Harmonisierung der rechtlichen Regelungen über den Umgang mit humanen embryonalen Stammzellen in der EG: Bioethik im Spannungsfeld von Konstitutionalisierung, Menschenwürde und Kompetenzen Verena Ritz Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Interdisziplinäres Zentrum Medizin-Ethik-Recht Herausgegeben von Prof. Dr. Hans Lilie Professor Dr. Hans Lilie (Hrsg.), Schriftenreihe Medizin-Ethik-Recht, Band 2, 2006 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: ISSN 1862-1619 ISBN 10: 3-86010-858-1 ISBN 13: 978- 3-86010-858-1 Schutzgebühr Euro 5 Interdisziplinäres Zentrum Medizin-Ethik-Recht (MER) Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Universitätsplatz 5 D- 06108 Halle (Saale) [email protected] www.mer.uni-halle.de Tel. ++ 49(0)345-55 23 142 Gliederung I. Einleitung................................................................................................................. 1 II. Sachverhalt und Problematik.................................................................................. 2 1. Problemstellung .................................................................................................. 2 2. Die Stammzelle – Begriff, Herkunft, ethische Probleme und Potential............... 3 a) Begriff und Herkunft der Stammzellen............................................................. 3 b) Ethische Problematik....................................................................................... 4 c) Möglichkeiten und Bedeutung der Stammzellforschung.................................. 5 3. Gegenwärtiger Regelungsstand innerhalb der Gemeinschaft............................. 6 a) Regelungen ausgewählter Mitgliedsstaaten im Überblick ............................... 6 b) Ethischer Rahmen für die Stammzellforschung auf Gemeinschaftsebene...... 7 III. Konstitutionalisierung und gemeineuropäischer Verfassungsbegriff ..................... 8 IV. Menschenwürde im Gemeinschaftsrecht ............................................................ 12 1. Ethik und Grundrechtsordnung im Gemeinschaftsrecht.................................... 13 a) Stellenwert der Ethik ..................................................................................... 13 b) Geltungsebene der Menschenwürde nach der Rechtsprechung des EuGH . 15 2. Gemeinschaftsrecht als Rahmen zur Klärung der Menschenwürdefrage ......... 19 a) Menschenwürde als Verfassungsgrundlage.................................................. 19 b) Anforderungen an ein europäisches Menschenwürdeverständnis ................ 22 3. Der EuGH als Verfassungs(vertrags)gericht im Biopatentrichtlinienurteil? ....... 24 4. Menschenwürde des Embryos in vitro? ............................................................ 27 a) Rechtserkenntnisquellen ............................................................................... 27 aa) Europäische Menschenrechtskonvention ................................................ 27 bb) Bioethikkonvention................................................................................... 30 b) Bioethische Rechtsinstrumente auf drei Normebenen .................................. 32 aa) Charta der Grundrechte (Teil II VerfV)..................................................... 32 bb) Biopatentrichtlinie .................................................................................... 34 cc) 6. Forschungsrahmenprogramm .............................................................. 35 V. Gesetzgebungskompetenz der Gemeinschaft ..................................................... 35 1. Anwendungsbereich des EG-Vertrages ............................................................ 37 2. Mögliche Kompetenzgrundlagen....................................................................... 37 a) Art. 95 I, Art. 47 II und Art. 47 II i.V.m. Art. 55 EG ......................................... 37 aa) Wirtschaftliche Nutzung von Embryonen als „Ware“?.............................. 38 bb) Binnenmarkt als subjektives Ziel.............................................................. 39 cc) Binnenmarkt als objektiv-tatsächlicher Zweck.......................................... 41 b) Art. 152 IV lit. a EG........................................................................................ 42 c) Art. 133 I EG.................................................................................................. 42 VI. Fazit und Ausblick ............................................................................................... 43 Literatur………………………………………………………………………………………46 1 I. Einleitung „Die Zukunft mit Methoden der Vergangenheit bewältigen zu wollen, hieße, die Gegenwart falsch einzuschätzen.“ Richard von Weizsäcker Der seit 1957 in Gang gesetzte Prozess der Harmonisierung und Rechtsangleichung innerhalb der EG wurde durch den Vertrag von Maastricht1 in eine neue Ära geführt, innerhalb derer sowohl die Folgeverträge2 als auch die Konkretisierungen des EuGH zum Pflichtenumfang die Integrationsstandards stetig vorantrieben und damit in neue Dimensionen führten. Gekennzeichnet ist diese dynamische Entwicklung der Konstitutionalisierung durch ihr auf ein Gegenstromprinzip setzendes, hierarchisch mehrdimensional zu betrachtendes Normengeflecht. Am komplexesten zeigt sich insbesondere das Problem des Zusammenwirkens von europäischer und mitgliedsstaatlicher Rechtsordnung in Bereichen, deren Regelungsgegenstände neben wirtschaftlichen Interessen auch ethische Fragen und Problemkreise betreffen. Exemplarisch ist hierfür die Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen, mit deren wachsender Komplexität in wissenschaftlicher Hinsicht auch Anzahl und spezielle Ausprägungen der konträren, teilweise einander widersprechenden Haltungen, Vorstellungen und Überzeugungen über die Forschung selbst, sowie die mit ihr verbundenen Chancen und Risiken zunehmen. Die dadurch auf individueller ebenso wie auf gesellschaftlicher Ebene erzeugten Konflikte stellen nicht nur den Versuch einer gemeinsamen europäischen Politik vor schwer überwindbare Hürden. So sahen sich auch die Streitbeilegungsorgane der Welthandelsorganisation (WTO) im Falle ECBiotech3 erstmals mit dem Konfliktpotential aus dem für sie maßgeblichen Gesichtspunkt der Entwicklung eines funktionsfähigen multilateralen Freihandelssystems ei- 1 Vertrag über die Europäische Union (Maastricht Vertrag) vom 07.02.1992, ABl. EG C 191 vom 29.07.1992. Vertrag von Amsterdam (EUV) vom 02.10.1997, ABl. EG C 340 vom 10.11.1997; Vertrag von Nizza vom 26.02.2001, ABl. EG C 80 vom 10.03.2001. 3 Verfahrensgegenstand war die Vereinbarkeit bestimmter, die Kennzeichnung und Vermarktung genetisch veränderter Lebens- und Futtermittel regulierender EG-Verordnungen mit dem WTO-Recht, EC – Measures Affecting the Approval and Marketing of Biotech Products, Complaints by the US (WT/DS291), Canada (WT/DS292) and Argentina (WT/DS293), Berichte vom 07. Februar 2006, die Berichte sind den Parteien zugestellt, gegenwärtig jedoch noch nicht veröffentlicht und voraussichtlich ab September abrufbar unter www.wto.org. Die Problematik dieses mit vielen Emotionen einhergehenden Kultur- und Handelskonfliktes zeigt sich auch in der Dauer des Verfahrens, fast drei Jahre vergingen bis zum ersten Schiedsspruch, der Bericht wurde mehrfach verschoben. Siehe zur Problematik auch Wolf, Arbeitspapiere aus dem Institut für Wirtschaftsrecht 6/2002. 2 2 nerseits und der eng mit der kulturellen Identität verknüpften Haltung verschiedener Mitgliedsstaaten gegenüber moderner Biotechnologie andererseits konfrontiert. Nichtsdestotrotz herrscht nicht nur innerhalb Europas4 eine wachsende politische Übereinstimmung hinsichtlich der Notwendigkeit, diese Entwicklung zu steuern und ein Gleichgewicht zwischen der Sicherstellung der Forschungsfreiheit sowie einer international wettbewerbsfähigen Forschung einerseits, und der Garantie der Menschenwürde, der Integrität und Nichtdiskriminierung sowie Schutz menschlichen Lebens und der Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen, mithin dessen, was man heritage of humanity nennt5, andererseits zu finden. II. Sachverhalt und Problematik 1. Problemstellung Zum gegenwärtigen Zeitpunkt besteht auf Gemeinschaftsebene kein rechtliches Rahmenwerk für den Umgang mit humanen embryonalen Stammzellen. Zudem bietet sich mit Blick auf die Mitgliedsstaaten ein sehr heterogenes Bild, sowohl bezüglich Umfang und inhaltlicher Ausgestaltung rechtlicher Regelungen, als auch hinsichtlich der zugrunde liegenden ethischen Vorstellungen. Für eine gemeinschaftsrechtliche Steuerung dieses Bereiches wären rechtliche Vorgaben für die Forschung denkbar und, angenommen diese oder jene Forschung sei dann erlaubt, die Beschaffung von Embryonen und Stammzellen, also den Handel. Diese stünden, neben dem bereits auf nationaler Ebene auftretenden Problem der Schaffung eines Gleichgewichtes zwischen Menschenwürde und Forschungsfreiheit, außerdem vor der Herausforderung, diesen Konflikt in seiner Verflechtung mit Fragen der Kompetenz und Konstitutionalisierung zu bewältigen. Die Komponenten Konstitutionalisierung, Menschenwürde und Kompetenzen stehen in einem von Wechselwirkung und komplexer Verflechtung geprägten Spannungsverhältnis zueinander. In dessen Zentrum steht die 4 So fand zum einen vom 31.03. - 03.04.2005 an der Martin-Luther-Universität in Halle (Saale) das internationale Symposium „Globalisierung der Biopolitik, des Biorechts und der Bioethik - Das Leben an seinem Anfang und seinem Ende“ statt, mit Referenten aus Deutschland, Österreich, Korea und Japan. Unter anderen wurden dabei sowohl neueste Entwicklungen innerhalb dieses Wissenschaftszweiges aufgezeigt, als auch über grundlegende Fragen zum Beginn des Menschseins, zur Forschung und Therapie mit Embryonen und Stammzellen und zur Zulässigkeit der Optimierung von Mensch und Embryo diskutiert. Außerdem wird ebenfalls an der Universität Halle vom 21.-24.03 2007 eine Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht zum Thema „Pluralistische Gesellschaften und internationales Recht“ stattfinden, bei der u.a. ein Vortrag von Prof. Dr. Armin von Bogdandy mit dem Titel „Kulturelle Vielfalt und Europäisches Gemeinschaftsrecht“ präsentiert werden soll, Tagungsprogramm abrufbar unter www.jura.uni-halle.de/dgvr2007/, gesehen am 10.07.2006. 5 Lilie, in: Schreiber-FS, 729 (730). 3 Frage nach einer gemeineuropäischen Bioethik, d.h. also inwieweit dieses Spannungsfeld auf den Anspruch der europäischen Normebene, einen bioethischen Grundkonsens zu beschreiben, bzw. auf die Legitimation diesen zu beschreiben und zu gestalten, einwirkt. Der vorliegenden Arbeit stellt sich deshalb die Aufgabe, diese einzelnen Verflechtungen nachzuzeichnen. Durch eine Auflösung in die einzelnen Komponenten sollen Schritt für Schritt die jeweils zugehörigen Entwicklungen und Berührungspunkte mit den anderen Elementen aufgezeigt, also deren wechselseitige Einpassung und Prägung nachgeführt werden, um so nach und nach ein vollständiges Bild des Konstruktes entstehen zu lassen. Dieses soll abschließend eine Prognose hinsichtlich der weiteren Entwicklung ermöglichen. 2. Die Stammzelle – Begriff, Herkunft, ethische Probleme und Potential a) Begriff und Herkunft der Stammzellen Der menschliche Körper besteht aus mehreren Milliarden Zellen, die sich in ungefähr 20 spezialisierte und differenzierte Zelltypen mit unterschiedlichen Funktionen, wie z.B. Nerven- oder Hautzellen, einteilen lassen. Stammzellen dagegen sind unspezialisierte Zellen, die sich über einen sehr langen Zeitraum hinweg vermehren können und aus denen sowohl erneut Stammzellen als auch andere, spezialisierte Zelltypen entstehen können. Es wird zwischen neonatalen, adulten und embryonalen Stammzellen unterschieden. Neonatale Stammzellen werden aus Nabelschnurblut gewonnen, adulte Stammzellen aus bereits differenziertem Gewebe des menschlichen Organismus. Forschung und Anwendung sind ethisch unproblematisch, jedoch sind sie gegenüber embryonalen Stammzellen weniger teilungsfreudig und daher von begrenzterem Potential. Bei den Stammzellen ist zwischen zwei Qualitäten zu differenzieren, den noch nicht ausdifferenzierten totipotenten Zellen (von der Befruchtung der Eizelle bis zum Achtzellstadium), die sich zu einem vollständigen neuen Embryo bzw. menschlichen Individuum entwickeln können, und den pluripotenten Zellen, die im Blastocystenstadium durch Öffnen dieser Zellkugel entnommen werden können, was regelmäßig zum Absterben des Embryos führt. Diese pluripotenten Zellen können sich, isoliert und unter entsprechenden Voraussetzungen gehalten, unbegrenzt teilen (in Abgrenzung zur adulten Stammzelle, die ihre Teilungsaktivitäten nach einer gewissen Zeit einstellt). Die seit einiger Zeit mehr oder weniger permanent in vitro haltbaren Abkömmlinge dieser Zellen bilden die embryonale Stammzelllinie. Zudem können sich diese Zellen, je nach entsprechenden biologischen und biochemischen 4 Voraussetzungen, zu jedem spezialisierten Zelltyp entwickeln und ausdifferenzieren. Sie können damit die Zellen eines jeden Organs (außer der Placenta) ersetzen.6 Embryonale Stammzellen lassen sich auf drei Arten gewinnen: 1998 gelang es James Thomson (Universität von Wisconsin), erstmals embryonale Stammzelllinien durch Entnahme aus Embryonen, die im Rahmen einer In-Vitro-Fertilisation erzeugt, aber nicht transferiert wurden und somit überzählig sind, zu gewinnen (verbrauchende Embryonenforschung). Weiterhin können Stammzellen aus Embryonen, welche durch einen Zellkerntransfer eigens dafür erzeugt wurden, erhalten werden (therapeutisches Klonen). Hierbei sollen keine Menschen reproduziert, sondern die erschaffenen Zellen so manipuliert werden, dass aus ihnen neue Zellen bestimmter Art entstehen und somit z.B. Gewebe „nachgezüchtet“ werden können. Allerdings besteht ein Unterschied zum reproduktiven Klonen allein in der Zielsetzung: Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand lässt sich auch bei dieser „Reprogrammierung“ somatischer Zellen eine totipotente Zwischenphase nicht umgehen, so dass technisch auch beim therapeutischen Klonen zielgerichtet ein Embryo geklont wird, jedoch nicht um ihn zu implantieren, sondern um seine Entwicklung abzubrechen und ihn zugunsten Dritter zu verbrauchen. Schließlich lassen sich embryonale Stammzellen auch aus Embryonen oder Foeten in einem frühen Entwicklungsstadium nach einem Schwangerschaftsabbruch gewinnen. Problematisch sind dabei die hohe Sterberate der Embryonen und Foeten während des Abbruchs, sowie die unterschiedlich weit fortgeschrittenen Schwangerschaften.7 b) Ethische Problematik Die grundlegende Frage bei der ethischen Problematik der Stammzellforschung lässt sich wie folgt formulieren: (Ab wann) Ist ein Embryo ein menschliches Wesen, dem Menschenwürde und ein Recht auf Leben zukommt? Im Falle ihrer Totipotenz würden die embryonalen Stammzellen selbst als Embryonen gelten, so dass nicht nur ihre Herstellung, sondern auch die Forschung daran selbst ethisch problematisch wäre.8 Im Falle ihrer Pluripotenz käme ihnen selbst ebenso wenig wie menschlichen Armen und Beinen der Schutz der Grundrechte bzw. Rechtsgütern von Verfassungs6 Kersten, Klonen, 19-20; Beier, in: Raem et al., Genmedizin, 71-72; Solter et al., Embryo Research, 84, 96 f; Taboada, in: Schweidler et al., Menschenwürde, 129 (131 ff.); www.europa.eu.int/comm/research/quality-oflife/stemcells/about.html, gesehen am 10.07.2006. 7 Kersten, Klonen, 20, 24; Krauß/Engelhard, GRUR 2003, 985 (987); Beier, in: Raem et al., Genmedizin, 73-76; Simon, in: Winter et al., Genmedizin, Rn. 284 f; Solter et al., Embryo Research, 96-99; www.europa.eu.int/comm/research/quality-of-life/stemcells/about.html, gesehen am 10.07.2006. 8 Nationaler Ethikrat, Stellungnahme zum Import menschlicher embryonaler Stammzellen, Dezember 2001, 2; unter www.ethikrat.org/stellungnahmen.html; Taboada, in: Schweidler et al., Menschenwürde, 129 (137). 