Sunna oder Schia

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PETER JACOBI
in:
ZEITBREMSE
20. Februar 2013
Sunna oder Schia
"Von Anfang an gerieten die ersten Muslime aus Muhammads Gefolgschaft in Konflikt mit der weltlichen Autorität. Muhammad, Ali und andere mussten aus Mekka nach Medina fliehen, als die Beziehungen zwischen ihnen
und den Herrschenden dort in offene Feindschaft mündeten. Diese Situation wiederholte sich in der islamischen
Geschichte, insbesondere im Schiitentum, immer wieder. Muhammed stellte die mekkanische Lebensweise in
Frage und forderte eine moralischere, frommere Haltung, die der Offenbarung von Gottes Willen im Koran gehorcht. Die mekkanische Obrigkeit reagierte mit Hohn und Verfolgung. Der Konflikt zwischen arroganter, korrupter weltlicher Autorität und ernster, asketischer Frömmigkeit wurde für Jahrhunderte bis zur Revolution von
1979 und auf den heutigen Tag zu einem kulturellen Muster."
" Zu Beginn (ab 1694) zeigte sich Shah Sultan Hosein (von Persien) als so fromm und orthodox, wie es sich Mohammed Baqer Madschlesi, der prominente schiitische Würdenträger am Hof, wünschte. Durch dessen Einfluss
waren die Flaschen aus dem königlichen Weinkeller auf den 'median' (Platz) vor dem Königspalast gebracht und
öffentlich zerschmettert worden. Anstatt von einem Sufi, wie dies traditionell üblich war, um die Sufi-Ursprünge
der Safawidendynastie in Erinnerung zu bringen, ließ sich der neue Schah bei der Krönung das Schwert von
Madschlesi umschnallen. Im Lauf des Jahres (1694) wurden Tavernen, Kaffeehäuser, Bordelle geschlossen und
Prostitution, Opium, "farbige Kräuter", Sodomie, Musizieren in der Öffentlichkeit, Tanz und Spiel und andere,
unschuldige Vergnügungen wie das Steigenlassen von Drachen verboten. Frauen hatten sich bescheiden zu verhalten und im Haus zu bleiben; ihnen war verboten, sich unter Männern aufzuhalten, die keine Verwandten
waren."
Beide Zitate aus dem Buch des britischen Historikers Michael Axworthy "IRAN, Weltreich des Geistes", bei
Wagenbach 2011.
In vielen Zeitungen und in Berichten der elektronischen Medien wurde die im übrigen reichlich misslungene Schau des Treffens zwischen den Präsidenten Ahmadinedschad und Mursi in Kairo als eine
Zusammenkunft zweier Islamisten beschrieben, die einen Schulterschluss wagten. Und man unkte von
der Gefahr, die davon für den Westen ausgehe. Leider wurde hier wieder einmal grob fahrlässig, wenn
nicht vorsätzlich verallgemeinert und eine politische Zuordnung getroffen, die die tatsächlichen Bedingungen der ohnehin schwer zu verstehenden Lage im Nahen Osten weiter vernebelt. In unserer
Angst vor dem "Terrorismus", dessen Ursprung wir gern in dieser Region ansiedeln, werfen wir unscharfe Beobachtungen und liebgewonnene Wunschvorstellungen durcheinander und basteln daraus
eine Weltsicht, die uns zu Fehleinschätzungen verführt; mit der Folge, dass wir George W. Bush's
schwachsinnigen "Krieg gegen den Terrorismus" fortsetzen und noch intensivieren. Diese Einschätzung gipfelt in der Behauptung, man müsse nun endlich einen "militärischen Schlag" gegen den Iran
vorbereiten, damit die Strippenzieher des Terrorismus nicht auch noch in den Besitz von Atomwaffen
gelangen. Sollten, heißt es, die Mullahs dort nicht unverzüglich auf ihre Bestrebungen zur Entwicklung einer Atombombe verzichten und ihre Atomtechnik überwachen lassen, habe sich der wiedergewählte Präsident Obama bereits entschlossen, einen "Waffengang" gegen den Iran zu befehlen (oder
einen israelischen Angriff zu unterstützen), das behaupten "gewöhnlich gut unterrichtete Kreise" in
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Washington. So wird der Iran weiter als Inbegriff des Bösen verteufelt, und es scheint die Welt nicht
sonderlich zu beunruhigen, dass mittlerweile die Gefahr, die Atombomben in Pakistan könnten in "falsche Hände" geraten, mehr als nur zu Sorge Anlass bietet. Da soll uns allerdings eine Erklärung der
US-Militärs besänftigen, in der behauptet wird, die pakistanischen Nuklearwaffen seien bestens gesichert. Diesen Leuten zu trauen, zeugt von grenzenloser Naivität.
