Querschnittsaufgabe aller Akteure

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Medien
Medienforschung
Querschnittsaufgabe aller Akteure
Foto: Hauke-Christian Dittrich
Eva Baumann, Professorin für Kommunikationswissenschaft am Institut für
Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover, gilt als eine der
Wegbereiterinnen des Wissenschaftsgebiets Gesundheitskommunikation. Im
‚Healthcare Marketing‘-Interview spricht sie über die Ziele des noch jungen
Forschungsfelds, deren Praxisrelevanz und die Rolle der Massenmedien.
Zudem erläutert sie die Schnittstelle zur kommerziellen Gesundheitskommunikationsforschung und die Bedeutung patientenzentrierter Strategien.
Eva Baumann, Professorin für Kommunikationswissenschaft am
IJK in Hannover: „Die aktive Rolle des Patienten fördern“
HEALTHCARE MARKETING: Frau Baumann, Sie sind seit
Juni 2015 Professorin für Kommunikationswissenschaft am
Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in
Hannover und Leiterin des Hanover Center for Health Communication am IJK. Wie kam es zur Gründung dieser Plattform?
PROF. EVA BAUMANN: Die Analyse kommunikativer Prozesse im Kontext von Gesundheit und Krankheit gehört zwar
schon seit Jahren zu den gängigen Anwendungsfeldern in der
Kommunikationswissenschaft, ebenso wie in den Gesundheitswissenschaften, jedoch fehlt es hierzulande noch an einer Institutionalisierung dieses Forschungsfeldes. Das erschwert es,
den wichtigen Beitrag, den gerade die Kommunikationswissenschaft zur Beantwortung theoretischer wie empirischer Fragen
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der Gesundheitskommunikation leisten kann, innerhalb des
Faches, über die Fachgrenzen hinweg, aber auch in der Praxis
sichtbar, zugänglich und optimal nutzbar zu machen. Auch am
IJK in Hannover wird seit vielen Jahren in diesem Themenfeld
geforscht. Mit meiner Berufung an die Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover bot sich die Chance, auf
die skizzierte Situation zu reagieren und diesen Forschungsschwerpunkt am IJK auch institutionell zu verankern. Mit der
Gründung von [HC]² möchten wir nicht nur zur Institutionalisierung der wissenschaftlichen Gesundheitskommunikation in
Niedersachsen und in Hannover beitragen, sondern wir verstehen uns auch als Plattform für interdisziplinäre Vernetzung
und Wissenstransfer.
HEALTHCARE MARKETING: Zudem sind Sie seit April
2016 stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft
für Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK).
Was können Sie Aktuelles aus der Ad-hoc Gruppe Gesundheitskommunikation der DGPuK berichten?
BAUMANN: Fachgruppen sind Organe der DGPuK und vertreten die verschiedenen wissenschaftlichen Forschungs- und
Lehrinteressen des Faches. Bevor jedoch eine neue Fachgruppe
gegründet werden kann, muss diese Gruppe mindestens drei
Jahre aktiv und erfolgreich als Ad-hoc-Gruppe arbeiten und
von mindestens fünf Prozent der ordentlichen Mitglieder der
Gesellschaft unterstützt werden. Das alles trifft auf die Adhoc-Gruppe Gesundheitskommunikation zu, die wir 2012 gegründet haben. Unterstützt durch viele Kolleginnen und Kollegen haben wir uns an den Aktivitäten der Dachgesellschaft
beteiligt, jährliche Tagungen und Nachwuchsworkshops ausgerichtet und die Ergebnisse publiziert. Im vergangenen April
wurde mit großer Mehrheit der über 1.000 DGPuK-Mitglieder
die Einrichtung der Fachgruppe Gesundheitskommunikation
beschlossen, die ihre Arbeit jetzt mit dem wichtigen Rückhalt
der Fachgesellschaft auf einer soliden Grundlage fortsetzen
und ausbauen kann. Für die Institutionalisierung der Gesundheitskommunikation als kommunikationswissenschaftliches
Forschungsfeldes war und ist dies ein wichtiger und zukunftsweisender Schritt.
Medien
HEALTHCARE MARKETING: Sie gehören hierzulande zu
den Wegbereitern der Gesundheitskommunikation als Wissenschaftsgebiet, das im Vergleich zum anglo-amerikanischen
Raum als akademisches Fach immer noch nicht fest etabliert
ist. Woran liegt das?
