ZEITSCHRIFTENARCHIV Walter Schiffer Über die Souveränität des ICH innerhalb der TZI Themenzentrierte Interaktion »negnurötS anders gesehen« 24. Jahrgang, 1/2010, Seite 46–55 Psychosozial-Verlag 28102 T hemenzentrierte Interaktion Theoretische Beiträge Walter Schiffer Über die Souveränität des ICH innerhalb der TZI* Zum Autor Walter Schiffer, M.A., M.Th., Jg. 1957, arbeitet in Schule, Lehrerfortbildung, freiberufl. in der Erwachsenenbildung & Lebensberatung. TZI-Diplom, Logotherapeut/existenzanalytischer Lebensberater (dipl. durch die GLE-D). Anschrift: Damaschkestr. 25, 46325 Borken, www.beratung-begleitung.de Mit dem ersten Axiom legt Ruth Cohn die existentiell – anthropologische Grundlage für ihre TZI-Konzeption. Anthropologische Denksysteme und Autonomievorstellungen sind in der Neuzeit durch Immanuel Kant bestimmt. Ein Vergleich macht jedoch deutlich, dass Ruth Cohn den Autonomie-Begriff auf andere Art füllt als diese neuzeitliche Denktradition. Zu überlegen ist, ob der Begriff der Souveränität, wie ihn Gernot Böhme eingeführt hat, das theoretisch zu füllen vermag, was Autonomie in der TZI meint. Insbesondere der Leib und die Emotion erhalten so einen angemessenen Stellenwert. Die Impulse aus der Phänomenologie Böhmes könnten für die TZI den Dialog mit anderen Denkrichtungen vereinfachen, Anschlussmöglichkeiten bieten und Fragmente für eine weitere theoretische Fundierung der TZI bereitstellen. A discussion concerning the sovereignty of the ‚I’ within the TCI: With her first axiom Ruth Cohn establishes the existential anthropological foundations for her conception of TCI. Whilst the modern system of thought and autonomy concept have been led by Immanuel Kant, a comparison demonstrates that the terminology of argumentation used by Ruth Cohn differ from this modern concept. If is to be considered whether the term ‘sovereignty’ as Gernot Böhme has introduced it, can theoretically fulfill the accepted meaning of autonomy in TCI. Especially the physical and emotional aspects are given relevant attention. The impulse given by Böhme’s phenomenology could well simplify the correlation towards other theoretical directions offering possible developments in the use of TCI. Vorbemerkungen * Für Ole Fidelius und Tami. 46 Bei der Tagung ‚Forschung und TZI’ (November 2007 in Hannover) wurde deutlich, dass das, was ich vor Jahren im Gutachten Schiffer, Über die Souveränität des ICH innerhalb der TZI 24. Jahrgang Heft 1 · Frühjahr 2010 meiner universitären Abschlussarbeit über die Theoriedefizite der TZI las, heute noch ein Problem darstellt: Vielerorts werden Forschungsvorhaben unter dem Vorzeichen der TZI mit dem Argument der Theorieschwäche abgelehnt. Es ist nun nicht die erstrangige Aufgabe der TZI–Aktiven, sich wissenschaftstauglich zu machen oder gar ‚anzudienen’. Ich bin auch nicht in Bezug auf meinen Beitrag der Meinung, dass die terminologische Differenzierung zwischen der Autonomie, wie sie in der TZI verwendet wird, und der Souveränität, wie sie hier im Sinne Gernot Böhmes entfaltet wird, für alle diejenigen, die nach TZI arbeiten, wesentlich ist oder sein müsste. Mir hilft es aber, wenn ich ein System begreifen und vermitteln will, die zentralen Begriffe zu klären. Hilfreich im Verstehensprozess erweist sich mir diese Arbeit deshalb, weil die Wahrnehmung und die Beschreibung des Menschen oder der Welt, ja unsere gesamte Sicht der Wirklichkeit begrifflich verfasst ist. (Vgl. Böhme, 1997a, 33–47, insbes. 