonomia, in: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike, hg. v. Sontheimer, W.
/ Ziegler, K., Bd. 1, München 1975, 782.
11
Bielefeld, Autonomie, 313.
12
Kant, I., Kritik der praktischen Vernunft, zitiert bei Bielefeld, Autonomie, 313.
13
14
Vgl. Art. Autonomie, in: Brockhaus Konversationslexikon, Bd.2, Leipzig u.a. 1898 , 195.
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und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muß.“14
Betrachtet man Kants Definition der Autonomie, so wird deutlich, dass sie das Programm der Aufklärung aufnimmt, das sich als „Ausgang des Menschen aus seiner
selbtverschuldeten Unmündigkeit“versteht.15 Kants Automomiebegriff gründet in der
Vorstellung, dass der Mensch sich seine Normen des Zusammenlebens aufgrund
seiner Vernunftbegabung selbst gibt.
Dass Kants Autonomiebegriff sich modernen Vorstellungen der Autonomie unterscheidet, ist evident. Autonomie im Sinne einer an Lust/Spaß oder Vermeidung orientierten Selbstbestimmung ist mit Kants Begriff der Autonomie nicht zu erfassen. Die
Vorstellung, dass Autonomie die selbstgewählte, an kein fremdes Gesetz und keine
anderen Personen gebundenen Entscheidungen bedeutet - im Sinne einer nur der
eigenen Person gegenüber Rechenschaft schuldigen Lebensführung - ist eine Interpretation des 20./ 21. Jahrhunderts. Die Vorstellung, dass der autonome Menschen
als einsame Entscheider/innen ihres/ seines Lebens aus dem ‚
Warenkorb der Lebensentwürfe’auswählt, stammt aus modernen Interpretationen von Autonomie (die
in der Tradition der Philosophie Descartes und des Existenzialismus (Sartre) angesiedelt ist) und wesentliche Impulse aus der Alltagskultur von Medien und Werbung
empfängt.
Lassen Sie mich an dieser Stelle zwei Gedanken zusammenfassend festhalten:
1. Die Stärke von Kants Autonomiebegriff liegt darin, er unterstreicht, dass einem
Menschen die Verfügung über seine Menschen- und Staatsbürger/innenrechte nicht
ohne zwingenden Grund entzogen werden dürfen. Als autonomes Wesen kann er/
sie auf sein selbstgesetzgebendes, lebensgestaltendes Recht verweisen und auf die
Förderung dieser Kompetenz im Alltag Anspruch erheben. Heiner Bielefeld charakterisiert das Problem der Autonomie aus medizinethischer Sicht folgendermaßen: „Besondere Schwierigkeit wirft der Anspruch der Autonomie in solchen Grenzfällen auf,
14
15
Kant, I., Grundlegung der Metaphysik der Sitten, zitiert bei Bielefeld, Autonomie, 313.
Kant, I., Beantwortung der Frage: Was ist Aufklarung? Zitiert bei: Bielefeld, Autonomie, 313.
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in denen Menschen krankheitsbedingt zeitweise oder sogar dauerhaft unfähig sind,
ein eigenständiges Leben zu führen. Gerade in solchen Grenzsituationen bleibt die
Idee der sittlichen Autonomie gleichwohl leitend, indem sie verlangt, die Mündigkeit
des Betroffenen soweit irgend möglich ... zu respektieren und aktiv zu fördern ... Auf
diese Weise kommt der Anspruch der Autonomie vor allem auch gegen die im Verhältnis von Arzt und Patient stets drohende Gefahr des ‚
Paternalismus’kritisch zur
Geltung...“16 Der Vorzug des Begriffs Autonomie liegt darin, dass die Abwehr fremder
Eingriffe in die Selbstbestimmung zum Ausdruck gebracht werden kann. Das gilt für
das Erziehungsrecht der Eltern, für jugendliche Straftäter/innen und für Patient/innen
und Patienten.
(Krit. 1 ) Vorrang der Autonomie: Autonomie und Selbstbestimmung sind hohe Güter.
Eingriffe in die Autonomie dürfen nur in begründeten Ausnahmen, fachlich überprüfbar, juristisch überprüfbar und ethisch reflektiert vorgenommen werden
(Krit. 2) Nachrangigkeit von Zwangsmaßnahmen: Bevor Zwangsmaßnahmen ergriffen werden, sollten alle unterstützenden, an den Ressourcen und eigenen Lösungsmöglichkeiten der Klient/innen orientierten Wege ausgeschöpft sein.