BAUMANN: Auch wenn sozialwissenschaftliche Forschung
ähnlich dynamisch ist wie ihr Forschungsgegenstand, die gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen, haben wir es
auch im Wissenschaftssystem und in jedem einzelnen Fach
mit gewachsenen und recht stabilen Strukturen zu tun. Da hat
es gerade die Etablierung solcher Forschungsbereiche, denen
eine inter- und transdisziplinäre Perspektive inhärent ist, etwas
schwerer. Dank der unstrittigen hohen Bedeutung von Information und Kommunikation in Gesundheitskontexten und
der zunehmenden wissenschaftlichen Forschungs- und Vernetzungsaktivitäten in diesem Feld kommt es inzwischen auch
im deutschsprachigen Raum zur besseren Sichtbarkeit und
Etablierung der Gesundheitskommunikation als eigenständigem Wissenschaftsgebiet. Verschiedene einzelne Initiativen
und Kooperationen tragen dazu bei, dass Synergiepotenziale
medizinischer und gesundheitswissenschaftlicher Perspektiven
auf der einen Seite und kommunikationswissenschaftlicher
Kompetenzen auf der anderen Seite zunehmend erkannt und
gehoben werden.
Wir sind dem anglo-amerikanischen Raum hier schlicht etwas
hinterher, was neben den spezifischen gewachsenen Strukturen
vielleicht auch daran liegen kann, dass wir stärker in disziplinären Grenzen und weniger in Schnittstellen denken. Auch
spielen natürlich die Praktiken der Forschungsförderung durch
staatliche, gemeinnützige und auch kommerzielle Drittmittelgeber eine Rolle dafür, zu welchen Themen und Fragen in welcher Intensität geforscht wird.
HEALTHCARE MARKETING: Wie lässt sich das noch junge
Forschungsfeld der Gesundheitskommunikation beschreiben?
BAUMANN: Es geht darum, Antworten auf theoretisch und
praktisch relevante Fragen zur Rolle von Kommunikation für
die Entstehung und Veränderung gesundheitsrelevanter Vorstellungen, Einstellungen und Verhaltensweisen zu finden. Diese Fragen lassen sich auf der Ebene von Individuen, Gruppen
und Organisationen sowie auf gesamtgesellschaftlicher MakroEbene verorten. Wir beschäftigen uns dabei sowohl mit mediengestützter als auch mit direkt-persönlicher Kommunikation. Es geht sowohl um eine auf Gesundheitsförderung zielende
Kommunikation wie auch um Kommunikationsprozesse, die
gesundheitsrelevant – mitunter auch gesundheitsschädigend –
sein können, ohne dass eine entsprechende Absicht des Kommunikators damit verbunden sein muss.
HEALTHCARE MARKETING: Welche Ziele verfolgt die Gesundheitskommunikation als empirisches Fach?
BAUMANN: Wie durch gezielte Kommunikationsaktivitäten
– zum Beispiel in Kampagnen oder Programmen zur Gesundheitsförderung – Prävention, Früherkennung, Therapie und
Gesundheitsversorgung einschließlich der Nachsorge verbessert werden können, bildet einen wichtigen Schwerpunkt der
Forschungsaktivitäten. Wir beschäftigen uns nicht nur mit der
Frage, wie gesundheitsbezogene direkt-persönliche Gespräche
– zum Beispiel in der Arzt-Patient-Interaktion – und medien-
gestützte Diskurse – zum Beispiel in Online-Communitys – zustande kommen, welche Ziele die verschiedenen Kommunikationspartner verfolgen und wie sich unterschiedliche Diskurse
entwickeln und wozu sie führen. Auch die Massenmedien spielen eine wichtige Rolle, wenn es um Informationsvermittlung
über Gesundheitsthemen und Risikowahrnehmungen geht.