35f.) Dieser Gedanke ist auch in der TZI zentral – warum würden wir ansonsten soviel Wert auf eine wohl bedachte Themenformulierung legen! So kann die z. B. philosophisch-gedankliche Arbeit an den theoretischen Grundfesten der TZI partiell zu einer inhaltlichen Klärung verhelfen (vgl. Cohn/Farau, 1991, 559 Anm.), evtl. hier und da Anschlussmöglichkeiten an andere Denksysteme aufzeigen, um mit diesen in Dialog zu kommen und schließlich vielleicht einige Aspekte der TZI abzustützen. Dazu sollen die Ausführungen einen kleinen Beitrag liefern. Autonomie – verschiedene Sichtweisen Autonomie bei Ruth Cohn: Cohn stellt ihrem Konzept Axiome voran. Das erste, existentiell-anthropologische Axiom lautet1: „Der Mensch ist eine psychobiologische Einheit und ein Teil des Universums. Er ist darum gleicherweise autonom und interdependent. Die Autonomie des Einzelnen ist um so größer, je mehr er sich seiner Interdependenz 1 In der früheren Fassung (1974) heißt es: Der Mensch mit allen und allem bewußt wird.“ (Cohn/Farau, 1991, 356) Mit ist eine psycho-biologische Autonomie meint sie, wie die alte Fassung des Axioms und die Einheit. Er ist auch Teil des gemeinsam mit Paul Matzdorf erarbeiteten Ausführungen zeigen, Universums. Er ist darum au„Eigenständigkeit“ (Matzdorf/Cohn, 1992, 55), wobei dieser Betonom und interdependent. griff nicht näher ausgeführt wird. Zur Klärung sind die Aussagen Autonomie (Eigenständigkeit) wächst mit dem Bewusstsein über das ICH aufzusuchen. (Vgl. dazu auch Lotz, 2009) der Interdependenz (AllverAuch wenn sich Ruth Cohn im Laufe ihrer therapeutischen bundenheit). (Cohn, 1992, Tätigkeit von der freudschen Psychoanalyse kritisch abgesetzt hat, 120) Zu den ersten, noch in so fußt ihr TZI-Konzept immer noch auf den grundlegenden Amerika verfassten FormuErkenntnissen der analytischen Anthropologie. „Der Mensch […] lierungen vgl. Kroeger, 1989, ist ein mit unbewußten Gründen und Abgründen begabtes Wesen, 188f. 47 T hemenzentrierte Interaktion Theoretische Beiträge aus dessen Tiefen Schöpferlichkeit/Kreativität und Zwiespalt, Reichtum und Bedrohung aufsteigen, so daß uns Menschen hier eine Gestaltungsaufgabe antinomer und polarer Kräfte zuwächst.“ (Kroeger, 1992, 97) Im Namen der Autonomie soll Echtheit angestrebt werden, aber im Namen der zu verantwortenden Interdependenz sollen die Auswirkungen des Gesagten mitbedacht werden. Alles Geäußerte soll demnach authentisch sein, aber nicht alles Echte muss auch gesagt sein. In der ‚cohnschen Systematik‘ heißt dies (in der Form der dritten Hilfsregel): „Sei authentisch und selektiv in deinen Kommunikationen. Mache dir bewußt, was du denkst, fühlst und glaubst, und überdenke vorher, was du sagst und tust.“ (Cohn/ Farau, 1991, 362) Bedenken zu können, was zu tun oder zu lassen, zu sagen oder zu verschweigen ist, bedarf der Fähigkeit, aus dem Chor der verschiedenen Stimmen von ‚ich muss dies oder das’, ‚ich soll’ und ‚ich möchte’ das gerade jetzt zu verantwortende ‚ich will’ herauszudestillieren. Um diese Fertigkeit, „’der Vorsitzende meiner inneren Gruppe’“ zu sein, innerhalb der TZI entwickeln zu können, stellt Ruth Cohn das erste Postulat für die Gruppenarbeit auf: „Sei dein/e eigene/r Chairman/Chairwoman, sei die Chairperson deiner selbst.