5 rang zu9, dennoch könnten, abhängig vom Standpunkt hinsichtlich des Embryonenstatus, ihre Gewinnung bzw. die Stammzellen selbst jedenfalls mit der „Fernwirkung“ eines Menschenwürdeverstoßes oder der Verletzung des Lebensrechts „bemakelt“ sein. Bei der Frage nach einer Verletzung des Rechts auf Leben ist eine begriffliche Differenzierung zwischen artspezifischem menschlichem Leben (human life), als solches der Embryo in vitro wie in utero zweifellos einzuordnen ist, und individuellem, personalem menschlichem Leben (human being), also menschlichem Leben im Sinne des Rechts, vorzunehmen.10 Der unterschiedliche Status, der dem Embryo zuerkannt wird, liegt in den unterschiedlichen Gesellschaftsformen der verschiedenen Länder und den Gesellschaften innerhalb der Länder begründet. In Deutschland beispielsweise resultiert der starke Schutz des (ungeborenen) Menschen zum einen aus historischen ethischen Grundwerten, wie dem praktischen Imperativ Kants11, zum anderen aus Erfahrungen der Zeit des Nationalsozialismus, in der die ohne Rücksicht auf die Menschenwürde angewandte Humangenetik eine besonders unrühmliche Rolle einnahm. Weiterhin wirkt der starke Schutz des ungeborenen Lebens durch die Kirchen in unterschiedlich starker Ausprägung auf die Gesellschaften ein.12 Aufgrund der vielfältigen Verwendung und der sich stetig weiterentwickelnden Forschung ist eine Grenzziehung aus ethischen Gründen nur im Einzelfall möglich, Nutzen und Risiken liegen stets eng beieinander. Eine Lösung kann daher zweifellos nicht ohne einen Kompromiss zwischen den Ansichten13, seien sie nationaler, internationaler oder individueller Natur, angestrebt werden. c) Möglichkeiten und Bedeutung der Stammzellforschung Die Stammzellforschung ist bedeutend für viele wissenschaftliche Bereiche und die Medizin. So liegt das therapeutische Potential der Stammzellen in ihrer Nutzung als „Ersatzteillager“ für den menschlichen Körper, im Rahmen der Zucht von Stammzel- 9 Classen, DVBl 2002, 141 (141); Dederer, AöR 127, 1 (24). Nationaler Ethikrat, a.a.O. (Fn. 7), 6; auch die bei ärztlicher Behandlung entnommenen Zellen, aus denen Kulturen gezüchtet werden, sind „menschliches Leben“, aber nicht grundrechtlich geschützt. 11 „Der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muss in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden“, Kant, nachzulesen in: Türk/Trutwin, Philosophisches Kolleg 4, 32 ff. 12 Krauß/Engelhard, GRUR 2003, 985 (986); vgl. Schreiber, MedR 2003, 367 (367, 369). 13 Die konträren Haltungen gegenüber der Biotechnologie zeigen sich in ihren Extremen in folgenden zwei Zitaten: „Der Mensch hätte die Finger von zwei Kernen lassen sollen. Vom Atomkern und vom Zellkern. Die Gentechnik wird weit schlimmere Folgen haben als die Atomenergie“, Chargraff, Entdecker der DNS, unter www.meub.de/Inhalte/wpf/internationales_wirtschaftsrecht_eu_recht/12.pdf, gesehen am 10.07.2006; „Es gehört zu den unauflösbaren Rätseln der gegenwärtigen Diskussion, wie ethische Gründe der Forschung entgegenstehen sollen, die die Verringerung des Leidens von Menschen zum Ziel hat.“, Ipsen, NJW 2004, 268 (269 f.). 10 6 len als Gewebeersatz (tissue engineering) bei all jenen Krankheiten, die mit dem Verlust von bestimmten Zelltypen oder Geweben des Organismus einhergehen, wie beispielsweise Diabetes, Parkinson, Leukämie und Krebstherapie im Allgemeinen, Wundheilung oder sogar Rekonstruktion von Körperteilen, Immunkrankheiten und Querschnittslähmung. Außerdem ließen sich möglicherweise im Wege gezielter Modifikationen Gendefekte bekämpfen. Jedoch stehen diesem Potential auch viele offene Fragen gegenüber, z.B. bezüglich der Lebensspanne übertragener Zellen oder langfristiger Risiken. So haben all die großen Hoffnungen, die Ärzte, Forscher und Patienten in diese therapeutische Verwendung von Stammzellen gesetzt haben, jüngst einen schweren Dämpfer erhalten. Erkenntnissen von Forschern der Universität in San Diego zufolge sind wahrscheinlich die meisten bisher hergestellten humanen embryonalen Stammzellen für therapeutische Zwecke unbrauchbar. Denn sie enthalten immunogene Stoffe, gegen die das Immunsystem von Patienten reagiert.14 Freilich liegen derartige Rückschläge und offene Fragen in der Natur der Forschung, die Unbekanntes erkunden und dessen Möglichkeiten testen will, und nicht Mechanismen mit bekanntem Resultat schlicht anwendet. Im Ergebnis führen solche Rückschläge, jedenfalls in begrenzter Zahl, nicht dazu, die Stammzellforschung in einem völlig neuen Licht zu betrachten, sondern funktionieren „lediglich“ als weiterer Parameter bei der Schaffung eines Gleichgewichtes zwischen unterschiedlichsten Interessen. 3. Gegenwärtiger Regelungsstand innerhalb der Gemeinschaft a) Regelungen ausgewählter Mitgliedsstaaten im Überblick Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ergibt sich für die EU-Mitgliedsstaaten im Hinblick auf die rechtliche Regelung von Forschung, Verwendung und Handel mit Embryonen und embryonalen Stammzellen ein sehr heterogenes Bild: Dort, wo entsprechende Standpunkte rechtlich festgelegt wurden, kann grundsätzlich zwischen drei regulativen Ansätzen unterschieden werden. Großbritannien beispielsweise vertritt einen eher liberalen Ansatz, bei dem die Embryonenforschung wie in nur wenigen Ländern der EU ausdrücklich erlaubt wird. Jegliche Forschung an menschlichen Embryonen wird dabei durch den Human Fertilisation and Embryology Act (HFE) von 1990 geregelt, welcher 2001 nochmals im Hinblick auf eine Erleichterung der Stammzellfor14 Ärztezeitung vom 27.01.2005, unter www.aerztezeitung.de/docs/2005/01/27/014a0108.asp?cat=/medizin/ stammzellen, gesehen am 10.07.2006. 7 schung liberalisiert wurde und therapeutisches Klonen unter Überwachung erlaubt. Abweichend ist die rechtliche Situation z.B. in Deutschland, wo im Rahmen eine restriktiven Regelung die Embryonenforschung nur erlaubt ist, wenn sie dem Embryo unmittelbar zugute kommt, bzw. Stammzellen nur unter dieser Auflage und soweit sie vor dem 01.01.2002 gewonnen wurden importiert werden dürfen. Diese Vorgaben sind determiniert durch das Embryonenschutzgesetz (ESchG15) und das Stammzellgesetz (StZG16) und erlauben eine Forschung an pluripotenten embryonalen Stammzellen teilweise, während die Erzeugung neuer pluripotenter Stammzelllinien verboten ist. Schließlich erarbeitete unter anderem Spanien einen differenzierenden Ansatz, der die Embryonenforschung unter ganz bestimmten Bedingungen erlaubt bzw. verbietet.17 b) Ethischer Rahmen für die Stammzellforschung auf Gemeinschaftsebene Als Reaktion auf die große Interessenbekundung bezüglich der embryonalen Stammzellforschung bei der Veröffentlichung ihrer Vorschläge für das 7. Forschungsrahmenprogramm (RP7, für den Zeitraum 2007-2013)18 am 06.04.2005, hat die Kommission ein Memo19 veröffentlicht, in dem sie ihren Ansatz zu ethischen Fragen unter dem Vorschlag zum RP7 erläutert. Dieser wird in zwei spezifischen Passagen zusammengefasst: (1.) „Die durch dieses Rahmenprogramm unterstützten Forschungsmaßnahmen sollten grundlegende ethische Prinzipien beachten, einschließlich der in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union festgelegten Prinzipien. Die Stellungnahmen der Europäischen Gruppe für Ethik der Naturwissenschaften und der Neuen Technologien werden derzeit und künftig berücksichtigt.“ (2.) „Alle unter dem Siebten Rahmenprogramm durchgeführten Forschungsmaßnahmen müssen in Übereinstimmung mit grundlegenden ethischen Prinzipien ausgeführt werden.“ Um die Umsetzung dieses Ansatzes in die Praxis transparent werden zu lassen, stellte die Kommission den Umgang mit der Forschung an embryonalen Stammzellen unter dem aktuellen RP620 vor. Keinesfalls von der EU finanziert werden dabei For15 Gesetz zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz - EschG) vom 13. 12. 1990, BGBl. I, 2746. Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz - StZG) vom 28.06.2002, BGBl. I, 2277. 17 Beyleveld/Pattinson, in: Friele, Embryo Experimentation, 58 (58 f.); Krauß/Engelhard, GRUR 2003, 985 (988); Simon, in: Winter et al., Genmedizin, Rn. 271 ff.; Solter et al., Embryo Experimentation, 19. 18 Befindet sich in Vorbereitung, Entwicklungsstand unter www.ec.europa.eu/research/fp7, gesehen am 10.07.2006. 19 Kommission der EG, MEMO/05/121 vom 08.04.2005, “How does the European Commission deal with ethical issues within its Framework Programme for Research and Development?” 20 Beschluss Nr. 1513/2002/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.06.2002 über das Sechste Rahmenprogramm der Europäischen Gemeinschaft im Bereich der Forschung, technologischen Entwicklung und 16 8 schungsmaßnahmen, die das reproduktive Klonen von Menschen umfassen, die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken (oder therapeutisches Klonen), sowie Forschung, die das menschliche Erbmaterial verändern würde. Weiterhin würden keinerlei Projekte in Mitgliedstaaten gefördert, in denen von dem Projekt umfasste Forschungspraktiken verboten sind. Außerdem lehnt die Kommission die Finanzierung von Vorhaben ab, die die direkte Ableitung von Stammzellen von Embryos umfassen, mithin die Zerstörung eines überzähligen Embryos für die Zwecke der EUForschung implizierten. Kein Element des RP6 fördere direkt Projekte, die irgendeine Art von Stammzellenforschung umfassen, stellt die Kommission heraus. Bei der Auswahl der zu fördernden Forschungsvorhaben mit Stammzellen würden immer diejenigen bevorzugt, die adulte Stammzellen umfassen und damit keine ethischen Probleme bereiteten. Bisher enthielten unter dem RP6 von den 25 Stammzellenforschung umfassenden Projekten, die für eine EU-Finanzierung auszuwählen sind, nur zwei eine Komponente zu embryonalen Stammzellen, diese beliefen sich zusammen auf 0,002 Prozent des Gesamthaushalts des RP6.21 Die weitere Unterstützung entsprechender Forschungsvorhaben auch unter dem RP7 hat das Europaparlament mit dem am 15.06.2006 ergangenen Finanzbeschluss genehmigt. Aus dem insgesamt 50 Milliarden Euro schweren RP7 sollen EU-Mittel in Höhe von 50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Nach dieser Ersten Lesung im Parlament sieht sich der Text allerdings noch weiteren Hürden gegenüber, zunächst einer geforderten qualifizierten Mehrheit bei der Zweiten Lesung sowie seitens der EU-Regierungen im Ministerrat im Herbst 2006. Sollen die geplanten Programme pünktlich im Jahre 2007 anlaufen, ist eine schnelle Einigung gefragt, nachdem sich bisher eine erforderliche Mehrheit für keine der Positionen abzeichnet. III. Konstitutionalisierung und gemeineuropäischer Verfassungsbegriff „Immer schneller, immer mehr - so könnte man die gegenwärtigen Herausforderungen, vor denen die EU steht, beschreiben.“22 Die Ziele der Erweiterung und Vertiefung stehen ohne Zweifel seit jeher im Zentrum der europäischen Integration. Ebenso wie heute der EU-Vertrag formulierten schon die Gründungsverträge das Ziel einer Demonstration als Beitrag zur Verwirklichung des Europäischen Forschungsraums und zur Innovation (20022006), ABl. EG L 232 vom 29.08.2002. 21 CORDIS Nachrichten vom 12.04.2005: „Kommission klärt ethischen Rahmen für Forschung“. 22 Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, 542 (542). 9 „ever closer union among the peoples of Europe“, welches die Dynamik des europäischen Integrationsgedankens auf den Punkt bringt: Die Wirtschaftsintegration ist kein Selbstzweck, sondern soll den Weg für diesen immer engeren Zusammenschluss der Völker Europas in der EU ebnen („Spill-over-Effekt“ nach dem funktionalistischen Ansatz23).24 Mit dieser ihnen immanenten Integrationsdynamik lassen sich EU und EG25 nur unvollkommen in klassische staats- und völkerrechtliche Kategorien einordnen, was die Debatte, ob den Verträgen Verfassungsqualität zu kommt oder nicht, ständig genährt hat. Nach traditioneller Sicht ist der Begriff der Verfassung untrennbar mit dem des Staates und der des Staates mit dem der Souveränität verbunden. Dabei ist die EU ebenso wenig wie die unter ihrem „Dach“ befindliche EG ein Staat im herkömmlichen Sinn, da ihr sowohl das Staatsvolk wie auch bedingt durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung eine eigene Kompetenz-Kompetenz fehlen. Dieser Status soll auch durch den Vertrag über eine Verfassung für Europa26 nicht geändert werden.27 Das in der EU angelegte Spannungsverhältnis zwischen völkerrechtlichem Vertrag und unmittelbarer Herrschaftsgewalt wird üblicherweise mit dem Begriff der „Supranationalität“ umschrieben und ist folglich weder mit einer rein völkerrechtlichen, noch mit einer rein staatsrechtlichen Betrachtungsweise voll zu erfassen, sondern bedarf eines zeitgemäßen, der Internationalisierung des Staates durch Öffnung gegenüber supranationalen Organisationen angepassten Verständnisses des Gemeinschaftsrechts als Rechtsordnung sui generis.28 Innerhalb der europäischen Diskussion ist der grundlegende und folgenreiche Schritt der Lockerung der „eheähnlichen Verbindung“ von Staat und Verfassung bereits getan: niemand, der von einer - vorhandenen oder auszubauenden - Verfassung der EU spricht, will 23 Streinz, Europarecht, Rn. 18. Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, 542 (542); so postuliert in der FAZ vom 08.07.2006 der amerikanische Ökonom und Träger des Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften Vernon Smith den freien Handel und die Globalisierung als „wahrhaft segensreiche“ Kraft, die dem Streben der Menschen nach Verbesserung der eigenen Lage durch Austausch entspringt und zitiert dazu den französischen Ökonomen und Journalisten Frédéric Bastiat (1801-1850): „Wenn nicht Waren die Grenzen überschreiten, werden Soldaten dies tun.“ Der Artikel „Kein Wohlstand ohne Handel“ ist abrufbar im Archiv unter www.faz.de. 25 Die folgende Darstellung und Begriffszuweisung, insbesondere die des Verfassungsbegriffs, erfolgt hinsichtlich der EG und des Gemeinschaftsrechts als Teil der EU und deren Recht; in der weiterreichenden Natur der EU als institutionelle Klammer aller drei Säulen einhergehende Differenzierungen werden davon nicht umfasst. 26 Vertrag über eine Verfassung für Europa vom 29.10.2004, ABl. EG C 310 vom 16.12.2004; trotz der gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden vor einem Jahr ist dieser Vertrag(stext) nicht „tot“, die den Referenden gefolgte „Denkpause“ soll nach dem EU-Gipfel in Brüssel im Juni 2006 nun beendet und eine neue „Phase der Resultate“ eingeläutet werden, für die der Vertrag jedenfalls in der Substanz als Ausgangspunkt für mögliche neue Elemente und Reifungsprozesse dienen wird. 27 Dies machen schon Art. I-8 Abs. 2 und Art. I-9 Abs. 2 deutlich; Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, 542 (544); Hilf, in: Iliopoulos-Strangas, Grundrechtsschutz, 320 (329); Jacqué, EuGRZ 2004, 551 (551). 28 Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, 542 (544); Fischer et al., Europarecht, Rn. 692, 695, 698 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 115, 109. 24 10 damit behaupten, dass die EU ein Staat sei. Der Verfassungsbegriff ist damit grundsätzlich als über den Staat hinaus verfügbar anzusehen. Allerdings muss dabei der Anspruch der Bedeutung des Begriffs „Verfassung“, welcher als Rechtsgrundlage Selbstbindung und Vorrangordnung impliziert, beachtet werden: Mit Verfassung wird mehr behauptet als mit dem vagen Begriff der Konstitutionalisierung.29 Was aber macht den gemeineuropäischen Verfassungsbegriff aus und wie ist er in Beziehung zum Begriff der Konstitutionalisierung zu setzen? Letzterer beschreibt grundsätzlich das Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und „einfachem Recht“ in einer hierarchisch gestuften Normordnung, die sich dialektisch entfaltet. Dabei entwickelt sich in einem dynamischen Prozess nach dem Gegenstromprinzip eine Ausstrahlung des Verfassungsrechts auf das die Auslegung des einfachen Rechts und Konkretisierungen der abstrakten Verfassungsnormen durch einfache Gesetze.30 In diesem Sinne auf die Ebene der EU übertragen würde sich eine horizontale Konstitutionalisierung auf das Verhältnis zwischen Primär- und Sekundärrecht beziehen, eine vertikale Konstitutionalisierung auf das Verhältnis zwischen internationaler, europäischer und nationaler Ebene. Auf europäischer Ebene wird der Begriff der Konstitutionalisierung jedoch so häufig verwendet, dass diese Verwendung kaum dokumentiert werden kann. Die Betonung allerdings liegt dabei offensichtlich auf der Kennzeichnung eines in der Zeit ablaufenden gestreckten Prozesses, dem dadurch häufig auch ein fordernder oder erwartender Charakter verliehen wird, in Abgrenzung zu einer Zustandsbezeichnung, wie sie das traditionelle Verfassungsverständnis für den Konstitutionalisierungsbegriff birgt.31 Mit der Phase der Konstitutionalisierung ist somit der Anspruch der Union, nicht mehr nur als Wirtschaftsgemeinschaft, sondern als politisches Gemeinwesen mit eigener Identität und somit als Wertegemeinschaft wahrgenommen zu werden, verbunden. Träger dieses Prozesses war zunächst vor allem der EuGH, der durch die Vertragsauslegung den rechtlichen Rahmen der Gemeinschaft geprägt hat und durch seine Spruchpraxis erkennen ließ, dass eine autonome Weiterentwicklung des materiellen Gemeinschaftsrechts stattgefunden hat und weiter stattfinden wird. Stationen dieser von rechtsstaatlichen Zügen geprägten Konstitutionalisierung waren die Bekräftigung der unmittelbaren Anwendbarkeit32 und des Vor- 29 Wahl, in: Brohm-FS, 191 (198). Kersten, Klonen, 129 f. 31 Wahl, in: Brohm-FS, 191 (191, 194-195). 