Daher ist es auch wichtig, die journalistische Berichterstattung
über Krankheiten in der Presse oder die Darstellung gesundheitsrelevanten Verhaltens in fiktionalen Unterhaltungsangeboten zu analysieren und Wirkungspotenziale auszuloten. Um
– vor dem Hintergrund der zunehmenden Partizipationsorientierung – auch die aktive Rolle der Patienten adäquat fördern
zu können, gilt es zu verstehen, welche Menschen sich über
welche Gesundheitsthemen in welchen Quellen wie informieren und wer welche Informationen womöglich auch aktiv vermeidet. Schließlich geht es auch darum, gesundheitsschädigendes Kommunikationsverhalten in alltäglichen Lebenskontexten
der Menschen zu erforschen, um Ansätze der Prävention identifizieren zu können; zu nennen sind beispielsweise Phänomene
wie die Internetsucht, Cyber-Bullying oder Online-Communitys, in denen Risiko- und Problemverhalten wie Binge-Drinking oder gestörtes Essverhalten verherrlicht werden.
HEALTHCARE MARKETING: Sprechen wir nun über die
angewandte Gesundheitskommunikation. Welche Praxisrelevanz besitzt das Fachgebiet? Welchen Nutzen haben Kommunikatoren?
BAUMANN: Die hohe Praxisrelevanz leitet sich unmittelbar
ab aus dem Forschungsgegenstand und der hohen Bedeutung,
die Gesundheit und Krankheit für einzelne Bevölkerungsgruppen, aber auch für das Funktionieren sozialer Strukturen und
Prozesse haben und künftig haben werden. Dementsprechend
gehören die Fragen, wie die Akteure im Gesundheitssystem
mit welchen ihrer Bezugsgruppen kommunizieren sollten, um
ihre Interessen zu artikulieren und ihre Ziele zu erreichen, und
in welchen anderen Kommunikationsräumen, in denen diese
Akteure nicht vertreten sind, handlungsleitende Vorstellungen
entstehen, zu den zentralen praxisrelevanten Forschungsbereichen. Wenn Kommunikatoren ihre Entscheidungen noch stärker auf die Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse stellen
und mehr in die Begleitforschung ihrer Kommunikationsaktivitäten investieren würden, könnte sich der praktische Nutzen
für sie oft noch deutlich erhöhen.
Prof. Dr. Eva Baumann
ist seit Juni 2015 Professorin für Kommunikationswissenschaft
am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung (IJK)
in Hannover und Leiterin des Hanover Center for Health Communication am IJK. Im April 2016 wurde sie zur stellvertretenden Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und
Kommunikationswissenschaft (DGPuK) in Mainz gewählt. Baumann ist Gründungsmitglied der Ad-hoc Gruppe Gesundheitskommunikation (seit 2016: Fachgruppe) der DGPuK und war von
2013 bis 2016 Mitglied des Sprecherteams. Zudem ist sie Gründungsmitglied des Netzwerkes Medien und Gesundheitskommunikation, Hamburg.
[email protected]
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HEALTHCARE MARKETING: Welche großen Entwicklungen hinsichtlich der Gesundheitskommunikation nehmen Sie
wahr?
BAUMANN: Medien und Kommunikation durchdringen unser berufliches wie privates Alltagshandeln in immer höherem
Maße. Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien machen vieles möglich, was noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar war, sie verlangen den Gesundheitsexperten
ebenso wie den Laien neue Kompetenzen ab. Dieser Trend gilt
auch für jede Form der Gesundheitskommunikation. Sie wird
interaktiver und mobiler, technologisch anspruchsvoller, dynamischer und vielschichtiger. Gleichzeitig wird sie nutzer- oder
patientenzentrierter. Das Angebot vor allem onlinebasierter gesundheitsbezogener Informationen und Assistenztechnologien
ist riesig und für den Laien, selbst für Experten, kaum überschaubar. Gleichzeitig wächst die Notwendigkeit, dass sich
Patienten aus den verfügbaren Quellen und Angeboten den
eigenen Bedarfen entsprechend bedienen und sich aktiv informieren, um den Anforderungen an die zunehmende Eigenverantwortung und eine stärker partizipative Rolle im Kontext der
Gesundheitsversorgung gerecht werden zu können.
”
Ziel der Gesundheitskommunikation liegt darin, Menschen mit
hohen Risikopotenzialen und in
gesundheitlichen Problemlagen zu
erreichen und zu fördern.
HEALTHCARE MARKETING: Lassen sich auch gesundheitswidrige Trends oder gar Missstände beobachten, und wie
werden diese im Forschungsfeld Gesundheitskommunikation
behandelt?
