MATERIAL ZUR INSZENIERUNG PATRICKS TRICK Von Kristo Šagor | Uraufführung [ 11 plus ] INHALT Die Besetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 03 1 . Zum Stück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 04 1 .1 . Synopse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 04 1 .2 . Laudatio zur Verleihung des Jugendtheaterpreises Baden-Württemberg 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . 05 1 .3 . Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 07 1 .4 . Interview mit dem Regisseur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 08 2 . Zum Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2 .1 . Inklusion – Was ist das eigentlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2 .2 . Rechte von Menschen mit Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2 .3 . Hilfe für Angehörige – Pass auf ihn auf! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2 .4 . Weit vom Stamm . Wenn Kinder ganz anders als ihre Eltern sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3 . Spielpraktische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 4 . Literatur-, Film- und Medienempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 5 . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 2 DIE BESETZUNG Patrick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kevin Körber Sein Bruder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Fiedler Regie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Wesemüller Bühne & Kostüme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jasna Bošnjak Dramaturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Kalbitz Theaterpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sarah Eger Regieassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cynthia Friedrichs Inspizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Kuhn Kostümbildassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doreen Winkler Regiehospitanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mirjam Strzata Ausstattungshospitanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anne Kauffmann Ausstattungsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fabian Gold Technische Leitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Wieser Bühnenmeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sven Theile Beleuchtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Peter Augustin Ton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veit Kirsch Requisite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Boris Krause, Gösta Bornschein Ankleidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doreen Winkler, Petra Voigt Maske . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rosemarie Ristau Praktikantin Maske . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Caroline Brackmann Aufführungsrechte: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH, Berlin Premiere: 18. September 2014 | Kleine Bühne Aufführungsdauer: 1h 10 min | keine Pause »Patricks Trick« von Kristo Šagor ist auch als eBook erschienen und über www .textbuehne .eu in verschiedenen Online-Shops bestellbar . Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 3 1. ZUM STÜCK 1.1. Synopse Patrick ist elf Jahre alt und Einzelkind. Als er erfährt, dass seine Eltern noch ein Kind bekommen, ist er nicht sonderlich begeistert. Einen Bruder hätte er schon gern, aber einen älteren, einen, der cool ist und mit dem man Spaß haben kann. Kein Baby! Doch das ist nicht alles. Die Eltern haben es ihm zwar verschwiegen, aber Patrick hat es doch herausbekommen: der Bruder wird behindert sein und er wird vielleicht nie sprechen lernen. Sollen sie das Kind bekommen oder nicht? Die Eltern sind ratlos und verzweifelt. Patrick jedoch ist sicher, dass es Möglichkeiten geben muss, seinem Bruder zu helfen. Er wird ihm das Sprechen beibringen! Aber dafür braucht es gute Ratschläge. Patrick geht auf Erkundungstour bei seinem Freund Valentin, bei einem kroatischen Boxer, bei einem Professor, und erfährt, wie selbstverständlich man lernen kann, wenn man nur drängende Fragen hat. Jetzt kann Patrick es kaum noch erwarten, dass sein Bruder endlich auf die Welt kommt. In Kristo Šagors Stück werden alle insgesamt 12 Rollen von nur zwei Schauspielern gespielt. Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 4 1.2. Laudatio zur Verleihung des Jugendtheaterpreises Baden-Württemberg 2014 von Andreas Jüttner »Denk dir ein Trüffelschwein / Denks wieder weg. / Wird es auch noch so klein / Wird nie verschwunden sein / Bleibt doch als Fleck.