Theorien der Bildungs- und Erziehungswissenschaft 2

Werbung
Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Sommer 2013
Dr. Hans-Peter Gerstner / Markus Popp
(22. 05. 2013)
Schwerpunkt 2:
Theorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft
(Teil 2)
•
•
•
•
•
•
Begrüßung - Organisatorisches
Vortrag: „Theorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft“
Input: Kurzfilm: „The colour changing card trick“
Arbeitsphase – Aussprache
Vortrag: „Theorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft“
Impulsfrage: Was muss eine Theorie der Erziehungs- und
Bildungswissenschaft Ihrer Ansicht nach beinhalten?
• Aussprache - Diskussion
Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
Als Begründer der strukturfunktionalen Systemtheorie kann Talcott Parsons
(1902 – 1979) gelten. Sein Schüler Robert Dreeben hat in seinem Buch „On
what is learned in school“ 1968 akribischer und detailgenauer die Annahmen
Parsons ausgearbeitet.
Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
•
Parsons soziologische Wissenschaftsrichtung wird als
»strukturfunktionalistische Systemtheorie« bezeichnet.
•
Gesellschaften gelten als komplexe Systeme, die zu ihrem Fortbestand
Strukturen entwickeln, welche spezifische Funktionen für die
Bestandserhaltung des Gesamtsystems erfüllen.
•
Für die Stabilität von Gesellschaftssystemen ist die »Zusammenarbeit«
der verschiedenen »Teilsysteme« der Gesellschaft erforderlich, die
unterschiedliche Beiträge (Funktionen) für das gesellschaftliche
Gesamtsystem erbringen.
Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
•
Das ökonomische Teilsystem produziert die materiellen Ressourcen,
Waren und Dienstleistungen für das Überleben der Gesellschaft.
•
Das politische Teilsystem entwickelt Zielvorgaben, gleicht Interessen aus
und erlässt Gesetze.
•
Das Teilsystem des Bildungswesens sorgt dafür, dass sich die Menschen
in das gesellschaftliche System integrieren und ihrer Leistung gemäß
bestimmte gesellschaftliche Positionen besetzen können.
Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
Ausgangspunkt: die Interaktionssituation zwischen zwei Personen
Das Set an normativen Interaktionsmustern steuert dann das Verhalten der
Individuen und liefert ihnen einen Bezugsrahmen (»frame of reference«)
gemeinsam geteilter Bedeutungen. Damit ist ein unabhängiges soziales
System mit gemeinsam geteilten Werten, gemeinsam entwickelten
Rollenerwartungen und einer verbindlichen Mitgliedschaft entstanden.
Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
Um das Handeln der Personen zu verstehen, entwickelt Parsons die
Begriffspaare der Pattern Variables.
Affektivität
→
←
Affektive
Neutralität
KollektivOrientierung
→
←
SelbstOrientierung
Partikularismus
→
←
Universalismus
Zuschreibung
→
←
Leistung
Diffusität
→
←
Spezifität
Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
Sozialisation hat nach Parsons die Aufgabe, den Heranwachsenden einer
Gesellschaft die Fähigkeit zum Handeln in Rollen beizubringen und dafür zu
sorgen, dass sie die Wertorientierungen einer Gesellschaft im Interesse der
Bestandserhaltung des Gesamtsystems und seiner Teilsysteme als
Orientierungsmuster des Handelns übernehmen.
Die Heranwachsenden lernen dabei unterschiedliche Arten von Rollenspielen
auseinander zu halten, ihr Handeln auf die jeweils geltenden Spielregeln
einzurichten und sich mit den an die Rollen geknüpften Erwartungen zu
identifizieren.
Diese Sozialisationsaufgabe kann nach Parsons in modernen, sich in spezifische Systeme differenzierenden Gesellschaften, in denen universalistisches, neutrales und an Leistung orientiertes Rollenverhalten erwartet
wird, von der »Sozialisationsinstanz« Familie so nicht geleistet werden, da
deren eigene Spielregeln partikular, diffus, affektiv und an Zuschreibung
ausgerichtet sind.
Schulen sollen diese Aufgabe in modernen Gesellschaften übernehmen.
Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
Schule macht aus anfänglicher Gleichheit Differenz - entsprechend den
schulischen und nicht mehr entlang der familialen Muster.
Dieses Elementarmodell von Schule muss seine analytische Kraft erst in der
empirischen Überprüfung zeigen. Vieles, was wir über schulische Leistungsbeurteilung und Schulerfolg wissen, widerspricht dem von Parsons angenommenen unpersönlich-universalistischen Leistungsmuster.
So ist empirisch zweifelsfrei erwiesen, dass Lehrer Leistung nicht objektiv beurteilen, sondern systematisch askriptiv-partikularistische Tendenzen in
ihrer Leistungsbeurteilung verfolgen.
Zudem lässt sich mit Bestimmtheit sagen, dass Schüler sicher nicht mit gleicher Ausstattung in die Schule kommen. Die Selektion, die der schulischen
Leistungssituation zugeschrieben wird, erfolgt außerhalb der Schule.
Gegenüber dem vermeintlichen Leistungsuniversalismus betreten die Schüler
schon als Ungleiche das Klassenzimmer. Der Schulerfolg wird von der
sozialen Herkunft bestimmt und nicht von der Leistungsfähigkeit.
Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
Als Gegenpol gegenüber der harmonischen Vorstellung von Parsons kann die
Theoriebildung des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930 - 2002)
verstanden werden.
Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
Bourdieus strukturelle Gesellschaftsanalysen haben im Vergleich zu Parsons
eine gesellschaftskritische Spitze:
Die unterschiedlichen Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensformen, welche
die Handelnden abhängig von ihrer Stellung im sozialen Raum in ihrem
Habitus erkennen lassen, werden in der Gesellschaft gerade nicht als
gleichwertig anerkannt, sondern finden ihr Maß auch und besonders in der
Schule an der schmalen oberen Schicht.
Das bedeutet auch, dass die Mehrheit der Bevölkerung kaum die Chance hat,
den «guten« und «richtigen« Geschmack zu erwerben, der im Wettbewerb um
soziale Anerkennung und Vorrechte die höchste Rendite abwirft.
Die jeweilige Position im sozialen Raum hängt nach Bourdieu vom
»Kapitalvolumen« einer Person ab, das sich nicht nur aus ökonomischem
Kapital zusammensetzt, sondern auch aus kulturellem und sozialem Kapital.
Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
Einwände gegen den Strukturfunktionalismus
Parsons wie Bourdieu scheinen in ihren Konzeptionen hinter die schon
erreichten Positionen der europäischen Aufklärung zurückzufallen.
Parsons dadurch, dass er formale Freiheit und formale Gleichheit schon für
die ganze verwirklichte Freiheit und die ganze verwirklichte Gleichheit
nimmt. Bourdieu dadurch, dass in seiner soziologischen Analyse die Freiheit
keinen systematischen Platz hat, sondern der individuellen Entscheidung
anheim gegeben ist.
Die Funktionen der Schule können mit Bourdieuschen negativen Vorzeichen
versehen auch als Deformierung der menschlichen Natur durch die Schule
verstanden werden, da durch diese schulische Sozialisation Menschen
lediglich nach dem Kriterium der Leistung sortiert und bewertet werden.
Das Schulsystem muss dann notwendig „defizient“ bleiben, da es notwendigerweise Erfolgreiche und Versager produziert und andere Momente, die einen
Menschen als wertvoll erscheinen lassen, systematisch ausblendet.
Der idealtypische Grundzug funktionaler Analysen kann bei der Konfrontation
mit der Realität und der Faktizität der Schule auch als verklärende
Rechtfertigung der häufig mangelhaft erscheinenden schulischen Verhältnisse
verstanden werden.
Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
In Auseinandersetzung und Fortentwicklung der strukturfunktionalistischen
Systemtheorie von Parsons entwickelt der Bielefelder Soziologe Niklas
Luhmann (1927 – 1998) seine Fassung der soziologischen Systemtheorie.
Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
Grundgedanken
Luhmanns Systemtheorie stellt ein Begriffssystem zur Beschreibung sozialer
Prozesse dar. Allerdings wird nicht mehr von einer vorgängigen Übereinstimmung von Individuum und Gesellschaft ausgegangen, sondern Ausgangspunkt
ist der Unterschied zwischen beiden.
Soziale Systeme werden durch die Grenze zwischen System und Umwelt
bestimmt.
Die Systemdifferenzierung ist die Weiterentwicklung der System-UmweltDifferenz innerhalb eines Systems. In einem System bilden sich Teilsysteme
aus, die spezifische Aufgaben übernehmen.
Auf der Basis dieser vielstufigen System-Umwelt-Unterscheidungen lassen sich
dann Elemente eines sozialen Systems erkennen.
Diese Elemente sind Ereignisse von Kommunikation, keine Personen. Eine
soziale Beziehung ist dann die Organisation von Differenzen in doppelter
Kontingenz.
Soziale Systeme sind autopoietisch respektive selbstreferentiell.
Aus der Selbstreferenz sozialer Systeme entsteht deren Komplexität. Also
muss Komplexität reduziert werden.
Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
Systemtheorie und Erziehungswissenschaft
Vertreter der Systemtheorie im Bereich der Erziehungswissenschaft sind etwa
Heinz-Elmar Tenorth (1944) für Erziehungsgeschichte und Bildungsadministration, Dieter Lenzen (1947) für Erziehungsphilosophie oder Jochen Kade
(1943) für die Erwachsenenbildung.
Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
Luhmann macht deutlich, in welcher Intensität die Reformresistenz der deutschen Schule den Mechanismen von Schule als autopoietischem, aus sich
selbst heraus erschaffendem System geschuldet ist.
Er fragt danach, wie sich schulische Formen der Problembearbeitung verstetigen. Unter seiner gesellschaftstheoretischen Perspektive rücken die Selektionsaufgaben der Schule dabei zur zentralen Funktionsbestimmung auf.
Die zentrale Aufgabe des Schulwesens ist, Handlungsmöglichkeiten zu
eröffnen, auf deren Grundlage ein „besseres oder schlechteres
Abschneiden“ unterscheidbar wird.
Schule behandelt dazu nicht-trivial Lernende als Trivialmaschinen, die auf
einen bestimmten Input dank einer gespeicherten Regel einen bestimmten
Output produzieren.
Strukturfunktionalismus und Systemtheorie
Einwände gegen die systemtheoretische Konzeption
Luhmann versteht Kommunikation als Element sozialer Systeme und nicht
Personen, damit vernachlässigt er die Person des Kindes, des Jugendlichen,
des Erwachsenen, des Pädagogen.
Was als soziologische Verunsicherung (Perturbation) sinnvoll sein mag, bietet
pädagogisch keine Orientierungsinhalte, keine Zukunftsperspektiven und
keine Kriterien für pädagogische Interventionen. Die praktischen pädagogischen Fragen werden als technologische reformuliert und können so nicht
mehr diskursiv bearbeitet werden.
Luhmann reduziert die Komplexität der Schule sowohl hinsichtlich des
Unterrichts als auch der Bildung allzu sehr.
Selbst in der Schule gibt es Bildungsmöglichkeiten, so dass Schüler die
Erfahrung machen können, dass es die Dimension der Bildung in der Schule
auch gibt, selbst wenn sie nicht immer verwirklicht werden kann.
Unterricht nähert sich gegenwärtig einer reflexiven Bildung der Schüler selbst
an, die mit Hilfe anderer Menschen und in Auseinandersetzung mit einem
Sachverhalt geschieht. Um sich auf Neues und Anderes einzulassen, müssen
die Reflexionsschleifen nichttrivialer Maschinen notwendig aufgenommen sein,
die längst zur Richtschnur schulischen Lehrens und Lernens geworden sind.
Pragmatismus und Symbolischer Interaktionismus
Anders als die strukturfunktionalistische Systemtheorie untersuchen der
Pragmatismus und der Symbolische Interaktionismus nicht die soziale
Makroperspektive, sondern die Mikroperspektive des sozialen Handelns. Der
amerikanische Pragmatismus ist verbunden etwa mit den Namen George
Herbert Mead (1863-1931), Charles Sanders Peirce (1839-1914) und John
Dewey (1859-1951).