BAUMANN: Eine zentrale Frage ist die der sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten, die durch Information und
Kommunikation eigentlich reduziert werden sollen. Ein wichtiges Ziel der Gesundheitskommunikation liegt also darin,
Menschen mit hohen Risikopotenzialen und in besonderen
gesundheitlichen Problemlagen zu erreichen und zu fördern.
Das Problem ist jedoch, dass soziale und gesundheitliche Benachteiligung häufig auch mit kommunikativen Ungleichheiten
assoziiert ist. So profitieren beispielsweise bildungsferne Gruppen, die häufig zugleich höheren gesundheitlichen Belastungen
ausgesetzt sind, tendenziell weniger von Informationsangeboten oder von kommunikativen Unterstützungs- und Beratungsmöglichkeiten. Auch sind jene, die an einer akuten gravierenden Erkrankung leiden und unter hoher psychischer Belastung
stehen, oft nicht in der Lage, sich die relevanten Informationen
zu beschaffen und sich mit den belastenden Themen auseinanderzusetzen. Hier kommt einem unterstützenden privaten Umfeld eine besonders wichtige Rolle zu. Vor diesem Hintergrund
widmet sich ein großer Teil der Forschung den motivationalen
und kognitiven Barrieren verschiedener Zielgruppen, für die
eine kommunikative Unterstützung besonders wichtig wäre,
und erarbeitet die Grundlagen dafür, wie diese Barrieren durch
Kommunikation überwunden werden können.
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HEALTHCARE MARKETING: Aktuelle Studien haben gezeigt, dass es noch viel mit Glück und Zufall zu tun hat, ob Patienten im Netz an gute Informationen gelangen. Viele fühlen
sich überfordert. In diesem Zusammenhang wird das Konzept
der Health Literacy diskutiert. Worum geht es dabei?
BAUMANN: Ganz grob bezeichnet Health Literacy die Fähigkeit des Individuums, Gesundheitsinformationen zu verstehen,
einordnen, bewerten und mit Blick auf die eigenen Bedürfnisse
in handlungsrelevantes Wissen überführen zu können. Dazu
gehört auch, sich Informationen aktiv zu beschaffen und kritisch zu hinterfragen. Es ist damit letztlich eine Kaskade verschiedener einzelner Kompetenzen, die aufeinander aufbauen.
Je aktiver die Rolle, die Patienten oder Verbraucher einnehmen
müssen oder wollen, umso höher sind die Anforderungen, die
an die Gesundheitskompetenz des Einzelnen gestellt werden.
HEALTHCARE MARKETING: Wie könnte die Gesundheitskompetenz bei Patienten besser gefördert werden? Bei welchen
Akteuren sehen Sie das Thema angesiedelt?
BAUMANN: Gesundheitskompetenz zu fördern kann als eine
Art der Hilfe zur Selbsthilfe – als Empowerment – verstanden
werden. So setzt eine informierte Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Untersuchung oder die aktive Beteiligung
an der Entscheidungsfindung hinsichtlich einer Behandlungsform Gesundheitskompetenz voraus. Gesundheitskompetenz
zu fördern ist eine Querschnittsaufgabe aller in Prävention
und Gesundheitsförderung involvierten Akteure. Es ist zugleich eine Bildungsaufgabe, zumal die funktionale Ebene der
Gesundheitskompetenz eng an grundlegende sprachliche und
kommunikative Kompetenzen gekoppelt ist. Auf dieser Grundlage ist es eine motivationale Herausforderung, die Patienten
zur Wahrnehmung einer partizipativen Rolle zu ermutigen.
HEALTHCARE MARKETING: Stellt die Gesundheitskommunikation Modelle der Informationssuche zur Verfügung, aus
denen Kommunikationsschaffende Nutzen ziehen könnten?
BAUMANN: Modelle des Gesundheitsinformationsverhaltens
können Kommunikationsschaffenden Hinweise darauf liefern,
unter welchen Bedingungen sie ihre Zielgruppen mit Informationen erreichen können beziehungsweise wodurch sich Informationsangebote für verschiedene Zielgruppen unterscheiden
sollten. Die Modelle sollten vor allem dafür sensibilisieren,
dass Informationen, die bereitgestellt werden, ihr Publikum
nicht per se finden, sondern dass die Zuwendung sowie eine
erfolgreiche Informationsverarbeitung und Wissensaneignung
von einer Vielzahl an Faktoren abhängt, die sich in verschiedenen Kontexten auch immer wieder neu konfigurieren.
