ZEITSCHRIFTENARCHIV Dietrich Stollberg Politische Implikationen der TZI Themenzentrierte Interaktion Anstoß nehmen – Anstoß geben. Dr. h.c. Ruth C. Cohn (1912–2010) 26. Jahrgang, 1/2012, Seite 26–35 Psychosozial-Verlag 28147 T hemenzentrierte Interaktion Themenschwerpunkt: Anstoß nehmen – Anstoß geben. Dr. h.c. Ruth C. Cohn (1912–2010) Dietrich Stollberg Politische Implikationen der TZI TZI ist nicht per se politisch, enthält aber deutliche politische Aspekte und ist von Ruth Cohn aus leidvollen politischen Erfahrungen heraus konzipiert worden, um „die Gesellschaft zu humanisieren“. TCI is not automatically political. But it implies political aspects. Ruth Cohn designed it out of painful political experiences in order to “humanize society”. Zum Autor Prof. Dr. Dietrich Stollberg, Jg. 1937, TZI-Graduierter, Gruppentherapeut (DAGG), Mitgl. zahlr. Fachverbände, Ehrenmitgl. RCI Rhein-Main-Lahn. www. dietrich-stollberg.de Ruth C. Cohns Engagement war durch und durch politisch. Sie „suchte …, angesichts einer bedrohten Welt, nach einer Verbindung von Politik und humanistischer Psychologie, geleitet von der Überzeugung, dass die politische Bewegung eine psychologische Fundierung braucht und ebenso nötig sei, wie die psychologisch – therapeutische Bildungsbewegung sich im politischen Einsatz fortzusetzen habe“ (F. Schulz von Thun). Cohn nennt ihre TZI-Arbeit „eine Idee, die sich von Anfang an auf das Soziale und Politische und Gesellschaftsbeeinflussende gerichtet hat…“ (briefl. a. d. Vf.) Man kann das problemlos in fast allen ihren Texten belegen. Das heißt jedoch nicht, dass die TZI per se politisch sei. Es heißt aber auch nicht, dass die TZI nur dann politisch sei, wenn sie ein politisches Thema bearbeitet. Sie enthält unzweifelhaft und von vornherein politische Aspekte. Ruth Cohn blickt dabei sehr stark auf den Einzelnen und seine Verantwortlichkeit, seine Sozialität und Aufgabenbezogenheit, weniger auf die Gemeinschaft eines Volkes oder großer Interessengruppen, die in Konflikt geraten.Wenn sie über den Einzelnen, seine Beziehung zum Du und seine Aufgaben in der Gemeinschaft hinaus denkt, werden ihre Überlegungen sehr rasch weltpolitisch, ja sogar „kosmisch“. Sie befürchtet den von Egoisten und Rassisten herbeigeführten Weltuntergang und hofft zugleich auf den Sieg von Mitmenschlichkeit und Anteilnahme, Mündigkeit und Verantwortlichkeit („Humanisierung“). 26 Stollberg, Politische Implikationen der TZI 26. Jahrgang Heft 1 Frühjahr 2012 1. Was heißt eigentlich „politisch“? 1.1. Die Antwort kann nur skizzenhaft ausfallen und akzentuiert bereits jene Aspekte, die bei Cohn deutlich wiederkehren. In der Politik stehen zur Debatte das Verhältnis menschlicher Sozietäten zueinander sowie des Einzelnen zur Gemeinschaft und umgekehrt. In der TZI geht es zunächst um die Zuständigkeit der konkret anwesenden und miteinander in Austausch Zur Debatte steht tretenden Individuen bzw. Kleingruppen. Cohn betont eine das Verhältnis des Einzelnen zur Selbstverständlichkeit, die leider nicht selbstverständlich ist: Der Mensch sei nicht allmächtig, aber auch nicht ohn- Gemeinschaft und umgekehrt mächtig. Das muss im Sinne sozialen Lernens ausprobiert und erfahren werden. Mitläufertum und Unterordnung sind nicht erwünscht. Da Einzelne wie Gruppen und Kollektive immer Interessen vertreten, bleiben Konflikte nicht aus. Diese zu lösen, ist eine zentrale Aufgabe der Politik – wie im Prozess des Übens auch der TZI. Schon in der Antike wusste man, der Mensch sei