Pragmatismus und Symbolischer Interaktionismus
Grundlagen des Pragmatismus
Der Pragmatismus wendet sich von der Metaphysik ab und richtet den Blick auf
das Handeln und dessen Folgen. Erkenntnis wird als ein intersubjektiv
vermittelter Zeichenprozess verstanden, dessen Bedeutung in den möglichen
Folgen des Gebrauchs dieser Zeichen liegt. Die Bedeutungszuweisung beruht
auf einer sozialen Konvention.
Die Sicherheit wird nicht durch die Suche nach absoluter Gewissheit durch
kognitive Mittel gewonnen, sondern durch praktische Mittel.
Der Blickwinkel geht nicht deduktiv von einer Gesamtgesellschaft aus auf
Subsysteme und soziale Akteure, sondern induktiv von Individuen und wie
diese die Gesellschaft konstituieren.
Pragmatismus und Symbolischer Interaktionismus
Grundlagen des Pragmatismus
Menschen reagieren daher nicht auf Reize, sondern handeln aufgrund der
Bedeutung, die sie einer Situation geben.
Gesellschaft entsteht dadurch, dass die Individuen miteinander in einen
Austausch treten. Gesellschaft wird durch die Interaktion der Individuen
konstituiert.
Gegenstände, Personen und Situationen besitzen für alle Personen einer
Gruppe eine gemeinsame Bedeutung, die durch Regeln festgelegt ist.
Pragmatismus und Symbolischer Interaktionismus
Grundlagen des Pragmatismus
Symbole entstehen dadurch, dass ein Ego die Gesten von Alter wahrnimmt. In
Handlungen werden diese als Symbole signifikant, Ego antizipiert das
Verhalten von Alter und stimmt seine Handlungen darauf ab.
Der Symbolische Interaktionismus erhält einen Erklärungsansatz für die
Identitätsbildung von Kindern und die Weiterentwicklung von Erwachsenen,
in ihm steckt eine Theorie der Sozialisation. Das Selbst bildet sich dabei
zunächst in der Über- und Vorwegnahme der Reaktionen konkreter einzelner
signifikanter Anderer, später in der Übernahme verallgemeinerter
Reaktionsmuster, eines generalisierten Anderen.
Role-Taking – Role-Making
Gegenstände, Personen und Situationen besitzen für eine Person auch eine
subjektive Bedeutung, bei der allgemeine Verhaltensregeln von der Person
interpretiert werden.
Pragmatismus und Symbolischer Interaktionismus
Wichtige Autoren des Symbolischen Interaktionismus waren unter anderem
Herbert Blumer (1900-1987), auf den die Bezeichnung „Symbolischer
Interaktionismus“ zurückgeht, Erving Goffman (1922-1982), der die
Präsentationen des Selbst im Alltagsleben untersuchte, und Anselm Strauss
(1916 - 1996), der den Ansatz der Grounded Theory entwickelte.
Pragmatismus und Symbolischer Interaktionismus
Folgerungen für die Pädagogik
Kennzeichen schulischer Interaktion nach dem Symbolischen Interaktionismus
ist, dass in der Schule als Institution die Deutungsmacht ungleich verteilt ist.
In der Schule bilden sich stabilisierte Verhaltenserwartungen und Erwartungserwartungen über das Lehrer- und das Schülerverhalten aus. Auf beiden Seiten wird typisiert und etikettiert. Deswegen etwa wird Kindern aus
„bildungsfernen“ Milieus mangelnde Leistungsfähigkeit zugeschrieben und ihre
Potenziale übersehen und nicht gefördert.
Pygmalion und Andorra Effekt
Die Form von Schule oder institutionalisiertem Lehren und Lernen hat mit dem
Symbol „Schule“ verbundene Rollen ausgebildet, deren Erwartungen und
Erwartungserwartungen den Akteuren immer schon präsent sind.
Die mit Schule verbundenen Rollen und Erwartungen sind relativ statisch.