HEALTHCARE MARKETING: Interessant finde ich dabei
auch die Frage nach der Vermeidung von Gesundheitsinformationen. Welche Strategien wenden Konsumenten hier an?
BAUMANN: Wer Informationen vermeidet, versucht in der
Regel sich selbst zu schützen. Wer sich beispielsweise einem
hohen Risiko ausgesetzt sieht, aber davon überzeugt ist, ohnehin nichts ausrichten zu können, würde durch zusätzliche
Informationen nur weiter verunsichert – aus dieser Perspektive ist es subjektiv absolut sinnvoll, weitere Informationen zu
vermeiden. Häufig verhalten sich Menschen ja nicht deswegen
gesundheitsschädigend, weil sie es nicht besser wissen, son-
Medien
dern obwohl sie es besser wissen. Informationen zu vermeiden
kann hier helfen, die ohnehin bestehende Diskrepanz zwischen
dem Wissen und eigenen Handeln nicht noch weiter zu erhöhen – dies ist ein eher unangenehmer Zustand, den Menschen
verständlicherweise zu vermeiden suchen. Es gibt somit sehr
plausible Gründe dafür, warum eine Informationsvermeidung
subjektiv sinnvoll und in der Situation zielführend sein kann.
HEALTHCARE MARKETING: Krankenkassen beschäftigen
sich schon lange mit der Frage, wie sie Menschen zu einem
gesundheitsfördernden Verhalten motivieren können. Gibt es
hierzu aus der Forschung neue Erkenntnisse?
BAUMANN: Die Frage, wie Menschen zu einem gesundheitsfördernden Verhalten motiviert werden können, hängt
stets von den Eigenschaften der Personen, ihren individuellen
Lebenskontexten und dem konkreten Gesundheitsthema ab.
Auch ist entscheidend, wie die Personen zu dem jeweiligen
Gesundheitsverhalten stehen, ob sie überhaupt geneigt sind,
eine Verhaltensänderung zu erwägen. Ein Patentrezept für die
Motivation zur Gesundheitsverhaltensänderung gibt es nicht,
vielmehr gilt es, die motivationalen Hintergründe gesundheitsrelevanter Entscheidungen und Verhaltensweisen in jedem
Anwendungskontext neu zu verstehen und daraus möglichst
passgenaue Kommunikationsstrategien abzuleiten. Targeting
und Tailoring, das heißt, Zielgruppenorientierung und eine
möglichst individuelle und bedürfnisgerechte Ansprache, sowie
ganz unterschiedliche, auf die Zielgruppe abgestimmte Anreize
wie positives Feedback kristallisieren sich hier immer wieder
als wichtige Grundsätze heraus. So wird eine mit Schockbildern arbeitende Kommunikationsstrategie bei ohnehin extrem
besorgten Menschen, denen es an Vertrauen in die eigenen
Möglichkeiten fehlt, den persönlichen Risikostatus zu ändern,
allenfalls zur Erhöhung der Furcht und in der Folge dazu führen, dass sie sich nicht weiter mit dem beängstigenden Thema
beschäftigen möchten. Oder denken wir an Menschen mit einer
fatalistischen Einstellung – sie werden durch andere Argumente
und Anreize zum Überdenken ihrer Haltung gebracht als jene,
die sich für unverwundbar halten.
HEALTHCARE MARKETING: Welche Rolle spielen Massenmedien im Vergleich zur Individualkommunikation bei der Bildung von Gesundheitskompetenz? Welche Vor- und Nachteile
ergeben sich für Patienten?