32 EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, 1, Rn. 9-10. 30 11 rangs33 des Gemeinschaftsrechts, sowie die Begründung des Schutzes von Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen auf Gemeinschaftsebene34.35 Der europäische Konstitutionalisierungsprozess vollzog sich teilweise innerhalb des durch diese Vertragsauslegung geschaffenen Rahmens, teilweise durch Ausweitung dieses Rahmens im Wege einer Vertragsrevision. Innerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches hat die EU „Bürger“, gegenüber denen sie unmittelbar in Erscheinung tritt, indem sie Individualrechte und -pflichten begründet und diese durch den EuGH zu schützen gewährleistet. Weiterhin wird diesen Bürgern Europas ermöglicht, das Europäische Parlament als ein an der Rechtssetzung beteiligtes Organ direkt zu wählen, wenn auch nicht nach einem einheitlichen Verfahren. Mit dieser Ausgestaltung und dem nachhaltigen Ausbau von Verfassungselementen, wie denen eines Rechts- und Sozialstaates gleich, solche der Marktwirtschaft und eben der Grundrechte,36 hat die EU bereits gegenwärtig eine Verfassung im materiellen Sinn.37 Zu diesem Ergebnis kommen gleichsam sowohl der EuGH38 als auch das deutsche BVerfG39. Innerhalb der europäischen Integration - potentiell gipfelnd in einem künftigen Verfassungsvertrag - hat sich damit der Konstitutionalisierungsprozess mit den ihm innewohnenden Erwartungen und Zielen durch die Etablierung des gemeineuropäischen Verfassungsrechts vollzogen, bzw. vollzieht sich noch immer und weiterhin im Rahmen eines ebenfalls durch Dynamik gekennzeichneten und andauernden Verfassungsprozesses. Dieses europäische Verfassungsrecht steht, vermittelt über seinen Vorrang, in einem inhaltlichen Verbund mit den mitgliedsstaatlichen Verfassungsordnungen und ist durch wechselseitige Durchdringung und Verflechtung staatlicher und zwischenstattlicher Organisationen gekennzeichnet. Kernpunkte der europäischen Verfassungsdiskussion sind deshalb Themen des Organisationsrechts, der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedsstaaten sowie die die Ausgestaltung der Grundrechte als Verbindungselement zwischen der EU und ihren „Bürgern“. Die EU 33 EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1252, Rn. 11-12; Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125, Rn. 4. 34 EuGH, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, 419, Rn. 7. 35 Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, 542 (544); Wichard, EuGRZ 2004, 556 (557); Fischer et al., Europarecht, Rn. 700, außerdem diese Stationen als Merkmale der Supranationalität bezeichnend unter Rn. 694. 36 Häberle, EuGRZ 1991, 216 (261, 264). 37 Wichard, EuGRZ 2004, 556 (557-558); Fischer/Köck/Karollus, Europarecht, Rn. 709, außerdem die formellen bundesstaatlichen und völkerrechtlichen Theorien als schon theoretisch unbefriedigend ablehnend zugunsten dieser materiellen Betrachtungsweise unter Rn. 689; i.E. Streinz, Europarecht, Rn. 346. 38 Der EuGH betont dabei, dass die Gemeinschaftsverträge als Verfassung einer Rechtsgemeinschaft eine neue Rechtsordnung geschaffen haben, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedsstaaten, sondern auch deren Bürger sind, EuGH, Gutachten 1/91 vom 14.12.1991, Slg. 1991, I-6079 (6102) = EuGRZ 1992, 67 (67). 39 BVerfGE 22, 293 (296): „Der EWG-Vertrag stellt gewissermaßen die Verfassung der Gemeinschaft dar.“. 12 ist damit mehr als ein loser Bund souveräner Nationalstaaten, nämlich ein Staatenverbund, der für sich betrachtet einen Torso bildet, welcher durch eine Verfassung mit Inhalt gefüllt wird und somit die EU als einen Verfassungsverbund konstituiert.40 Der Vertrag über eine Verfassung für Europa bündelt den von weiterhin souveränen Mitgliedsstaaten getragenen europäischen Konstitutionalisierungsprozess, er ist Vertrag und Verfassung zugleich und bewirkt Konstitutionalisierung durch Vertragsrevision41. Calliess und Ruffert illustrieren die Organisationsstruktur der EU bildhaft, indem sie beschreiben, die EU - und damit auch der ihr eigene Verfassungsbegriff habe „das Ufer der klassischen, völkerrechtlichen Internationalen Organisationen verlassen […], ohne das andere Ufer des (Bundes-)Staates zu erreichen, weil sie davon lebt, sich in der Mitte des Flusses zu bewegen. Gleichwohl bewegt sie sich mehr und mehr auf das bundesstaatliche Ufer zu, indem sie Schritt für Schritt immer gewichtigere Aufgaben und Zuständigkeiten von ihren Mitgliedsstaaten erhält, die das Alltagsleben der Bürger in Europa tiefgreifend beeinflussen und mitunter unmittelbar gestalten.“42 Dieses spezifisch europarechtliche Verständnis der Begriffe Verfassung und Konstitutionalisierung bildet den Rahmen für die Frage nach der Auswirkung von Veränderungen und Entwicklungen im europäischen Grundrechtsschutzsystem, und zwar zum einen im Hinblick auf das Gefüge der Kompetenzverteilung (Stichwort: unitarisierende Wirkung der Grundrechte?43), zum anderen im Hinblick auf ethisch-rechtliche Grundlagen des Zusammenlebens einzelner Bürger innerhalb der europäischen Gemeinschaft bzw. der diese konstituierenden Gesellschaften (Stichwort: Grundrechts- und Wertegemeinschaft44). IV. Menschenwürde im Gemeinschaftsrecht Das Zusammenleben einzelner Bürger in einer Gesellschaft, bzw. das Nebeneinander verschiedener Gesellschaften, und deren Umgang und Verhältnis zueinander sind durch bestimmte Wertvorstellungen und darauf basierende Regeln und Nor40 Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, 542 (545); vgl. zum Begriff der Staatenverbundes Fischer et al., Europarecht, Rn. 696. 41 Wichard, EuGRZ 2004, 556 (556). 42 Calliess/Ruffert, EuGRZ 2004, 542 (545). 43 Ruffert, EuR 2004, 165 (169). 44 Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (563); Ruffert, EuR 2004, 165 (169); Zuleeg, EuGRZ 2000, 511 (511); „Grundrechte sind Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft - auch der Europäischen Gemeinschaft.“, Hilf, in: Iliopoulos-Strangas, Grundrechtsschutz, 320 (338). 13 mengefüge geprägt. In demokratischen und pluralistischen Gesellschaften müssen diese Regeln wohlüberlegt und flexibel genug sein um einen Konsens, einen gemeinsamen „Kern“ wiederzuspiegeln, dabei aber auch gleichzeitig bestimmt genug um einzelne Lebenssachverhalte möglichst sicher und genau subsumieren zu können. So befindet sich die Bewältigung biomedizinischer Fragen im transnationalen europäischen Bereich in einem ethischen Raum, der durch die Überzeugung von der Unveräußerlichkeit der Rechte des Menschen mit ihrem Kerngehalt der Unantastbarkeit der Menschenwürde, und damit durch die Überzeugung vom Menschen als Träger dieser Rechte, vorstrukturiert ist. Um dabei speziell im Umgang mit menschlichen Embryonen die schützenswerten Interessen der beteiligten Parteien effektiv gewährleisten zu können, sind zweifellos eben solche klar formulierten Regelungen aufzustellen und für deren Einhaltung strenge Sicherheitsbestimmungen zu etablieren. Jedoch liegt gerade die Feststellung dieser schützenswerten Interessen in der Ethik begründet, die es ihrerseits mit Bewertungen zu tun hat, die de facto so unterschiedlich ausfallen, dass sich die Frage aufdrängt, ob es dabei überhaupt allgemeine, rational vermittelbare Maßstäbe geben kann. Andererseits tauchen derartige Ethikdebatten, bei denen der Eindruck entsteht es ginge dabei um Wertkonflikte, die nur durch Entscheidungen in irgendeiner Weise wenn nicht zu lösen, so doch zu regulieren sind, gerade nur dort auf, wo es bereits zwar weltanschaulich neutrale aber eben nicht wertneutrale allgemein verbindliche Maßstäbe gibt. Hierauf bezog sich auch Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Rede zur konstituierenden Sitzung des Nationalen Ethikrates am 03.05.2001, als er darauf hinwies, bei der Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen für die Biotechnologie ginge es darum, „Instrumente und Regelungen zu erarbeiten, um diese Maßstäbe, die ja doch abstrakt sind, auf Fragen von so epochaler Bedeutung anzuwenden, wie sie die Lebenswissenschaften heute und in Zukunft aufwerfen.“45 1. Ethik und Grundrechtsordnung im Gemeinschaftsrecht a) Stellenwert der Ethik Das so genannte „europäische Bewusstsein“ mit dem Kernstück der Überzeugung vom Menschen als Träger der Menschenwürde ist im Unterschied zur geschichtlich gewachsenen, (lediglich) geographischen europäischen Identität jüngeren Datums 45 Nachzulesen in Höver, ZEI Discussion Paper C 97-2001, 39 (39-40); vgl. zum Ganzen Solter et al., Embryo Research, 30-34. 14 und bringt mit dem Bewusstsein einer Notwendigkeit Europa zu schaffen als Folgeerscheinung des Ersten und Zweiten Weltkrieges eine moralische und politische Dimension neuer Qualität mit sich.46 Um Fragen der Biomedizin angemessen behandeln zu können, ist dementsprechend ein Bewusstsein der Notwendigkeit auch ein biopolitisch vereintes Europa zu schaffen erforderlich. Für die Forschung und den Umgang mit menschlichen embryonalen Stammzellen muss sich ein solches Bewusstsein basierend auf folgenden ethischen Grundsätzen entwickeln: • Achtung der Menschenwürde • Autonomie des Betroffenen (beinhaltet die Einwilligung nach Aufklärung, Privatsphäre Vertraulichkeit personenbezogener Daten) • Gerechtigkeit und Benefizienz hinsichtlich der Verbesserung der Gesundheit und des Gesundheitsschutzes • Verhältnismäßigkeit (Forschungsverfahren müssen zum Erreichen der angestrebten Ziele unerlässlich sein, es dürften keine geeigneten Alternativen verfügbar sein) • außerdem sind im Rahmen eines auf Vorsicht ausgerichteten Vorgehens mögliche langfristige Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft in Betracht zu ziehen47 Eine hierauf aufbauende Entwicklung eines überzeugenden, wohl überlegte Grenzen ziehenden Handlungsmusters sieht sich aufgrund des zunehmenden Innovationstempos mit einem steigenden Bedarf an Entscheidungen bei zugleich schwindendem Zeitraum konfrontiert, dem so genannten „Beschleunigungsdilemma“48. Welche Folgen dieses für den Stellenwert der Ethik hat, wird unterschiedlich beurteilt. Der Ansatz „zunächst die Fakten - dann die Entscheidung über ihre ethischen Folgen“ stellt die Rolle der Wissenschaft an erste Stelle, die in ihrer Entwicklung und Wahrheitsfindung nicht behindert werden dürfe. Die ethische Überzeugung diente dann zur Urteilsfindung bezüglich der Implikationen oder Konsequenzen dieser in der Wissen46 Vgl. Höver, ZEI Discussion Paper C 97-2001, 39 (40). EGE, Adoption of an Opinion on Ethical Aspects of Human Stem Cell Research and Use, revised edition, 01/2001, 39-55, Annex E – Opinion No. 15; Commision Staff Working Paper, Report on Human Embryonic Stem Cell Research, SEC (2003) 441, 30.04.2003, 34. 48 Höver, ZEI Discussion Paper C 97-2001, 39 (41); Vgl. Frahm/Gebauer, EuR 2002, 78 (85); zum Wettbewerb zwischen Europa, USA und Japan im Bereich der Biotechnologie Gold/Gallochat, ELJ 2001, 331 (332): „The original impetus fort he Biotech Directive was to address competition from the United States and Japan.“. 47 15 schaft gefundenen Wahrheit.49 In dieser Struktur kommt die Ethik immer erst danach - und das heißt für Vertreter des zweiten Ansatzes: zu spät. „Es nützt nicht sehr viel, Menschenrechte und Menschenwürde zu proklamieren, wenn man de facto die orientierende Funktion der Ethik für die biopolitischen Entscheidungen von vornherein hintansetzt und damit reduziert.“50 Unübersehbarer Ausdruck der Bemühungen ein Europa der Wissensgesellschaft und vor allem der Biowissenschaften zu formieren, ist das Konzept des „Europäischen Forschungsraumes“: Dadurch soll Wissenschaftlern aus aller Welt die Möglichkeit geboten werden, an gemeinsamen Schnittstellen zusammenarbeiten.51 Als Folge der unterschiedlichen Ansätze hinsichtlich des Stellenwertes der Ethik können die Konsequenzen unterschiedlicher ethischer Maßstäbe in den Mitgliedsstaaten für die Herausbildung dieses Forschungsraumes unterschiedlich eingeordnet werden. Sie könnten einerseits als Hindernis52 bei der Herausbildung eines „europäischen Mehrwertes“ durch Bündelung von Forschungstätigkeiten, oder aber umgekehrt als Ausdruck eines Wertereichtums, der zu schätzen und zu respektieren ist, angesehen werden.53 Die Konsequenzen des Beschleunigungsdilemmas verdeutlichen, welche Anstrengungen erforderlich sein werden um die „Würde“ in ihrer Dimension des Menschenwürdigen im „Europäischen Forschungsraum“ einzuordnen und den Begriff des „europäischen Mehrwertes“ in den Kategorien dieser Würde inhaltlich zu konkretisieren. b) Geltungsebene der Menschenwürde nach der Rechtsprechung des EuGH Im Primärrecht der EG findet sich bislang keine kodifizierte positiv-rechtliche Verankerung der Menschenwürde. Außerdem stellt sich, parallel zur Situation im deutschen GG, auch auf Ebene der EU die Frage nach der Grundrechtsqualität der Menschenwürde, also nach einem ihr eigenen Schutzbereich, welcher als Ausgangspunkt für die Ableitung eines „objektiven Verantwortungsprogramms“54 für den Umgang bzw. zunächst für den Status menschlicher Embryonen herangezogen werden 49 Blair, Wir werden Europa führen, FAZ 52, 08.12.2000, 45; Höver, ZEI Discussion Paper C 97-2001, 39 (41). Höver, ZEI Discussion Paper C 97-2001, 39 (41). 51 Vgl. RP6, 1; Forschungskommissar Busquin, EU-Nachrichten Nr. 32/2003 vom 18.09.2003, 7 (7). 52 Green, FAZ vom 29.11. 2001, 55, der die ethischen Regeln als Handicap für eine effiziente Forschung sieht: „Es gibt einen Zusammenhang zwischen der relativ geringen Erfolgsrate und den ethischen Regeln.“. 53 Vgl. Kommission der EG, Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über das RP6, KOM (2001) 94 vom 21.02.2001, 18; Forschungskommissar Busquin, EU-Nachrichten Nr. 32/2003 vom 18.09.2003, „Ethik liegt in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten“, 7 (7); Höver, ZEI Discussion Paper C 97-2001, 39 (41); die dynamischen Bereiche der Ethik und Wertvorstellungen müssen in den Bereich der wirtschaftlichen Effizienz eingeordnet werden, ohne in dieser Systematik ethische Bedenken von vornherein als Negativfaktoren zu betrachten, vgl. Frahm/Gebauer, EuR 2002, 78 (91, 92, Fn. 74). 54 Kersten, Klonen, 361. 50 16 kann. Die Garantie der Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Rechtgrundsätze zählt zu den Eckpfeilern des Gemeinschaftsrechts und die Bindung der Gemeinschaft an dieselben zum gesicherten Bestand der Gemeinschaftsrechtsordnung. Grundrechte traten auf der Gemeinschaftsebene zunächst in erster Linie in Form so genannter Wirtschaftsgrundrechte (z.B. Eigentumsfreiheit, wirtschaftliche Handlungsfreiheit), d.h. als notwendige Begleiterscheinung wirtschaftlich geprägter Streitigkeiten, auf. Mit der Entwicklung über eine bloße Wirtschaftsgemeinschaft hinaus, hin zu einer politischen Gemeinschaft, ging die zunehmende Ausdehnung des Anwendungsbereiches der Gemeinschaftsrechte und damit auch eine immer umfassendere Grundrechtsjudikatur einher.55 Dem EuGH als „Urheber des europäischen Grundrechtsschutzes“56 wird dabei durch Art. 220 EG, mit der Zuweisung der Aufgabe der Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages, der materielle Rahmen der Rechtsprechungsbefugnisse vorgegeben. Dieser ist weit gezogen. Recht i.S.d. Art. 220 EG verkörpert den Inbegriff der Gerechtigkeitsidee der europäischen Verfassungskultur.57 Diese Gerechtigkeitsidee in einem konturierten, allgemein gültigen Wesensgehalt oder dem Gewährleistungsumfang einzelner Gemeinschaftsgrundrechte wiederzufinden, gestaltet sich allerdings schwierig, da die Rechtsprechung des EuGH naturgemäß den zu entscheidenden Sachverhaltsgestaltungen folgt und dementsprechend der grundrechtliche Gewährleistungsumfang auch nur fallbezogen zu verstehen ist.58 Diese Unsicherheit bezüglich des Gewährleistungsumfangs von Grundrechten kann zukünftig mit einer Aufwertung der GRCEU59 zu einem rechtsverbindlichen Katalog durch die Einbindung in den Verfassungsvertrag (Teil II VerfV) beseitigt werden, in dem darüber hinaus die Menschenwürde als eigenständiges Grundrecht mit selbstständigem Schutzbereich im Rahmen des Art. 1 GRCEU (Art. II-61 VerfV) verbürgt wird.60 In seiner Entscheidung zur Biopatentrichtlinie 98/44/EG61 vom 09.10.2001 hat der EuGH62 die Menschenwürde neben anderen nicht kodifizierten Grundrechten als Be55 Frahm/Gebauer, EuR 2002, 78 (83); Häberle, EuGRZ 1991, 261 (267): Grundrechtsjudikatur des EuGH als „technischer Transmissionsriemen“ für die Erkenntnis von gemeineuropäischem Verfassungsrecht. 