Psychische Traumafolgestörungen bei Flüchtlingen Unter klinisch relevanten psychischen (häufig auch physischen) traumatischen Störungen, verursacht durch Krieg, Folter und Vertreibung, leiden nach Studien mindestens 10% der Flüchtlinge in Industrieländern. Manche Autoren gehen sogar von deutlich höheren Zahlen aus (z.B. Gierlichs/Uhe 2007 von bis zu 40%). Laut Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist ein psychisches Trauma die Verletzung der Seele durch ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalen Ausmaßes (kurz oder lang anhaltend), das/die bei nahezu jedem Menschen eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Aus einem psychischen Trauma kann sich eine Traumafolgestörung entwickeln. Ob und in welchem Ausmaß das eintrifft, ist einerseits abhängig von Schutzfaktoren (Bewältigungsfähigkeiten des Betroffenen, soziale und gegebenenfalls therapeutische Unterstützung, ressourcenorientierte Stabilisierung) und andererseits Risikofaktoren (Schwere des Traumas, bereits vorhandene psychische Störungen, Verletzbarkeit durch frühere Traumatisierungen). Krieg und Folter mit von Menschen ausgeübter Gewalt führen zu einem deutlich höheren Risiko für die Entwicklung einer Traumafolgestörung als beispielsweise Unfälle oder Naturkatastrophen, da sie menschliche Grundüberzeugungen tiefgreifend erschüttern. 14 zuerst an die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) gedacht. Diese ist gekennzeichnet durch das Wiedererleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen oder in Träumen, durch emotionalen oder sozialen Rückzug und Vermeidungsverhalten Situationen gegenüber, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen können, und einen Zustand der Übererregtheit mit erhöhter Wachsamkeit und Schreckhaftigkeit sowie Schlafstörungen. Ausgeprägte Reizbarkeit bis hin zu aggressiven Durchbrüchen und Störungen im Bereich der Konzentrationsfähigkeit können hinzukommen. Häufig bestehen Schuldoder Schamgefühle, manchmal lähmen wiederkehrende Selbstvorwürfe die Betroffenen. Es kann auch eine teilweise oder vollständige Erinnerungslücke für das Trauma bestehen. Die Symptomatik kann im Einzelfall äußerst vielgestaltig sein. Da der Versuch, die Erinnerungen zu vermeiden, typisch für die Erkrankung ist und die Betroffenen deshalb nur ungern darüber sprechen (häufig nicht einmal mit engsten Familienangehörigen), sollte bei Flüchtlingen eine entsprechende Diagnostik durchgeführt werden, auch wenn nur ein Teil dieser Symptome beobachtet wird. Es ist zu beachten, dass eine unsensible und forcierte Befragung die Symptomatik unter Umständen massiv verschlimmern kann. Was ist eine posttraumatische Belastungsstörung? Welche anderen psychischen bzw. psychiatrischen Traumafolgestörungen sind bekannt? Bei Traumafolgestörungen wird meist Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass als Folge eines Traumas außer der PTBS auch Anpassungsstörungen, Depressionen, Angststörungen, Abhängigkeitserkrankungen, dissoziative Störungen, Persönlichkeitsstörungen und körperliche Symptome, für die sich kein ausreichender organischer Befund findet, auftreten können. Im Einzelfall kann es sogar zu psychotischen Störungen kommen. Bei Überlebenden organisierter Gewalt besteht häufig eine chronisch sequenzielle PTBS nach wiederholter Traumatisierung, bei der mehrere dieser Störungen als Nebendiagnosen vorliegen können. Dabei können beispielsweise körperliche Beschwerden oder depressive Symptome mit Suizidalität im Vordergrund stehen, während sich die dahinter stehende PTBS erst im langen Verlauf einer sorgfältigen