“ (Ebd., 358 und Kroeger, 1992, 99ff.) Es geht demnach zuerst darum, die inneren Stimmen und die anderen Personen wahrzunehmen, um dann zu einer bewussten Entscheidung zu kommen. Von daher ist auch Cohns Unterscheidung zwischen ‚möchten’ und ‚wollen’ zu verstehen. ‚Ich möchte’ bezieht sich allein auf das, was ich nach meiner momentanen Stimmung und Lust zu tun gedenke, ‚ich will’ dagegen bezieht die Aspekte des ‚ich soll’ (Ethik) und des ‚ich muss’ (Realität, Pflicht), d.h. die Notwendigkeiten neben meiner Lust, mit ein. Somit kann zwischen dem ‚ich möchte’ und dem ‚ich will’, je nach Lage der Umstände eine große Differenz liegen (Vgl. zum lustgesteuerten ‚ich will’ bei Kroeger, 1992, 102). Es fällt bei dem bisher Erörterten auf, dass sich das ICH als Person häufig auf Gratwanderungen zwischen zwei oder mehreren Polen begibt: Freiheit/Verantwortung; sich – sehen/andere – sehen; ich will/ich soll/ich muss; Emotion/Intellekt; Körper/Geist. Aus diesem Grund ist eine zu erlernende Fähigkeit innerhalb der TZI, die jeweiligen Eigenrechte dieser Faktoren in eine dynamische Balance zu bringen. Ein Raum, der dergestalt ausbalanciert ist, ermöglicht es, lebendig zu lernen, und erweist sich so als ‚Wachstumsraum’ und TZI als eine „Methode, die Gedeihräume für Wachstumsprozesse von Menschen mit (Sach-) Themen zur Verfügung stellt“ (Kroeger, 1992, 105). Sie eröffnen Chancen für menschliche Entwicklung, die den Menschen näher an das heranbringen, was er von seinen Potenzen her sein könnte. Autonomie im allgemeinen Sinne: Gemeinhin (heute z. B. bei Wikipedia) wird mit Verweis auf die altgriechische Herkunft unter 48 Schiffer, Über die Souveränität des ICH innerhalb der TZI 24. Jahrgang Heft 1 · Frühjahr 2010 Autonomie Selbstgesetzgebung, Eigengesetzlichkeit, Selbstständigkeit, aber auch Selbstverwaltung (z. B. nationaler Minderheiten) oder das Recht auf Festsetzung von Tarifen verstanden. Der Begriff findet demnach in verschiedenen Bereichen – Politik, Jurisprudenz, Ökonomie etc. – Verwendung. Für unsere Fragestellung ist der philosophische Gebrauch wesentlich. Dazu ist in abendländischer neuzeitlicher Tradition der Bezug auf Immanuel Kant zwingend (Vgl. Pohlmann, 1971, 709 und Pieper 2000, 289f.). Dabei wird deutlich werden, dass das Autonomieverständnis Kants allerdings nicht mit der Sicht Cohns in Übereinstimmung zu bringen ist. (Vgl. Zitterbarth, 2009, 53) Autonomie bei Immanuel Kant: Kant thematisiert die Autonomie innerhalb seiner Ethik (Vgl. hier ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten’2. Kant, 1998, 11–102). Dort geht es u.a. um die Frage:Was ist eigentlich das Gute, wann kann eine Handlung ‚gut’ heißen? Seine Antwort lautet: Allein das Wollen kann gut genannt werden, unabhängig von den Konsequenzen des Handelns (Ebd., 18). Wenn das Tun vom guten Willen getragen ist, ist es gut. Außerdem entwirft das Subjekt für sein Handeln Regeln, die es sich zum Prinzip macht, sog. Maxime. Kant: „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Ebd., 51) In dieser Formulierung des kategorischen Imperativs betont er, dass die Absicht – gemäß der Vernunft – verallgemeinerbar sein müsse. Daraus ergibt sich, dass sie für alle vernunftbegabten Menschen verpflichtend ist, eben kategorisch. Kant fügt Beispiele an (vgl. Schönecker/Wood, 2002, 128– 135): Ist es erlaubt zu lügen? Gesetzt den Fall, jemand gerät in finanzielle Not und möchte sich einen Betrag, mit dem Versprechen ihn zurückzuzahlen, ausleihen. Die Selbstliebe gebietet ihm dieses Vorgehen. Allerdings weiß er bereits, dass er die Schulden nicht ausgleichen will. Es ist dem Prinzip der Selbstliebe zwar zuträglich, es wird auch sein Wohlbefinden steigern, aber ist es auch recht? Wenn diese Maxime allgemeines Gesetz würde, würde niemand mehr verleihen, weil er wüsste, nie den Betrag zurückzuerhalten. D. h. dass diese Maxime – aus Not gemäß der Selbstliebe alles versprechen zu dürfen – notwendig in den Widerspruch führt (Kant, 1998, 53). Im Sinne der Verallgemeinerbarkeit darf nicht gelogen werden, denn ‚wenn das jeder täte’, wäre jegliche Kommunikation zerstört, da niemandem mehr getraut werden könnte. Oder (ebd., 52): Ein vom Schicksal Gezeichneter möchte sein Leben beenden. Er begründet seinen Vorsatz mit der Selbstliebe: 2 Vgl. zum Überblick Bernecker, 2009 und zur geDas Leben ist unerträglich, da er sich selbst liebt, will er es verkürnaueren Textanalyse Schözen. Nun ist die Selbstliebe zwar gut, aber sie zielt im Allgemeinen necker/Wood, 2002, insbes. darauf, das Leben zu fördern. Der Selbstmord führt jedoch zur 153–169. 49 T hemenzentrierte Interaktion Theoretische Beiträge Zerstörung des Lebens, also leitet diese Argumentation – so Kant – in den Widerspruch. Den Grund, dass die Beispiele nicht als gutes Handeln gelten können, sieht Kant darin, dass die Liebe und der Wunsch nach einem glücklichen Leben Neigungen und Wünsche sind, also nicht der Vernunft entspringen. Sie rühren von subjektiven Interessen her, die je nach Person sehr unterschiedlich sein können, also nicht verallgemeinerbar sind. Das allgemein gültige Sittengesetz kann demnach ausschließlich auf der Vernunft beruhen. Durch die Vernunft kann der Mensch autonom werden, d. h. sich selbst das Gesetz geben. Werden Handlungen allerdings von Affekten bestimmt oder vom Staat oder von Gott gefordert, wird die Autonomie zerstört, dann greift die Heteronomie (Vgl. Kant, 1998, 75ff. und Schmid, 1998, 291ff.). Alles Begehren und Wünschen, alle Lust und Aggression führen zur Herrschaft der Natur (als Gegensatz der Vernunft), dort wird der Mensch unfrei und steht unter dieser Fremdherrschaft (Vgl. Pieper, 2000, 289). Aber Autonomie und Freiheit haben für Kant auch Aufgabencharakter, die Person soll autonom werden!3 3 Vgl. Pieper, 1990, 62f. ein Hinweis auf Kants Verständnis der ‚Interdependenz’. 50 Zwischenergebnis: Mit diesem kurzen Aufriss sollte zweierlei deutlich werden: Erstens werden durch Kant Gegensatzpaare aufgestellt, deren Pole mit Autonomie und Vernunft auf der einen und mit Heteronomie und Natur auf der anderen Seite markiert sind. Wahrhafte Autonomie kann nur gelebt werden, wenn Wünsche, Interessen und Neigungen ausgeblendet werden. Der Mensch, der von Natur aus auch ein begehrendes, triebhaftes Wesen ist, ist nur autonom, wenn er diese Aspekte seines Seins unterdrückt. Zweitens wird klar, dass dies überkommene