56 Wichard, EuGRZ 2004, 556 (558). 57 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, Art. 220, Rn. 17; Streinz, Europarecht, Rn. 356. 58 Schorkopf, in: Ehlers, Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 2. 59 Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 07.12.2000, ABl. EG C 364/1 vom 18.12.2000. 60 So nach kontroversen Diskussionen der abschließend im Verfassungskonvent insbesondere unter dem Einfluss Herzogs hergestellte Konsens, Borowsky, in: Meyer, GRCEU, Art. 1, Rn. 7; vgl. Kersten, Klonen, 362. 61 Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, ABl. EG L 213 vom 30.07.1998, 13. 62 EuGH, Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079 (Biopatentrichtlinie) = EuZW 2001, 691 = NJW 2002, 2455. 17 standteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts und damit nach ständiger Rechtsprechung entsprechend der gemeinschaftsrechtlichen Normenhierarchie als Bestandteil des Primärrechts63 anerkannt. Zur allgemeinen Gewährleistung der Menschenwürde auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts heißt es im Urteil: „Es obliegt dem Gerichtshof, im Rahmen der Kontrolle der Übereinstimmung der Handlungen der Organe mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts die Beachtung der Menschenwürde und der Unversehrtheit der Person sicherzustellen.“64 Basierend auf der deutschen Urteilsfassung, in der vorsichtig von der „Beachtung der Menschenwürde“ unmittelbar neben dem Hinweis auf das „Grundrecht der Person auf Unversehrtheit“ die Rede ist65, wird in der Literatur angenommen, es bliebe nach diesem Urteil dennoch offen, wie der EuGH einer rechtsdogmatischen Einordnung der Menschenwürde als subjektives Recht gegenüberstehe.66 Diese Annahme findet allerdings keine Stütze in den übrigen Sprachfassungen einschließlich der Verfahrenssprache (Niederländisch), in denen durchweg ohne eine entsprechende Unterscheidung vom „Grundrecht“ auf Achtung der Menschenwürde die Rede ist. Der EuGH scheint daher ein vergleichbar weitgehendes Verständnis zugrunde zu legen.67 Generalanwalt Jacobs ging in seinen Schlussanträgen sogar so weit, explizit Bezug auf Art. 1 GRCEU zu nehmen und das „Recht auf Achtung der Menschenwürde als grundlegendstes Recht von allen“ zu bezeichnen.68 Die dagegen geradezu apodiktische Feststellung des EuGH muss umso mehr überraschen vor dem Hintergrund, dass der EuGH bis zu diesem Urteil keine Stellungnahme zur Geltung der Menschenwürde auf Primärrechtsebene genommen hatte. Die Rechtsprechung des EuGH zu den Gemeinschaftsgrundrechten beginnt zwar interessanterweise mit der Rechtssache Stauder69 im Jahr 1969 mit einer Entscheidung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht, welches als Ausfluss der Menschenwürde anzusehen 63 EuGH, Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Rn. 41; Rs. C-274/99 P, Connolly/Kommission, Slg. 2001, I1611, Rn. 37; Rs. C-159/90, SPUC/Grogan, Slg. 1991, I-4685, Rn. 31; Rs. C-94/00, Roquette Frères, Slg. 2002, I-9011, Rn. 25; Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, I 5659, Rn. 71; Schlussanträge GA Stix-Hackl, EuGH, Rs. C-36/02, Omega, Rn. 46; EuGH, Rs. C-36/02, Omega, Rn. 33 (Gotcha) = EuZW 2004, 753-755, mit Anm. Bröhmer; vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 354; Walter, in: Ehlers, Grundrechte und Grundfreiheiten, § 1 Rn. 21. 64 EuGH, Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rn. 70; hierauf Bezug nehmend Schlussanträge GA Stix-Hackl, EuGH, Rs. C-36/02, Omega, Rn. 90; Rau/Schorkopf, NJW 2002, 2448 (2448). 65 EuGH, Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rn. 77-79; vgl. Rau/Schorkopf, NJW 2002, 2448 (2449). 66 Rau/Schorkopf, NJW 2002, 2448 (2449); Schorkopf, in: Ehlers, Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 8. 67 Schlussanträge GA Stix-Hackl, EuGH, Rs. C-36/02, Omega, Rn. 90. 68 Schlussanträge GA Jacobs, EuGH, Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rn. 197; im Gegensatz zum EuGH nun ebenfalls explizit Bezug nehmend auf die Grundrechtecharta: EuG, EuZW 2002, 186, Rn. 48, mit Anmerkung Nowak - max.mobil Telekommunikation Service GmbH/Kommission. 69 EuGH, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, 419. 18 ist, jedoch legte der Gerichtshof die streitige Vorschrift unter Hinweis auf die „Grundrechte der Person“ aus, ohne dabei die Menschenwürde in den Gründen explizit zu erwähnen und somit auch ohne eine Entscheidung bezüglich einer Verletzung derselben.70 In der Folgezeit blieb die Menschenwürde zwar unausgesprochener Bezugspunkt der Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene und fand materiell ihren Ausdruck in bereits anerkannten Grundrechten, wurde jedoch in der Judikatur des EuGH fast ausschließlich in Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit erwähnt und trat in gemeinschaftlichen Rechtsakten mit Ausnahme der VO 1612/68 und Art. 12 der Fernseh-Richtlinie71 gar nicht auf.72 Auf den Kern der Menschenwürde ist der Gerichtshof daher jedenfalls bis zum Biopatentrichtlinienurteil nicht nur nicht eingegangen, sondern hat es vielmehr ausdrücklich vermieden, seine Grundrechtsrechtsprechung in Bereiche von grundlegender ethischer und gesellschaftspolitischer Bedeutung auszudehnen. In der Rechtssache Society for the Protection of Unborn Children Irland (SPUC)/Grogan u.a.73 hatte der irische High Court zu klären, ob ärztliche Schwangerschaftsabbrüche als Dienstleistungen im Sinne des Gemeinschaftsrechts anzusehen sind. Der EuGH stand dabei vor dem Problem sich mit der grundrechtlich relevanten Frage des irischen Abtreibungsverbotes beschäftigen zu müssen. Indem er das Verbot von Werbebroschüren für Abtreibungskliniken in einem anderen Mitgliedsstaat nicht als Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit angesehen hat, da der Zusammenhang zwischen den die Broschüren verteilenden Studenten und den die Abtreibungen durchführenden Ärzten zu lose sei74, ist er dieser Fragestellung jedoch ausgewichen und hat dies auch formuliert, indem er sich nicht zuständig sah die entsprechende Beurteilung dieser Tätigkeit seitens des Mitgliedsstaates durch seine eigene zu ersetzen. Weiterhin wurde der SPUC auf ihre Einwände, die Vornahme einer Abtreibung könne nicht als Dienstleistung angesehen werden, da sie höchst unmoralisch sei und die Zerstörung des Lebens eines menschlichen Wesens, nämlich des ungeborenen Kindes, zur Folge habe, entgegengehalten, dass der Gerichtshof bereits im Urteil vom 31. Januar 1984 in 70 Ebd., Rn. 419-421; Frahm/Gebauer, EuR 2002, 78 (83); Schorkopf, in: Ehlers, Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 4. 71 „Die Fernsehwerbung darf nicht die Menschenwürde verletzen“, Richtlinie 89/552/EWG des Rates vom 03.10.1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. EG L 298/23 ff. vom 17.10.1989, berichtigt durch ABl. EG L 331/51 vom 16.11. 1989. 72 Schlussanträge GA Stix-Hackl, EuGH, Rs. C-36/02, Omega, Rn. 84; Rau/Schorkopf, NJW 2002, 2448 (2449); Schorkopf, in: Ehlers, Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 4-7. 73 EuGH, Rs. C-159/90, SPUC/Grogan, Slg. 1991, I-4685. 74 Ebd., Rn. 24-27. 19 den verbundenen Rechtssachen 286/82 und 26/83 (Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377, Randnr. 16) die Ansicht vertreten habe, dass ärztliche Tätigkeiten in den Geltungsbereich des Artikels 60 des EWG-Vertrages (jetzt Art. 50 EG) fallen. Derartige Argumente, welchen Wert sie in moralischer Hinsicht auch haben mögen, können die Antwort auf die erste Vorlagefrage nicht beeinflussen.75 Darüber hinaus täuscht die Selbstverständlichkeit des Urteils bezüglich der Geltung der Menschenwürde darüber hinweg, dass weder in sämtlichen Verfassungen der Mitgliedsstaaten, noch in allen internationalen Menschenrechtsinstrumenten das Menschenwürdekonzept als selbstständiges Rechtsprinzip bekannt ist.76 Die Geltung der Menschenwürde auf Gemeinschaftsebene ist damit nicht so selbstevident, dass die fehlende Begründungstiefe bzw. das Fehlen einer Herleitung dieser Feststellung insgesamt kritiklos hingenommen werden können. Überzeugend sind vor diesem Hintergrund die Gedanken von Rau und Schorkopf, der EuGH habe zwar nicht explizit auf die GRCEU Bezug genommen, jedoch mit seiner Feststellung das von ihm entwickelte System des Grundrechtsschutzes in materieller Hinsicht der Verfassungsentwicklung der EU und damit der GRCEU „nachgeführt“77. 2. Gemeinschaftsrecht als Rahmen zur Klärung der Menschenwürdefrage a) Menschenwürde als Verfassungsgrundlage Im Bereich der Biotechnologie und speziell im Bereich der Forschung mit „Material“ menschlichen Ursprungs wie den embryonalen Stammzellen ist es gerade das erklärte Ziel der einen Seite, die Einbindung der lebendigen menschlichen Materie in den Wirtschaftskreislauf, an dem sich der Widerstand der anderen entzündet und das als Verstoß gegen die Menschenwürde betrachtet wird. Entstünde dieser unauflösliche Konflikt auf nationaler Ebene, wäre es wohl die Aufgabe eines Verfassungsgerichtes in letzter Instanz „den drohenden Riss in der Gesellschaft durch eine verantwortungsbewusste Leitentscheidung zu vermeiden“78. Auf Ebene des Gemein- schaftsrechts müsste der EuGH diese Rolle bzw. eine gegebenenfalls entsprechend 75 EuGH, Rs. C-159/90, SPUC/Grogan, Slg. 1991, I-4685, Rn. 16-21. In den Verfassungstradition der Mitgliedsstaaten hat das Menschenwürdekonzept in unterschiedlichen Formen Anerkennung gefunden, häufig als Wertungsprinzip und nur als Ausnahmeerscheinung in der deutschen Verfassung als selbstständig justiziable Rechtsnorm, vgl. für eine Übersicht Dreier, in: ders., GG, Art. 1 Satz 1, Rn. 28 f.; beispielsweise in der EMRK ist die Menschenwürde nicht einmal explizit erwähnt und auch in den beiden UN-Menschenrechtspakten aus dem Jahr 1966 (BGBl. II 1973, 1534 und 1570) nicht als selbstständiges normatives Prinzip angesprochen, vgl für eine Übersicht Kersten, Klonen, 374 ff. (Ebene des Europarates) und 387 ff. (universale Ebene). 77 Rau/Schorkopf, NJW 2002, 2448 (2449); zustimmend Kersten, Klonen, 365. 78 Frahm/Gebauer, EuR 2002, 78 (85). 76 20 dem europäischen Verfassungsbegriff modifizierte Rolle übernehmen. Er müsste sich mithin als europäisches Verfassungs(vertrags)gericht eines europäischen Gemeinwesens gerieren, welches durch den Anspruch mehr als „nur“ eine Wirtschaftsgemeinschaft zu sein geprägt ist und damit den Konflikt zwischen einer leistungsfähigen Medizinforschung und konkurrenzfähigen Biotechnologie einerseits und der Garantie der Menschenwürde andererseits lösen. Allerdings müsste der Gerichtshof wohl weniger vor einem drohenden Riss bewahren, als vielmehr eine europäische Gesellschaft zunächst (weiter) zusammenführen, innerhalb derer die Bioethikproblematik bislang auf unterschiedlichen nationalen Regelungen und ethischen Grundlagen, und teilweise auch auf sehr tönernen Füßen, weil auch nur einen Teilkonsens innerhalb der Mitgliedsstaaten widerspiegelnd, steht. Diese Tatsachen und die jedenfalls bis zum Biopatentrichtlinienurteil meist ausweichende Judikatur des EuGH in Fragen der Menschenwürde drängen die Frage auf, ob die Gemeinschaft - hier noch unabhängig vom tatsächlichen Bestehen einer entsprechenden Kompetenzgrundlage - überhaupt einen geeigneten Rahmen für eine Konkretisierung des Status des Embryos in vitro bzw. damit für ein klares Bekenntnis und eine Festlegung hinsichtlich der Reichweite und Ausgestaltung des Menschenwürdeschutzes darstellen kann. Vor dem Hintergrund der EU als einer Wertegemeinschaft, als solche sie bisher insbesondere durch Art. 6 I EU i.V.m. den Sanktionsmöglichkeiten in Art. 7 EU (Art. I-2 i.V.m. I-59 VerfV) gekennzeichnet wird, beschreibt Häberle, dass Europa „aus bestimmten inhaltlichen und prozessualen Grundwerten [lebt], die immer wieder - öffentlich - wiederholt, bestätigt und fortentwickelt werden müssen.“79 Auch in den Diskussionen des Herzog-Konvents war diese Einsicht stets präsent80; infolgedessen findet sich die Charakterisierung der EU als Wertegemeinschaft auch in Abs. 1 der Präambel der GRCEU (Teil II VerfV). Nach Abs. 2 der Präambel gründet sich die Union speziell auf die Werte der Menschenwürde, so dass auch für den europarechtlichen Verfassungsbegriff die Menschenwürdefrage als Grundlage einer Verfassung überhaupt zu begreifen und der aufgeworfenen Frage entgegenzuhalten ist: Wenn nicht diese Fragen auf Gemeinschaftsebene geregelt werden können, wozu dann überhaupt Konstitutionalisierung? Der Union würde praktisch die Fähigkeit zur Konkretisierung ihrer eigenen Verfassung entzogen, wenn die Frage nach der Definition von Menschenwürde weiterhin allein den Mitgliedsstaaten zustehen würde und kein „Transport der Macht Menschenwürde zu definieren“ auf die Unionsebene erfolgte. 79 80 Häberle, Verfassungslehre, 180. Meyer, in: ders., GRCEU, Präambel, Rn. 28. 21 Freilich darf der Begriff der „Macht“ in diesem Zusammenhang nicht zu Überzeichnungen führen; der Gesetzgeber würde seine Grenzen sowohl hinsichtlich rechtlicher Kompetenzen als auch tatsächlicher Möglichkeiten überschreiten, wenn er versuchen würde, „letzte Fragen“81 durch einen verbindlichen Machtanspruch zu beantworten. Darüber hinaus hinderte die Etablierung eines Minimalkonsens auf europäischer Ebene die Mitgliedsstaaten nicht an der Gewährleistung oder des Anspruchs eines darüber hinausgehenden Schutzes. Diese Respektierung nationaler Wertentscheidungen wurde jüngst vom EuGH in der Rechtssache Omega82 bekräftigt, bei der der EuGH auf die Vorlagefrage zu antworten hatte, ob die Befugnis von Mitgliedsstaaten, zum Schutz in der nationalen Verfassung enthaltener Wertentscheidungen den freien Dienstleistungs- und Warenverkehr einzuschränken, davon abhinge, dass diese Einschränkung auf einer allen Mitgliedsstaaten gemeinsamen Rechtsauffassung beruht. Dem Urteil zugrunde lag eine ordnungsbehördliche Untersagungsverfügung gegenüber der die Spielhalle „Laserdrome“ betreibenden Omega GmbH. In der Anlage sollte auf Schießbahnen mit Lasern auf an den Spielern angebrachte Sensoren geschossen werden. Der EuGH stellte fest, das Ziel die Menschenwürde zu schützen sei unbestreitbar mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar, unabhängig von der besonderen Stellung der Menschenwürdegarantie in der deutschen Verfassungsordnung. Insoweit sei es „nicht unerlässlich“83, dass eine die Grundfreiheiten beschränkende Maßnahme einer allen Mitgliedsstaaten gemeinsamen Auffassung darüber entspreche, wie das betreffende Grundrecht oder berechtigte Interesse zu schützen sei. Das Gemeinschaftsrecht stünde somit einem nationalen Verbot einer gewerblichen Veranstaltung, welches zum Schutz der öffentlichen Ordnung wegen einer in dieser Tätigkeit gesehenen Verletzung der Menschenwürde ergangen sei, nicht entgegen.84 Aus dieser „Aufgabe“ einen gemeinschaftsrechtlichen, auf nationaler Ebene konkretisierungsfähigen Minimalkonsens zu etablieren, ergeben sich bestimmte Anforderungen an einen gemeineuropäischen Menschenwürdebegriff. In prozessualer Hinsicht liegt es jedenfalls in der Natur der Entwicklung einer Werteordnung, dass sich diese über Jahrzehnte hin entwickelt. Hier ist der EuGH gefordert, in seiner Spruchpraxis den bereits bestehenden Grundfesten der Gemeinschaft gerecht zu werden und gleichzeitig mit einem dynamischen Grundrechtsschutzsystem flexibel auf neue Her- 81 Meyer, in: ders., GRCEU, Präambel, Rn. 6. EuGH, Rs. C-36/02, Omega, vom 14.10.2004 (Gotcha) = EuZW 2004, 753-755, mit Anm. Bröhmer. 83 Ebd., Rn. 37. 84 Ebd., Rn. 3-5, 23, 34, 37, 41. 82 22 ausforderungen zu reagieren, damit also sowohl den Anforderungen einer immer weiter zusammen(ge)wachsen(d)en Gemeinschaft, als auch denen der ebenfalls durch Dynamik und Veränderung geprägten biotechnologischen Bereiche, gerecht zu werden. b) Anforderungen an ein europäisches Menschenwürdeverständnis „Kaum ein Rechtsbegriff ist wohl juristisch schwieriger zu erfassen als jener der Menschenwürde.