Untersuchung und Behandlung enthüllt. Welche Möglichkeiten der Therapie sind angezeigt? Erste therapeutische Maßnahme bei einer Traumafolgestörung sollte das Herstellen einer sicheren Umgebung sein. Solange Flüchtlinge damit rechnen müssen, in das Land abgeschoben zu werden, in dem sie traumatisiert wurden, ist dies nicht gegeben. Bei Erkrankten, die in Asylbewerberunterkünften Zwangsabschiebungen mit den entsprechenden Begleitumständen (häufig nächtliche Polizeieinsätze) miterleben müssen, besteht eine hohe Gefahr der Reaktualisierung des Traumas mit erheblicher Beschwerdezunahme. Reaktualisierung findet statt, wenn traumatische Erfahrungen bei Betroffenen durch Reize wachgerufen werden, die Ähnlichkeit mit Reizen aus der ursprünglichen traumatisierenden Situation aufweisen oder die als Symbol dafür stehen. Diese Reize können im Alltagsleben - objektiv betrachtet - bedeutungslos sein, sie haben aber für die Betroffenen eine „traumatische Ladung“; und zwar durch Ähnlichkeit mit der ursprünglich traumatisierenden Situation, und sie lösen Erinnerungen aus (z.B.: jemand trägt ein uniformartiges Kleidungsstück, oder: Situationen, in denen die Betreffende sich als hilflos und ausgeliefert erlebt, wie jede Art von Kontakten mit Behörden und Polizei). Deshalb versuchen Patienten mit PTBS solche Reize möglichst zu vermeiden. Die sich aufdrängenden Erinnerungen können so überwältigend sein, dass die Betroffenen Todesängste durchleben und sich ihre vergangenen Erlebnisse mit der heutigen Realität vermischen. Welche spezifischen Therapiemöglichkeiten gibt es? Eine eigentliche therapeutische Auseinandersetzung mit dem Trauma wird Patienten mit einer Traumafolgestörung in der Regel nicht empfohlen, solange nicht eine sichere Umgebung (und das heißt bei Flüchtlingen: ein sicherer Aufenthalt im Gastland) gegeben ist. Dennoch kann viel für die Stabilisierung der Betroffenen getan werden. Neben einer symptomorientierten Behandlung kann eine günstige soziale Situation zu einer deutlichen Verbesserung des psychischen Befindens führen. Um das gebrochene Selbstwertgefühl wieder aufzubauen, müssen die Erkrankten Wertschätzung erfahren und sich auch in der fremden Umgebung zumindest in Teilbereichen als kompetent erleben können. Eine wiederholte Information über traumatypische Symptome und Verläufe soll neben der Aufklärung der Patienten auch Scham- und Schuldgefühlen entgegenwirken. Durch geschulte Therapeuten können Techniken zur Distanzierung oder imaginative Verfahren vermittelt werden. Antidepressive Medikamente aus der Stoffgruppe der SSRI (Selektive - Serotonin – Reuptake - Inhibitoren) sollten bei einer PTBS unterstützend gegeben werden, da sie erwiesenermaßen helfen können, die Symptomatik zu mildern. Wegen des Risikos einer zusätzlichen Suchterkrankung sollten Medikamente mit Abhängigkeitsgefahr möglichst vermieden werden. Leider werden viele erkrankte Flüchtlinge in unserem Land weder durch entsprechend qualifizierte Psychotherapeuten betreut noch ausreichend medikamentös behandelt. Das Interesse des öffentlichen Versorgungssystems an der Behandlung von Opfern von Krieg und Folter ist eher gering, eine spezifische Behandlung findet, wenn überhaupt, häufig außerhalb der Regelversorgung statt. Kurzer Fallbericht In Abständen von ein bis zwei Monaten sehe ich Frau K. für anderthalb Stunden. Sie leidet an einer schweren und chronischen PTBS mit einer ausgeprägten depressiven Symptomatik. Sie wurde in ihrem Heimatland im Nahen Osten vergewaltigt, nachdem sie zuvor mit ansehen musste, wie ihr Mann umgebracht wurde. Später wurde sie zusammen