Nach den Berufsethischen Prinzipien des Deutschen Berufsverbandes für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Heilpädagogik (DBSH) von 1997 setzen sich die Professionellen des Sozialwesens nicht nur gegen jede Art der Diskriminierung ein, sondern
sie „ermöglichen, fördern und unterstützen durch ihr professionelles Handeln in solidarischer Weise
-
die Initiative der beteiligten Menschen, deren Lösungen und ihre Mitwirkung
-
die Einbindung der Beteiligtenmenschen in ein Netz befriedigender und hilfreicher Beziehungen
-
bei den beteiligten Menschen Einstellungen und Fähigkeiten, mit denen sie
zur Verbesserung der Welt beitragen können. 17
16
17
Bielefeld, Autonomie, 131f.
zit. bei Heiner, M., soziale Arbeit als Beruf, 175.
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2. Andererseits macht Kants Definition deutlich, dass nicht jede Handlung eines agierenden Subjektes als Ausdruck von Autonomie in einem ethischen Sinne zu qualifizieren ist. Eine philosophisch reflektierte Definition von Autonomie setzt voraus, dass
ein bewusst handelndes, zwischen alternativen wählendes Subjekt in einem ethisch
verantwortlichen Sinne nach nachvollziehbaren Regeln handelt. Diese Regeln stimmen mit den Regeln des Gemeinwesens sinnvoll überein und die handelnden Subjekte akzeptieren bewusst die Regeln, die sich das Gemeinwesen selbstbestimmt
gesetzt hat. Andersherum gesagt: Gewaltmuster, die in Familien mit sozialen Risiken
(unter dem Zwang der Gewalterfahrung) erlernt wurden, können nach einer philosophischen Reflexion des Begriffs nicht als Ausdruck einer selbst-bewussten Autonomie gedeutet werden. Jugendliche Gewalthandlungen sind kein Ausdruck von Autonomie im Sinne einer freiwilligen Unterwerfung des selbstreflektierten Menschen unter ein gutes Gesetz oder Verhalten, das im Sinne eines kategorischen Imperatives
jederzeit zu einer allgemein Norm erhoben werden könnte. Jugendliche Übergriffe
üben nicht nur Zwang auf ihre Mitmenschen aus, sie sind auch Folgen erlernter Verhaltensmuster, sind Ausdruck erlittenen Gewalt, Verarbeitung von Traumata oder
Folgen einer Erziehung ohne die nötigen Konsequenzen und Regeln, die ein gutes
Gesetz (Nomos) voraussetzen würde. Das heißt nicht, dass die Jugendlichen in Ihrem Verhalten moralisch verurteilt werden, vielmehr sind sie als Personen wertgeschätzt und in Ihrem Verhalten ernst zu nehmen. Ihr ‚
kreatives’Verhalten ist Ausdruck eines nachvollziehbaren Verarbeitungsprozesses bzw. reaktion auf erlittne
Zwänge und Perspektivlosigkeiten, auf Verhaltensmuster in Peergroups und Cliquen
oder als Folgen von Alkohol- und Drogenkonsum zu sehen. Fraglich erscheint mir, ob
sie darin nicht auch Ausdruck von erlebten Zwängen sind, ob Wahlfreiheit zu anderen Verhaltensweisen besteht oder ob gerade das erworbene Verhalten Teilhabemöglichkeiten und die Ausschöpfung der Ressourcen verhindert.
In diesem Sinne würde ich gerne mit Ihnen diskutieren, ob das selbstverletzende
Verhalten eines Psychiatriepatientin Ausdruck ihrer Autonomie ist oder ein Hilferuf,
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bzw. eine Handlung , die von einem hohen inneren Druck entlastet? Kann ein selbstverletzendes oder magersüchtige Verhalten im ethischen Sinne als autonome Handlung im Sinne eines Lebenserhaltenden sinnvollen Ordnung gedeutet werden? Oder
ist sie eine nur wenig kontrollierbare psychische Reaktion auf familiäre Zwangs- und
Gewaltsituationen, in der dieses riskante Verhalten als Entlastung und Reaktionsmuster (z.B. aus kontrollierenden Familienkonstellationen oder Missbrauchssituationen) entwickelt wird. Um diesen Zwangskontexten zu begegnen macht das selbstverletzende Verhalten ‚
Sinn’
. Ist es aber als autonome Handlungsweise eines selbstbewußten Subjektes zu werten? Oder nicht vielmehr als Ausdruck und Reaktion auf
erlittene Zwänge, die andere Lebenswege verschließen? Ist die Prostitution einer/
eines Suchtkranken Ausdruck von Autonomie oder Ausdruck von Zwängen, die aus
der Sucht resultieren?