“85 Mit diesen Worten beginnt Frau Generalanwalt Stix-Hackl im bis dato jüngsten Prozess vor dem EuGH, bei dem Fragen der Menschenwürde im Gemeinschaftsrecht gewürdigt wurden86, den Part ihres Schlussantrages, der diesen Begriff für das darauf basierende Urteil fassbar machen soll. Die Menschenwürde ist Fundamentalnorm der EU87 und ihre Idee gilt unzweifelhaft als „Urgrund“88 der neuzeitlichen Grund- und Menschenrechte. Sie bringt damit den obersten Achtungs- und Werteanspruch, der dem Menschen aufgrund seines Menschseins zukommen soll, zum Ausdruck. Es geht mithin um die Reflexion der „Substanz“ des Menschen, deren Umriss und Farbe sich ihrerseits aus den dahinter stehenden Motiven und einem bestimmten Menschenbild ergibt, und damit unweigerlich in einen vorrechtlichen Bereich führt.89 Eine Konkretisierung aus Sicht des Rechts bringt deshalb sowohl auf methodischer Ebene als auch auf inhaltlicher Ebene bestimmte Anorderungen mit sich. Zunächst ist bereits Vorsicht geboten mit der Verwendung des Begriffs „Menschenbild“, insbesondere wenn dieses gleichzeitig „als fundamentale Bezugsgröße aller gesellschaftlichen und politischen Systeme im Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts“90 herangezogen werden soll. Bereits auf nationaler Ebene ist das „Bild des Menschen“ im heutigen Recht kein geschlossenes, sondern vielmehr ein Gebilde heterogener Elemente mit Zügen eines Kompromisses. Dieses „gemischte Menschenbild“91 hat aber doch so viele Konturen, dass es in Kernbereichen als Maß der Rechtsgestaltung wirken kann. Die Menschenwürde kann deshalb nur die elementa- 85 Schlussanträge GA Stix-Hackl, EuGH, Rs. C-36/02, Omega, Rn. 74. Der EuGH hatte sich zwar in diesem Urteil mit einer Kollision der Menschenwürdegarantie und den Grundfreiheiten zu befassen, die Vorlagefrage (vgl. oben) des deutschen BVerwG war jedoch nicht auf eine inhaltliche Klärung des Menschenwürdebegriffs ausgerichtet. Lediglich GA Stix-Hackl umreißt in ihren Schlussanträgen auch den Inhalt des Menschenwürdebegriffs und deren Verletzung durch Instrumentalisierung, jedoch ohne dabei zu konkretisieren, welches Verhalten wiederum eine solche Instrumentalisierung darstellt. 87 Kersten, Klonen, 367; Borowsky, in: Meyer, GRCEU, Art. 1, Rn. 43; Rau/Schorkopf, NJW 2002, 2448 (2449). 88 Rau/Schorkopf, NJW 2002, 2448 (2448). 89 Schlussanträge GA Stix-Hackl, EuGH, Rs. C-36/02, Omega, Rn. 74-76; Enders, Menschenwürde, 17 f.; Hörnle, ARSP 2003, 318 (321); Ipsen, NJW 2004, 268 (269). 90 Frahm/Gebauer, EuR 2002, 78 (91). 91 Schreiber, MedR 2003, 367 (372). 86 23 ren Rechte und Ansprüche des Menschen betreffen und nicht als Vehikel zur Lösung aller Probleme des menschlichen Zusammenlebens dienen, da mit dem Griff zur Menschenwürde auch jede „rationale Diskussion über die richtige menschliche Ordnung quasi erschlagen werden [kann, indem] der Gegner [damit] ins prinzipielle Abseits gedrängt“92 wird. Insbesondere bei einem Rückgriff auf das Menschenwürdeprinzip im Bereich der Entstehung des menschlichen Lebens und im Bereich der Konkretisierung eines grundlegenden Verhältnisses der Wirtschaft zu nichtwirtschaftlichen Bereichen des menschlichen Lebens steht fest, dass das Menschenwürdeprinzip dem ökonomischen Denken Grenzen setzt und einem Modell des homo oeconomicus entgegensteht.93 Folgt man der These von Rau und Schorkopf, hat der EuGH mit der Nachzeichnung der Grundrechteentwicklung in der Charta, welche überhaupt erst den „Menschen“ - und nicht (nur) den homo oeconomicus - ins Zentrum der Europäischen Einigung stellt, methodisch jedenfalls einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung getan. Was den Inhalt der Idee der Menschwürde anbelangt, versteht ein tief im europäischen Kulturkreis verwurzeltes Verständnis den Menschen als ein zur Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit begabtes, selbstbewusstes und selbstverantwortliches Subjekt, das aufgrund seiner Fähigkeit zur eigenen Willensbildung nicht instrumentalisiert94 werden darf. Außerdem ist das Verständnis der Menschenwürde im europäischen Raum geprägt vom Begriff der „égale dignité“, welcher die Konzepte von der durch die Menschenrechte im Allgemeinen geprägten Idee der gleichen Würde aller einerseits, und der Menschenwürde im Besonderen andererseits, miteinander verknüpft.95 Trotz dieser Grundlagen sollte bei den Bestrebungen die Menschenwürde als ein „alltägliches Grundrecht“, an dem sich die Biotechnologie zu orientieren hat, fassbar zu machen, der Begriff eines „europäischen Menschenbildes“96 vermieden werden. Vielmehr ist erforderlich, ein vom Pluralismus in Europa geprägtes aber gleichzeitig im Sinne eines homo iuridicus konturiertes Gebilde, bzw. ein in diesem Sinne verstandenes „Menschenbild“, zu konstruieren. In dessen Rahmen ist die Menschenwürde als ein Instrumentalisierungsverbot zu be92 Ebd., 367 (368); i.E. auch Frahm/Gebauer, EuR 2002, 78 (87). Schreiber, MedR 2003, 367 (368). 94 Zum Menschenwürdeverständnis als Instrumentalisierungsverbot im Rahmen der Stammzelldiskussion EGE, Citizens Rights and New Technologies: A European Challenge, Report on the Charter of Fundamental Rights related to technological innovation as requested by President Prodi on 03.02.2000, Brussels, 23.05.2000, 8; Es dürfe wohl auf europaweite Zustimmung stoßen, die Menschenwürde im Sinne Kants zu verstehen, Borowsky, in: Meyer, GRCEU, Art. 1, Rn. 2; vgl. Kersten, Klonen, 481. 95 Schlussanträge GA Stix-Hackl, EuGH, Rs. C-36/02, Omega, Rn. 78-80; Kersten, Klonen, 479; Borwowsky, in: Meyer, GRCEU, Art. 1 Rn. 18; vgl. Enders, Menschenwürde, 391. 96 Kersten, Klonen, 481 mit Fn. 332; vgl. Meyer, in: ders. GRCEU, Präambel, Rn. 6. 93 24 greifen, welches dem Einzelnen erlaubt, auch in einer von Wissenschaft und Entwicklung und damit oft durch Objektivierung des Menschen determinierten Lebenswelt sich selbstverständlich als Subjekt zu entfalten und dies als subjektives Recht auch geltend machen zu können. Insbesondere kann ein solches verfassungsrechtliches Diskursmodell der ständigen Entwicklung von Wissenschaft und Forschung einerseits und der ebenso stetigen Veränderung der Auslegung von rechtlichen Grundprinzipien durch Entwicklungen in der Gesellschaft andererseits am besten gerecht werden. Mit den Worten Schreibers gewährleistet dieses änderbare Recht die Bedingungen der Möglichkeiten von Leben, Freiheit und Kultur. Recht mit der Maßgabe seines Bildes vom Menschen, und damit die Menschenwürde, ist dabei jedoch nicht lediglich ein „Thema für Feierstunden“, sondern bildet die notwendige Basis und reale Maßgabe für menschliches Leben.97 3. Der EuGH als Verfassungs(vertrags)gericht im Biopatentrichtlinienurteil? Neben der Frage nach der Geltung der Menschenwürde im Gemeinschaftsrecht sah sich der EuGH im Urteil zur Biopatentrichtlinie auch mit Fragen zum Inhalt der Menschenwürde konfrontiert. Inwieweit er dabei die Gelegenheit zu einem „Qualitätssprung in Richtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit einer Europäischen Politischen Union“98 durch eine effektive und effiziente Umsetzung der „Macht“ Menschenwürde zu definieren tatsächlich genutzt hat, soll im Folgenden erörtert werden. Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Biopatentrichtlinie 98/44/EG legt unter anderem fest, ob und in welchem Umfang Pflanzen, Tiere oder der menschliche Körper „Erfindungen“ mit der Folge der Patentierbarkeit sein können. Die Niederlande hatten im Rahmen einer Nichtigkeitsklage als fünften von sechs Klagegründen99 vorgetragen, diese Richtlinie verstoße gegen das „Recht auf Menschenwürde“, indem „Artikel 5 Absatz 2 der Richtlinie bestimme, dass ein isolierter Bestandteil des menschlichen Körpers patentierbar sei. […] Das Recht auf Menschenwürde werde vom Gerichtshof als Grundrecht anerkannt. Der menschliche Körper sei Vermittler der Menschenwürde. Unter dem Blickwinkel der Menschenwürde sei es unannehmbar, lebende menschliche Materie zum Objekt zu machen“100. Der EuGH wies in detaillierter Begründung alle sechs Klagegründe zurück. Der menschliche Körper könne nach den 97 Schreiber, MedR 2003, 367 (367, 372). Frahm/Gebauer, EuR 2002, 78, (86). 99 Nur der fünfte Klagegrund soll in diesem Rahmen von Interesse sein, zu den übrigen Klagegründen vgl. Anm. Spranger, GRUR-Int 2001, 1047 (1047-1049). 100 Schlussanträge GA Jacobs, Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rn. 190. 98 25 Bestimmungen der Richtlinie in den einzelnen Phasen seines Entwicklungsprozesses keine patentierbare Erfindung darstellen. Ferner nehme Art. 6 der Richtlinie 98/44/EG insbesondere das Klonen, die Veränderung der Keimbahn und die Verwendung menschlicher Embryonen zu kommerziellen oder industriellen Zwecken von der Patentierbarkeit aus. Insgesamt fasse die Richtlinie das Patentrecht in Bezug auf „lebende Materie menschlichen Ursprungs“ so streng, dass der „menschliche Körper tatsächlich unverfügbar und unveräußerlich [bliebe] und somit die Menschenwürde gewahrt“ würde.101 Die Kernfrage der Niederlande richtet sich auf die Patentierbarkeit menschlichen Lebens und deren Vereinbarkeit mit der Menschenwürde. Vom Votum des EuGH hing dabei nicht nur das Schicksal der Biopatentrichtlinie ab, denn eine Entscheidung über die Menschenwürdefrage im Bereich der Biotechnik würde zugleich einen strategischen Engpass („Bottleneck“) für die Entwicklung der Biotechnologie in ihren Dimensionen Zukunftsfähigkeit, Rentabilität, Wettbewerbsfähigkeit und Investition für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung in Europa hervorbringen102, und damit außerdem dem Gemeinschaftsgesetzgeber einen Leitfaden für eine Regelung der Embryonen- und Stammzellforschung und der damit verbundenen Handelsmechanismen „an die Hand geben“. Der EuGH griff in seinem Urteil zunächst die Frage der Niederlande wie folgt auf: „Nach Ansicht des Klägers bedeutet die […] Patentierbarkeit isolierter Bestandteile des menschlichen Körpers eine Instrumentalisierung menschlicher Materie, die die Menschenwürde verletzt.“103 Die Weichen für den Prüfungsauftrag sind damit gestellt und zwar in Richtung der Patentierbarkeit als solcher. In seiner Urteilsbegründung verweist der EuGH deshalb auf Art. 6 der Richtlinie, der das Verbot der Klonierung, der Chimärenzüchtung und weiterer problematischer Anwendungsformen sicherstellt. Durch diese Regelungen bleibe der menschliche Körper unverfügbar und die Menschenwürde gewahrt, da ein Bestandteil des menschlichen Körpers in seiner natürlichen Umgebung nicht Gegenstand einer Aneignung sein könne.104 Auf diese Sonderfälle war der Prüfungsantrag jedoch aufgrund des ohnehin bestehenden und auch für den Kläger ersichtlichen Verbotes nicht gerichtet. Wenn ausdrücklich bereits die Erteilung eines „Patents auf menschliches Leben“ gerügt wird, ist dem Kläger mit 101 EuGH, Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rn. 69, 71, 76, 77; Rau/Schorkopf, NJW 2002, 2448 (2448). 102 Vgl. Calliess/Meiser, in: Göttinger Online-Beiträge zum Europarecht, Nr. 2, 1 (2-3); dies., JuS 2002, 426 (426 f.); Frahm/Gebauer, EuR 2002, 78 (84-85). 103 EuGH, Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rn. 69. 104 Ebd., Rn. 73, 76, 77. 26 dem bloßen Hinweis auf ein mögliches Verbot bestimmter Anwendungen dieses Patents, also mit einer Unterscheidung nach „Patentierbarkeit“ einer biotechnologischen Erfindung und deren späterer „Anwendung“105, nicht geholfen. Der EuGH bedient sich dieses Hinweises lediglich um die Bedenken des Klägers ausräumen zu können, auf seine eigentliche Frage wurde dem Kläger im Ergebnis keine Antwort erteilt. Borowsky sowie Gebauer und Frahm sehen das Urteil hinsichtlich einer Konkretisierung der Menschenwürdegarantie als unergiebig an106, bzw. legen in ihrer Kritik dar, der EuGH sei dieser Problematik erneut ausgewichen und habe sich in der Menschenwürdefrage überhaupt nicht entschieden107. Kersten dagegen sieht in dem Urteil jedenfalls Spurenelemente eines Menschenwürdeverständnisses als Instrumentalisierungsverbot. Er verweist auf den bereits zitierten Ausschnitt der Klage der Niederlande, welcher in der englischen Fassung etwas anders gefasst sei: „The human body is the vehicle for human dignity. Making living human matter an instrument is not acceptable from the point of view of human dignity.”108 Auch der EuGH habe danach den Prüfungsauftrag i.S.d. des im Vergleich zur Objektformel engeren Instrumentalisierungsverbots verstanden. Als Umkehrschluss zu seiner Entscheidungsbegründung bezüglich der gewahrten Unverfügbarkeit des menschlichen Körpers könne festgehalten werden, dass eine Verfügbarkeit von Teilen des menschlichen Körpers gegen die vom Gerichtshof als Instrumentalisierungsverbot verstandene Menschenwürde verstoßen würde. Dieses Verständnis werde dann noch um ein Kommerzialisierungsverbot erweitert.109 Dem ist insoweit zuzustimmen, als dass der EuGH von einem Menschenwürdeverständnis als Instrumentalisierungsverbot ausgeht. Sieht man die inhaltliche Auslegung dieses Instrumentalisierungsverbots jedoch im Lichte einer möglichen Erkenntnisgewinnung für den Umgang mit humanen embryonalen Stammzellen, muss festgehalten werden, dass der EuGH sich in der von Kersten herangezogenen Grundaussage auf Bestandteile des menschlichen Körpers in ihrer natürlichen Umgebung110 bezog. Der von Kersten gezogene Umkehrschluss muss also um dieses Kriterium erweitert werden, denn die Verfügbarkeit zumindest von 105 Frahm/Gebauer, EuR 2002, 78 (89 mit Fn. 64); GA Jacobs macht dabei aus den Interessen, die hinter dieser Unterscheidung von Patentierbarkeit und Anwendung stehen, kein Geheimnis: Es könne durchaus sinnvoll sein, ein Patent für eine Erfindung zu erteilen, deren Anwendung verboten sei, da der Erfinder auf einen Regierungswechsel hoffen könne oder die Erfindung in einem Mitgliedsstatt vertreiben, in dem die Verwendung erlaubt sei, Schlussanträge GA Jacobs, Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rn. 106. 106 Borowsky, in: Meyer, GRCEU, Art. 1, Rn. 35. 107 Frahm/Gebauer, EuR 2002, 78 (86). 108 Hervorhebungen d.Verf.; vgl auch den Hinweis bei Frahm/Gebauer, EuR 2002, 78 (87 mit Fn. 53). 109 Kersten, Klonen, 480 f. 110 EuGH, Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rn. 73. 27 gerade aus dem Embryo „herausgesplitteten“ pluripotenten Stammzellen selbst wurde damit jedenfalls durch das Biopatentrichtlinienurteil nicht als eine unzulässige Instrumentalisierung eingeordnet. Welche Schlüsse daraus für den Prozess ihrer Gewinnung gezogen werden können, bleibt dabei offen. Im Ergebnis hat der EuGH in diesem Urteil einen dogmatischen Ansatz eines europäischen Menschenwürdeverständnisses entwickelt; jene verantwortungsbewusste Leitentscheidung eines europäischen Verfassungs(vertrags)gerichts, die die Einbindung der lebenden Materie in den Wirtschaftskreislauf einerseits und den andererseits darin gesehenen Menschenwürdeverstoß im Rahmen eines europäischen Leitbildes und Begriffes der „europäischen Menschenwürde“ in Beziehung setzen kann, ist allerdings bis dato ausgeblieben. 4. Menschenwürde des Embryos in vitro? Als Ergebnis einer Auswertung von Rechtserkenntnisquellen und Rechtsinstrumenten auf Gemeinschaftsebene kann, wie auch bereits als Prämisse dieser Arbeit angesehen, vorweggenommen werden, dass auf europäischer Ebene kein Konsens hinsichtlich einer Trägerschaft der Menschenwürde bzw. Grundrechtsträgerschaft des Embryos (in vitro wie in utero) existiert und sich darüber hinaus auch Erkenntnisse hinsichtlich eines Embryos in utero nicht unadaptiert auf den Embryo in vitro übertragen ließen. Jedoch ist die Vernetzung der im Folgenden vorgestellten Regelungen unterschiedlicher (Rechts-)Natur und Geltung Ausdruck der Komplexität und Vielschichtigkeit des sich durch den Konstitutionalisierungsprozess herausgebildeten Normengebildes in der Gemeinschaft. Die Regelungen und Rechtsinstrumente sind daher differenzieren und zu charakterisieren anhand ihrer Verbindlichkeit, Normdichte, ihres Aussaggehaltes bzw. der genauen inhaltlichen Ausgestaltung sowie des „Umgangs“ mit Fragen, die jene dem Ermessen der Mitgliedsstaaten vorbehaltenen Probleme betreffen. a) Rechtserkenntnisquellen aa) Europäische Menschenrechtskonvention Die EMRK111 ist eine der in Art. 6 II EU (Art. I-9 Abs. 3 VerfV) explizit aufgeführten Rechtserkenntnisquellen des Gemeinschaftsrechts. Eine ausdrückliche Gewährleistung oder gar Erwähnung der Menschenwürde ist hier jedoch nicht statuiert. Lediglich 111 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4. November 1950, in der Neufassung vom 17.05.2002, BGBl. 2002 II, 1055. 