Autonomieverständnis nicht mit Ruth Cohns Menschenbild in Deckung zu bringen ist. Innerhalb der TZI – von der Psychoanalyse herkommend – wird der Mensch ganzheitlich, d. h. auch triebhaft, affektbeladen, z.B. aggressiv, liebend gesehen. Im Rahmen der Chairperson geht es gerade um die Integration der Aspekte des Sollens, des Möchtens und des Müssens (Vgl. Röhling, 2009; Kanitz, 2009). Ruth Cohn ist an einer ausgewogenen Balance zwischen ‚Vernunft und Natur’ gelegen: „Das Verächtlichmachen von Wissen und Denken ist nicht weniger destruktiv als das Herabschauen auf Gefühle und Sensitivität.“ (Cohn, 1992, 102) Ausdrücklich weist Ruth Cohn darauf hin, dass der ‚Natur’ große Aufmerksamkeit zukommt; man denke nur an die Hilfsregel ‚Achte auf deine Körpersignale’. Hier steht nicht – wie bei Kant – der Verstand über der Sinnenwelt, aber die ‚Verkopfung’ wird auch nicht von einer ‚Verbauchung’ abgelöst. Dieses Menschenbild findet Parallelen und eine philosophische Vertiefung im Denken Böhmes. Schiffer, Über die Souveränität des ICH innerhalb der TZI 24. Jahrgang Heft 1 · Frühjahr 2010 Souveränität nach Gernot Böhme Der Darmstädter Philosoph Gernot Böhme kann als einer der ‚Wiederentdecker des Leibes’ in der deutschen Phänomenologie gelten (Vgl. Gahlings, 2008, 42f.). In der Ausfaltung seiner philosophischen Anthropologie und Naturphilosophie legt er seit den achtziger Jahren einen Schwerpunkt auf die Problematik, wie unser Leibsein (Leib: die Natur, die wir selbst sind) unter den Bedingungen der technischen Zivilisation als Aufgabe verstanden werden kann (Vgl. Böhme, 2003). Er entwirft sein Konzept der Souveränität „aus der Kritik und Weiterentwicklung des klassischen Ideals des autonomen Menschen“ (Böhme, 1995a, 101). Böhme findet – wie Ruth Cohn – einen Ansatzpunkt seiner Anthropologie im Menschenbild Freuds. Nach Freud erscheint ihm keine Philosophie des mit Bewusstsein ausgestatteten Menschen akzeptabel, die nicht zugleich das Unbewusste, Irrationale mitbedenkt. Die Aufklärung müsse durch die Erkenntnisse der Psychoanalyse aufgeklärt werden, sie müsse das ‚Andere der Vernunft’ reflektieren, wolle sie nicht als naiv gelten (Vgl. Böhme/Böhme 1996, 11). „Das Andere der Vernunft, das ist inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle“ (Ebd., 13). Diese Aspekte seien jedoch – hier stehe Kant auf einer Linie mit dem Dualisten Descartes – abgewehrt und verdrängt worden.4 Vernünftige Prozesse bedürften deshalb immer der Distanz zum Naturwüchsigen und hier in erster Linie zum Leib. Die Kultivierung des Menschen werde mit der Aufklärung zum Bildungs- und Erziehungsprojekt: Ausbildung und Förderung der Vernunft („Züchtungsprodukt“) und Disziplinierung des ‚Anderen’ („Selbst-Zucht“) (Ebd., 10f.). Durch Erziehung – so Kant – wird 4 Kant warnt vor Leidenschaft, Einbildungskraft (die tierische der Mensch erst Mensch, er ist kein animal rationale5, sondern ein Ausstattung des Menschen) animal rationabile (Vgl. Böhme, 1991, 268 und 1986, 231). und Sexualität; vor intenEs sei betont, dass Böhme nicht beabsichtigt, in voraufklärerisiver Selbstbeobachtung sche Zeiten zurückzufallen und die Rationalität nun seinerseits zu (Tagebuchschreiben) und Beverabschieden, stattdessen möchte er das Denken der europäischen schäftigung mit dem Körper, Kultur neu in den Blick nehmen. Dabei soll das Denken um seine da dies zu Wahnsinn und Hypochondrie führen kann; unbewussten Anteile erweitert werden (s. u.), diese nicht als das vor Mitleid, weil der WahnFremde ausgrenzen, sondern den Leib als die Natur, die wir selbst sinn anderer ansteckend sein sind, erfassen. „Die Aufgabe, das Andere als Anderes anzuerkennen, kann (Vgl. Böhme, 1995b, wird zur Aufgabe, dieses Andere als eigenes zu erkennen“ (vgl. insbes. 