Krit. 3 Nicht jede selbstgewählte Handlung kann als autonom in einem philosophischethischen Sinne gewertet werden. Vielmehr gilt es kritisch zu fragen, ob die Verhaltensweisen als selbst-bewusste, autonome Entscheidung für eine lebenserhaltenden
Ordnung, gewertet werden können.
Das heißt nicht, dass das Verhalten in sich betrachtet nicht sinn-voll ist als Reaktion
auf eine Lebenssituation, die der oder die Betroffene auf diese Weise bearbeitet oder
als Lösungsansatz erlernt hat.
2.2. Selbstbestimmung
Der Begriff Selbstbestimmung findet sich selten in der Ethik.18 In allgemeinbildenden
Lexika wird er definiert als Fähigkeit und Möglichkeit, nach dem eigenen Willen zu
handeln.19 Dagegen ist Selbstbestimmung ein viel verwendeter Begriff der Sozialpädagogik und Heilpädagogik. Er korrespondiert der Vorstellung einer psychischen Au-
18
Der Begriff findet sich nicht in den einschlägigen Lexika der theologischen und philosophischen
Ethik.
19
Vgl. Brockhaus Enzyklopädie Bd. 20, Mannheim 1993, 87; Wagner, A., Empowerment. Möglichkeiten und Grenzen geistig behinderter Menschen zu einem selbstbestimmten Leben zu finden, Geretsreid 1997/ 2001 (www.a-wagner-online.de, Internetaufruf vom 27.02.2009)
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tonomie im Sinne von Ich-Stärke und -entwicklung. Selbstbestimmung ist nicht allein
am kognitiven Agieren orientiert, sondern breiter als „die (relativ) freie Verfügbarkeit
des Menschen über sich selbst und sein Verhalten“bestimmt.20 Selbstbestimmung
zählt in der Heilpädagogik und Psychologie zur Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit, die sich in Abgrenzung und Bezogenheit zur Umwelt vollzieht. Selbstbestimmung entspricht dem Drang des Menschen nach Selbstorganisation, Selbsterhaltung und Entfaltung der Persönlichkeit im Kontext eines nach den individuellen Bedürfnissen gestalteten Lebensumfeldes.
Georg Theunissen / Wolfgang Plaute unterscheiden zwei Grundpositionen von
Selbstbestimmung. Selbstbestimmung wird einerseits als ein ‚
individualistische Kategorie’und andererseits als eine ‚
soziale Kategorie’verstanden. In der individualistischen Version stehen egoistische Rigorosität und Individualismus im Vordergrund,
die überwiegend an den eigenen Bedürfnissen orientiert sind. In der sozialen Konzeption von Selbstbestimmung dagegen geht es nach Theunissen /Plaute um Handlungsspielräume, die sich im Zusammenleben mit anderen Menschen eröffnen, um
die Entwicklung des Ich’
s im Dialog und in Bezogenheit auf ein Du, bzw. wir.21
Der Grad der Selbstbestimmung ist abhängig von unterschiedlichen Faktoren – oder
Zwängen. Die Handlungsspielräume von Individuen sind unterschiedlich groß. Sie
hängen ab von den Beziehungen in denen ein Mensch lebt, sie hängen ab von den
Lebenssituationen und Fähigkeiten, Spielräume zu gestalten, sie hängen auch ab,
von den zur Verfügung stehenden Ressourcen (Geld) und den Handlungsoptionen
(Mitspracherechte, Eingriffsmöglichkeiten) die ein Mensch hat. Neuere Forschungen
aus der Medizinethik haben gezeigt, dass bei unterschiedlichen Krankheitsbildern
(Demenz, Depression, Schizophrenie) auch unterschiedliche Möglichkeiten der Pati20
Keller, J./ Novak, F., Kleines Pädagogisches Wörterbuch. Grundbegriffe – Praxisorientierungen –
Reformideen, Freiburg/ Basel/ Wien 1993, 313 (zitiert bei: Wagner, Empowerment). Zur Selbstbestimmung als Leitziel der Heil- und Sonderpädagogik vgl. auch: Rittmeyer, Ch., Zur Bedeutung von
Selbstbestimmung in der Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Behinderung, in: Sonderpädagogik
31/ 3/ 2001, 141ff.; Stinkes, U., Selbstbestimmung - Vorüberlegungen zur Kritik einer modernen Idee.