ein „zoon politikon“ (ein Gemeinschaftswesen: Platon, Aristoteles). Keiner kann für sich allein und nur als Privatperson bestehen. Er organisiert sich in Familie und Sippe übergreifenden Gemeinschaften, um gut zu leben und zu überleben. Was alle betrifft, nennt der Römer „res publica“: öffentliche Angelegenheit, abgeleitet aus dem griechischen Vorläuferbegriff „Politik“. Was öffentlich ist, ermöglicht mindestens grundsätzlich die Partizipation aller. Einzelne übernehmen zwar, mindestens zeitweilig, Führungsrollen, sind aber auf die Unterstützung der anderen angewiesen, bedürfen also der Legitimation. Sie können nur so lange leiten und führen, wie sie von der Mehrheit (die der Minderheit in der Regel schon kräftemäßig überlegen ist) toleriert und/oder sogar beauftragt sind (Delegationsprinzip). Dieser Auftrag verleiht ihnen Macht. Solange Menschen sich führen lassen wollen, verzichten sie auf eigene Macht. Wer haben will, gibt dem, der zu geben verspricht, Macht. Der Mächtige kann geben oder verweigern, solange ihm die anderen diese Macht zuschreiben und quasi an ihn glauben. 1.2. Allerdings entstehen immer Konflikte, sobald Menschen zusammenleben und ihre Einzelinteressen wahrnehmen. (Das beginnt schon im Kindesalter unter Geschwistern.) Auch wenn mehrere zugleich die Führung übernehmen wollen und somit konkurrieren bzw. rivalisieren, kann es zu Konflikten kommen. Ein Ausweg ist die Kooperation (Oligarchie, heute z.B. durch Parteien), wenn das Ziel klar ist. Konsens und Kompromiss sind Lösungsmöglichkeiten, die freilich der Sicherung (z. B. durch Handschlag,Vertrag, Kodifizierung) bedürfen. Zur Politik gehören daher Ordnung, Regeln 27 T hemenzentrierte Interaktion Themenschwerpunkt: Anstoß nehmen – Anstoß geben. Dr. h.c. Ruth C. Cohn (1912–2010) und Strukturen. Wo diese fehlen oder nicht ausreichen und der Interessenausgleich nicht gelingt, gerät der Frieden in Gefahr. Sobald ein Konflikt mit fremden Gruppen (etwa um Ressourcen) auftritt, nehmen Konflikte innerhalb der einzelnen Gruppen ab und treten gemeinsame Ziele, Aufgaben und Interessen in den Vordergrund. Der gemeinsame „Feind“, die Bedrohung und die Angst schaffen Zusammenhalt. An die Stelle des Feindes kann auch eine für die Gemeinschaft überlebenswichtige Aufgabe treten. 1.3. Da sich Menschen in immer neuen Situationen vorfinden, müssen sie sich ständig anpassen und verändern: Das Leben, gerade auch das soziale Leben, ist ein immerwährender Prozess. Daher sind auch einmal getroffene Absprachen und Konsensformulierungen, Gesetze und Strukturen alsbald überholt und Zur Politik gehören bedürfen der Erneuerung. Statt Statik braucht es Dynamik. Das Gleichgewicht zwischen Individuum und Kollektiv daher Ordnung, kann nicht statisch festgezurrt, sondern muss in einem Regeln und konfliktreichen sozialen Kräftespiel ständig dynamisch baStrukturen lanciert werden. Gerät entweder ein einzelnes Individuum oder das Kollektiv in eine einseitige Machtposition, haben wir es mit einer Diktatur zu tun. Irgendwann wird ein Aufstand fällig. Der ohnehin ständig bedrohte Frieden ist gefährdet. Es ist daher wichtig, dass die Individuen ausreichend Möglichkeiten haben, das Verhalten des Kollektivs zu beeinflussen (Wahlen reichen dafür keinesfalls aus), dass andererseits das Kollektiv verantwortungsvoll repräsentiert wird. Basisdemokratie und repräsentative Demokratie müssen in ein angemessenes Verhältnis zueinander gebracht werden. 