mit ihrem Sohn entführt, konnte dann alleine fliehen. Bei den ersten Kontakten standen die tief gedrückte Stimmung und die Klagsamkeit über verschiedene körperliche Beschwerden im Vordergrund. Außerdem bestehen quälende Erinnerungen, Unruhe- und Erregungszustände mit vermehrtem Schwitzen, Schlafstörungen mit gelegentlichen nächtlichen Alpträumen, sozialer Rückzug sowie verminderte Gedächtnis - und Konzentrationsleistungen. Sie berichtet über Zunahme ihrer Beschwerden nach dem Miterleben von Abschiebungen und versucht, Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse zu vermeiden. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt, die PTBS vorwiegend aus formalen Gründen vor Gericht nicht anerkannt. Dennoch führte der allmähliche Aufbau von Beziehungen zu Menschen aus ihrem Umfeld zu einer langsamen Stimmungsbesserung. Wie wichtig diese Beziehungen für sie sind, zeigte sich an einer deutlichen Verschlechterung, als eine Betreuerin in Urlaub ging. Sie gibt an, dass sie die Imaginationsübungen, die ihr gezeigt wurden, gelegentlich auch alleine durchführt. Sie sagt, sie würde dadurch entspannter. Bei einem der letzten Kontakte wirkte sie wieder niedergeschlagen wie bei unseren ersten Gesprächen. Sie berichtete dann, dass sie ihre Antidepressiva seit mehreren Wochen nicht mehr eingenommen 15 % refugio stuttgart e.v. in ausgewählten Zahlen habe. Danach hätten Schlafstörungen, Alpträume, Grübeln und Schwitzen wieder massiv zugenommen. Obwohl sie dies auf das Absetzen der Medikamente zurückführte, hatte sie nicht wieder begonnen, diese einzunehmen. Auf mein Anraten nahm sie sie wieder ein, aufgrund dieser Erfahrung vielleicht sogar regelmäßiger als zuvor. Daraufhin konnte sie beim nächsten Mal erzählen, dass ihre Beschwerden nach zwei bis drei Wochen erheblich zurückgegangen seien. Sie habe sogar den Eindruck, dass sich ihre Konzentration schrittweise verbessere. Eine Symptomfreiheit ist unter den gegebenen Umständen sicher nicht zu erreichen. Trotzdem ist Frau K. sehr dankbar für die Unterstützung, die zu einer Linderung ihrer Beschwerden beitragen konnte. Dr. med. Jan Vogel Aus Datenschutzgründen wurden einige Details des Fallberichts abgeändert. Literatur ist beim Verfasser zu erfragen. Das Jahr 2006 brachte einen Rückgang der Neuaufnahmen um 8%; die Gesamt- zahl der betreuten KlientInnen blieb gleich. Einigen Anrufern konnte statt einer Aufnahme durch telefonische Beratung und Weiterleitung geholfen wer- den. Angestiegen sind - im Vergleich zum Vorjahr - die Anmeldungen im ersten Jahr nach der Einreise. Wenn nicht so sehr der Druck des Asylverfahrens den Ablauf bestimmen muss, können Beratung und therapeutische Interventionen frühzeitig und mit mehr Aussicht auf Erfolg eingeleitet werden. Der Frauenanteil der Klientel ist über die Jahre gestiegen und liegt bei 60%. Das dürfte mehrere Gründe haben: Unser therapeutisches Gruppenangebot richtet sich speziell an Frauen und Mädchen; Frauen sind leichter für therapeutische Angebote zu motivieren, während viele Männer sich eher Stabilisierung in einer Erwerbsarbeit wünschen. Und nicht zu vergessen: Auf der Therapeutenseite herrscht ebenfalls ein Mangel an Männern. Während 2005 noch die Mehrzahl der Klienten aus dem Stadtgebiet Stuttgart und der Region bis 20 km kamen, war es 2006 umgekehrt. 57% kamen aus Entfernungen von >20 bis >100 km. Möglicherweise wurde dies durch behördliche Maßnahmen veranlasst. Das erschwert die psychosoziale und therapeutische Versorgung sehr. refugio hat im Einzelfall für besonders gefährdete Klienten einen Verbleib in Stuttgart erreichen können. 16