In: Bundschuh, K. (Hg.): Wahrnehmen - Verstehen - Handeln. Perspektiven für die Sonder- und Heilpädagogik im 21. Jahrhundert, Bad Heilbrunn 2000,.169ff..
21
Theunissen. G./ Plaute, W. (Hg.), Empowerment und Heilpädagogik. Ein Lehrbuch, Freiburg i.Br.
1995, 51ff.
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entenselbstbestimmung erwartet werden können. So ist die Urteilsfähigkeit (informed
consent) bei depressiven Patient/innen messbar höher als die von Personen mit der
Diagnose Demenz oder Schizophrenie.22 Die moderne Hirnforschung hat die freie
Entscheidungsfähigkeit des Individuums auch für Menschen ohne Diagnose relativiert. Nicht nur situativer Druck, sondern auch die im Gehirn manifestierten Strukturen beeinflussen die spontane freie Entscheidungsfähigkeit von Menschen prinzipiell.23 Gefragt wird in der kommunitaristischen Ethik (vgl. C.Taylor), ob es Menschen
überhaupt möglich ist und sein soll, unabhängig von ihren sozialen und kulturellen
Kontexten und unabhängig von den Wertvorstellungen ihrer Umwelt zu entscheiden
und zu agieren.
Krit. 4: Selbstbestimmung / Selbstentfaltung vollzieht sich in der sozialen Bezogenheit zu den familiären und gesellschaftlichen Kontextbedingungen (Milieu, Lebensstandard, Bildungsstand, materielle und geistige Ressourcen, soziale Risiken). Diese
prägen Verhaltensmuster und Verhaltensmöglichkeiten.
Die psycho-soziale Entwicklung von Menschen vollzieht sich immer ind er Bezogenheit auf familiäre und gesellschaftliche Kontexte. Die Selbstentfaltung geschieht im
Dialog und an den Grenzen zur Selbstentfaltung der Mitmenschen.
Diesen Aspekt betont u.a. die International Federation of Social Work (IFSW), in Ihren ethische Grundlagen der Sozialen Arbeit. Unter Punkt 2.2.2. der ethischen Standards heißt es: „Jeder Mensch hat das Recht auf Selbstverwirklichung, soweit dadurch nicht das gleiche Recht eines anderen verletzt wird, er hat die Verpflichtung
zum Gemeinwohl beizutragen“24.
Aus diesem Grund ist es ethisch legitim, gewaltausübenden Eltern, die das Kindeswohl gefährden das Erziehungsrecht abzusprechen, obwohl ihr elterliches Selbstbe22
Vgl. Vollmann, J., Patientenselbstbestimmung und Selbstbestimmungsfähigkeit. Beiträge zur klinischen Ethik, Stuttgart 2008, hier: 122ff.
23
Vgl. Lienemann, W., Grundinformation Theologische Ethik, Göttingen 2008, 79ff., hier: 81 und 85.;
Mathwig, F./ Stückelberger, Ch., Grundwerte. Eine theologisch-ethische Orientierung, Zürich 2007,
101ff., hier: 109ff.
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stimmungsrecht dabei tangiert wird, es ist ethisch legitim, gewaltausübenden Jugendlichen Grenzen zu setzen, damit sie ihre Mitmenschen nicht verletzen, es ist
legitim, pädagogisch mit Menschen Verhaltensmuster zu entwickeln, die ihnen mehr
Entfaltungsmöglichkeiten und ihren Mitmenschen ein Leben ohne Gewalterfahrung
ermöglichen. Zu Diskussion steht nicht, ob Zwänge ausgeübt werden, sondern wie
die Konstellation von Zwängen, die ein Gemeinwesen prägen professionell analysiert
und gestaltet werden und welche Methoden zur Auffindung alternativer Handlungsmöglichkeiten ethisch angemessen und professionell überprüfbar sind.
2.3. Freiheit und Sünde in der christlichen Ethik
Die Bibel durchzieht die Vorstellung, dass der Mensch als Gestalter seines Lebens
verantwortlich und frei ist. Anders als der säkulare Autonomiegedanke aber wurzelt
diese Freiheit nicht in der Subjektivität und Selbstreflexion des Menschen, sondern in
der Allmacht und Schöpfermacht Gottes. Gott gibt und gewährt die Freiheit. Der Auftrag zur Lebensgestaltung ist theonom, aus Gottes normierender Macht begründet.