1.4. Voraussetzung für eine konstruktive Wechselwirkung von Einzelnem und Gemeinschaft sind soziale Anteilnahme,Verantwortungsgefühl und Solidarität, Wahrnehmung eigener und fremder Interessen, Bereitschaft zum diskursiven und gewaltfreien Interessenausgleich, Einigung auf Notwendigkeiten und gemeinsame Ziele, Mut und Zivilcourage, Konflikt- und (aktive wie passive) Kritikfähigkeit, Partnerschaftlichkeit statt autoritärer Hierarchie und Herrschaft, Selbstdisziplin statt Gehorsam, Wahrnehmung von gegenseitiger Abhängigkeit und Angewiesenheit, Abbau von Moralismus und Vorurteilen zugunsten von Realitätssinn und situativer Urteilsbildung, Toleranz gegenüber differierenden Ansichten und Einschätzungen, Fremdem und Fremden. Damit alle zu einer Gemeinschaft Gehörenden sich mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten einbringen und am gesellschaftlichen Fortschritt beteiligen können, ist Informationstransparenz ebenso nötig wie Vertrauen in Repräsentanten (Delegationsprinzip) und Verlässlichkeit vereinbarter Strukturen. 28 Stollberg, Politische Implikationen der TZI 26. Jahrgang Heft 1 Frühjahr 2012 1.5. Weil eine Gemeinschaft nicht ohne Güter existieren kann und wirtschaften muss, sind Besitzverhältnisse, Partizipations- und Verteilungsmodalitäten zu regeln: Muss es Privateigentum geben – und wie viel als Anteil am Bruttosozialprodukt? Zentrale Begriffe in diesem Zusammenhang sind Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Ökonomie und Kapital beeinflussen das Zusammenleben moderner Gesellschaften so stark, dass schon von einem Primat der Wirtschaft gegenüber der Politik gesprochen wird (K. Marx; B. Brecht: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“). Globalisierung ist in diesem Zusammenhang eine weitere und unvermeidliche Kategorie. 1.6. Mit der „Moral“ sind Werte angesprochen. Jede Gesellschaft beruft sich auf gemeinsame Grundwerte, einen ethischen Fundamentalkonsens, dem meistens die „goldene Jede Gesellschaft beruft sich auf Regel“ zugrunde liegt: „Was du nicht willst, dass man dir gemeinsame tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.“ Humanisten pflegen daher die Vision einer wertorientierten Politik. Ruth Cohn Grundwerte, einen ethischen betont: „Es geht um Werte.“ Der Generalwert des Friedens ist allerdings durch perma- Fundamentalkon­ nente Verteilungskämpfe und durch die Profitorientierung sens, dem meistens Einzelner wie größerer Interessengruppen bedroht, die die „goldene Regel“ zugrunde liegt sich wenig durch Wertorientierung beeinflussen lassen. Werden alle gesellschaftlichen Prozesse und Institutionen der Ökonomisierung und Marktorientierung unterworfen, geraten nicht nur kulturelle – keinen wirtschaftlichen Profit abwerfende – Aktivitäten in Gefahr. „Humanität“ braucht zwar eine ökonomische Grundlage, geht aber weit über sie hinaus. 1.7. Dies alles wird durch Wünsche/Bedürfnisse und Ängste gesteuert. Sie lassen sich politisch beeinflussen und missbrauchen. So mindert z.B. die Zugehörigkeit zum Kollektiv Angst, die durch Vereinzelung auftritt. Der Ausschluss aus einer Gemeinschaft ist deshalb eine harte Strafe.Was für eine moderne Gesellschaft mehr denn je gebraucht wird, sind mündige, kritische und zur aktiven Mitgestaltung bereite Bürgerinnen und Bürger. Was diese lernen müssen, ist Sozialkompetenz – eine keineswegs selbstverständliche oder verbreitete Lektion, aber eine, die mit der TZI ein gutes Stück weit gelernt werden kann. 2. Politische Aspekte der TZI 2.1. Ruth Cohns Anliegen beruht auf der schrecklichen Erfahrung des Holocaust.Wenn