Um aber die verworrenen Beziehungen im Nahen Osten so auszuleuchten, dass ein einigermaßen verständliches Bild entsteht, haben wir uns auf die wesentlichen Merkmale zu konzentrieren, die die Entwicklungen hin zu staatlich gefördertem Fanatismus aus vorgeblich religiöser Überzeugung erst ermöglichen. Denn wir müssen uns über eins im Klaren sein: Die Menschen dort können die derzeit
wirkenden faschistischen Kräfte im islamisch geprägten Teil der Welt allein nicht abwehren, vielmehr
ist Hilfe von außen erforderlich. In Tunesien lässt sich dieser Tage gut beobachten, wie brutal die sogenannten Islamisten trotz erheblicher Gegenwehr aus der Bevölkerung ihre Ziele durchsetzen. Genauso haben wir zur Kenntnis zu nehmen, dass die in den vergangenen fünfzig Jahren von uns - denen
in der "Ersten Welt" - geleistete Unterstützung wenig geholfen hat, ja dass stattdessen das explosive
Gemisch nur angereichert wurde und der Faschismus weiteren Auftrieb erhielt. Die Hauptursache für
diese Fehlentwicklung liegt in der falschen Einschätzung der dortigen Gegebenheiten. Wir Europäer
nähern uns den Verhältnissen in anderen Regionen der Welt immer noch mit den Vorstellungen, die
wir in unserem Wohlleben entwickelten, weil wir zutiefst davon überzeugt sind, unsere europäischen
"Errungenschaften" bildeten den Maßstab auch für den Rest der Welt. Wir schließen von uns auf andere und meinen deshalb, die Anwendung solcher Maßnahmen, wie sie sich bei uns als erfolgreich erweisen, sei global übertragbar. Hinter dieser Haltung verbirgt sich eine gefährliche Arroganz, die uns
einerseits übersehen lässt, dass auch bei uns nicht alles Gold ist, was glänzt, und die uns andererseits
blind macht für die Erkenntnis, dass in anderen Ländern andere Sitten herrschen, die wir zu tolerieren
haben. Würden wir die gleiche Empfindlichkeit, die wir zeigen, wenn unsere Vorstellungen durch
fremde Sitten beeinträchtigt scheinen (beispielsweise durch Kopftücher muslimischer Frauen oder
Minarette im Stadtbild), auch den anderen zubilligen, so stünde es um das Verständnis füreinander
deutlich besser.
In einem sollten wir allerdings tatsächlich vorbildhaft wirken: in der Anwendung der größten kulturellen Errungenschaft Europas, des aufgeklärten Einsatzes von Verstand und Vernunft, womit es uns
immerhin gelang, die tiefen Gräben, die zwei Weltkriege in Europa aufgerissen hatten, binnen Kurzem
einzuebnen. Wir sollten die Methoden, die uns halfen, ein weitgehend friedliches Zusammenleben im
größten Teil Europas zu schaffen, jetzt auch hinsichtlich der Umbrüche und Gewaltexzesse in unserer
Nachbarschaft einsetzen, in Afrika und im Nahen Osten. Und da es bei uns in Deutschland womöglich
schon in Vergessenheit geraten ist, sei daran erinnert, dass die Entwicklung zum Frieden in Europa
begann, als die sogenannten Siegermächte dem Gegner die Hand reichten, wo doch kurz vorher noch
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im Namen Deutschlands bis dahin unvorstellbare Verbrechen begangen worden waren! Heute sprechen wir mit einer Selbstverständlichkeit von der deutsch-französischen Freundschaft, als herrsche
dieser Zustand schon ewig, obgleich den Älteren unter uns - in Frankreich und in Deutschland - noch
eingetrichtert wurde, das Nachbarland sei als "Erzfeind" zu betrachten. Diese erfreuliche Entwicklung
war nur möglich, weil die Einsicht gesiegt hatte, dass kriegerische Gewalt nicht zu Frieden führt und
dass die Durchsetzung ideologischer Positionen mit Gewalt schließlich nur im sich ständig wiederholenden Ruf nach Revanche endet. Dazu gehört die höchst gefährliche Haltung, stets vom Anderen den
ersten Schritt zu erwarten. Wir sollten die bessere Ausgangslage, in der wir uns befinden, nicht dazu
nutzen, uns abwartend zurückzulehnen, und im Gefühl der Überlegenheit damit zu rechnen, dass die
armen Schlucker bald zu Kreuze kriechen werden, sondern wir sollten auf sie zugehen und ihnen vermitteln, dass wir sie ernstnehmen und als gleichberechtigte Glieder im Gefüge der Staaten achten.