Die Gebote und die biblische Offenbarung machen Gottes Willen für seine Geschöpfe erkennbar.
In der Bibel begegnet wiederholt der Gedanke, dass die Freiheit des Menschen in
der befreienden Zuwendung Gottes zu seinen Geschöpfen wurzelt. Im Buch Exodus
wird die Freiheit des Menschen aus der Versklavung in politischer Knechtschaft erzählt. Der befreiende Gott stellt den Menschen in die Freiheit und gibt dem wandernden Gottesvolk den Auftrag die von Gott gestiftete Gemeinschaft zu gestalten. Im
Reden und Handeln Jesu begegnet der Ruf in die Freiheit als Vision vom Reich Gottes, das Gerechtigkeit und Frieden heraufführen wird. Der Sohn Gottes, der sein Leben dahingibt zur Erlösung des Menschen ruft in die Nachfolge und darin in die Freiheit der Kinder Gottes. Dieser Gedanke wird auch bei Paulus formuliert: „Zur Freiheit
hat uns Christus befreit“(Gal 5,1) schreibt der Apostel und bringt damit zum Aus-
24
Vgl. dazu: International Federation of Social Work (IFSW), Ethische Grundlagen der Sozialen Arbeit, Prinzipien und Standards, Colombo 1994, insbes. Punkt 2.2.2, vgl. Heiner, Maja, Soziale Arbeit als Beruf. Fälle –
Felder –Fähigkeiten, München 2007, 177.
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druck, dass die im Glauben geschenkte Gnade frei macht zu einer mündigen und
eigenverantwortlichen Lebensgestaltung, die insbesondere auch die Nöte und Bedürfnisse des Nächsten in den Blick nimmt.
Der Mensch bleibt aber auch als Gestalter/in der Freiheit auf die Gnade Gottes angewiesen. Insofern ist er nach biblischer Ansicht nicht autonom. Im Unterschied zum
philosophischen Autonomiegedanken ist der biblische Freiheitsgedanke gepaart mit
der Einsicht in die Fehlbarkeit des Menschen. Was den biblischen Freiheitsbegriff
von sozialen und philosophischen Traditionen unterscheidet ist die grundsätzliche
Feststellung, dass der Mensch auch ein Sünder, eine Sünderin ist und dass die Möglichkeiten, sich von Gott und dem Mitmenschen abzuwenden mit der Menschlichkeit
des Menschen immer gegeben ist. „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen
vermag ich nicht...“(Rö 7) schreibt der Apostel Paulus. Die Gemeinschaft zwischen
Gott und Mensch und zwischen Mensch und Mitmensch ist immer wieder so gestört
und gefährdet, dass nach biblischer Theologie Gott selbst in Jesu Christus Mensch
wird, in die Welt kommt und am Kreuz die todbringenden Mächte überwindet und die
Welt mit Gott versöhnt.25 Gerade darin ist der biblische Freiheitsgedanke m.E. spezifisch und ein wichtiger Beitrag zur Ethikdebatte: Gott und Mensch, Mensch und Mitmensch sind aufeinander bezogen in Zuwendung, Liebe, Versagen und gegenseitigem Gewähren von Freiheit und Versöhnung. Gerade das autonome Handeln von
Menschen, das Streben nach Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung können
zur Verletzung der Lebensrechte und Entfaltungsmöglichkeiten des Mitmenschen
führen. Aber auch das Eingreifen in Gewaltsituationen kann ethisch schwerwiegende
Folgen (Retraumatisierung) für Klient/innen haben. Der biblische Freiheitsbegriff ist
geeignet, Verantwortung und Schuldfähigkeit für sozialarbeiterisches Handeln zu reflektieren. Die Ausübung von legitimem Zwang in der Sozialen Arbeit erfordert nicht
nur Mittel der Evaluation und Kontrolle, der professionellen Reflexion, sondern auch
Riten der Entlastung, der Verständigung und Ent-schuldungen für diejenigen die
25
Der Gedanke der Rechtfertigung ist zentral in der protestantischen Ethik: Vgl. Luther, M., Von der
Freiheit eines Christenmenschen (WA 7, 20-38) in: Martin Luther. Ausgewählte Schriften, hg. v. Bornkamm, K. / Ebeling, G., Frankfurt a.M. 1982, 239ff.; Frey, u.a., Repetitorium, 47f.