sie immer wieder die Vision einer „Humanisierung der Gesellschaft“, zu der sie durch die TZI beitragen wolle, 29 T hemenzentrierte Interaktion Themenschwerpunkt: Anstoß nehmen – Anstoß geben. Dr. h.c. Ruth C. Cohn (1912–2010) beschwor, ging es ihr letztlich stets um eines: die Überwindung menschlicher Angst und Feindseligkeit durch Einübung von Verantwortungsübernahme und Mündigkeit.Was bei Sigmund Freud Liebes- und Arbeitsfähigkeit heißt, nennt Ruth Cohn Anteilnahme und Friedensbereitschaft. Die Menschen sollen aus ihrem animalischen und angstbedingten Kampf ums Futter bzw. Überleben befreit und zu einem souveränen Leben in Geschwisterlichkeit und Kooperation geführt werden. Der Einzelne soll autonom und zugleich bezogen, d. h. verantwortungsbewusst und sozial, in der Gesellschaft leben, und diese soll ihm Anteilhabe und Freiheit ermöglichen. „Homo homini lupus“ („Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“) soll nicht länger gelten. Cohn fürchtet die Selbstzerstörung der Menschheit und versucht energisch, ihren humanistischen Optimismus dagegen zu setzen. Z.B. Gerechtigkeit: „Gerechtigkeit gibt es nicht ohne Umverteilung. Solange die Reichen reicher und die Armen ärmer werden, ist Solidarität nicht gewährleistet. Es geht darum, Armut zu verhindern … Eigentlich geht es nicht nur um Europa, sondern um die ganze Welt … Jeder müsste ein Existenzminimum bekommen … Nun, wir Menschen werden nie Engel werden, aber im Augenblick ist der Teufel los … wir wollen nicht teilen …“ (Cohn) Und dann spricht die Schöpferin der TZI von Energiepolitik, europäischer Integration,Weltbürgertum, Konfliktlösungs(un)fähigkeit der Politiker, Solidarität, Ökologie und Genfood, Kommunikation als Voraussetzung von Frieden: „ … die TZI ist ein Mini-mini-Teil zur Verbesserung der Kommunikation zwischen den Menschen.“ Sie sei „ein mögliches Werkzeug dafür“ (Cohn). 2.2. Dazu bedürfen die Menschen einer Verpflichtung auf und die Einübung in grundlegende Werte. „Je mehr ich mich … in die Geschichte der Psychotherapie vertiefte, desto klarer wurde mir, dass menschliches Leben ohne transzendierende Wertsetzung nicht denkbar ist. Das heißt:Wir brauchen Werte, die über den Einzelnen, über die Nation hinausgreifen.Wir sind Bewohner einer Welt, und wenn wir nicht glauben, dass das Leben für alle lebenswert sein soll, dann kann ich gar nicht mehr argumentieren.“ (Cohn) „Selbstverwirklichung“ sei vor allem in der Psychoanalyse ein therapeutisches Ziel geworden. „Das Ich hat aber nur ein Recht, sich zu verwirklichen, wenn es weiß, dass es in der Welt nicht allein ist … Wir sind ein Teil des Universums … Daher kommt meine Wertphilosophie. Ich kann nur sagen: Ich bin für mich und andere da.“ (Cohn) Nur für andere wäre masochistisch, nur für mich isolationistisch; beides mache krank. „Ich bin ich, weil ich Teil des Universums bin; das ist die Realität. Und dies zu wissen und danach zu leben, bedeutet für mich, Widerstand zu leisten. Ich plädiere für geistigen, für kulturellen Widerstand, nicht unbedingt für einen, der sich auf der 30 Stollberg, Politische Implikationen der TZI 26. Jahrgang Heft 1 Frühjahr 2012 Straße manifestiert …Vielleicht muss es … den millionsten oder zehnmillionsten Menschen geben, der sagt: Ich mache nicht mehr mit; … ich will kein Wettrüsten mehr …“ (Cohn). Lassen wir Ruth Cohns zahllose, aber engagierte, meist assoziativ und unsystematisch in Gespräche eingestreute, politische und moralische Äußerungen im Einzelnen beiseite – „Ruth Cohns Politik-Begriff ist sehr weit gefasst“ (v. Kanitz) – und schauen uns die TZI direkt an! Es wird sich freilich sofort zeigen, dass weder Politik noch Moral außer Acht gelassen werden können, weil Cohn selbst sie nicht außer Acht lässt. 