Dies hat mehrere Ursachen: Schule ist eine stark verregelte Institution, die
Fluktuation der Akteure, vor allem der Lehrkräfte, ist vergleichsweise gering,
die Interaktionen sind nach einem asymmetrischen Muster angelegt.
Pragmatismus und Symbolischer Interaktionismus
Einwände gegen Pragmatismus und Symbolischen Interaktionismus
Das interpretative Paradigma hat sich als Gegenposition zu funktionalistischen Vorstellungen entwickelt. Das Subjekt hat im Symbolischen Interaktionismus eine empirische wie auch normative Bedeutung zurückbekommen,
allerdings fehlt der Blick auf die Makroperspektive der gesellschaftlich
vorhandenen Strukturen. Gesellschaftliche Brauchbarkeit wird zu utilitaristischer Nützlichkeit, wenn Handeln nur subjektivistisch betrachtet wird.
Der allgemeine Ansatz muss, um die Bedingungen für eine gelingende
Interaktion und eine gelingende Identitätsbildung zu bestimmen, erweitert
werden durch Rollendistanz, Ambiguitätstoleranz, Frustrationstoleranz
und Empathie.
Ein zentrales Problem bleibt die fehlende forschungsmethodische Absicherung,
da die Forderung, die Methoden der im Alltag handelnden Personen auch für
die Wissenschaft zu übernehmen, sie auch anfällig für die Irrtümer und
Missverständnisse des Alltags macht.
Wertfragen werden im Pragmatismus und Symbolischen Interaktionismus
letztlich auf den Erfolg des Handelns reduziert.
Arbeitsfragen zum Film „The colour changing
card trick “:
Welche Folgerungen ergeben sich hieraus für
die Wahrnehmung und das Wirklichkeitsverständnis?
Konstruktivismus
Alle genannten Theoriekonzeptionen verstehen sich als konstruktiv und
konstruktivistisch, indem sie aussagen, dass wissenschaftliche Erkenntnis ein
Ergebnis menschlicher Konstruktionstätigkeit ist.
Vertreter des radikalen Konstruktivismus sind etwa Ernst von Glasersfeld
(1917-2010) und Humberto R. Maturana (1928); ein Vertreter des sozialen
Konstruktivismus ist Kenneth J. Gergen (1934).
Konstruktivismus
Grundpositionen
Der Konstruktivismus wendet sich gegen die These, dass Kriterium für
Wissenschaftlichkeit die Übereinstimmung von Aussagen mit der Wirklichkeit
ist. Die adaequatio rei et intellecti wird aufgegeben.
Die Erkenntnis ist stets im Zusammenhang mit dem Beobachter zu sehen.
Eine vom Beobachter unabhängige Erkenntnis gibt es nicht.
Beobachtung und Beschreibung setzen Differenzierungen voraus, die sich
nicht aus der Wirklichkeit ergeben, sondern von dem jeweiligen Beobachter
getroffen werden.
Die Unterscheidungen werden in Handlungszusammenhängen vollzogen. Die
Brauchbarkeit in solchen Handlungszusammenhängen entscheidet über die
Angemessenheit der Unterscheidung.
Konstruktivismus
Die Bedeutung für die wissenschaftstheoretische Grundlegung der
Bildungs- und Erziehungswissenschaft
Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Konzepte haben unterschiedliche
Begriffe als Fundament. Diese Begriffe sind nicht aus der Wirklichkeit abzuleiten, daher macht es keinen Sinn zu sagen, dass die Erziehungspraxis Verhalten, Handeln oder System ist, sondern Verhalten, Handlung, System sind
unsere begrifflichen Konstruktionen, die wir jeweils der bildungswissenschaftlichen Forschung und dem pädagogischen Handeln zugrunde legen.
Die begriffliche Unterscheidungen als Fundament erziehungswissenschaftlicher Theorien stehen in Handlungszusammenhängen. Dann lassen sich die
Begriffssysteme der Verhaltenstheorie, der Handlungstheorie und der Systemtheorie nur mit Blick auf ihrer praktischen Konsequenzen diskutieren und
beurteilen. Helfen diese Begriffssysteme das pädagogische Handeln verlässlich zu leiten? Wie gehen Pädagoginnen und Pädagogen auf der Basis dieses
Begriffssystems mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen um?