28 die Präambel verweist auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, in deren Präambel wiederum das Bekenntnis zur allen Menschen innewohnenden Würde als Grundlage der Menschenrechte verankert ist, ohne jedoch die Menschenwürde dabei als selbstständiges normatives Prinzip anzusehen, sondern ausschließlich als ethisches Substrat der einzelnen Menschenrechtsverbürgungen. Vergleichbar dieser Position hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Achtung der menschlichen Würde und Freiheit als „Grundlage und durchgehendes Motiv der Konvention“112 anerkannt.113 Inhaltliche Konkretisierungen der Menschenwürdeidee insbesondere hinsichtlich bioethischer Fragen können hieraus freilich nicht gewonnen werden. Einen diesbezüglichen Anhaltspunkt könnte allerdings das in Art. 2 EMRK verbürgte Recht auf Leben mit sich bringen. Ob sich dieses Recht auch auf vorgeburtliches Leben erstreckt und wie weit gegebenenfalls dieser Schutz reicht, ist ein vieldiskutiertes Thema. Die Straßburger Konventionsorgane hatten bislang nur vereinzelt Gelegenheit sich mit dieser Frage zu befassen.114 Aus Sicht der Mitgliedsstaaten hat sich lediglich der österreichische Verfassungsgerichtshof dahingehend geäußert, das „Leben“ i.S.d. EMRK beginne erst mit der Geburt.115 Hinzukommt, dass die Fälle meist Schwangerschaftsabbrüche zum Gegenstand hatten, damit aufgrund der Interessenkollision von werdender Mutter und Ungeborenem dogmatisch gesehen keine Normalfälle waren und deshalb als „Problemfälle“ nicht als Orientierung rechtlicher Beurteilungen taugen („hard cases make bad law“).116 Mit seinem Aufsehen erregenden Urteil vom 08.07.2004 hatte der EGMR117 jedoch Gelegenheit sich in einem anders gelagerten Sachverhalt, nämlich bei gleichlaufenden Interessen von Mutter und Kind und damit einem dogmatischen 112 EGMR, Urteil Pretty/Vereinigtes Königreich vom 29. April 2002, Receuil des arrêts et décisions, § 65. Schlussanträge GA Stix-Hackl, Rs. C-36/02, Omega, Rn. 82-84; Rau/Schorkopf, NJW 2002, 2448 (2448 f.). 114 Iliadou, Embryonenschutz, 204-206: dabei wurden die Diskussionen meist im Zusammenhang mit Abtreibungsregelungen der Mitgliedsstaaten geführt; vgl. EKMR, Bericht vom 12. Juli 1977, Brüggemann und Scheuten, EuGRZ 1978, 199 (200), wobei die Kommisssion die Frage nach der Subjektqualität des Embryos offen ließ; EKMR, Entscheidung vom 13. Mai 1980, Paton, Beschw. Nr. 8416/78, EuGRZ 1981, 20 (21-22), ausdrückliche Ablehnung eines absoluten Rechts des Embryos auf Leben, die Möglichkeit zur Auslegung, die Ablehnung jeden Schutzes oder Anerkennung eines mit immanenten Schranken gewährleisteten Rechts anzunehmen blieb dabei offen; vgl. auch Groh/Lange-Bertalot, NJW 2005, 713 (714); Rechtsprechungsübersicht bei EGMR, NJW 2005, 727 (728-730 mit Rn. 75-80). 115 EuGRZ 1975, 74 (78);Novak EuGRZ 1975, 197 (197 f.); Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 2, Rn. 3. 116 Groh/Lange-Bertalot, NJW 2005, 713 (714). 117 EGMR, Rs. 53924/00, Vo v. France, vom 08.07.2004 = NJW 2005, 272; dazu ausführlich Blau, ZEuS 2005, 397 ff.; mit der außergerichtlichen Einigung in den Fällen Draon v. France (Rs. 1513/03) und Maurice v. France (Rs. 11810/03) am 21. Juni 2006, nach der die beiden klagenden Elternpaare für die aufgrund ärztlicher Fehldiagnosen während der Schwangerschaft nicht erkannten Behinderungen ihrer Kinder („Kind als Schaden“) vom französischen Staat je 2,4 Millionen Euro Schadenersatz erhalten sollen, fehlt es erneut an einer Gelegenheit des Gerichtshofes, auf - jedenfalls unter anderem - das Lebensrecht Ungeborener einzugehen und den Schutzbereich zu präzisieren. 113 29 Normalfall, zur Frage des Schutzes Ungeborener nach der EMRK zu äußern. Dabei wiesen die Richter eine Klage der Französin Thi-Nho Vo gegen Frankreich zurück, die 1991 im Rahmen einer Schwangerschaftsuntersuchung von den Ärzten mit der Patientin Thi Thanh Van Vo, die sich eine Spirale entfernen lassen wollte, verwechselt wurde. Dabei platzte die Fruchtblase und die Klägerin zeigte den Arzt wegen fahrlässiger Tötung an, bekam von französischen Gerichten aber kein Recht, da ein Foetus nach Landesrecht kein Mensch sei. Der EGMR lässt diese Frage in Bezug auf die EMRK jedoch ausdrücklich offen, indem er feststellt, es sei „zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder wünschenswert noch möglich, abstrakt die Frage zu beantworten, ob das ungeborene Kind ein ,Mensch‘ i.S.d. Art. 2 EMRK“118 sei. Laut Urteilsbegründung sage Art. 2 EMRK nichts darüber aus, ob ein Embryo bzw. Fötus eine „Person“ sei. Weiterhin herrsche in Europa kein wissenschaftlicher bzw. juristischer Konsens, wann Leben beginne. Derartige Rechtsfragen werden von den Mitgliedsstaaten ganz unterschiedlich bewertet, deshalb sei es jedem Staat selbst überlassen, ab welchen Zeitpunkt er ein Recht auf Leben gewährleistet. Eine mögliche Schutzbedürftigkeit aufgrund des Potentials des Embryos zur vollständigen Entwicklung zu einer Person hat der Gerichtshof zwar anerkannt, sah diese aber jedenfalls nicht per se als ausreichend um das Ungeborene unter den Schutzbereich des Art. 2 EMRK zu fassen.119 Weiterhin findet sich in der EMRK keine ausdrückliche Gewährleistung der Forschungsfreiheit, an deren Position und Gewährleistungsumfang der Status des Embryos möglicherweise zu messen wäre. Diese Reihe von Unvollkommenheiten der EMRK bezüglich des Embryonenschutzes sowie insgesamt neueren biotechnischen Entwicklungen ließ bereits im Jahr 1991 die Notwendigkeit eines neuen internationalen Instrumentes, das den Embryonenschutz in der besonderen Fallkonstellation der Forschung regeln sollte, erkennen. Die Folge war der Auftrag der Ministerkomitees zur Erstellung einer Rahmenkonvention für die Regelung des Schutzes des Menschen im Kontext biomedizinischer Wissenschaftsentwicklung, des späteren Europäischen Menschenrechtsübereinkommens der Biomedizin („Bioethikkonvention“).120 118 EGMR, NJW 2005, 727 (727); von den 10 Richter(innen), die ein Sondervotum abgaben sprachen sich für eine Anwendbarkeit des Art. 2 EMRK auf Ungeborene die Richter Costa, Traja und Ress, sowie die Richterinnen Mularoni und Strážnická aus, dagegen die Richter Rozakis, Calfisch, Fischbach und Lorenzen, sowie Richterin Thomassen; vgl. Groh/Lange-Bertalot, NJW 2005, 713 (715 mit Fn. 15); anders rezipierte dies die MZ vom 09.07.2004, die von einer Entscheidung gegen ungeborenes Leben als Schutzobjekt des Art. 2 EMRK berichtete. 119 EGMR, NJW 2005, 727 (731 mit Rn. 84 f., 732 mit Rn. 95). 120 Iliadou, Embryonenschutz, 209. 30 bb) Bioethikkonvention Der beschränkte Grundkonsens innerhalb der EU spiegelt sich auch in dem am 4. April 1997 in Oviedo unterzeichneten Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin des Europarates121 wider. Dieses Übereinkommen ist das erste Vertragswerk, das auf einen europaweiten Mindestschutz der Menschenwürde in der Medizin abzielt, jedoch nicht lediglich für die EU-Staaten, sondern für Gesamteuropa.122 Dabei hat es die Funktion einer klassischen internationalen Rahmenkonvention über Menschenrechte, und ist deshalb gekennzeichnet durch Rechtsverbindlichkeit nach Ratifikation bei gleichzeitig „weich“ formulierten Normen und damit meist nicht sehr weitreichenden Verpflichtungen für die Staaten.123 Art. 1 MRB erklärt grundsätzlich die Wahrung der Menschenwürde als oberstes Gebot und ordnet ihr gegenüber auch die in Art. 15 MRB herausgestellte Forschungsfreiheit als nachrangig an (vgl. Art. 2 MRB).124 Die von der Konvention ausgehenden untrennbaren Konzepte des Menschen und dessen Würde begründen die faktisch wie normativ zentrale Stellung des Menschen als Subjekt, auf die alle folgenden Gewährleistungen aufbauen.125 Allerdings bleiben dabei die -synonym verwendeten - Begriffe „everyone“, „toute personne“ und „human being“ undefiniert. Somit bleibt auch hier unklar, ob bereits die befruchtete Eizelle oder erst der Embryo ab einem bestimmten Entwicklungsstadium oder gar erst der geborene Mensch in den Schutzbereich fällt und wann menschliches Leben beginnt.126 Die Regelung des Art. 18 MRB über die Zulässigkeit der Embryonenforschung ist eine der umstrittensten Regelungen der Konvention. Zwar verbietet Art. 18 MRB im Abs. 2 die Erzeugung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken, nach Abs. 1 ist jedoch die verbrauchende Embryonenforschung grundsätzlich gestattet, unter dem Vorbehalt, einen angemessenen Schutz des Emb121 Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with Regard to the Application of Biology and Medicine: Convention on Human Rights and Biomedicine, verbindlich ist nach Art. 38 MRB nur die englische und die französische Fassung, unter www.conventions.coe.int/treaty/en/treaties/ html/164.htm. 122 Obwohl das Übereinkommen keinen ausschließlichen Gemeinschaftsbezug hat und nicht für alle EUMitgliedsstaaten verbindlich ist, kann es als Rechtserkenntnisquelle dienen; es existieren bereits Verweise im Rahmen des Gemeinschaftsrechts auf Texte des Europarates bzgl. Bereichen ohne ausdrückliche Gemeinschaftsregelung, insbesondere das MRB, z.B. EGE, Stellungnahme Nr. 17 vom 30.01.2003, Ethische Aspekte der klinischen Forschung in Entwicklungsländern, 2. 123 Iliadou, Embryonenschutz, 211; Riedel, in: Taupitz, MRB, 29 (34); außerdem ist nach Art. 23 MRB die Überwachung (lediglich) den Vertragsparteien selbst anvertraut, es gibt jedoch zahlreiche Beispiele für den Erfolg einer solchen Reglungstechnik, genannt sei nur das Rio-Abkommen zum Klimaschutz, Riedel, in: Taupitz, MRB, 29 (35). 124 Bodendiek/Nowrot, Archiv des Völkerrechts, 177 (182). 125 Kersten, Klonen, 384. 126 Honnefelder, in: ders./Streffer, Jahrbuch 1997, 305 (307); Riedel, in: Taupitz, MRB, 29 (35 f.). 31 ryos zu gewährleisten. Die Auslegungsfähigkeit dieses Satzes innerhalb der Vielfalt an Standpunkten in Europa kann als eine Schwäche oder als Vorteil der Konvention bezeichnet werden.127 So verbietet nach deutschem Verständnis ein angemessener Schutz die verbrauchende Embryonenforschung. Großbritannien dagegen wird diesen Schutz wohl eher durch die Bindung an höherrangige und damit legitimierende Zwecke gewährleistet sehen.128 Positiv zu bewerten ist jedoch zum einen, dass grundsätzlich eine - wenn auch weit gefasste - Schutzpflicht des Staates gegenüber dem Embryo anerkannt und der Embryo als schutzwürdiges Rechtsgut deklariert wird,129 für dessen Behandlung dem nationalen Gesetzgeber die Beweislast hinsichtlich der Gewährung eines angemessenen Schutzes obliegt. Zum anderen ermöglichen gerade diese „weichen“ Formulierungen überhaupt erst das Zustandekommen einer internationalen Regelung, da somit weitaus mehr Staaten dazu bereit sind, einem internationalen Regulierungsprozess beizutreten, als dies bei einer Vereinbarung mit weitreichenden Verpflichtungen der Fall wäre. Zudem stellt diese Flexibilität jedem Staat die Festlegung eines höheren Schutzniveaus frei. Das Zusatzprotokoll über das Verbot des Klonens von menschlichen Lebewesen130 verbietet gemäß seinem Art. 1 I jede Intervention, die darauf abzielt, ein „menschliches Lebewesen („human being“) zu erzeugen, welches mit einem anderen lebenden oder toten menschlichen Wesen genetisch identisch ist“. Zwischen den Mitgliedsstaaten ist umstritten, ob ein beim therapeutischen Klonen erzeugter Embryo als „human being“ gilt131, und damit auch, ob diese Form des Klonens und der Stammzellgewinnung von dem Verbot umfasst wird. Laut Erläuterndem Bericht132 wurde hierzu entschieden, die Festlegung der Reichweite des Begriffs „human being“ für die Zwecke der Anwendung des Protokolls dem innerstaatlichen Recht zu überlassen. Was die „bloße“ Stammzellforschung angeht, setzt das Zusatzprotokoll keine Schranken. 127 Riedel, in Taupitz, MRB, 29 (36) spricht von einem Formelkompromiss und vom Begriff des „Schutzes“ als contradictio in adiecto, da bei einer derartigen Forschung der Embryo immer vernichtet werde; eher problematisch auch nach Bodendiek/Nowrot, Archiv des Völkerrechts 1999, 177 (200 f.). 128 Honnefelder, in: ders./Streffer, Jahrbuch 1997, 305 (313). 129 Bodendiek/Nowrot, Archiv des Völkerrechts 1999, 177 (201). 130 Additional Protocol to the Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with Regard to the Application of Biology and Medicine, on the Prohibition of Cloning Human Beings vom 12.01.1998, unter www. conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Html.168.htm. 131 Vgl. hierzu unter II. 2. a) zur nicht zu umgehenden totipotenten Zwischenphase beim therapeutischen Klonen. 132 Additional Protocol to the Convention on Human Rights and Biomedicine on the Prohibition of Cloning Human Beings, Explanatory Report, unter www.conventions.coe.int/treaty/en/Reports/Html/168.htm. 32 b) Bioethische Rechtsinstrumente auf drei Normebenen Normhierarchisch lassen sich bioethische Rechtsinstrumente der Gemeinschaft auf drei Ebenen mit jeweils unterschiedlicher Regelungsdichte ausmachen. Die GRCEU steht dabei auf „verfassungsrechtlicher“ Ebene normhierarchisch an der Spitze. Gegenüber deren dabei sehr geringer bioethischer Normdichte konturiert die Biopatentrichtlinie auf Ebene des Sekundärrechts den bioethischen ordre public eingehender, weil rechtlich reversibler. Die Forschungsrahmenprogramme der Europäischen Gemeinschaft weisen als normative Konturen für die Forschungsförderung die höchste bioethische Normdichte auf. Dies liegt in ihrer Zuordnung zur europäischen Leistungsverwaltung begründet, welche sie ausschließlich der europäischen Ebene verpflichtet.133 aa) Charta der Grundrechte (Teil II VerfV) Obwohl der Charta trotz ihrer feierlichen Proklamation durch den Europäischen Rat am 07.12.2000 in Nizza bis jetzt keine Rechtsverbindlichkeit zukommt, und somit ein Wechsel auf die verfassungsrechtliche Ebene rechtlich noch nicht gedeckt ist, ist der EuGH nicht daran gehindert, die Charta heranzuziehen und ein nach Art. 6 II EU gefundenes Ergebnis zu überprüfen oder zu konkretisieren. In der Charta wird ein Grundrechtskatalog formuliert, welcher jedenfalls in seinem Kern, vermittelt über die EMRK, EU-Vertrag und EG-Vertrag, sowie den EuGH und weitere europäische Übereinkommen, bereits jetzt zum rechtlich bindenden Standard im europäischen Grundrechtsschutz gehört und Auswirkungen auf die Konturierung eines bioethischen ordre public hat. So betonte auch GA Tizzano in der Rechtssache BECTU134, dass die Charta in grundrechtsrelevanten Verfahren nicht ignoriert werden könne, auch wenn sie nicht in „in itself binding“ sei. Wörtlich konstatierte er: „[…] we cannot ignore its clear purpose of serving, where its provisions so allow, as a substantive point of reference for all those involved - Member States, institutions, natural and legal persons - in the Community context. Accordingly I consider, that the Charter provides us with the most reliable and definitve confirmation of the fact that the right to paid annual leave constitutes a fundamental right.”135 Derartige Brücken zu einer mittelbaren Verbindlichkeit könnten künftig durch eine Ratifikation des Verfassungsver133 Kersten, Klonen, 89 f. EuGH, Rs. C-173/99, BECTU, Slg. 2001, I-4881. 135 Schlussanträge GA Tizzano, Rs. C-173/99, BECTU, Slg. 2001, I-4881, Rn. 27; vgl. Calliess, EuZW 2001, 261 (267); bereits in der Rs. 44/79, Lieselotte Hauer, Slg. 1979, 3727, Rn. 15 = NJW 1980, 505 (506) ließ der EuGH die Grundrechtserklärung von 1977 (ABl. EG C 103 vom. 27.04.1977, 1) in die Begründungen einfließen. 134 33 trags obsolet werden: Die Grundrechtsfrage findet sich in Art. I-9 VerfV wieder, dessen Absatz 1 statuiert, dass die Union nunmehr die Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennt, die in der Charta der Grundrechte als dem Teil II der Verfassung enthalten sind. Mit dieser Formulierung würde die uneingeschränkte Verbindlichkeit sowie der Verfassungsrang der Charta erreicht, so dass auch künftige Änderungen den Bedingungen und dem Verfahren einer Verfassungsänderung unterliegen.136 Art. 3 II der GRCEU (Art. II-63 Abs. 2 VerfV) gilt aus deren Ausweis für Modernität und Aktualität, sowie als Reaktion auf biotechnische Herausforderungen insbesondere im Vergleich zu den Mitgliedsstaaten.137 In dieser Norm findet sich eine bedeutsame, demonstrative Aufzählung von drei Verboten und einem Gebot im Rahmen von „Medizin und Biologie“, die sich an Garantien aus der Bioethikkonvention anlehnen. So verbietet die Charta das Fortpflanzungs-Klonen sowie die Nutzung von menschlichen Körperteilen zur Gewinnerzielung, was diesen sich bereits aus dem nationalen Verfassungsrecht i.V.m. der Menschenwürde ergebenden Aspekten durchaus Signalwirkung verleiht. Über diese „minima moralia“ hinaus werden Entscheidungen wiederum in die Hände der Mitgliedsstaaten gelegt, und zwar dergestalt, dass die Charta zwar das reproduktive Klonen verbietet, nicht aber das therapeutische bzw. Forschungs-Klonen, genauer gesagt letzteres weder explizit verbietet noch gestattet.138 Wie auch die entsprechenden Regelungen in der Bioethikkonvention, die insofern Inspirationsquelle der Chartabestimmung war, ist Art. 3 II GRCEU zukunftsoffen konzipiert. Ausdruck des vom Konvent den Mitgliedsstaaten überlassenen Ermessens ist als denklogische Folge einer „minima moralia“ außerdem die Statuierung des Schutzes des Ungeborenen, wie insbesondere der letzte Spiegelstrich zeigt, ohne dabei die Ausprägung dieses Schutzes dahingehend festzulegen, ob der Embryo als Träger der in Art. 1 GRCEU als Hauptgrundrecht ausgestatteten Menschenwürde bzw. überhaupt Grundrechtsträger anzusehen ist.139 Auffällig ist, dass Art. 1 GRC der einzige bleibt, in dem vom „Menschen“ die Rede ist, das Recht auf Leben steht dagegen nur „Personen“ zu. Der Grund dafür liegt wohl der Übernahme des Wortes „personne“ im französischen Ausgangstext. Die speziell an den Begriff der „Person“ geknüpfte Befürchtung restriktiver Auslegung könnte zum eine 136 Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (564). Vgl. Kommission der EG, Mitteilung der Kommission zur Grundrechtscharta der Europäischen Union, Vorlage von Herrn Vitorino im Einvernehmen mit dem Präsidenten, Brüssel, 13.09.2000, KOM (2000) 559 endg., 11; Kersten, Klonen, 90. 