2.3. Grundlegend sind die drei „Axiome“: Das erste betont, der Mensch sei eine psychobiologische Einheit,Teil des Universums und sowohl autonom als auch interdependent. Independenz scheidet aus, Dependenz erweist sich als Problem. Das zweite Axiom ist ethischer Art: „Ehrfurcht vor dem Leben“, Respekt vor seinem Wachstum, Wert des Menschlichen, Bedrohung der Werte durch Inhumanes. Um diesem Axiom gerecht zu werden, bedarf es fortwährender Entscheidungen. Das dritte Axiom wird oft „pragmatisch-politisch“ genannt: Der Mensch kann sich innerhalb von Grenzen frei entscheiden. Die Grenzen sind erweiterbar. Grenzen sind z.B. die Bedingungen von Gesundheit und Intelligenz, materieller Sicherheit und geistiger Reife, d.h. Krankheit und Dummheit, Armut und mangelnde Reife behindern unsere Entscheidungsfreiheit. „Ich bin nicht allmächtig, ich bin nicht ohnmächtig, ich bin partiell mächtig.“ (Cohn) Für die Arbeit mit TZI wird vorausgesetzt und muss immer neu darauf geachtet werden, dass wir uns selbst realistisch wahrnehmen, nämlich keineswegs völlig frei und unabhängig, sondern auf andere und anderes angewiesen bzw. von anderen und anderem Es geht um das beeinflusst, dass wir aber im Rahmen unserer MöglichDreieck von Selbstkeiten auch selbst Einfluss nehmen können. Die ethische bestimmung, FremdOrientierung in Axiom 2 verlangt ausdrücklich eine solche bestimmung und verantwortungsbewusste Einflussnahme und soziale BeteiliMitbestimmung, gung. Kosmischer und sozialer Kontext, Abhängigkeiten und Freiheit, Realitätsbezug, gefährdete Humanität, Macht und das ständig in der Ohnmacht: So sind schon die anthropologischen Ausgangs- Balance gehalten werden muss daten der TZI politisch, indem sie das Verhältnis zwischen Einzelnem und Gemeinschaft thematisieren und menschliches Verhalten zwischen Freiheit und Bindung ethisch fundieren wollen. Es geht um das Dreieck von Selbstbestimmung, Fremdbestimmung und Mitbestimmung, das ständig in der Balance gehalten werden muss. 2.4. Auf der Basis der Axiome werden zwei „Postulate“ formuliert: Leite dich selbst (Sei deine eigene Chairperson = Vorsitzende)! Und: Störungen haben Vorrang. 31 T hemenzentrierte Interaktion Themenschwerpunkt: Anstoß nehmen – Anstoß geben. Dr. h.c. Ruth C. Cohn (1912–2010) 2.4.1. Das Thema Leitung und Führung bzw. Leiten oder Geleitet- bzw. Geführtwerden kommt in sozialen Zusammenhängen, Gemeinwesen, Schulen, Firmen, Kliniken, Institutionen und Organisationen jeder Art allenthalben vor. Selbstverständlich ist es das Thema jeder Regierung und ihrer Opposition. Kinder müssen geführt werden, um nicht in Gefahr zu geraten. Aber Eltern sollten ihnen auch beibringen, sich nach und nach selbstständig zu bewegen. Mündigkeit als Ziel eines humanen Zusammenlebens ist eine grundlegende Arbeitshypothese der TZI. Sie soll Menschen dazu befähigen, ihre Eigeninteressen und die Belange des jeweiligen sozialen Kontexts bewusst aufeinander zu beziehen und dabei sowohl sich selbst zu vertreten als auch das Interesse der Gemeinschaft zu berücksichtigen. Dieses basisdemokratische Modell, das sich auch im Sitzkreis statt Frontalunterricht ausdrückt, geht nicht ohne Kompromisse.Weder Unterwerfung unter die Interessen des Kollektivs und seiner Repräsentanten noch autokratische