Professor Dr. med. Dr. h. c. Roland Laszig Geschäftsführender und Ärztlicher Direktor der Universitäts-Hals-Nasen-Ohrenklinik, Freiburg Leiter der Sektion „Gutes Hören“ im Deutschen Grünen Kreuz e. V., Marburg Präsidiumsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie und Vertreter dieser Gesellschaft beim Deutschen Berufsverband der HNO-Ärzte Hörsysteme: je früher, desto besser Hörminderungen sollten möglichst frühzeitig erkannt und behandelt werden. Das betrifft alle Altersgruppen. Um bereits Säuglinge versorgen zu können, wäre ein flächendeckendes Hörscreening aller Neugeborenen sinnvoll. Derzeit werden diese Untersuchungen in Deutschland nur an einigen Kliniken routinemäßig angeboten. So kommt es, dass die Diagnose bei hochgradig schwerhörigen Kindern erst mit etwa zwei Jahren gestellt wird und bei mittelgradig schwerhörigen mit bis zu sechs Jahren. Hören und verstehen können ist die Voraussetzung für den Spracherwerb. Kinder, die nicht oder nicht gut hören können, sind kaum in der Lage, die Lautsprache zu erlernen. Und nicht alles lässt sich nach Jahren noch aufarbeiten. Denn in den ersten Lebensjahren entwickelt sich das Hörvermögen noch, die Hörbahnen reifen. Dafür benötigen sie akustische Signale. Wenn keine – oder zu wenige – Signale über die Ohren an das Gehirn weitergeleitet werden, können sich die entsprechenden Verbindungen dort nicht entwickeln. Die Hörbahnreifung ist etwa nach dem dritten Lebensjahr abgeschlossen. Eine frühzeitige Versorgung mit Hörgeräten ermöglicht schwerhörigen Kindern eine relativ normale Entwicklung. Hier sollte keine Zeit verloren werden. Hörminderungen können nicht nur angeboren sein, sie können auch im Lauf der Kindheit und des gesamten Lebens, zum Beispiel durch Krankheiten, erworben werden. Daher sind bei Kindern und auch Erwachsenen regelmäßige Hörtests sinnvoll, um eventuell aufgetretene Hörminderungen diagnostizieren und therapieren zu können. Denn Kinder können ihr Defizit nicht selbst erkennen und benennen. Auch bei 1 Erwachsenen ist es häufig so, dass die Betroffenen Hörminderungen nicht wahrnehmen, da diese sich oft schleichend entwickeln. So bemerkt man die Verschlechterung zunächst selbst nicht und sucht die Ursache des schlechten Verstehens eher bei den anderen, die anscheinend „nuscheln“. Wenn man feststellt, dass das Gehör nicht gut ist oder nachgelassen hat, sollte man etwas dagegen tun. Je früher, desto besser. Der Hals-Nasen-Ohrenarzt klärt die Ursachen der Hörminderung ab und entscheidet, welche Therapie in Frage kommt. Bei bleibenden Hörminderungen können meistens Hörsysteme helfen. Natürlich ist ein Hörgerät kein neues Ohr, aber man kann das Hör-Defizit mit Hörgeräten weitgehend ausgleichen. Als Vergleich: Jemand, der nur ein Bein hat, kann natürlich mit diesem Bein irgendwie von A nach B hopsen. Aber mit einer gut angepassten, hochelektronischen Prothese kann er sogar einen 100-Meter-Lauf machen. So ähnlich ist das auch mit dem Hören. Hörsysteme unterstützen das Gehör und helfen dem ganzen Menschen. Den Hörverlust kann man damit in der Regel nicht aufhalten, aber man kann die Geräte an den individuellen Hörverlust anpassen. Das ist auch eine Frage des Komforts und der Lebensqualität. Viele Konflikte in der Familie, Missverständnisse und Unsicherheiten im Beruf entstehen durch Hörprobleme. Wer nicht richtig hören kann, aber keine Hörgeräte trägt, nimmt im Lauf der Monate und Jahre viele Schwierigkeiten in Kauf und oft eine