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Zwang ausüben und diejenigen, die Zwang erleiden. (Versöhnungsritual, Vergebungsbitte, Abendmahl)
Halten wir fest:Freiheit: Die Fehleranfälligkeit und Schuldfähigkeit von Menschen
(Klient/innen ebenso wie Berater/innen/ Sozialarbeiter/innen) ist Teil einer ethischen
Reflexion über Freiheit und Zwang. Menschen sind nicht nur frei, sondern auch
schuldfähig in ihrem Handeln, das sich gegen sie selbst und ihre Mitmenschen richten kann. Deshalb bedarf es Rituale/ Kommunikation von Schulderkenntnis und Versöhnung (Krit. 8).
2.4. Achtsamkeit
„Take Care – Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit“26, so heißt der Titel der Doktorarbeit von Elisabeth Conradi, die im Jahr 2001 erschienen ist. Conradis feministischer Ansatz der Ethik zeichnet sich durch eine breite Kritik abendländischer Ethikkonzeptionen aus. Diese haben sich nach ihrer Ansicht vor allem am Paradigma des
selbstbestimmten, vernunftbegabten autonomen Menschen (insbes. des Mannes)
orientiert. Der Bereich der Fürsorge, Sorge, die Einsicht in die gegenseitige Verwiesen- und Angewiesenheit des Menschen, die Notwendigkeit sozialer Netzwerkarbeit
und Verbundenheit wurde und wird nach Conradi in den bisherigen ethischen Diskussionen in den Bereich des Privaten, des Gefühls und - so ergänze ich des Religiösen - (Barmherzigkeit, Mildtätigkeit und Nächstenliebe) verschoben. Sie gehören
nach Conradi in den traditionell weiblich konnotierten Lebenszusammenhang von
Pflege, Hingabe und (Selbst)- Aufopferung. Achtsamkeit, soziale Bezogenheit und
Sorge füreinander aber muss über den Bereich des Privaten und des Gefühls hinaus
als ethisches Prinzip, als Leitziel ethischen Handelns verstanden und formuliert werden. Einer Theorie und Praxis der Ethik – und ich ergänze des Sozialen – fehlt ein
26
Conradi, E., Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit, Frankfurt/ New York 2001.
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gewichtiger Aspekt, wenn die gegenseitige soziale Angewiesenheit nicht als fundamentale Daseinsaufgabe begriffen wird. 27
In der philosophischen, insbesondere in der feministischen Ethik der Fürsorge/ Achtsamkeit (Care-Ethik) wurde übereinstimmend mit der theologischen Tradition die geteilte Verletzlichkeit und das gegenseitige Angewiesensein von Menschen beschrieben.28 Jean-Pierre Wils bezeichnet Verletzlichkeit und Abhängigkeit als „anthropologische Urszene“.29 Während Autonomie und Selbstbestimmung den Menschen als in
sich selbst und nach eigenen Maßstäben agierendes Subjekt betrachten, kommt die
Ethik der Achtsamkeit30 zu dem Ergebnis, dass Menschen radikal aufeinander angewiesen sind. Die Care-Ethik geht von der gegenseitigen Bezogenheit von Menschen
aus. Das Individuum existiert nicht autonom, sondern stets in Beziehung und Bedeutung für andere. Eine Kultur der Achtsamkeit schließt die Erkenntnis der Fehleranfälligkeit des Menschen ebenso ein wie die Interpretation der Würde „als Zeichen einer
geteilten Verletzlichkeit und Verletzbarkeit des Menschen“31, die auch das Ungewollte und nicht Rationale des Handelns von Individuen in Rechnung stellt. Diese geteilte
Verletzlichkeit erfordert unterstützendes Handeln, das nicht allein die Förderung der
Autonomie im Blick hat, sondern auch die Bewahrung und Achtsamkeit gegenüber
den Menschen, die verletzbar und verletzt sind.
Eine Ethik der Achtsamkeit geht davon aus, dass die gegenseitige Verwiesenheit
nicht nur in symmetrischen Beziehungen stattfindet, sondern auch in assymetrischen
27
Conradis Kritik knüpft an an die in den siebziger und achtziger Jahren geführte feministische Kritik Carol Gilligans an herrschenden Ethikansätzen. Vgl. Gilligan, C., Moralische Orientierung und Moralische Entwicklung, in:
Büttner, G. u.a. (Hg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen, Stuttgart 2000, 79ff., dies., Die andere Stimme,
Lebenskonflikte und Moral der Frau, München 1984/ 19904vgl. auch Conradi, Take Care, 26ff., 96; Wendel, S.,
Feministische Ethik. Zur Einführung, Hamburg 2003.