Herrschaft über sie, sondern ein u.U. mühsamer Interessenausgleich als Kompromiss ist das Ziel. In TZI-Kursen geht es daher im Sinne des Chairperson-Postulats darum, dass die Teilnehmenden sich nicht einfach LeiterInnen und vorgegebenen Strukturen unterwerfen bzw. aus Bequemlichkeit ihre Eigenverantwortung, die zugleich Mitverantwortung für das Gelingen des Kurses bedeutet, an die Kursleitung oder ein für die jeweilige Kurseinheit ernanntes Team delegieren: „Mal sehen, was in der nächsten Sitzung kommt …“ Mitläufertum ist für das Erreichen des Gruppenziels (die Bewältigung der anstehenden Aufgaben, die Bearbeitung eines Themas) nicht nur hinderlich, sondern in politischer Hinsicht auch gefährlich. Es erinnert in fataler Weise an den Slogan „Führer befiehl! Wir folgen dir.“ Es kommt deshalb darauf an, dass Kursleitungen den Teilnehmenden nicht mehr Arbeit abnehmen als unbedingt nötig: Auch wenn das Thema vorgegeben ist, lassen sich der Aufbau des Kurses, die Abfolge von Unterthemen, die Leitung einzelner Sitzungen, die Einteilung von Kleingruppen u. dgl. m. mit den Teilnehmenden und weitgehend durch sie selbst bestimmen. Das erfordert Geduld und Abstinenz: Kursleitungen sind versucht, vieles selbst zu tun, um der Frustration langwieriger gruppendynamischer Prozesse zu entgehen. „Zu wenig geben ist Diebstahl, zu viel geben ist Mord“ (Cohn). Die Weigerung einer Kursleitung, zu sagen, wo es langgeht, die vorgeplante Struktur unbesehen zur Verfügung zu stellen, Gruppeneinteilungen durch Abzählen zuzulassen, Mehrheitsabstimmungen statt mühsamer Einigungsprozesse zu dulden u.ä., ist eine entscheidende Hilfe für die Kursmitglieder, selbst aktiv zu werden, Konflikte zu riskieren und die eigene „Chairpersonship“ zu verwirklichen. Die Abstinenz der Leitung fördert die Mündigkeit der Teilnehmenden und deren Übernahme von Verantwortung. Genau das ist in der TZI gegen32 Stollberg, Politische Implikationen der TZI 26. Jahrgang Heft 1 Frühjahr 2012 über passiver Konsumhaltung und unbewusster Schülermentalität politisch gewollt. Die schwierigste Lektion der TZI scheint nach wie vor die basisdemokratische Aufgabe der partizipierenden Leitung zu sein: Jedes Mitglied eines Kurses, Teams, Kollegiums usw. ist gleichermaßen zuständig. Alle sind LeiterInnen. Die offizielle Leitung in Ausbildungskursen ist „nur“ dafür da, darauf zu achten, dass Axiome, Postulate und Hilfsregeln sowie die dynamische Balance beachtet werden, dass also wirklich TZI stattfindet. Diese Person versteht sich aber ansonsten und vorwiegend als Mitglied der Gruppe, nicht als ihr Gegenüber oder gar als ihre Vorgesetzte. Wer eine TZI-Ausbildung gemacht hat, hat die schwierigste Aufgabe noch vor sich: als Führungskraft an seinem Arbeitsplatz, wenn irgend möglich, ein soziales Klima vertrauensvoller und partnerschaftlicher Kooperation und Teilhabe hervorzurufen und Führung zu teilen. Ich habe einmal zu Beginn eines Die schwierigste Kurses, als die Hausleitung hereinkam und fragte: „Wer ist Lektion der TZI hier der Leiter?“ erst geschwiegen und dann geantwortet: scheint nach wie „Hier sind nur LeiterInnen.