erhebliche soziale Isolation. Die Technik gibt es, man muss sie nur nutzen. Aber nicht erst nach Jahren, sondern sobald das Hören zum Problem wird. Wer sich erst nach langer Hör-Entwöhnung entschließt, mit der Verordnung des HNO-Arztes zum Hörakustiker zu gehen und Hörgeräte anpassen zu lassen, muss das normale Hören erst wieder lernen. Es kann durchaus sein, dass man sich im Lauf der Zeit so an das schlechte Verstehen gewöhnt hat, dass man von der wiedergewonnenen Klangvielfalt überfordert und deshalb mit den neuen Hörgeräten unzufrieden ist. An optimal eingestellte Hörgeräte muss sich das zunehmend langsamer arbeitende Gehirn dann erst gewöhnen. Das geht nicht von heute auf morgen. Je früher Hörgeräte angepasst werden, desto problemloser ist das Eingewöhnen. In den Fällen, in denen mit Hörgeräten kein besseres Sprachverständnis zu erzielen ist, sollten Cochlear Implants (CI) in Betracht gezogen werden. Sowohl gehörlos geborene Säuglinge als auch ertaubte Säuglinge, Kinder oder Erwachsene können operiert werden. Die Voraussetzung, intakte Hörnerven, ist meist gegeben. Auch hier ist es sinnvoll, zwischen der Ertaubung und der CI-Operation nicht allzu viel Zeit ve rgehen zu lassen. Die deutschen Cochlear-Implant-Zentren bieten einen hervorragenden Standard bei der Operation und der aufwändigen interdisziplinären Nachbetreuung. Bei der Hörgeräte-Anpassung hat sich nach meiner Einschätzung das arbeitsteilige Vorgehen bewährt. Die Kompetenz der Hals-Nasen-Ohrenärzte liegt bei der Indikationsstellung für Hörgeräte, bei der Überprüfung und der medizinischen Betreuung. HNO-Ärzte erhalten in Ihrer Ausbildung jedoch nicht das technische Wissen, um entscheiden zu können, welches Hörgerät für welche Schwerhörigkeit besser geeignet ist. Daher sollten Hörgeräte-Akustiker mit ihrer hohen technischen Kompetenz wei- 2 terhin die Versorgung mit Hörgeräten übernehmen auf Indikationsstellung durch den Hals-Nasen-Ohrenarzt. Als Aufgabe des Hals-Nasen-Ohrenarztes sehe ich auch, den Patienten darüber aufzuklären, warum es für ihn sinnvoll ist, Hörgeräte zu tragen. Dafür muss sich der Arzt Zeit nehmen. Er muss seinen Patienten klar machen, dass es eine technische Möglichkeit ist, die ihnen das Leben erleichtert. Sinnvoll ist es, seinen Patienten zu empfehlen, zum Hörgeräte-Akustiker zu gehen und Hörgeräte auszuprobieren. Wenn die Patienten damit zurecht kommen, dann entscheiden sie sich auch für Hörgeräte. Damit sollte nicht gewartet werden. Sobald die Indikation nach den Hilfsmittelrichtlinien gegeben ist, sollten HNO-Ärzte in jedem Fall mit ihren Patienten über Hörsysteme sprechen. Doch meiner Meinung nach sollte man sich nicht nur an die Indikationsgrenzen ha lten. Es kann gut sein, dass ein Patient, dessen Hörvermögen noch unterhalb der festgelegten Grenze liegt, bereits sehr unter seinem Hör-Defizit leidet. Hier plädiere ich dafür, eine Hörsystem-Anpassung zu probieren. Denn ausschlaggebend ist nicht die Messung, sondern das subjektive Empfinden des Betroffenen. Letztlich muss der Patient zufrieden sein. Eine zu frühe Versorgung gibt es nicht, denn die Menschen akzeptieren die Geräte ohnehin nur, wenn sie den Eindruck haben, dass sie ihnen helfen. Durch Abwarten jedoch werden wertvolle Jahre verloren, in denen einerseits die Hör-Entwöhnung zunimmt und andererseits die Fähigkeit, sich mental und feinmotorisch auf Hörsysteme einzulassen, eher nachlässt. Die besten Ergebnisse bringt eine frühzeitige Versorgung. 3