28
Vgl. Wils, J.- P., Autonomie und Passivität. Tugenden einer zweiten Aufklärung im medizinischen Kontext, in:
Baumann-Hölzle, R., u.a. (Hg.), Leben um jeden Preis? Entscheidungsfindung in der Intensivmedizin, Bern u.a.
2004, 43ff.; Schnabl, Ch., Fürsorge zwischen kirchlicher Tradition und feministischer Kritik, in: Lob-Hüdepohl, A.
(Hg.), Ethik im Konflikt der Überzeugungen, Freiburg/ Schweiz 2004, 138ff.
29
Wils, J.-P., Autonomie und Passivität, 52.
30
Gilligan, C., Moralische Orientierung und Moralische Entwicklung, in: Büttner, G. u.a. (Hg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen, Stuttgart 2000, 79ff., dies., Die andere Stimme, Lebenskonflikte und Moral der Frau,
München 1984/ 19904.; Schnabl, Fürsorge, 138ff.; Kittay, E.F., Behinderung und das Konzept der Care-Ethik, in:
Graumann, S. u.a. (Hg.), Ethik und Behinderung, Frankfurt/ New York 2004, 67ff.; Conradi, E., Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit, Frankfurt/ New York 2001; dies., Feministische Ethik, in: Dingel, I. (Hg.), Feministische Theologie und Gender-Forschung, Leipzig 2003, 155ff.
31
Josephine Butler, zit. in: Wils, Autonomie und Passivität, 54.
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Verhältnissen, auch in Abhängigkeit, ihre Verwirklichung finden kann.32 Assymetrie
bedeutet dabei nicht nur einseitige Machtverhältnisse, sondern eine spezifische Art
der Kommunikation, die zwischen den Beteiligten abgesprochen und gemeinsam
gestaltet wird.
‚
Normalität’verwirklicht sich nicht allein in selbstbestimmter Lebensführung, sondern
ebenso in der biografisch wiederkehrenden Angewiesenheit auf personale und soziale Unterstützung (Kindheit, Krankheit, Alter). Unterstützungsbedarf ist nicht Merkmal
von Menschen mit Krankheiten oder Behinderungen, sondern Krankheit und Behinderung ist im gesamten Lebensverlauf Merkmal aller Menschen. Der stets unabhängige, vernünftige, entscheidungskompetente und kaufkräftige Mensch ist – darin
muss man der Ethik der Achtsamkeit Recht geben – eine ‚
un-menschliche’Fiktion.
Denkt man vor diesem Hintergrund über die Gestaltung professioneller Beziehungen
nach, so kann sich diese nicht allein am Paradigma des autonomen, auf Erweiterung
von Selbstbestimmung und Teilhabe ausgerichteten Menschenbildes orientierten,
auch nicht am Paradigma des selbstbestimmten Kunden allein. Eine Reflexion der
helfenden Beziehung muss vielmehr auch im Sinne einer Ethik der Achtsamkeit das
Irrationale, Fehleranfällige und die Angewiesenheit von Menschen in Situationen der
Krankheit, Demenz, Pflege, sozialer Verwahrlosung und Verarmung reflektieren.
Nicht allein die Vermeidung von Abhängigkeit ist das Ziel, sondern auch die sorgsame und fürsorgende Gestaltung von asymmetrischen Beziehungen ist unerlässliche
Aufgabe einer professionellen Haltung (besonders: Pflegethik, Medizinethik).
Halten wir fest: Angewiesenheit, Irrationalität, Fehleranfälligkeit und Verletzlichkeit
gehören zur anthropologischen Grundkonstellation. Deshalb verhalten sich Menschen nicht ausschließlich bewusst, rational und ethisch verantwortet. Assymetrische
Beziehungen sind teil der professionellen Beziehung und zwischenmenschlichen
Kommunikation. Sie müssen professionell reflektiert und verantwortet gestaltet werden. (Krit. 9)
32
Conradi, Take care, 24, 51ff.
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Gibt es also einen ‚
fürsorglichen Zwang’der ethisch legitim ist. Wie weit trägt eine
‚
advokatorische Ethik’nach Micha Brumlik, die für Menschen, die ihre Interessen
nicht selbst vertreten können oder nicht in der Lage sind, ihre prekäre Lebenssituation selbst zu verändern, eintritt, ja für sie einschreitet im „‚
wohlverstanden Interesse’
einer KlientIn“33 auch wenn diese (im Moment noch) anderer Ansicht sind, um erst
später deren Zustimmung und Einverständnis zu kommunizieren? Welches Maß an
Mitwirkung und Einverständnis benötigt ein anwaltschaftliches bzw. fürsorgendes
professionelles Handeln?