“ Das hat die Hausdame völvor die basis­ lig verunsichert, obwohl sie selbst schon einen TZI-Kurs demokratische absolviert hatte. Es ist trotz allen Demokratie-Geredes in Aufgabe unserer Gesellschaft nach wie vor für die meisten kaum vorstellbar, dass ein Team die notwendigen Führungsfunk- der parti­zipierenden tionen gemeinsam und mit flexiblen Rollen wahrnimmt. Leitung zu sein Ob man mit Lehrerinnen oder Firmenchefs, mit Dirigenten oder Bürgermeisterinnen redet – alle verneinen mit schöner Regelmäßigkeit die Möglichkeit gemeinsamer und radikal partnerschaftlicher Mitbestimmung, ja Leitung. Führung ist eine Funktion, die keineswegs fest institutionalisiert und an eine Person gebunden sein muss. Die Leitungsrolle kann und soll wechseln, u.U. während einer Sitzung mehrfach und spontan, je nach Bedarf und Kompetenz. Die TZI setzt genau hier kritisch an. Dass bestimmte Aufgaben, z.B. die Repräsentation nach außen, zweckmäßigerweise trotzdem vereinbart und über einen längeren Zeitraum festgelegt werden, widerspricht dem nicht. Auch basisdemokratisches Verhalten stößt an Grenzen. So hat auch das RCI einen auf Zeit gewählten Vorstand. Repräsentative und direkte Demokratie müssen sich in größeren Gruppen und im Kontext der Gesellschaft ergänzen. 2.4.2. Dass „Störungen“ Vorrang eingeräumt wird, entspricht dem von Cohn immer wieder eingebrachten Realitätsprinzip. Der Begriff impliziert, dass irgendetwas oder irgendwer gestört wird bzw. stört. Da die TZI-Gruppe stets und explizit ein Thema, ein Projekt oder eine Aufgabe bearbeitet, bezieht sich „Störung“ auf die Bearbeitung der Aufgabe und auf die, die sich ihr widmen 33 T hemenzentrierte Interaktion Themenschwerpunkt: Anstoß nehmen – Anstoß geben. Dr. h.c. Ruth C. Cohn (1912–2010) wollen. „Feinde“, die das Projekt torpedieren wollen, können ebenso Störungen initiieren, wie Störungen der zielorientierten Zusammenarbeit bei Einzelnen aus deren subjektivem Erleben auftreten oder aus der Gruppendynamik hervorgehen können, z. B. in Gestalt einer Kränkung. Wer weiß, wie unbearbeitete Kränkungen lange in einer Gruppe nachwirken können, wird auch verstehen, weshalb es so wichtig ist, solche Störungen alsbald offen anzugehen. Ohne hier alle denkbaren Störungen aufzählen zu können, ist leicht nachzuvollziehen, dass die Arbeit einer Gruppe, eines Teams usw. ständig durch Störungen von „innen“ und „außen“ bedroht ist. Ohne Konflikte und ihre Lösungen geht der permanent notwendige Interessenausgleich nicht vor sich. Politik ist daher – neben ihrer eigentlichen Aufgabe, anstehende Probleme des Staatswesens zu bewältigen – ständig damit beschäftigt, Störungen zu bearbeiten – oder unter den Teppich zu kehren. Letzteres löst allerdings kein Problem, sondern steht, oft nicht mehr identifizierbar, im Sinne der unbewussten Wiederkehr des Verdrängten einer Lösung im Wege bzw. produziert instabile Scheinlösungen. Eine überall vorhandene und sehr ernsthafte Störung sind Vorurteile. Es gehört zu einer guten TZI-Arbeit, an deren Reduktion zu arbeiten. So sehr die rechtzeitige Bearbeitung von Störungen Zeit beansprucht und zunächst konstruktive Weiterarbeit aufzuhalten scheint, so wichtig ist sie doch, sollen dauerhafte und für alle Beteiligten bzw. Betroffenen befriedigende Lösungen gefunden werden.Wenn z.B. derzeit überall Proteste von „Wutbürgern“ aufflammen, hängt das nicht zuletzt damit zusammen, dass Betroffene nicht oder nicht rechtzeitig informiert und in den Dialog einbezogen wurden. Es fehlte an Informationstransparenz. Bürger stören, weil sie vorher keine Chance hatten, sich an der Suche nach der angemessenen Problemlösung zu beteiligen. Zivilcourage ist eines der zentralen Lernziele der TZI, auf das Cohn immer wieder hinweist. In TZIKursen entsteht zwar manchmal eine „Diktatur der Störungen“ (Cohn), wenn Teilnehmende erstmals die Chance entdecken, sich durch Störungen einzubringen: „Ich hab’ eine Störung …“ Sie müssen aber lernen, dass Störungen als streng projektbezogen aufzufassen und nur dann sinnvoll anzumelden sind, wenn sie die Mitarbeit des Betreffenden und damit die Kooperation der Gruppe hinsichtlich des Themas, der gemeinsamen Aufgabe usw. gefährden. 