Diesem Grundsatz folgend müssen wir uns auch den beiden wichtigsten Staaten im Nahen Osten nähern, Ägypten und Iran, und den Machthabern dort klarmachen, dass wir nicht daran interessiert sind,
uns ihren Vorstellungen von ihrer Gesellschaft und ihrem Staat zu widersetzen, dass wir vielmehr
bedingungslose Hilfe anbieten, um die größte Not zu lindern, die ja maßgeblich aus der ökonomischen
Perspektivlosigkeit der Mehrheit der Bevölkerung erwächst. Allerdings müssen wir uns der Mühe
unterziehen, die Bedingungen, unter denen dort das Leben, besser: der Überlebenskampf abläuft, etwas genauer zu betrachten, um sie zu verstehen. Verstehen darf allerdings ganz sicher nicht heißen,
die Verhältnisse einfach zu akzeptieren, sondern sie scharf zu beobachten, nüchtern zu analysieren und
bei der Bestimmung unseres Verhaltens zu berücksichtigen, um dann durch gezielte Hilfe zur Besserung der Lebensbedingungen beizutragen. Das klingt nach selbstloser Opferung eigenen Wohlstandes,
ist in Wahrheit aber ein Mittel, womit wir unseren Lebensstandard langfristig stabilisieren können und
ohne dessen Einsatz wir unser Wohlstandsniveau erheblich gefährden. Nicht Altruismus ist gefragt
sondern die Anerkennung unserer Abhängigkeit vom Ausgang der Konflikte im Nahen Osten!
Entscheidend für die Lagebeurteilung in den islamisch geprägten Ländern ist die Beachtung des direkten Einflusses, den die Religion ausübt. Denn wir haben uns immer wieder vor Augen zu führen, dass
der Islam sich nicht allein als moralische Instanz in einem von ihm ansonsten getrennten Staatswesen
sieht, sondern dass er als Richtschnur für das gesamte Leben, auch das ganz alltägliche, praktische
Anwendung verlangt. Deshalb wird die Forderung, Rechtsprechung und Verwaltung seien dem islamischen Klerus unterzuordnen, von den meisten Muslimen nicht als Eingriff in das private und gesellschaftliche Leben gewertet; sondern für sie handelt es sich um die Bestrebung, endlich wieder eine
"richtige" islamische Gesellschaft zu formen. Diese politische Grundhaltung teilen wir nicht; doch wir
dürfen nicht vergessen, dass es in Europa Jahrhunderte heftigen Kampfes bedurfte, bis wir zu einer
verfassungsmäßig gesicherten Trennung von Kirche und Staat gelangten. Selbst heute noch gibt es
auch in Deutschland einige unter Beachtung dieses Verfassungsgrundsatzes unzulässige Eingriffe der
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Kirchen in das gesellschaftliche Geschehen! Bevor wir mit der Strenge unserer europäischen Anschauung die Gesellschaftsstruktur im Iran und neuerdings auch in Ägypten verteufeln, dürfen wir
nicht außeracht lassen, dass unsere Forderung nach einer Trennung von Kirche und Staat bei den Menschen im Einflussgebiet des Islam nicht auf Verständnis stößt. Ganz besonders gilt dies für beide
"Großmächte" im islamischen Raum, für Ägypten und für Iran. Wer hier bei uns behauptet, die Versuche muslimischer Gruppierungen, direkten Einfluss auf Rechtsprechung und Verwaltung auszuüben,
seien mit unserer Hilfe zu unterbinden, der widerspricht unserem eigenen demokratischen Verständnis,
weil die Mehrheit der islamischen Bevölkerung den Staatsvorstellungen der Kirchenfürsten grundsätzlich folgt. Es sei daran erinnert, dass die Muslim-Brüder in Ägypten aus einer weitgehend freien Wahl
als klare Sieger hervorgingen.