BAUMANN: Massenmedien sind vergleichsweise niedrigschwellige Informationsquellen und besonders gut geeignet,
größere Bevölkerungsgruppen über gesundes Verhalten oder
Gesundheitsrisiken im Vorfeld eines akuten Handlungsbedarfs
zu erreichen, Aufmerksamkeit auf ein aktuell relevantes Thema
zu lenken und eine eher allgemeine und breite Wissensgrundlage zu schaffen. Je spezifischer die Entscheidungsnotwendigkeit,
je gravierender und folgenreicher eine Entscheidung zum Beispiel über die Wahl einer Therapieform sein kann, umso höher
ist der Bedarf an Fach- und Hintergrundwissen, aber auch an
Informationen, die gezielt auf die jeweilige Person zugeschnitten sind. Für Patienten gewinnt hier das Internet als Suchmedium auch sehr spezifischer Informationen und Möglichkeiten
der Online-Beratung neben dem persönlichen Expertenrat an
Bedeutung. Dies setzt wiederum ein höheres Maß an Bereitschaft und Fähigkeit der Suche nach, der Auswahl von, der
Einordnung und Bewertung der vielen Informationen – und
damit ein höheres Maß an Gesundheitskompetenz – voraus.
HEALTHCARE MARKETING: Lassen sich den verschiedenen
Medien bestimmte Typen der Informationssuche zuordnen?
BAUMANN: Jedes Medium bietet unterschiedliche Möglichkeiten, Informationen darzustellen, und stellt spezifische Anforderungen an die Nutzerinnen und Nutzer. Während ein Spot
oder Magazinbeitrag im Fernsehen eine vergleichsweise geringe
Beteiligung des Zuschauers erfordert, setzt bereits das Lesen
eines ganzen Artikels in einer Zeitschrift oder Zeitung ein größeres Interesse am Thema und ein höheres Maß an Aufmerksamkeit, die auf diesen speziellen Inhalt gerichtet ist, voraus.
Und wenn jemand zu einer Website mit Gesundheitsinformationen surft oder – wie in den meisten Fällen – einen Suchbegriff
bei Google eingibt, setzt dies voraus, dass diese Person sich
bewusst ist, einen Informationsbedarf zu haben, sie diesen auch
verbalisieren kann und motiviert ist, sich gezielt Informationen
zu diesem Thema anzueignen. Dies kann gerade bei weniger
gesundheitsorientierten Personen und jenen, die keinen akuten Anlass sehen oder verspüren, nicht vorausgesetzt werden.
Ein noch höheres Motivationslevel ist nötig, wenn es um die
Nutzung von Gesundheits-Apps oder anderen E-Health-Technologien geht. Hier sind die Anforderungen an die aktive Beteiligung des Users vom Download über die Installation, die Einrichtung des eigenen Profils und dann die regelmäßige Nutzung
vergleichsweise hoch.
HEALTHCARE MARKETING: Mit Blick auf das Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher und kommerzieller Gesundheitskommunikationsforschung – wo sehen Sie künftig den
größten Handlungsbedarf?
BAUMANN: Kommerzielle und wissenschaftliche Gesundheitskommunikationsforschung verfolgen unterschiedliche
Ziele unterschiedlicher Akteure. Kommerzielle Forschung ist
abhängig von den Partikularinteressen einzelner Marktteilnehmer und damit stets anwendungsorientiert und interessengeleitet. Erkenntnisziele sind zumeist deskriptiver Natur, aber die
Forschung ist nah an der Praxis, hat das Ohr am Markt und ist
oft deutlich schneller, als es in theoriegeleiteten und komplexer
angelegten wissenschaftlichen Studien der Fall ist. In der kommerziellen Forschung werden Studien häufig durchgeführt, um
die eigenen Marktpotenziale auszuloten oder um die Ergebnisse zu PR- und Marketingzwecken zu nutzen. Solche Studien
können aber – sofern Datenquellen sowie die Methoden der
Datenerhebung und -auswertung den Qualitätsstandards empirischer Sozialforschung entsprechen und offengelegt werden
– durchaus wertvolle Impulse liefern, um konkrete, aktuelle
und praxisrelevante Fragen aufzuwerfen, denen die wissenschaftliche Forschung nachgehen sollte. Diese wiederum ist
gefordert, ihre Vorgehensweisen und Forschungsergebnisse so
aufzubereiten und der nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit
zugänglich zu machen, dass sich ihr Beitrag zur Erklärung sozialer Phänomene auch für Nicht-Wissenschaftler erschließen
und nachvollziehen lässt. Nur so kann sie für die Praxis der
Gesundheitskommunikation praktischen Nutzen entfalten und
komplementäre Funktionen zu kommerzieller Kommunikations- und Gesundheitsforschung erfüllen.
Interview: Birte Schäffler
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