138 Borowsky, in: Meyer, GRCEU, Art. 1, Rn. 46; Calliess, EuZW 2001, 261 (263). 139 Borowsky, in: Meyer, GRCEU, Art. 3, Rn. 36 f., 41 f.; vgl. Calliess, EuZW 2001, 261 (263). 137 34 durch die Fassung des Art. II-62 Abs. 1 VerfV („Jeder Mensch hat das Recht auf Leben“) obsolet werden und ist bereits heute deshalb unbegründet, weil die Worte „Mensch und „Person“ in der Charts „kreuz und quer“ verwendet werden. Maßgeblich für die Auslegung des Art. 2 I GRCEU ist in erster Linie, dass dieser mit Art. 2 II 1 EMRK identisch ist und der durch die Charta gewährte Schutz sich damit „akzessorisch“ zu dem in der EMRK garantierten verhält.140 Im Ergebnis bedeutet dies schlicht, dass die Frage nach dem Recht auf Leben für Embryonen bislang ungeklärt ist. bb) Biopatentrichtlinie Im Erwägungsrund 38 Satz 3 der Richtlinie sind als Beispiele für Verfahren, die gegen die Menschenwürde verstoßen, Verfahren zur Herstellung hybrider Lebewesen, welche aus Keimzellen oder totipotenten Zellen von Mensch und Tier entstehen, statuiert. Fraglich ist nun, worin hierbei die Verletzung der Menschenwürde zu sehen ist. Der Anknüpfungspunkt könnte zum einen in der Instrumentalisierung einer totipotenten Zelle gesehen werden. Ein solches Verständnis setzte denklogisch voraus, dass es sich bei der totipotenten Zelle um einen individuellen Menschen handelte. Jedoch könnte der Würdeverstoß ebenso gut in dem auf Artüberschreitung gerichteten Handlungszusammenhang gesehen werden, wonach es auf den Status der Ausgangzelle überhaupt nicht ankäme. Diese Differenzierung wäre obsolet, wenn die totipotente Zelle als „menschliches Leben“ angesehen würde. Eine Definition des „menschlichen Lebens“ und des „Embryos“ fehlt in der Richtlinie, die sich in diesen Punkten nicht von der GRCEU unterscheidet. In zwei Punkten jedoch ist die Richtlinie konkreter: Der Begriff des „menschlichen Lebens“ findet sich mit dem des „Embryos“ synchronisiert. Da des Weiteren nach systematischer Auslegung auch der menschliche Klon in seinen frühesten Entwicklungsstadien unter den Begriff des „Embryos“ fällt, kommt ihm i.S.d. Richtlinie auch der Schutz „menschliches Lebens“ zuteil. Sähe man dies als eine Konkretisierung des in der GRCEU ebenfalls nicht definierten und deshalb konkretisierungsbedürftigen Begriffs des „Menschen“, bedeutete dies zwar nicht zwangsläufig eine zeitliche Synchronisierung des „Menschen“ und des „Embryos“ im Hinblick auf den Lebensbeginn, hielte jedoch zumindest die Möglichkeit offen, dass der Begriff „Mensch“ in der Charta nicht notwendigerweise die 140 Borowsky, in: Meyer, GRCEU, Art. 2, Rn. 1, 29 f.; Kersten, Klonen, 104. 35 Erfassung des nasciturus bzw. des Embryos in vitro ausschließt,141 und betont damit erneut das den Mitgliedsstaaten verbleibende Ermessen. cc) 6. Forschungsrahmenprogramm Laut Beschluss der Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2002 sind außerdem bei der Durchführung des am 30. September 2002 verabschiedeten RP6 (2002-2006)142 die ethischen Grundprinzipien, die sich aus der EMRK, der Grundrechtscharta und dem Zusatzprotokoll über das Verbot des Klonens von Menschen ergeben, sowie der Schutz menschlicher Würde und menschlichen Lebens zu wahren. Eine selbstständige Definition der Begriffe „Mensch“, „Embryo“ oder „menschliches Leben“ findet sich dabei nicht. Laut Rahmenprogramm sind Forschungstätigkeiten zur Züchtung menschlicher Embryonen ausschließlich zu Forschungszwecken oder zur Gewinnung von Stammzellen von der Forschung auszunehmen. Sonstige Forschungsvorhaben mit menschlichen Embryonen oder embryonalen Stammzellen sollen von der Kommission ethisch geprüft und einem Regelungsausschuss vorgelegt werden. V. Gesetzgebungskompetenzen Bei der Prüfung der Gemeinschaft als Rahmen zur Klärung der Menschenwürdefrage wurde die Notwendigkeit der Übertragung dieser „Definitionsmacht“ jedenfalls hinsichtlich eines Minimalkonsenses festgestellt. Die Umsetzung dieser „Macht“ soll dabei keine Verschiebung der nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zugewiesenen Kompetenzen bzw. Kompetenzgrenzen nach sich ziehen. Die Betonung dieser Kompetenzwahrung findet sich reflektiert in Art. 51 II GRCEU bzw. noch darüber hinausgehend in der „Schlüsselnorm“143 des VerfV, ihres Art. II-111. In der Kompetenzfrage treffen alle Schlüsselfragen der Verfassungsdebatte zusammen. Treffend wird sie als „Königsweg zu einem adäquaten Verständnis der Europäischen Integration“ und „Sitz des Wesens der EU und ihres politischen Charakters“ bezeich- 141 Zum Ganzen Herdegen, GRUR Int 2000, 859 (860 f.); Kersten, Klonen, 165, 173, 177. Vgl. Fn. 19 und unter II. 3. b). 143 Ruffert, EuR 2004, 165 (176). 142 36 net.144 Bestimmungen über Forschung und damit notwendig verbunden über den Handel mit humanen embryonalen Stammzellen verfolgen allgemein ein wirtschaftliches Regelungsziel und reflektieren gleichzeitig eine ethische Grundsatzentscheidung für die ganze Gemeinschaft, wobei diese beiden Aspekte untrennbar verbunden sind: Weder könnte eine Regelung getroffen werden, ohne zumindest potentiell die Menschenwürde zu betreffen, noch könnten zum Schutz der Menschenwürde Beschränkungen oder Verbote erlassen werden, ohne wirtschaftliche Implikationen. Die Gemeinschaft hat jedoch keine Kompetenzen zur Regelung ethischer Fragen als solche, ist mithin nicht legitimiert ihren Mitgliedern einen Moralkodex aufzuerlegen. Vielmehr müssen diese Fragen vorab von den Mitgliedsstaaten geklärt werden.145 Trotz ihrer zwangsläufigen Verbundenheit betreffen die beiden Aspekte der Ethik und der Wirtschaft jeweils einen unterschiedlichen Gesichtspunkt innerhalb einer Prüfung der Gesetzgebungskompetenz der Gemeinschaft. Die Diskussion um eine Grundrechtsträgerschaft des Embryos (in vitro wie in utero) betrifft die inhaltliche Ausgestaltung eines Gemeinschaftsrechtsaktes, bzw. noch einen Schritt davor, deren (ethische wie rechtliche) Grundlage, mithin wie der Frage nach dem „Wie“ eines Tätigwerdens des Gesetzgebers. Abstrakt formuliert stellen sich inhaltliche Handlungsanforderungen an einen Rechtsakt der Gemeinschaft in erster Linie in Form der Beachtung der Gemeinschaftsgrundrechte, wie sie insbesondere in der GRCEU und Art. 6 II EU (Art. I-9 Abs. 1 i.V.m. Teil II VerfV und Art. I-9 Abs. 3 VerfV) ausgewiesen werden.146 Die entsprechend relevanten Erkenntnisquellen und Rechtsinstrumente überlassen bis dato die Regelung des Umgangs mit menschlichen Embryonen und Stammzellen aber gerade dem Ermessen der Mitgliedsstaaten und statuieren lediglich den Minimalkonsens des Verbotes reproduktiven Klonens und des Gewinnerzielungsverbotes im Hinblick auf die Nutzung des menschlichen Körpers. Damit wird ein Integrationsstatus reflektiert, welcher es gegenwärtig nicht ermöglicht, eine Rechtsangleichung auf diesem Gebiet vorzunehmen. Obwohl damit gegenwärtig nur theoretischer Natur, ist dennoch die Frage nach dem „Ob“ eines Tätigwerdens des Gemeinschaftsgesetzgebers zu beachten, einmal vorausgesetzt ein entsprechender Konsens bzw. wohl eher ein Kompromiss hinsichtlich einer inhaltlichen Ausgestaltung würde bestehen. Hierbei kommt der wirtschaftliche Aspekt zum Tragen, zuvörderst in Form eines 144 Ebd., 165 (187). Vgl. EU-Forschungskommissar Busquin, EU-Nachrichten Nr. 32/2003 vom 18.09.2003, „Ethik liegt in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten“, 7 (7). 146 Schweitzer et al., Gutachten, 72. 145 37 Rekurses auf die Binnenmarktkompetenz nach Art. 95 I EG, welche nicht durch einen Bezug auf einen sachlichen Gegenstand gekennzeichnet, sondern funktional auf die Ziele des Binnenmarktes ausgestaltet147 ist. 1. Anwendungsbereich des EG-Vertrages Die sich aus diesen Ausführungen notwendig ergebende Folge für den Anwendungsbereich des EG-Vertrages hat der EuGH dergestalt präzisiert, dass grundsätzlich alle Lebens- oder Politikbereiche in den Anwendungsbereich des EG-Vertrages fallen, sofern sie nur hinreichend wirtschaftlichen Charakter haben, d.h. zum Wirtschaftsleben gehören oder jedenfalls mit diesem zusammenhängen und damit nach Art. 2 EG in das Aufgabenfeld der Gemeinschaft fallen.148 Im Fall SPUC149 wurde dies speziell für den Bereich der medizinischen Ethik entschieden. Ein solcher hinreichend wirtschaftlicher Charakter ist dem Bereich der Biomedizin, speziell dem der Embryonen- und Stammzellforschung, zweifellos zuzusprechen. Hierbei können immense Summen in die erforderliche Technik investiert und Tätigkeiten aufgrund ihrer wissenschaftlichen Komplexität gegen zum Teil sehr hohe Entgelte erbracht werden. Es handelt sich deshalb um eine Wirtschaftsbranche mit hoher Wachstumsprognose. Fragen der Embryonen- und Stammzellforschung sind damit als Teil des Wirtschaftslebens im Sinne des Art. 2 EG anzusehen und fallen somit in den Anwendungsbereich des EG-Vertrages. 2. Kompetenzgrundlagen a) Art. 95 I, Art. 47 II und Art. 47 II i.V.m. Art. 55 EG Die Harmonisierung bzw. der Erlass einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung der Forschung und des Handels mit embryonalen Stammzellen gemäß Art. 95 I EG (Art. III-172 VerfV) setzte nach der Präzisierung des Tatbestandes durch den EuGH zunächst den erkennbaren Willen des Gesetzgebers, das Funktionieren des Binnenmarktes verbessern zu wollen, voraus (subjektive Komponente). Zum anderen müsste der entsprechende Rechtsakt auch objektiv-tatsächlich und gerichtlich überprüfbar diesem Zweck dienen, indem er die aus den unterschiedlichen nationalen Regelun147 GA Fennelly, Schlussanträge, Rs. C-376/98 und C-74/99, Deutschland/Parlament und Rat sowie The Queen/Secretary of State for Health, ex parte: Imperial Tobacco Ltd., Slg. 2000, I-8419, Rn. 62. 148 So z.B. trotz der sozial-kulturellen Bedeutung entschieden für den Bereich Sport, EuGH, Rs. C-415/93, Union royale belge de sociétés de football association ASBL/Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 73-78; vgl. Schweitzer et al., Gutachten, 12. 149 EuGH, Rs. C-159/90, SPUC/Grogan, Slg. 1991, I-4685, Rn. 20, vgl. bereits unter IV. 1. b). 38 gen resultierenden Hemmnisse für die Grundfreiheiten, die spürbare Wettbewerbsverzerrungen nach sich ziehen, zu beseitigen oder verhindern geeignet sind.150 Entsprechendes setzt Art. 47 II EG (Art. III-141 Abs. 1 lit. b VerfV) für den Bereich der Niederlassungsfreiheit, sowie Art. 47 II i.V.m. Art. 55 EG (Art. III-141 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. III-150 VerfV) für den Bereich der Dienstleistungsfreiheit voraus. aa) Wirtschaftliche Nutzung von Embryonen als „Ware“? Als Grundsatzproblem stellt sich zunächst die Einordnung des menschlichen Embryos und der embryonalen Stammzellen als Ware i.S.d. Art. 14 II (Art. III-130 Abs. 2 VerfV) und Art. 23 EG (Art. III-151 VerfV), wie sie zumindest aus ethisch-moralischer Sicht abzulehnen wäre. Auch die Kommission hat in ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage am 30. Juli 1985 Embryonen und embryonale Stammzellen nicht als Ware klassifiziert.151 Laut Definition des EuGH dagegen sind Waren i.S.d. EGVertrages „Gegenstände“ oder „Erzeugnisse“, die im Hinblick auf Handelsgeschäfte über eine Grenze verbracht werden können, unabhängig von der „Natur dieser Geschäfte“.152 Entscheidend für den Warenbegriff des EG-Vertrages ist damit eine rein wirtschaftliche Betrachtungsweise und alleiniges Zuordnungskriterium die Frage, ob ein „Gegenstand“ gegen eine Geldleistung grenzüberschreitend verbracht werden kann. Diese Möglichkeit ist für Embryonen und embryonale Stammzellen im Sinne von „Forschungsobjekten“ gegeben; ihr Kauf und Verkauf ist mithin ein Handelsgeschäft i.S.d. Gemeinschaftsrechts, so dass Embryonen als „Ware“ i.S.d. Art. 23 II EG zu klassifizieren sind, ohne dass damit eine, für die wirtschaftlich geprägten Grundfreiheiten ohnehin nicht ausschlaggebende, ethisch-moralische Bewertung verbunden ist. Der Handel mit embryonalen Stammzellen fällt im Ergebnis unter die Warenverkehrsfreiheit. Weiterhin könnte der Bereich Forschung an embryonalen Stammzellen als kommerziell nutzbar und selbstständige Tätigkeit unter den Begriff der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit subsumiert werden: Eine wirtschaftliche Nutzung dieser Forschungsaktivitäten kann in Form von Tätigkeiten erfolgen, die von 150 EuGH, Rs. C-300/89, Kommission/Rat, Slg. 1991, I-2682, Rn. 10 (Titanoxid); Rs. C-233/94, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 1997, I-2405, Rn. 12 (Einlagensicherung); Rs. C- 269-97, Kommission/Rat, Slg. 2000, I-2257, Rn. 43 (Rinderkennzeichnung); Rs. C- 376/98, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Rn. 83 f. (Tabakwerbung). 151 „Was die Einreihung in das Schema des allgemeinen Zolltarifs anbelangt, so möchte die Kommission unterstreichen, dass das Schema des Gemeinsamen Zolltarifs Waren vorbehalten ist und deshalb weder Feten noch Fetalstoffe darin erfasst werden.“, Schriftliche Anfrage Nr. 442/85 von Hr. John Marshall an die Kommission: Handel mit toten Fötussen und Fötusmaterial, ABl. EG 1985, C 263, 19; Schweitzer et al., Gutachten, 67. 152 EuGH, Rs. C-2/90, Kommission/Belgien, Slg. 1992, I-4431, Rn. 26 (Abfalltourismus); Rs. C-324/93, Queen/Secretary of State for Home Department, ex parte: Evans Medical u.a., Slg. 1995, I-563, Rn. 20 (Suchtstoffe). 39 Forschungszentren, Kliniken, sonstigen Labors oder Pharmaunternehmen selbstständig und in der Regel gegen Entgelt erbracht werden.153 In Anhängigkeit davon, ob diese Tätigkeiten dauerhaft oder nur vorübergehend grenzüberschreitend in einen anderen Mitgliedsstaat erbracht werden, fallen sie in den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 EG (Art. III-137 VerfV) oder der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 und Art. 50 EG (Art. III-144 und III-145 VerfV). bb) Binnenmarkt als subjektives Ziel Der Gemeinschaftsgesetzgeber müsste also bei einem Tätigwerden bereits in den Erwägungsgründen eines entsprechenden Rechtsaktes den Willen erkennen lassen, das Funktionieren des Binnenmarktes durch Beseitigung der durch unterschiedliche nationale Vorschriften hervorgerufenen Hemmnisse für den innergemeinschaftlichen Handel und die Forschung mit Embryonen und Stammzellen zu verbessern. Im Tabakwerbeurteil hat der EuGH die inhaltlichen Anforderungen an diese subjektive Komponente präzisiert. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Tabakwerbeverbots-Richtlinie 98/43/EG154 verpflichtete die Staaten, einheitlich bestimmte Beschränkungen der Werbung für Tabakerzeugnisse in den nationalen Rechtsordnungen zu verankern, wodurch gleichzeitig Diskrepanzen zwischen den Staaten abgebaut und die schädlichen Folgen des Rauchens bekämpft werden sollten. Sie verfolgte mithin sowohl handels- als auch gesundheitspolitische Ziele. Die Richtlinie wurde vom EuGH für nichtig erklärt.155 In seinem Urteil reichte es dem Gerichtshof nicht aus, dass die Richtlinie „auch“ zur Harmonisierung beitragen sollte: Für die Gesundheitspolitik fehle der Gemeinschaft die nötige Kompetenz. Diese Lücke könne nicht mit Hilfe der Harmonisierungsvorschriften überbrückt werden. In der Begründung heißt es, dass Art. 100a I EGV (jetzt Art. 95 I EG) der Gemeinschaft keine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes gewähre, da dies zum einem dem Wortlaut der Vorschrift und zum anderen dem, (jetzt) in Art. 3b EGV (jetzt Art. 5 EG) niedergelegten, Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung widerspreche.156 Eine Richtlinie mit solch „doppelter Wirkung“157 wie die Tabakwerbeverbotrichtlinie ist auch die Biopatentrichtlinie. In diesem Fall ging der Gerichtshof im Gegensatz zum 153 Vgl. Schweitzer et al., Gutachten, 68. Richtlinie 98/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 06.07.1998 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten über Werbung und Sponsoring zu Gunsten von Tabakerzeugnissen, ABl. EG L 213 vom 30.07.1998, 9 ff. 155 EuGH, Rs. C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Rn. 4-9, 76-78; vgl. Frahm/Gebauer, EuR 2002, 78 (93 f.). 