Die Gemeinsamkeiten zwischen Iran und Ägypten erschöpfen sich jedoch mit der Überzeugung, der
Staat habe sich der Religion unterzuordnen. Denn die religiösen Führer in beiden Ländern hängen
verschiedenen "Kirchen" innerhalb des Islam an, und zwar so feindschaftlich voneinander unterschieden wie die katholische und lutherische Kirche zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges. In "realpolitischer" Hinsicht gibt es zwar noch eine weitere Gemeinsamkeit, die Ahmadinedschad wohl zum Besuch in Ägypten motivierte; denn beide Führungen in Teheran und in Kairo, fühlen sich vom "Westen" bedroht, der ihnen seine Lebensbedingungen aufzwingen möchte. Daraus läßt sich jedoch keine
Allianz schmieden, weil die Kraft, die aus der gleichermaßen empfundenen Bedrohung entsteht, diejenige nicht kompensieren kann, die aus der religiösen Feindschaft entspringt. Vielmehr erkennen wir in
beiden Lagern eine sich gegenseitig ausschließende Überzeugung sowohl bei denen, die der Sunna
anhängen, als bei jenen, die sich der Schia verpflichtet sehen. Um zu verstehen, welche religiösen
Unterschiede zur Feindschaft führten, müssen wir uns aber nicht auf eine Art theologische Diskussion
einlassen; denn die Zugehörigkeit zu Sunna oder Schia mag zwar durch die Abstammungslinien von
verschiedenen Nachfahren des Propheten "erklärt" werden, doch die daraus entstandenen Differenzen
sind im Laufe der Jahrhunderte durch die Einführung unterschiedlicher religiöser Bräuche und "theologischer Grundsätze" so stark ausgeweitet worden, dass heute die Berufung auf Mohamed und den
Koran nicht ausreicht, um sich verständigen zu können. Als Folge vieler heftiger Auseinandersetzungen, auch kriegerischer, hat es sich ergeben, dass die Schiiten, die Anhänger der Schia, für sich eine
Art Alleinvertretungsanspruch reklamieren, woraus sie ableiten, sie könnten als die einzig legitimierten Nachfolger Mohammeds den Sunniten gegenüber, dem "Volk in der Tradition", eine Vormachtstellung einnehmen. Dagegen stellen sich die Übermacht der viel größeren Zahl von Sunniten und
deren eigener Anspruch auf religiöse und politische Führerschaft eines sunnitischen Kalifats.
Die Feindschaft zwischen beiden Lagern wird noch erheblich dadurch verstärkt, dass die Schiiten im
Iran, wo sie die große Mehrheit in der Bevölkerung bilden und die Schia Staatsreligion ist, seit den
Zeiten der arabischen Besetzung Persiens erhebliche Vorbehalte gegen alles Arabische und somit
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Sunnitische hegen und pflegen, woraus eine ständig schwelende Konfrontation zwischen Arabern und
Iranern heranwuchs. Heutzutage leben zwar in einigen arabischen Staaten auch Schiiten, die dort allerdings deutlich in der Minderheit und daher politisch einflusslos sind. Nur im Süden des Irak, dem
historischen Ursprungsland der Schia, stellen zwanzig millionen Schiiten die Mehrheit der Bevölkerung, was umso bedeutender wirkt, wenn man berücksichtigt, dass der Irak insgesamt nur dreißig Millionen Einwohner zählt. Deshalb wird der Bürgerkrieg dort wohl erst enden, wenn sich ein eigenständiger schiitischer Staat gebildet hat. Im übrigen strebt der Iran an, sich den Süden des Irak als eine
Provinz einzuverleiben, weil man die dort liegenden schiitischen Heiligen Stätten wieder "heim ins
Reich" holen möchte. (Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass in dem kleinen Inselstaat
Bahrain mit gerade mal 500.000 arabischen Einwohnern und der gleichen Zahl "Gastarbeitern" zwar
auch eine schiitische Mehrheit lebt - etwa 80% -, dass dort aber eine sunnitischer Königsherrschaft, die
von Saudi-Arabien gestützt wird, alle Bestrebungen zur "Befreiung" brutal unterdrückt).Wir müssen
zur Kenntnis nehmen, dass sowohl aus religiösen als auch aus politischen Gründen zwischen den arabischen Staaten und dem Iran eine tiefverwurzelte gegenseitige Abneigung vorherrscht, die den Konflikt in Nahen Osten noch erheblich schürt. Wollen wir die Bedeutung des Zwists zwischen Sunniten
und Schiiten richtig einschätzen, dann müssen wir uns vorstellen, dass es um die Beherrschung des
Raums von Pakistan bis Marokko geht und dass wegen der religiösen Zuordnung der meisten Muslime
zur Sunna die Schiiten im Iran und im Süden des Irak inzwischen isoliert und eingekesselt sind, was
sie besonders aggressiv stimmt.