« So fasst Robert Gernhardt die schöpferische Kraft der Gedanken in Worte. Oder ist es die schöpferische Kraft der Worte, die Gedanken auslösen? Zum Beispiel die Worte: »Ich bekomme einen Bruder.« So eröffnet der Protagonist das Stück »Patricks Trick« von Kristo Šagor. Wenn ein Stück so beginnt, dann ist dieser Bruder einmal gedacht. Er kann nicht mehr weggedacht werden. Und deshalb steht dieser Bruder auch mit Patrick auf der Bühne. Obwohl er eigentlich noch gar nicht auf der Welt ist, ja sogar noch nicht einmal sicher ist, ob er überhaupt jemals auf die Welt kommen wird. Denn er könnte zwar nicht mehr weggedacht werden, wohl aber – wie Abtreibung mitunter verharmlosend genannt wird – »weggemacht«. Darüber denken Patricks Eltern nach, auch wenn sie es nicht ausdrücklich sagen. So, wie sie Patrick ohnehin nichts ausdrücklich sagen. Vom Werden seines Bruders erfährt Patrick zufällig durchs Lauschen an der Küchentür, ebenso wie von dessen drohender Behinderung. Wobei das Wort »Behinderung«, das ja auch sofort Gedanken auslöst, lange Zeit gar nicht fällt. Es heißt nur: »Vielleicht wird er niemals lernen, richtig zu sprechen.« Gerade als erwachsener Leser oder Zuschauer könnte man zu diesem Zeitpunkt glauben, es entspinne sich nun ein Familiendrama um die Entscheidung für oder gegen ein behindertes Kind. Es geht aber um etwas Größeres, Umfassenderes: Darum, was bei jedem von uns so alles dazu gehört, »richtig zu sprechen«. Zum Beispiel: Wie fragt man als Elfjähriger, den die zufällig aufgeschnappten Andeutungen der Eltern umtreiben, seinen besten Freund um Rat? Oder: Wenn dieser Freund einen zum rabiaten Danijel schickt, weil der doch ganz spät Deutsch gelernt hat und deshalb vielleicht weiß, wie man sprechen lernt – hat es dann einen Sinn, den anzusprechen? Getrieben von der Sorge um den Bruder, den es wie gesagt bisher ja nur im Konjunktiv gibt, traut sich Patrick – mit überraschendem Ergebnis. »Ich war sicher, er haut mir eins auf die Fresse«, sagt Patrick. »Hat er aber nicht«, kommentiert sein Bruder. Das Stück verzichtet auf den expliziten Verweis, dass Patrick hier lange vor seinen Eltern entdeckt, wie grundlos Kommunikationsscheue oft ist und dass man sie überwinden muss, um »richtig zu sprechen«. Es führt nicht etwa vor, wie Verschweigen fatale Folgen nach sich zieht, sondern zeigt, welchen Gewinn es bringen kann, zu reden: Patrick fragt nach. Bei einem kroatischen Boxer, bei seiner Deutschlehrerin, bei der behinderten Gemüsefrau und bei dem philosophisch-poetisch bewanderten Lebenskünstler, den alle nur »Professor« nennen. Und am Ende, als seine Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 5 Mutter ihm endlich reinen Wein einschenken will, kann er sie unterbrechen mit folgendem Satz: »Ja, weiß ich, Mama, er wird behindert sein, eine Trisomie, er wird vielleicht nicht mal richtig sprechen lernen, ich habe euch belauscht, jede Nacht, wenn ihr geflüstert habt, das ist nicht schlimm, Mama, ich habe einen Plan, ich war bei Professor Milch, und Danijel hat mich zu dem Boxer gebracht, und der hat gesagt, jeder Satz ist wie ein Schlag oder kann wie ein Schlag sein, und Professor Milch hat gesagt, dass ich weiß, dass man gar nicht wissen soll, was für Augen die Rauschelbeeräugige hat, ist gut, denn weil das mir hilft, hilft das meinem Bruder, das habe ich zwar nicht genau verstanden, aber das werde ich noch verstehen, sagt Professor Milch, und ich glaube, das stimmt.« Es ist ein langer Satz, den man nur verstehen kann, wenn man über das Stück hinweg die Erkenntnis des kroatischen Boxers befolgt: »Sprechen lernen kann man nur, wenn man zuhört. Viel zuhört. Gut zuhört.« Großartig ist, wie subtil Šagors Stück diesen Satz im Stückverlauf beglaubigt. Denn auch Patrick hört gut zu. Das zeigt die Form dieser, nennen wir es ruhig mal so, Bildungsreise: Physisch präsent auf der Bühne sind nur Patrick und sein Bruder (bzw. deren Darsteller), die alle anderen Rollen auch spielen. Genauer gesagt: Der Bruder (der wiederum ja nur im Denken von Patrick existiert) spielt sie. Das macht diese Rolle zum Schauspielerfutter par excellence, was aber kein reiner Selbstzweck ist. Denn die Rollen werden zwar samt und sonders durch den Bruder etabliert, nach und nach aber von Patrick übernommen, bis er in einem furiosen Schlussmonolog – schon allein für diese Szene freue ich mich auf die Uraufführung – alle sprechen kann. Ein brillantes Bild dafür, wie man durch Fantasie zur Empathie findet. Natürlich geht es in »Patricks Trick« auch um die Frage, ob und wie das Leben mit einem behinderten Kind bzw. behinderten Geschwister wäre. Auch hierfür gibt es markante Szenen, etwa wenn der Bruder Patricks Das-pack-ich-schon-Optimismus begegnet mit einem beharrlichen »Und wenn ich die ganze Zeit schreie?