Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ (SS 2014) Dr. Hans-Peter Gerstner / Markus Popp (28.05.2014) Lernen in Institutionen • Begrüßung – Organisatorisches • Nachtrag: Konstruktivismus: Filmbeispiel-Theorie • Vortrag 1: Lerntheorien und ihre Auswirkungen auf die Lernsituation • Filmausschnitt: Manfred Spitzer (Gehirn – Denken - Lernen) • Arbeitsphase – Aussprache – Diskussion • Kurzvortrag 2: Kritik an Spitzer Zahlen, Daten, Einschätzugen... 2002: „1 in 5 of the globe‘s inhabitants inscribed as a student in formal education“ UNESCO: Zahl der weltweit Lernenden: mehr als 1 Milliarde (Verdopplung seit 1970) Lehrerschaft: ca. 54 Millionen (Faulstich-Wieland, Hannelore u.a., BA-Studium Erziehungswissenschaft. Ein Lehrbuch. Reinbek: 2006, S.160f.) Funktionen (Talcot Parsons – 1902-1979) Qualifikationsfunktion - Aneignung von Wissen – Aufbau von Kompetenzen Integrationsfunktion Allokationsfunktion (Selektion, Zuweisen gesellschaftlicher Positionen – Begründung gesellschaftlicher Ungleichheit) Kritik der Lerninstitutionen Hey teachers, leave us kids alone... All in all you‘re yust another brick in the wall. (P. Floyd – 1979) „Die Disziplinaranlagen des Lernens – deren Prototyp die Schule ist, deren Zwangcharakter sich aber zum Beispiel in »Maßnahmen« beruflicher Weiterbildung sogar noch potenziert – kontrollieren die Lernenden, indem sie diese in Zeit und Raum fixieren. Ein Gleichlauf von Lernzeiten und Lerngeschwindigkeiten wird vorgegeben, um Ordnungen durch Dressur zu erzwingen; Schulungsräume und Trainingszentren erzeugen Klausur und Isolation, indem sie Lernen und Anwenden trennen; zwischen Unterrichtenden und Lernenden besteht eine Hierarchie durch Vorwissen und Status; Noten bezwecken Selektion.“ (Faulstich-Wieland, Hannelore u.a., BA-Studium Erziehungswissenschaft. Ein Lehrbuch. Reinbek: 2006, S.163.) Ambivalenz der Lerninstitutionen • Klausur/Isolation • Hierarchie und Unterordnung • Dressur und Training • Meist zu knappe Lernzeiten • Gleichlauf der Lerngeschwindigkeiten • • Selektion/Zertifikate zur Herstellung von Rangordnungen und Auslese Kotrolle durch die Disziplin der Institution (Faulstich-Wieland, Hannelore u.a., BA-Studium Erziehungswissenschaft. Ein Lehrbuch. Reinbek: 2006, S.168f. • Bedeutsamkeit der Lernthemen für die Lebensinteressen der Lernenden • Möglichkeiten kooperativen und partizipativen Lernens • Herstellung v. Zeitsouveränität • Zertifikate nicht als Kontrolle, sondern als Beleg für Lernfortschritte • Partizipation der Lernenden an Planung, Durchführung und Auswertung v. Kursen und Programmen Lernen in der Schule - ein vielfältiger Prozess... Vokabeln in Französisch Zusammenhänge zwischen zwei Variablen in Mathematik Beurteilungen ethischer Problemstellungen in Religion / Ethik Handlungsabläufe in Sport / Bild. Kunst Soziales Verhalten / Konfliktmanagement Modelle des Lernens - Relevanz im Kontext Schule • Klassisches Konditionieren • Operantes Konditionieren • Beobachtungslernen Problemlösen • Kognitives Lernen 1.1 Klassisches Konditionieren Watson Albert (1920) („Little Albert“): reagiert furchtlos und interessiert auf weiße Ratte (NS) reagiert erschrocken und weint (UR) bei plötzlichem, lauten Krach (US) Kopplung: Ratte + Krach Panik bei Anblick der Ratte (CR) (Generalisierung auf Pelzmäntel) bedingte Furchtreaktion, die sehr löschungsresistent ist. 1.2 Klassisches Konditionieren Bedeutung für den Bildungskontext: Keine direkte Beeinflussung des Lernprozesses; Erklärungsmöglichkeit für viele motivationale und affektive Reaktionen der Lernenden: z.B. dauerhaftes Bloßstellen des Schülers durch Physiklehrer im Physiksaal Angstreaktion des Schülers Später Angstreaktion des Schülers auch bei anderen Lehrkräften, wenn der Schüler den Physiksaal betritt, 2.1 Operantes Konditionieren Thorndike (1874-1949) / Skinner (1904-1990) Einwirkung: • Belohnung/ • Wegfall von Unangenehmen Ignorieren / Bestrafung Verstärkung Konditioniertes Handeln Löschung 2.2. Operantes Konditionieren Bedeutung für den Bildungskontext: 1. Positive Verstärkung (gute Bewertung / gute Noten) 2. Negative Verstärkung (z.B: Wegfall einer Aufgabe bei guter Seminarbeteiligung) 3. Löschung durch Ignorieren (z.B. bei leichten Störungen des Seminarbetriebes) 4. Löschung durch Bestrafung (z.B. schlechte Bewertung / schlechte Noten) 3.1 Beobachtungslernen / Latentes Lernen Bandura (1965): Lernen, bei dem ein Modell beobachtet und nachgeahmt wird: v.a. beim Lernen von Sozialverhalten, Handlungs- und Bewegungsabläufen. 