32–35 und 2008a, Böhme, 1992, 51–54; Zitat: 52). Daraus erwächst der Entwurf 49 und 66f.). einer Leibphilosophie, in der Gefühle einen angemessenen Ort 5 Kant unterscheidet in Bezug auf den Menschen zwischen haben (vgl. Böhme, 1997a, 179–197). dem ‚mit Vernunftfähigkeit Böhme entwickelt in der Tradition antiker Philosophieströmunbegabten Tier’ (animal gen der Selbstbesinnung und -sorge (vgl. z.B. Rabbow, 1954) ‚eine rationabile) und dem Philosophie des Mir’. Wenn nach Freud das ICH als Aktzentrum ‚vernünftigen Tier’ (animal abgedankt hat, das ICH nicht ‚Herr im eigenen Hause’ ist, kann rationale). 51 T hemenzentrierte Interaktion Theoretische Beiträge nun nachgespürt werden, welche Gedanken in mir aufsteigen, was mir zu- und auffällt. „Das Mir ist im Unterschied zum Ich relational: mir fällt etwas ein, mir ist kalt. Im Mir erfahren wir uns im Ursprung schon im Zusammenhang mit anderen. Dieser Zusammenhang ist der einer Betroffenheit. Die Beziehung, in der wir uns vorfinden, ist keine neutrale: was mir geschieht, geht mich an.“ Im Modus des Mir, dem der Betroffenheit, finden wir uns zwischen dem passiven Geschehenlassen und dem aktiven Einlassen. In Anlehnung an die Fachsprache der Grammatik (das Medium als Mittelkonstruktion zwischen Aktiv und Passiv) nennt Böhme diese Existenzform eine „mediale Seinsweise“ (Böhme, 1986, 237). Der abstrakte Begriff der medialen Seinsweise lässt sich leicht an Alltagsphänomenen veranschaulichen: Das Einschlafen ist in der Regel eine Mittelform zwischen intentionaler Aktivität und passivem Zulassen. Gleiches gilt für das Erleben orgastischer Sexualität, was in der Regel weder zielstrebig ‚gemacht’ werden kann, noch in völliger Passivität geschehen kann (Vgl. Böhme, 1997a, 175f.). Im Rahmen der Philosophie ermöglicht dieser mediale Status eine neue Art des Denkens, „das das narzißtische Selbstbild des Vernunftmenschen ablösen könnte.“ Der neue Reflektionstyp ist sich der Bedingtheit seines Denkens vom Unbewussten, vom Leib und seiner Triebhaftigkeit bewusst und wird sich dessen in seiner emotionalen Betroffenheit gewahr. Er schaut sich gleichsam beim Denkprozess ‚schräg’ (oblique) und eingedenk der Abhängigkeiten über die Schulter. Dazu Böhme: „Ich möchte den Typ des geforderten Denkens ‚obliques Denken’ nennen“ (Böhme, 1986, 238 und 1991, 281–289). In dieser Art des Denkens wird die Person spürend zweierlei gewahr (s. o.): Der Mensch ist sich selbst ohne sein Zutun gegeben, er findet sich in unterschiedlichen Atmosphären vor, in Stimmungen getönt, und ist davon betroffen – dies bietet Ansätze zur Natur-Selbst-Erfahrung; andererseits gestaltet er sich, begibt sich in vielfältige Bildungssituationen zur Selbstkultivierung. Böhme spricht dabei von ‚betroffener Selbstgegebenheit’, vom ‚Pathischen’ und nimmt damit Bezug auf