2.5. Ein deutlich politisches Gewicht hat der sog. „Globe“. Ist es ohne weiteres einsichtig, dass Politik es stets mit Einzelnen (Ich), mit der Gemeinschaft, einem Volk, der Völkergemeinschaft usw. (Wir) und anstehenden Aufgaben (Thema) zu tun hat, so wird doch das Umfeld leicht vergessen. Hierbei geht es nicht nur 34 Stollberg, Politische Implikationen der TZI 26. Jahrgang Heft 1 Frühjahr 2012 um das meist relativ harmlose Umfeld eines Kabinettssaals, eines Parlamentsgebäudes oder einer Tagungsstätte, einer Stadt oder Landschaft, sondern auch um globale Zustände wie z.B. eine Weltwirtschaftskrise, nur scheinbar weit weg befindliche Hungersnöte oder auch den gewaltigen wirtschaftlichen Aufstieg eines Landes. Cohn betont nicht nur die Verflochtenheit aller Phänomene der Welt miteinander – „Alles ist mit allem verbunden“ (Holismus) –, sondern auch deren (wohl meist unbewussten) Einfluss auf jeden von uns wie auf unsere Zusammenarbeit. Deshalb ist ihr interkulturelle Kooperation und TZI als Lernmodell in interkulturellen und international zusammengesetzten Gruppen wichtig.TZI soll einen bewussten Umgang mit den Möglichkeiten der Vernetzung fördern. Ziemann verweist ausdrücklich auf TZI als Mittel der Völkerverständigung. Zusammenfassend schließe ich mich Helmut Johach an: „Die Frage nach der politischen Dimension der TZI mag sich entsprechend den veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten von Zeit zu Zeit anders stellen – aufgegeben werden kann sie nicht.“ Literatur Von R. C. Cohn werden hier nur Texte genannt, aus denen die Zitate stammen. Jedoch finden sich so gut wie in allen Cohn-Schriften politische Aussagen. Brühlmann-Jecklin, Erica: Ruth C. Cohn. Gespräche und Begegnungen, Oberhofen (CH) 2010. Cohn, Ruth C.: Brief an Vf. v. 3. 12. 1982 bzw. 15. 1. 83, S. 15. Dies.: Es geht ums Anteilnehmen. Freiburg 1989 (darin 168 u.ö.). Dies. in Brühlmann-Jecklin: a. a. O., 109–114. Gottschall, Dietmar: Konfliktmanagement. Die Dynamik des Misstrauens, Themenzentrierte Interaktion 3/1989, 2, 14–25. Johach, Helmut: Historische und politische Grundlagen. In: Schneider-Landolf, Mina/Spielmann, Jochen/Zitterbarth, Walter (Hrsg.): Handbuch Themenzentrierte Interaktion, Göttingen 2009, 27–32, hier: 32. v. Kanitz, Anja: 3. Axiom. In: Schneider-Landolf u. a. (Hrsg.): a. a. O., 93. Krämer, Manfred: Ruth Cohn im Gespräch … In: Themenzentrierte Interaktion 16/2002, 1, 16–29, hier: 20–23. Ders., TZI und Politik. In: Themenzentrierte Interaktion 14/2001, 2, 23–34. Ders./Zitterbarth, Walter: Ist TZI politisch? In: Themenzentrierte Interaktion 20/2006, 1, 8–15. Löhmer, Cornelia/Standhardt, Rüdiger: Zur Tat befreien. Gesellschaftspolitische Perspektiven der TZI. Gruppenarbeit, Mainz 1994. Dies., TZI – Die Kunst, sich selbst und eine Gruppe zu leiten. Einführung in die Themenzentrierte Interaktion. Stuttgart 2006, 107–113. Schulz von Thun, Friedemann: Nachruf. In: Brühlmann-Jecklin, a. a. O., 160–165, hier:164. Stollberg, Dietrich: Ich leite, du leitest – wer leitet? In: Themenzentrierte Interaktion 12/1998, 1, 88–97. Ziemann Yitzchak: Völkerverständigung durch TZI. In: Themenzentrierte Interaktion 16/2002,1, 161–168. Zitterbarth, Walter: s. o. unter Krämer 35