3.2. Beobachtungslernen / Latentes Lernen Voraussetzungen für erfolgreiches Beobachtungslernen: positive Bewertung der Modellperson Verhalten muss deutlich sein, darf aber nicht übertrieben wirken Erfolg des Modellverhaltens coping model, nicht master model 3.3. Beobachtungslernen / Latentes Lernen Bedeutung für den Bildungskontext: Übernahme von sozialen Verhaltensweisen (z.B. grüßen; danken) Lernen beim Sport Bildende Kunst / Musik Vgl. Bedeutung der Lehr-Persönlichkeit für erfolgreiche Bildungsprozesse 4. Problemlösen Lösungsweg bekannt = Aufgabe IST-ZUSTAND Ausprobieren und Sackgassen bei Problemlösung SOLLZUSTAND Lösungsweg unbekannt = Problem schlecht/ gut definiert 5.1 Kognitiver Wissenserwerb: H. Ebbinghaus – Vergessenskurve Theorie des Spurenverfalls 1885: Hermann Ebbinghaus (1850-1909) H. Ebbinghaus - Vergessenskurve Repetitio est mater studiorum !!! 5.2 Kognitiver Wissenserwerb:DreiSpeicher-Modell – populäre Fehlvorstellung (vgl. Atkinson / Shiffrin 1968) Nervenzelle (Neuron) 5.2 Kognitiver Wissenserwerb: Drei-Speicher-Modell (Atkinson / Shiffrin 1968) 5.3 Kognitiver Wissenserwerb: Manfred Spitzer Jahrgang 1958 1990 bis 1997 Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg Seit 1997: Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie Universität Ulm Seit 1998: Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm Seit 2004: Leiter des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) Neurodidaktik 5.3 Spitzer 1996/2002 (=2009): Gedächtnis = „komplexes neuronales Netz“ Sensorisches Register, Arbeits- und Langzeitgedächtnis als Zustandsformen der Information in einem umfassenden Gesamtspeicher. („keine Behälter“ / „keine Entleerung“) 5.3 Lernen konstruktivistisch Das Gehirn bildet seine eigenen Strukturen dadurch, dass es Strukturen verarbeitet, und durch die Verarbeitung sich selber strukturiert. Lernen = „Konstruktion von Wissen“ Arbeitsfragen Benennen Sie die Faktoren, die lt. Spitzer nachhaltiges Lernen in der Schule ermöglichen bzw. dieses beeinträchtigen. Beurteilen Sie seine Schlussfolgerungen daraus. 6. Lernen im Bildungskontext Das Gehirn lernt immer. Unter Angst lernt man die Angst gleich mit. Auf eine gute L-S-Beziehung kommt es an. ( vgl. J. Bauer Auf Strukturen, die an Beispielen verdeutlicht werden, nicht auf Einzelheiten kommt es an. Auf die aktive Auseinandersetzung mit den Inhalten kommt es an. Auf Wiederholen und Üben kommt es an. Kritik an Spitzer: Elsbeth Stern Die Hirnforschung hat noch keine Ergebnisse hervorgebracht, „die uns zwingen, Erkenntnisse der Unterrichtsforschung anders zu sehen.“ (2004) „Auch wenn es eines Tages gelänge, allein aus den neurophysiologischen Vorgängen im Gehirn auf die geistigen Aktivitäten einer Person zu schließen, wenn wir also beispielsweise aus dem, was ihre Nervenzellen tun, ablesen könnten, dass sie sich gerade an der Rechenaufgabe "728 : 7 =" versucht, könnten Lehrer aus einem solchen Ergebnis allein noch nichts darüber lernen, wie sie in ihrer Klasse die Grundrechenarten unterrichten sollten. Selbst die einfachsten Lernvorgänge lassen sich nicht allein auf Hirnvorgänge reduzieren. Dies gilt um so mehr für schulisches Lernen, bei dem es um komplexes Wissen geht, das sich erst im kulturellen Kontext entwickelt hat.“ (2006) 7. Literatur Mietzel, Gerd (20078), Pädagogische Psychologie des Lernens und Lehrens. Göttingen u.a.: Hofgrefe, S. 33-52 und 201-273. Spitzer, Manfred, Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg u.a: 2009 (=2002). Wer macht die Schule klug? Streitgespräch mit M. Spitzer und Elsbeth Stern, in: Die Zeit, Nr. 28 vom 1. Juli 2004 Blakemore, Sarah-Jayne / Frith, Uta: Wie wir lernen: Was die Hirnforschung darüber weiß. München: 2006 (Vorwort v. E. Stern) Bauer, Joachim, Prinzip Menschlichkeit – Warum wir von Natur aus kooperieren. Hamburg: 2006 Ders. Lob der Schule – Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern. Hamburg: 2007