die ‚Neue Phänomenologie’ des Kieler Philosophen Hermann Schmitz, der Philosophie definiert „als das Sich-Besinnen des Menschen auf ein Sich-Finden in der Umgebung“ (Vgl. Böhme, 2003,77–93; Zitat 88 und 2008a, 191–194). Das souveräne ICH in der TZI Was tragen nun die Denkfiguren ‚Sich-Besinnen im Sich-Finden’, mediales, obliques Denken und Souveränität für die TZI aus? 52 Schiffer, Über die Souveränität des ICH innerhalb der TZI 24. Jahrgang Heft 1 · Frühjahr 2010 TZI-GruppenleiterInnen und TeilnehmerInnen z.B. überschreiten die Schwelle des Seminarraumes und finden sich in beklemmenden, heiteren, düsteren etc. Atmosphären (vgl. Böhme, 1995c) vor (GLOBE); sie sind zu Beginn und im Verlauf des Workshops als Individuen aufgeregt, gelassen, ängstlich, fröhlich, matt etc. (ICH); sie interagieren förderlich, bringen sich ein oder nicht (WIR); sie stehen unter einer einfachen oder komplexen Aufgabenstellung (ES); die Themenformulierungen bieten Bearbeitungszugänge oder versperren sie (THEMA); sie durchlaufen verschiedene Phasen von Prozessen der Bildung, Begegnung und Kooperation (zu integrierenden und differenzierenden Prozessen vgl. Lotz, 2007 a und b); sie erleben Sitzungen voll Vertrauen und angemessen strukturiert oder eben nicht usw. usf. In all diesen Fällen gilt, die Autonomie (Kant) teilweise beiseite zustellen, sich betreffen zu lassen, sich dem Geschehen auszusetzen, die Betroffenheit zu erkennen und anzuerkennen. „Wir wollen einen solchen Menschentypen als den des souveränen Menschen bezeichnen“ (Böhme, 1991, 205). Er hat es nicht nötig, diese inneren Vorgänge auszublenden, wie es der autonome aus Angst vor dem nicht Verfügbaren tun müsste. „Der autonome Mensch ist nicht souverän“ (Ebd., 279). Nun könnte eingewendet werden, dass der Begriff ‚souverän’ aus der Staatstheorie stamme und benenne dort die oberste Gewalt, sei also dem TZI-Kontext nicht angemessen. Diese Steigerung der Macht hat Böhme allerdings nicht im Sinn, sondern meint mit souverän – mlat. superanus, darüberstehend – einen anderen Personentyp, der ‚über den Dingen stehen’ kann. Damit ist aber keine über dem Ich verortete Instanz inthronisiert – Böhme charakterisiert idealtypisch den souveränen Menschen wie folgt (ebd., 287ff.): Er steht über (vielleicht besser: ‚schräg’ hinter) dem kontrollierenden, verfügenden ICH, lässt sich etwas widerfahren; er hält Scheitern und Frustrationen aus, ist selbstironisch; er ist kompetent und überlässt sich nicht vorschnell den Spezialisten (z.B. in der Medizin); macht seinen Leib nicht zum „körperlichen Instrument“; er ist nicht abhängig von Gott, er hat aber auch nicht „den ostentativen und anstrengenden Atheismus Sartres nötig“, sondern weiß sich „als Teil des Ganzen […] mit dem Ganzen in Verbindung“; er steht für eine Form der Gemeinschaft ein, die 6 Der Gedanke der AllVerbundenheit ist bei Ruth u.a. eine neue Form der leiblichen, emotionalen Kommunikation Cohn ähnlich formuliert. entwickelt.6 (Vgl. Matzdorf/Cohn, 1992, Von der Beschreibung einer souveränen Person lassen sich 55 und Cohn/Farau, 1991, 520f.) Dass Böhmes VerParallelen zu dem ziehen, was Ruth Cohn mit TZI intendiert. ständnis der Souveränität TZI-Faktoren können im Kontext der Philosophie Gernot Böhdie vielfältigen Formen der mes weitere