«, gefolgt von einem markerschütternden Schrei. Letztlich aber geht es, man verzeihe mir das Pathos, um die verbindende Macht des Wortes zwischen Mensch und Mensch (und somit auch um die trennende Wirkung der Sprachlosigkeit). Inhaltlich überwältigt »Patricks Trick« durch hinreißend pragmatischen Optimismus und unverkitschte Lebensbejahung. Formal begeistert der Text, indem jede Szene eine Spiel-Fundgrube für ein Virtuosenduo ist, ohne diese zum Selbstzweck zu machen. Und angesichts der vielen Sprechstile, von Danijels ruppigem »Verpiss dich« bis zum Celan-Zitat des Professors gilt für das ganze Stück, dass es den gut Zuhörenden lehrt, »richtig zu sprechen«. Wobei es das Zuhören mit seinem lakonischen Witz zum Vergnügen macht. »Denk dir ein Trüffelschwein...« Im Wettbewerb gab es viele faszinierende, spannende, anrührende Stücke zu lesen, aber eines hat mich ganz besonders dazu angeregt, seine Szenen zu denken, und ich danke den ebenso stimmenden Juroren, dass ich hier als Laudator Kristo Šagor für das Denken von »Patricks Trick« danken darf. Quelle: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs GmbH (www.kiepenheuer-medien.de) Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 6 1.3. Der Autor Kristo Šagor ist Dramatiker und Regisseur. Er wurde 1976 in Stadtoldendorf geboren und wuchs in Lübeck auf. Er studierte Linguistik, Literaturund Theaterwissenschaft an der FU Berlin und am Trinity College Dublin. Von 2002 bis 2004 war er Hausautor am Theater Bremen. Kristo Šagor (links) und Regisseur Jörg Wesemüller auf der Konzeptionsprobe zu »Patricks Trick« am 26. Juni 2014 Seine Stücke gehören zu den vielgespielten im deutschen Theater: »Dreier ohne Simone«, »FSK 16« und »Trüffelschweine« zeichnen sich durch genaue psychologische Studien jüngerer Menschen aus. Er inszenierte u.a. am Schauspielhaus Hamburg, am Schauspielhaus Bochum, am Staatstheater Stuttgart und am Staatstheater Hannover. Mit der Inszenierung seines Stücks »FSK 16« wurde er 2004 zu den Werkstatttagen in Halle/S. und 2005 zum 8. Kinder- und Jugendfestival »Augenblick mal« in Berlin eingeladen. 2007 inszenierte er die Uraufführung von Phillipp Löhles »Genannt Gospodin« und wurde damit zu den 33. Mülheimer Theatertagen eingeladen. Für seine Inszenierung »Törleß« wurde er 2008 in der Kategorie beste Regie im Kinder- und Jugendtheater mit dem »Faust« ausgezeichnet. In der Spielzeit 2008/2009 bewohnte er das Theater unter Tage am Schauspielhaus Bochum. Für seine Stücke erhielt Kristo Šagor zahlreiche Preise: u.a. den Publikumspreis des Heidelberger Stückemarktes für »Unbeleckt«, 2001, den Autoren-Förderpreis der Landesbühnengruppe des Deutschen Bühnenvereins für »Federn lassen«, 2002, und 2005 den ersten Autorenpreis für »Trüffelschweine« beim 7. Niederländisch-Deutschen Kinder- und Jugendtheaterfestival Kaas & Kappes in Duisburg. Inszenierungen zweier seiner Texte wurden für den Österreichischen Kinder- und Jugendtheaterpreis Stella nominiert, »Dreier ohne Simone« 2008 und »Du Hilter« 2012. 2014 wurde »Patricks Trick« mit dem Jugendtheaterpreis Baden-Württemberg ausgezeichnet und für den Deutschen Kindertheaterpreis nominiert. Kristo Šagor lebt in Berlin und ist Lehrbeauftragter an der Zürcher Hochschule der Künste und der Universität Hildesheim. Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 7 1.3. Der Regisseur Jörg Wesemüller, in Kassel geboren, begann 1995 das Studium der Dramaturgie an der Bayerischen Theaterakademie August Everding in München. Bis 1999 absolvierte er verschiedene Hospitanzen und Assistenzen im Bereich Dramaturgie und Regie am Bayerischen Staatsschauspiel in München (u.a. bei Andreas Kriegenburg und Klaus Emmerich) und am Burgtheater in Wien. Jörg Wesemüller arbeitete als Gastdramaturg am Landestheater Linz/A und als Dramaturg und Regieassistent an der Schauburg (Theater der Jugend in München). Dort arbeitete er mit dem Jugendclub und war Lehrbeauftragter für das Abiturfach Dramatisches Gestalten am Nymphenburger Gymnasium in München. Direkt nach seinem Studienabschluss 2001 war er als Dramaturg und Regisseur am Theater Konstanz engagiert. Bis 2006 leitete er dort den Jugendclub und erarbeitete zahlreiche Inszenierungen mit Jugendlichen und Studenten. 