Im Iran herrscht eine lupenreine Theokratie, und in Ägypten bahnt sie sich an. Geographisch zwischen
beiden gelegen herrschen auf der arabischen Halbinsel weltliche Fürsten, die sich zwar zu religiösen
Führern erklärt haben, im Verständnis der kirchlichen Institutionen in Kairo und Teheran aber keine
theologische Legitimation besitzen. Daraus ergibt sich eine weitere Front, die bisher nur deshalb nicht
sichtbar wurde, weil die reichen arabischen Herrscher am Golf mit ihren Vermögen die armen Ägypter
und andere arabische Völker unterstützen und sich offiziell als Sunniten gegen die schiitischen Widersacher in Teheran stellen. Scheinbar ordnen sie sich ein in die Riege der Kämpfer für die Wiedererrichtung eines sunnitischen Kalifats, obwohl eine solche "Wiederbelebung" der ursprünglichen islamischen Gesellschaft von den Königen und Emiren auf der arabischen Halbinsel genauso wie von den
Kirchenfürsten im Iran als Bedrohung empfunden wird. Tatsächlich müssen die Scheichs nämlich die
Entwicklung in Ägypten fürchten, weil ein ägyptisches Kalifat den Anspruch auf Herrschaft und Deutungshoheit über den gesamten sunnitischen Raum erhebt und damit die Regentschaft der anderen
"Führer" in Frage stellt. Diese Front wird deutlich schärfer auszumachen sein, wenn die MuslimBrüder in Ägypten ihre Herrschaft sichern können und ihre Träume vom neuen Kalifat zu verwirklichen beginnen. Denn die Scheichs auf der arabischen Halbinsel sind ausschließlich am Erhalt ihrer
Macht interessiert und werden deshalb ein starkes islamisches Regiment mit dem Zentrum in Kairo
bekämpfen.
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Die Lage im Nahen Osten wird noch brisanter dadurch, dass in all jenen Staaten, die über eine große
Bevölkerungszahl und geringe oder keine Ressourcen an Öl und Gas verfügen, eine Jugend die Szene
beherrscht, die praktisch ohne Aussicht auf eine halbwegs lebenswerte Zukunft aufwächst. In diesen
Gegenden, wozu vor allen anderen Ägypten zählt, wird sich aber auch nach der "Machtübernahme"
durch die islamischen Kirchenmänner keine Besserung der Lebensbedingungen einstellen; denn die
Erfordernisse eines ökonomischen Aufschwungs verlangen einen unternehmerischen Freiraum, den
die Religionsführer nicht zugestehen wollen, wahrscheinlich gemäß "ihrer" Logik auch gar nicht können. Wir müssen also damit rechnen, dass die wirtschaftliche Talfahrt in Ägypten noch beschleunigt
wird, da die wenigen bisher erfolgreichen Wirtschaftszweige wie der Tourismus und einige Bereiche
der Landwirtschaft aufgrund der fortschreitenden internationalen Isolierung schrumpfen werden. Im
Iran beobachten wir die gleiche Entwicklung, jedoch aus einem anderen Grund: die dortigen Kirchenfürsten sind durch die Sanktionen des Westens derartig unter Druck geraten, dass sie eine ordentliche
Versorgung der Bevölkerung nicht mehr gewährsleisten können, obwohl der Staat zu den reichsten
Rohstoffländern der Welt gehört. Wir können dort, wo seit dreißig Jahren mit erheblichem und ständig
gesteigertem Druck von außen versucht wurde, das Regime zu verdrängen, gut beobachten, dass nur
die Entwicklung hin zu einer Verschärfung der Repressionen gefördert wurde und die Machthaber nun
nicht einmal vor Methoden des blanken Faschismus zurückschrecken. Ja, wir müssen berücksichtigen,
dass faschistische Methoden überall dort fast zwangsläufig eingeführt werden, wo den Herrschenden
die Felle wegzuschwimmen drohen. Bisher konnte noch nirgends und zu keiner Zeit beobachtet werden, dass eine auf "ideologischen Grundsätzen" fußende politische Clique zurückgewichen ist, sobald
sie erkennen musste, dass ihre Bemühungen scheiterten.