156 EuGH, Rs. C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Rn. 83, 96 ff. 157 Frahm/Gebauer, EuR 2002, 78 (93). 154 40 Tabakurteil offenbar davon aus, dass die Harmonisierungsvorschriften als Rechtsgrundlage die Richtlinie tragen könnten. Anders sah dies neben dem Kläger auch die italienische Regierung als dessen Streithelfer, die geltend machte, Art. 100a EGV könnte den Erlass der Richtlinie nicht tragen, da die ersten drei Begründungserwägungen der Richtlinie zeigten, dass damit als Hauptziel die Stützung der industriellen Entwicklung der Gemeinschaft und der wissenschaftlichen Forschung im Bereich der Gentechnik verfolgt würde. Deshalb wären als Ermächtigungsgrundlagen vielmehr Art. 130 und 130f EGV (jetzt Art. 157 und 163 EG) heranzuziehen gewesen.158 Der EuGH stellte fest, dass für die Ermittlung der Rechtsgrundlage eines Rechtsaktes, die dessen Erlass zugrunde zu legen sei, auf das Hauptziel des Rechtaktes abzustellen sei. Die Biopatentrichtlinie bezwecke zwar die Förderung der Forschung und Entwicklung im Bereich der Gentechnik in der EG, jedoch bestehe die Art und Weise des Beitrags zu diesem Ziel darin, die rechtlichen Hindernisse im Binnenmarkt in Form der Unterschiede in den Rechtsvorschriften und in der Rechtsprechung in den Mitgliedsstaaten abzubauen, die die Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten in diesem Bereich behindern und zu einem Ungleichgewicht führen können. Die Angleichung der Rechtsvorschriften stelle daher nicht nur ein beiläufiges und ergänzendes Ziel dar, sondern entspreche ihrem Wesen. Dass außerdem ein Ziel verfolgt werde, das unter Art. 130 und 130f EGV falle, schließe Art. 100a EGV als Rechtsgrundlage nicht aus.159 Diese Konkretisierungen der subjektiven Anforderungen durch den EuGH reflektieren die eingangs angesprochene Wahrung der Kompetenzverteilung, mithin die Beachtung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. Umgesetzt auf den Bereich der Embryonen- und Stammzellforschung soll also sichergestellt sein, dass der Erlass einer rechtsangleichenden Maßnahme in diesem Bereich tatsächlich nicht als Instrument oder Mittel zum Zweck missbraucht wird, den Mitgliedsstaaten ein bestimmtes ethisches Verständnis einfach „aufzuerlegen“, sondern dass gegebenenfalls auf der Basis einer bereits bestehenden Einigkeit eine rechtsangleichende Maßnahme mit dem Ziel der Verbesserung des Funktionierens des Binnenmarktes, auch mit dem weiteren Ziel der Förderung von Wissenschaft und Forschung, erginge. Zwar ergibt sich für den EuGH die Kompetenz zur Anwendung von Gemeinschaftsgrundrechten als Annex zur Binnenmarktkompetenz160, jedoch gestal158 EuGH, Rs. C-377-98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rn. 26. EuGH, Rs. C-377-98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rn. 27 f., mit Verweisen auf EuGH, Rs. C-155/91, Kommission/Rat, Slg. 1993, I-939, Rn. 19-21; analog Rs. C-62/88, Griechenland/Rat, Slg. 1990, I-1527, Rn. 18-20. 160 Vgl. Frahm/Gebauer, EuR 2002, 78 (93). 159 41 tet sich die Reflexion der fehlenden Kompetenz in ethischen Fragen als solche speziell dahingehend, dass die Kompetenz zur Rechtsangleichung im Binnenmarkt die Kluft zwischen dem Teilaspekt Binnenmarkt und dem Teilaspekt Menschenwürde nicht überbrücken kann. cc) Binnenmarkt als objektiv-tatsächlicher Zweck Nach diesem „Lippenbekenntnis“ zum subjektiven Ziel einer entsprechenden Maßnahme, müsste diese auch tatsächlich dem Zweck dienen, Hemmnisse für die Ausübung der Grundfreiheiten und daraus resultierende Wettbewerbsverzerrungen zu beseitigen. Der EuGH präzisiert dies mit dem Erfordernis der heterogenen Entwicklungen nationaler Rechtsvorschriften, die Hemmnisse für die Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit verursachen bzw. verursacht haben oder wahrscheinlich verursachen können.161 Eine solche heterogene Ausgestaltung nationaler rechtlicher Regelungen über den Umgang mit Embryonen besteht. Regelungen einzelner Länder, die ein Import- und Exportverbot der Embryonen und/oder Stammzellen vorsehen, führen zu mengenmäßigen Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit i.S.d. Art. 28 und 29 EG (Art. III-153 VerfV); diese wirken sich grundsätzlich unmittelbar hemmend auf den Handelsverkehr aus162. Dies wiederum hat zur Folge, dass es für Forschungseinrichtungen weniger attraktiv ist, ihre Tätigkeit in einem Mitgliedsstaat auszuüben, der strengere Anforderungen an die Embryonenforschung stellt, als in einem in dieser Hinsicht liberaleren Mitgliedsstaat. Dem folgen notwendigerweise die Erwägungen, entsprechende Forschungstätigkeiten nur noch von oder in diesen liberalen Ländern, wie beispielsweise Großbritannien zu erbringen. Es lässt sich daher von einem „Tourismus der Embryonenforschung“ sprechen, der freilich Hemmnisse für den freien Waren-, und Dienstleistungsverkehr, sowie für die Niederlassungsfreiheit hervorbringt.163 Schweitzer, Selmayr, Kamann und Ahlers legen in ihrem Gutachten einige Vorschläge für die auf vielfältige Weise mögliche Beseitigung dieser Handelshemmnisse dar, exemplarisch erwähnt sei hier die Möglichkeit der Errichtung von Kontrollstellen für den zulässigen Bereich von Import und Export bzw. die Ernennung von für den Handel befugten Stellen.164 Jedenfalls setzt eine das 161 EuGH, Rs. C- 376/98, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Rn. 86, 96; Rs. C-377/98, Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rn. 15. 162 EuGH, Rs. 34/79, Henn und Darby, Slg. 1979, 3795, Rn. 12 (pornographische Artikel); Schweitzer et al., Gutachten, 70; Streinz, Europarecht, Rn. 729. 163 Vgl. Lilie, in: Schreiber-FS, 729 (730); Schweitzer et al., Gutachten, 70-71. 164 Die Richtlinie 89/556/EWG über die viehseuchenrechtliche Frage beim innergemeinschaftlichen Handel mit Embryonen von Hausrindern und bei ihrer Einfuhr aus Drittländern, in der durch die Richtlinie 93/53/EWG 42 Funktionieren des Binnenmarktes verbessernde Maßnahme nicht zwingend eine völlige Liberalisierung voraus, sondern kann grundsätzlich auch regulierenden Charakters sein.165 b) Art. 152 IV lit. a EG Weiterhin könnte der Gemeinschaftsgesetzgeber auf der Grundalge von Art. 152 IV lit. a EG (Art. III-278 Abs. 4 lit. a VerfV) Vorgaben für die Kryokonservierung und Lagerung von Embryonen oder Anforderungen an die Zulassung oder Qualifizierung von Forschungspersonal erlassen. Vor dem Hintergrund der Zwecksetzung der Norm, den menschlichen Körper nicht zu Handelszwecken zu nutzen, sind auch Embryonen und embryonale Stammzellen als „Substanzen menschlichen Ursprungs“ zu qualifizieren, da sich dieser Zweck nur effektiv umsetzen lässt, wenn auch der menschliche Körper insgesamt, also auch in „Gestalt“ eines Embryos oder einer Stammzelle, erfasst wird.166 Neben der Verfolgung eines hohen Gesundheitsschutzes gilt bezüglich inhaltlicher Anforderungen an einen Rechtsakt das oben erörterte. c) Art. 133 I EG Für über die Binnenmarktgrenzen hinausreichende Maßnahmen kann Art. 95 EG jedenfalls dann nicht als Kompetenzgrundlage herangezogen werden, wenn eine spezielle Bestimmung zur Regelung externer Aspekte des Binnenmarktes vorhanden ist. Entsprechende Maßnahmen könnten deshalb auf der Grundlage von Art. 133 EG (Art. III-315 Abs. 1 VerfV) erlassen werden. Neben den für gemeinschaftsinterne Maßnahmen geltenden inhaltlichen Anforderungen ergibt sich dann noch die Erforderlichkeit des Einklangs mit den internationalen Verpflichtungen der Gemeinschaft, insbesondere solcher der WTO.167 geänderten Fassung, ABl. EG L 175 vom 19.07.1993, 21 regelt ähnliches bereits für den Handel mit tierischen Embryonen. 165 Mit weiteren Handlungsvorschlägen Schweitzer et al., Gutachten, 71. 166 Schweitzer et al., Gutachten, 73. 167 Ebd., 74 f. 43 VI. Fazit und Ausblick „Nach den bisherigen Entwicklungen besteht auf europäischer Ebene keine Einigkeit über den Zeitpunkt des Beginns menschlichen Lebens bzw. der Grundrechtsträgerschaft von Embryonen als Basis für eine rechtlich verbindliche Regelung des Umgangs mit embryonalen Stammzellen“ - stetig wiederkehrend zieht sich dieser fehlende Konsens wie ein roter Faden durch die komplexen Vernetzungen in dem Spannungsfeld von Konstitutionalisierung, Menschenwürde und Kompetenzen, ist dessen zentraler Dreh- und Angelpunkt und präsentiert sich dabei als begrenzender, jedoch gleichsam den status quo konstituierender Faktor. Fest steht, dass auf europäischer Ebene für den Embryo in vitro keine Grundrechtsträgerschaft angenommen werden kann, solange keine Einigung über den Beginn menschlichen Lebens besteht. Andernfalls wäre die Forschung an Embryonen und embryonalen Stammzellen unvereinbar mit Grund- und Menschenrechten (insbesondere mit Art. 1 GRCEU bzw. Art. II-61 VerfV), wie sie die Union gemäß Art. 6 I EU (Art. I-2 VerfV) zu achten verpflichtet ist. Dies implizierte gegenüber den bezüglich der Embryonenforschung liberal verfahrenden Staaten wie Großbritannien den Vorwurf eines Verstoßes gegen Art. 6 I EU und damit gegen fundamentale Rechte der Union, was in der Konsequenz immerhin die Erwägung eines Sanktionsverfahrens nach Art. 7 I EU (Art. I-59 VerfV) nach sich ziehen würde. Den restriktiv verfahrenden Staaten würde der Ansatz, eine Grundrechtsträgerschaft des Embryos abzulehnen, dabei jedenfalls insoweit gerecht werden, als dass dieser Ansatz nicht zwangsläufig bedeuten muss, vielmehr keinesfalls bedeuten darf, den Embryo in vitro völlig schutzlos zu stellen. Die Anerkennung eines hohen Schutzniveaus führte im Ergebnis dazu, dass die befruchtete Eizelle zwar kein Recht auf Leben hätte oder Träger der Menschenwürde wäre, dennoch aber eine gesellschaftliche Pflicht bestünde, den Embryo in vitro vor einer beliebigen Instrumentalisierung und wirtschaftlicher Verwertung zu schützen. Rothärmel bezeichnete dies jüngst als einen „Reflex kollektiver Menschenwürde“ und verwies dabei auf das Interesse einer von kollektiver Selbstachtung geprägten Gesellschaft an der entwicklungsgeschichtlichen Herkunft des Menschen und am Gedenken an frühere Generationen.168 Die Notwendigkeit zumindest dieses Schutzes kann quasi als „kleinster gemeinsamer Nenner“ der konträren Ansichten der Mitgliedsstaaten festgehalten werden. Weiterführend wäre freilich nach diesem Standpunkt der Schutz des Embryos einer Abwägung zugänglich, und damit For168 Sonja Rothärmel, beim Symposium vom 31.03. - 03.04.2005 in Halle (vgl. Fn. 3), Vortragsmanuskript, 14. 44 schung an und mit Embryonen - unter bestimmten Konditionen - als zulässig anzusehen. Diese Konsequenz, welche sich aus der Beschränkung auf den immerhin festzuhaltenden Minimalkonsens einer besonderen Schutzwürdigkeit des Embryos ergeben würde, ist jedoch unvereinbar mit der gegenwärtigen Position einiger Mitgliedsstaaten, so dass der Respekt der Gemeinschaft vor den nationalen Regelungen und Wertentscheidungen gegenwärtig den einzelnen jeweils die meisten Vorteile und damit die beste Lösung zu bieten scheint: Insbesondere die restriktiv verfahrenden Länder wahren ihre kulturelle Souveränität und bleiben ihren prägenden Prinzipien treu (vgl. Präambel der GRCEU bzw. die des Teils II VerfV), während die liberaler verfahrenden Mitglieder der Gemeinschaft von einem Zugewinn an wirtschaftlichen Vorteilen und Prestige profitieren, und sich zudem leichter als Wissenschaftsstandort behaupten können. Dennoch bestehen mit Blick auf die weitere Entwicklung der Gemeinschaft wie der Wissenschaft Bedenken hinsichtlich eines dauerhaften Erhaltes dieses heterogenen Bildes. Was innerhalb eines dynamischen Prozesses dem gegenwärtigen Integrationsstandard am besten gerecht wird bzw. diesen widerspiegelt, muss bzw. möglicherweise sogar kann oder darf diesen Anspruch nicht auch im Hinblick auf die weitere Entwicklung erheben. Neben all den damit einhergehenden „Spill-over-Effekten“ bleibt „Herzstück“ der europäischen Integrationsidee noch immer die wirtschaftliche Integration, und damit die Umsetzung und Garantie der Binnenmarktfreiheiten. Die sich aus der gegenwärtigen Situation ergebenden negativen Implikationen für das Funktionieren des Binnenmarktes, insbesondere die Wettbewerbsnachteile für restriktive Staaten, werden künftig als „natural forces“ auch bei einem grundsätzlichen Absehen von einer Rechtsangleichung zwangsläufig ein Tätigwerden des Gesetzgebers erfordern, welches diese Nachteile auszugleichen imstande ist. Nachdem es der rechtliche Rahmen der Gemeinschaft jedoch kaum gestattet, Steuern von den Mitgliedsstaaten zu erheben und Förderungsprogramme nur bedingt als Steuerungsinstrument herangezogen werden können, ist anzunehmen, dass sich die Gemeinschaft in Richtung einer Rechtsangleichung bewegt. Diese wird nicht zuletzt um eine Abwanderung von Forschern in Drittländer zu verhindern und um drohenden Schaden für das internationale Ansehen als Wissenschaftsstandort und für die Wettbewerbsfähigkeit169 der Gemeinschaft abzuwenden wohl 169 „Das RP7 ist die Grundlage der Strategie von Lissabon - die Wettbewerbsfähigkeit Europas muss bei der Forschung ansetzen“, Berichterstatter des Ausschusses für Industrie, Forschung und Energie des Parlaments (ITRE) J. Buzek gegenüber Journalisten am 06.04.2005, CORDIS Nachrichten vom 11.04.2005, „Potocnik: RP7 nicht ,bloß weiteres Rahmenprogramm‘“. 45 eher liberalen Charakters sein.170 Auch wenn dafür gegenwärtig der notwendige Konsens bzw. die Zustimmung der restriktiv verfahrenden Mitgliedsstaaten fehlt, bleibt abzuwarten, wie stabil sich die ethischen Fundamente dieser Länder angesichts des steigenden ökonomischen und gesellschaftlichen Drucks tatsächlich zeigen werden. In der Tat kann auch diese restriktive Haltung neben ökonomischen Nachteilen moralische Bedenken nach sich ziehen. Beispielsweise wäre es unangebracht, Vorteile von Produkten und Therapien innerhalb der EU zu nutzen, die in Verfahren entstanden sind, welche in der EU oder einzelnen Mitgliedsstaaten verboten sind um selbst auf einer „ethisch sicheren Seite“ zu sein. Sollten sich also die in die Stammzelltherapie gesetzten Hoffnungen zumindest in Teilen als begründet erweisen, wird das Gros der Betroffenen kaum auf diese Chance verzichten wollen und diese deshalb erforderlichenfalls in liberaleren Drittländern wahrnehmen, was zum einen eine moralisch begründete Restriktion ad absurdum führen und nicht zuletzt den ökonomischen Druck weiter forcieren würde. Damit ist es unerlässlich für den Gemeinschaftsgesetzgeber, sich bereits gegenwärtig, beispielsweise durch die Schaffung von Netzwerken aus Wissenschafts- und Rechtsexperten sowie den Nationalen Ethikkomitees, auf die Möglichkeit einer zukünftigen Rechtsangleichung einzurichten. Diese sieht sich dann vor der Herausforderung, einerseits der stetigen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung durch Flexibilität und umfassende Informationsarbeit gewachsen zu sein und andererseits durch ihre Bestimmtheit und effektive Kontrolle klare Handlungsanforderungen zu statuieren. Der Charakter des europäischen Konstitutionalisierungsprozesses fordert von der Gemeinschaft und ihren Mitgliedern, zwar den status quo zu erfassen, zu (er)leben und auszugestalten, jedoch auch, diesen dabei nicht als letztverbindliches Ziel zu betrachten. Vielmehr ist ein Bewusstsein der Offenheit für Weiterentwicklung und Flexibilität erforderlich, um hier nicht anzuhalten, sondern weiterzufahren, und damit das berühmte Fahrrad171 vor dem Umkippen zu bewahren; denn die Zukunft mit Methoden der Vergangenheit bewältigen zu wollen, hieße, die Gegenwart falsch einzuschätzen. 170 Europäisches Parlament, Generaldirektion Wissenschaft, Aufzeichnung Nr. 12/2000, Harmonisierung der die Embryonenforschung betreffenden Rechtsvorschriften der EU-Mitgliedsstaaten, EP Nr. 296.694, November 2000, 6; Solter et al., Embryo Research, 153 f. 171 So formulierte einst der frühere EU-Kommissionspräsident Delors, und nach ihm viele andere, Europa sei wie ein Fahrrad: Komme es zum Stillstand, dann falle es um. 46 Literatur Beyleveld, Deryck Pattinson, Shaun D. 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