3. Prioritäten und Kriterien im Umgang mit Zwang und Selbstentfaltung
In der Sozialen Arbeit sind wiederholt Versuche unternommen worden, Kriterien und
Prioritäten zum Umgang mit professionellen Spannungsfeldern zu entwerfen. In Dilemmasituationen kann nach Hans Günther Gruber eine Güter- oder Übelabwägung
vorgenommen werden.34 Für die Lösung solcher „Verantwortungskonflikten“35 werden Rangordnungen von ethischen Prinzipien aufgestellt. Maja Heiner rezipiert in
ihrem Grundlagenwerk zur Sozialen Arbeit die Prioritätenliste von Germain/Gittermann aus dem Jahr 1999:
„1. Schutz des Lebens
2. Verhinderung dauerhafter Schädigung
3. Recht auf Selbstbestimmung
4. Geringster Eingriff mit größtmöglicher Revidierbarkeit
5. Unterstützung der Schwächeren
6. Verbesserung der Lebensbewältigung und der Lebensbedingungen
7. Vertraulichkeit und Verschwiegenheit
33
Brumlik, M., Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe, Bielefeld 1992, zitiert bei:
Heiner, Soziale Arbeit als Beruf, 178ff., hier: 179.
34
Vgl. Gruber. Ethisch denken und handeln.
35
Heiner, Maja, Soziale Arbeit als Beruf 180.
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8. Wahrhaftigkeit und Vollständigkeit der Informationsvermittlung.“36
In den ersten drei Punkten gibt diese Prioritätenliste die Grundlagen des Art. 1 GG
wieder. Die Menschenwürde wird dort ausgeführt durch den Schutz der Unversehrtheit der Person und die Freiheit der Person.37 Beide Wertstellungen sind nicht immer
konfliktfrei zu einem Handlungskonzept zu harmonisierbar. Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte stehen in zahlreichen beruflichen Alltagskonstellationen im Konflikt
mit der Selbst- oder Fremdgefährdung durch Klient/innen. Wird in der Sozialen Arbeit
in der Regel dem Schutz vor Gefährdungen der Vorrang gegeben (Selbstgefährdung,
Fremdgefährdung, Kindeswohl) vor dem Selbstbestimmungsrecht, so gilt in der Medizinethik die umgekehrte Rangfolge (hier: Patientenselbstbestimmung auch bei
möglicher Todesfolge, z.B. durch die Verweigerung einer OP).
Als eine Grundregel in ethischen Konflikten gilt in der Sozialen Arbeit: Wenn Leib und
Leben von Menschen gefährdet sind gilt ein Eingriff in die Selbstbestimmung in der
Sozialen Arbeit in der Regel als legitim (Kindeswohl, Fremd- und Selbstgefährdung in
der Psychiatrie und Pflege nicht einwilligungsfähiger Personen, anders: Medizinethik,
wo eine lebensrettende Operation nicht gegen den erklärten Willen des/ der Patientin
durchgeführt werden darf). (Krit. 11)
Ergebnis: Die Frage ist m.E. nicht, ob im professionellem Handeln in der Sozialen
Arbeit Zwänge ausgeübt werden, sondern die Frage ist:
1. Wann Zwangshandlungen und in welcher Intensität sie durchgeführt werden,
dabei gilt:
- Vorrang haben Maßnahmen die die Autonomie unterstützen und Ressourcen der
Klient/innen zur Selbstentfaltung stärken.
36
37
Zit bei Heiner, Soziale Arbeit als Beruf, 180.
Art. 1GG
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- Ethisch not-wendig ist eine Anwendung von Zwang bei Gefährdung von Leib und
Leben von Personen, die minderjährig, hilflos sind und/ oder nicht einwilligungsfähig
(Kindeswohl, Demenz, Psychiatrie)
- Zwangsmaßnahmen sind ethisch legitim in einer fürsorgenden oder advokatorischen Intension, in Absprache mit Klient/innen z.B. bei aggressivem/ autoaggressivem Verhalten mit klar definierten und überprüfbaren Regeln.
b) welche Formen der Intervention fachlich angemessen sind und professionell
wirksam sind, um erneute Traumatisierungen, aggressive Re-Aktionen zu vermeiden
und erweiterte Handlungsoptionen im Sinne einer Erweiterung von Selbstbestimmung und Teilhabe von Klient/innen zu ermöglichen.
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