Wenn die sogenannte Staatengemeinschaft des Westens (sogar in immer engerer Kooperation mit
China und Russland) weiterhin meint, sie könne den Staaten im Nahen Osten vorschreiben, wie sie
ihre Gesellschaften zu gestalten haben, dann wird sich deren Bevölkerung immer stärker den Vorstellungen der Kirchenführer zuwenden. Wir werden erleben, dass die Not der Menschen wächst und die
Heilsprediger in den Moscheen, die mehr und mehr zu Hasspredigern mutieren, diese missliche Lage
der bösen "westlichen Welt" anlasten, gegen die es sich zu wehren gilt. Und es wird sich zeigen, dass
die beiden Hauptströmungen im Islam, die Sunna und die Schia, weiter radikalisiert werden und dadurch die Anwendung faschistischer Methoden begünstigt wird. Deshalb kann aus den jetzt herrschenden Feindschaften Krieg entstehen, und es droht ein Brand auszubrechen, für den es kein Löschgerät gibt. Mit dem nötigen Kriegsmaterial haben wir die Staaten längst ausgerüstet; und dass Pakistan
samt seinen Atomwaffen aus dem zu erwartenden Chaos herausgehalten werden kann, dürfte höchst
ungewiss sein. - Mitten darin liegt übrigens Israel! - Doch leider bleibt unsere ohnehin schwache Konzentrationskraft auf in des Wortes direktem Sinne Naheliegendes gerichtet, so dass wir die Gefahren,
die von etwas weiter her für unser eigenes Wohlergehen ausgehen, kaum wahrnehmen, wohl auch
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nicht wahrnehmen wollen. Das globale Netzwerk der heutigen Lebensbedingungen ist aber schon so
eng und straff geknüpft, dass es nicht durch "Wegschauen" an Wirkung verliert. Dies zu erkennen,
beziehungsweise es ins Bewusstsein der Menschen in der "Ersten Welt" zu befördern, ist das Gebot
der Stunde, zumindest für alle diejenigen unter uns, die ernsthaft über Möglichkeiten zur Entschärfung
der Lage im Umfeld Europas nachdenken wollen.
Wir müssen uns also auf eine Auseinandersetzung zwischen Sunna und Schia einstellen, die an Schärfe gewinnt und zumindest dann Explosionskraft erlangt, sobald zum einen die herrschenden Cliquen
die Gefahr erkennen, dass sie den Kampf um ihre Vormacht verlieren könnten, und sobald gleichzeitig
die Not der Bevölkerung noch zunimmt. Von einer derartigen Zuspitzung der Lage ist auszugehen,
sollte es uns nicht gelingen, rechtzeitig helfend einzugreifen. Dann wird man im Nahen Osten nämlich
zwei "Schuldige" ausweisen: den "Westen" als Ausbeuter und die "westliche Lebensart" als Verführerin der Menschen. Und es wird sich eine Art "Dreifrontenkrieg" herausbilden, und zwar der zwischen
der Sunna und der Schia, der zwischen dem sunnitischen Kalifat und den Fürsten am Golf, sowie der
zwischen der Gesamtheit der Muslime und dem "ungläubigen Rest der Welt". Beide, Kairo und Teheran, werden erbittert gegeneinander Stellung beziehen und gemeinsam den Westen auf die "Achse des
Bösen" setzen, und die Könige und Emire werden versuchen, sich mit ihrem vielen Geld dadurch
"freizukaufen", dass sie mal den einen und mal den anderen Teil der verschiedenen "heiligen Kriege"
unterstützen. Doch sie werden letztendlich untergehen. Dieser Krieg dürfte "asymetrisch" geführt werden, wie wir das in Mali beobachten müssen, und er wird uns vor die unlösbare Aufgabe stellen, in
einer Region für Ordnung zu sorgen, woher die meisten der für uns wichtigen Rohstoffe kommen.
Obendrein werden wir mit Flüchtlingsströmen zu rechnen haben, die uns mehr abverlangen als die
Lieferung von Zelten und Decken für die Camps in der jordanischen Wüste. Wir werden nicht über
den Alleinvertretungsanspruch von Sunna oder Schia zu entscheiden haben, doch wir müssen verhindern, weiterhin als der böse Feind des Islam missbraucht zu werden, um wenigstens die Entstehung
der "dritten Front" zu vermeiden.
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