theoretische Begründungen erhalten – drei Beispiele Interdependenz nach Cohn seien abschließend kurz genannt: umfasst, dürfte auch ohne Besonders greifbar ist der Bezug zur Hilfsregel ‚Achte auf die weitere Erörterung im Ansatz Körpersignale’ (Vgl. Cohn/Farau, 1991, 363f.). Durch Böhmes deutlich geworden sein. 53 T hemenzentrierte Interaktion 7 Böhme nennt außerdem (121): Yoga, Thai Chi, Chi Gong, Feldenkraismethode, Alexandertechnik, Gerda-Alexander-Methode. (Vgl. auch Cohn/Farau, 1991, 242ff. und 563f. Anm. 10f.) 8 „Refuto ergo sum: Ich verweigere mich, also bin ich“; vgl. zur ausführlichen Entfaltung der Argumentation Böhme, 1991, 291–309. Vgl. für die grundsätzlichen ethischen Aspekte Böhme, 1997b, bes. 131ff.; zum ‚Widerstand gegen die Künstlichkeit’ Böhme 2008b, bes. 173ff.; in Bezug auf das Gesundheitssystem AkasheBöhme/Böhme, 2005, bes. 33–53. 54 Theoretische Beiträge Leibphilosophie kann dieser Aspekt nicht nur tiefer reflektiert werden, sondern sein Ansatz bietet auch praktische Wege zur Leiberfahrung. Er beschreibt, wie ein Leibbewusstsein durch Übungen aufgebaut werden kann. Die „übende Zuwendung zum Leibe“ zeigt er beispielhaft am Autogenen Training und an Atemübungen (Vgl. Böhme, 2003, 114–147, bes. 120–131).7 Wenn oben skizziert wurde, welch hohe anthropologische Relevanz es hat, dass sich die Person in ihrer leiblichen Verfasstheit wiedergewinnt, um ein tieferes Gespür für ihr Betroffensein zu entwickeln, bestärkt dieser Gedankengang die Wichtigkeit des zweiten Postulats ‚Störungen und Betroffenheiten haben Vorrang’. Das souveräne Ich ist in die Wahrnehmung verschiedenartiger Störungen eingeübt. Gleichsam parallel zu Böhme führt Cohn aus, dass Regungen wie Ärger oder Schmerz zunächst als störende Gegebenheit zu akzeptieren seien und dann erst zu entscheiden sei, wie zu reagieren ist. Ähnlich wesentliche Effekte hat die Sensibilisierung des Gespürs für das Ziel, seine Chairperson in gegebener Einmaligkeit zu leben (Vgl. Cohn/Farau, 1991, 358ff.). Ruth Cohn betont, dass das, was sie mit TZI möchte, auf personale, gesellschaftliche und (welt-) politische Veränderung, auf Selbst- und Weltverwirklichung abzielt (Vgl. Cohn/Farau, 1991, 372ff. und Matzdorf/Cohn, 1992, 89f.). Böhme seinerseits entwirft mit der Rede von der souveränen Person ein Bild des Menschen, dessen Wesen es ist, nein sagen und Widerstand im Dienste der Humanität leisten zu können.8 Er kreiert dafür in ethischen Kontexten die Formel ‚gut Mensch zu sein’, was nicht meint, ein guter Mensch zu sein, sondern die Qualität und den Vollzug des Menschseins beschreibt, das sich nicht mit dem Üblichem und dem ‚Man’ zufrieden gibt. Literatur Akashe-Böhme, Farideh; Böhme, Gernot: Mit Krankheit leben. Von der Kunst, mit Schmerz und Leid umzugehen. München 2005. Bernecker, Sven: Kants „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ lesen. In: Information Philosophie 2/2009, 50–58. Böhme, Gernot: Philosophieren mit Kant. Zur Rekonstruktion der Kantischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Frankfurt a. M. 1986. Böhme, Gernot: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen. Frankfurt a.M. 31991. Böhme, Gernot: Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. 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