Konstruktivismus
Probleme und Einwände
Zur Begründung des Konstruktivismus wird als Argumentationsbasis auf
das Wissenschaftskonzept der Naturwissenschaften zurückgegriffen, obwohl
dieses von ihm selbst kritisiert wird.
Auf dem Boden des bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Konstruktivismus werden jede Menge pädagogischer Forderungen, Methoden und
Verfahrensweisen empfohlen, die zwar jeweils plausibel sein mögen, aber sie
lassen sich nicht aus der Theorie ableiten wie etwa die normativen
Setzungen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik.
In ihm entfällt die Möglichkeit von Bildung in einem gemeinsamen Entwurf
von Welt. Weder radikale Individualisierungen noch systemtheoretische
Auflösungen der Lernenden im System können eine Theorie sozialer
Konstruktion ersetzen, in der mit dem Begriff Tätigkeit und dem Begriff Praxis
die Wirklichkeit als historisch-gesellschaftlich konstruierte gefasst wird.
Als ein wissenschaftstheoretisches Konzept kann der Konstruktivismus Argumente zur Beurteilung anderer Wissenschaftskonzepte liefern, dann aber
müssen wir uns die Frage stellen:
Welche pädagogische Praxis wollen wir?
Theorien der Bildungs- und Erziehungswissenschaft
Zusammenfassende Schlussbemerkung
Die Theorie der Bildungs- und Erziehungswissenschaft gibt es nicht,
sondern es gibt verschiedene erziehungswissenschaftliche Konzepte, die sich
in den Grundbegriffen (Verhalten, Handeln, System), den Forschungsmethoden (Quantitative Empirie, Hermeneutik, Rekonstruktion) und den Folgen für
praktisches Handeln unterscheiden.
Die Bildungs- und Erziehungswissenschaft ist daher durch einen Theorienund Methodenpluralismus gekennzeichnet.
Diese unterschiedlichen Konzepte widerstreiten sich, haben aber auch hinsichtlich der Forschungsmethoden, der Ergebnisse und der praktischen Folgen
einen Überschneidungsbereich.
Bildungs- und Erziehungswissenschaft haben ihr Ziel nicht nur in der Erkenntnis der pädagogischen Wirklichkeit, sondern sie sind auch auf das praktische Handeln in pädagogischen Situationen bezogen.
Damit sind die Theorien nicht als ein System genereller Gesetzesaussagen
bestimmt, sondern können als Werkzeugkoffer betrachtet werden.
Fachwissenschaftler an einem Untersuchungsgegenstand - die Erkenntnis ist jeweils anders:
Das Bild beschreibt ein Gleichnis von Hampden-Turner "Sechs blinde Weise versuchen, einen
Elefanten durch Tasten zu erkennen. Der erste fühlt seinen Stoßzahn und vergleicht den
Elefanten mit einem Speer. Der zweite ertastet die Flanke und beschreibt ihn als Wand. Der
dritte hat ein Bein vor sich, was ihn auf die Ähnlichkeit mit einem Baum verweisen läßt. Der
vierte fühlt den Rüssel und vergleicht den Elefanten mit einer Schlange, der fünfte betastet das
Ohr und zieht den Vergleich mit einem Fächer; der letzte schließlich gerät an den Schwanz
und besteht auf der Ähnlichkeit mit einem Seil. Das Ergebnis ist ein großer Streit: Jeder
beharrt auf seinen Erkenntnissen – jeder hat recht, was den jeweiligen Körperteil betrifft, und
alle haben unrecht, weil keiner das Tier als Ganzes erfaßt hat."
Hampden-Turner 1983, zit. nach Schräder-Naef 1993, S. 22 in Schräder-Naef, Regula D.: Informationsflut. 3., überarb. u. erg.
Aufl. – Weinheim 1993
Impulsfrage:
• Was muss eine Theorie der Erziehungsund Bildungswissenschaft Ihrer Ansicht
nach beinhalten?
Herunterladen