2006 war Jörg Wesemüller Stipendiat des Internationalen Forums junger Bühnenkünstler beim Berliner Theatertreffen. Seit dieser Spielzeit arbeitet er als freischaffender Regisseur in Saarbrücken, München, Jena, Konstanz, Zürich und Leipzig. Wie bist du zu diesem Stück gekommen? Hast du den Text gelesen und bist an das TdJW herangetreten, oder ist das Theater auf dich zugekommen und hat dich gefragt, ob du dir vorstellen kannst, das zu inszenieren? Das Theater der Jungen Welt hat das vom Verlag als Uraufführung von Kristo Šagor angeboten bekommen und ist auf mich zugekommen. Ich habe den Text gelesen und fand erst mal, dass es sehr gut geschrieben und ein tolles Stück für zwei gute Schauspieler ist. Hinzu kommt, dass es ein sehr interessantes Thema aufgreift, das aktuell eine große gesellschaftliche Relevanz besitzt – Inklusion. Gibt es etwas für dich, was an dem Stück ganz besonders ist oder möglicherweise auch herausfordernd? Was für mich so besonders an dem Stück ist, ist, dass es zwar viele Rollenwechsel gibt für die beiden Schauspieler – das ist jetzt auch kein Novum, aber was für mich neu ist, ist, dass es in einer atemberaubenden Geschwindigkeit passiert. Also die Rollenwechsel finden oft innerhalb eines Halbsatzes statt oder von einem Satz zum nächsten. Es hat eine unglaubliche Schnelligkeit und entfaltet darüber auch einen großen Humor. Das entfacht eine wahnsinnige Spielfreude bei den Schauspielern. Das ist Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 8 erst mal das, was eine Herausforderung ist, eben so präzise und fein zu arbeiten, damit die Zuschauer den Überblick nicht verlieren. Gleichzeitig kann ich auch, und das war in der Arbeit bisher sehr schön, während der Proben einen Freiraum lassen, um zu schauen, was macht das erst mal mit den Schauspielern. Das ist dann oft sehr albern, dennoch entstehen dadurch sehr schöne Spielsituationen. Jetzt hast du gerade schon das Tempo, diesen Humor und die Verspieltheit des Stücktextes angesprochen. Kannst du darüber den Bogen zum Bühnen- und Kostümbild spannen? Wie habt ihr die Frage der Ausstattung gelöst? Die Situation oder die Orte, in denen die Szenen spielen, die sind im Stück erst mal ganz konkrete, reale Situationen, aber dadurch, dass man durch die ganzen Figurenwechsel auch wahnsinnig viele Orte hat, könnte man von vornherein eigentlich sagen, wir können keine realistischen Orte bauen. Das wäre einfach eine Überforderung gewesen. Deswegen musste man einen Raum schaffen, der eine Abstraktion besitzt und eine starke poetische Dimension enthält. Jasna Bošnjak, die Ausstatterin, hat sich dafür einen abstrakten, aber sehr sinnlichen, poetischen Raum ausgedacht, in dem über Behauptungen alles stattfinden kann. So wie die Schauspieler behaupten, dass sie diese Figur sind, behaupten sie eben auch, das ist jetzt der konkrete Ort für die Szene. Über die Behauptungen funktioniert das sehr gut und so hat der Raum ganz viele Spielangebote, die keine realistischen Orte darstellen, aber die man über das Spiel damit zu einem Ort machen kann. Das ist toll. Das Stück bringt, wie du eben schon erwähnt hast, ein großes gesellschaftliches Thema mit sich. Das Thema der Inklusion, welches in den vergangenen Jahren immer größer geworden ist, an mehr Bedeutung gewonnen hat und auch viele Fragen aufgebracht hat, gerade im Bereich der Bildungspolitik. Wie ist deine persönliche Meinung, deine Sichtweise darauf, auch als Regisseur bzw. Theatermacher? Für mich ganz persönlich war das eine Möglichkeit, mich sehr gründlich mit dem Thema auseinanderzusetzen, was ich vorher auch aus einer privaten, persönlichen Verunsicherung heraus eher vermieden habe. Mit der Inszenierung des Stücks sehe ich für mich die Chance, genau zu hinterfragen, wie funktioniert eigentlich Inklusion oder wie soll sie im Idealfall funktionieren. Denn bisher ist das Schulsystem ja klar unterteilt, in Sonderschulen und Regelschulen. Das gefällt mir an dem Inklusionsgedanken schon sehr gut, dass behinderte Menschen in der Gesellschaft wieder stärker und sichtbar verortet werden. Dass die einfach eine Präsenz bekommen und damit eine Selbstverständlichkeit einhergeht. In den einzelnen Bundesländern wird die Inklusion sehr unterschiedlich umgesetzt. Das ist natürlich abhängig von den finanziellen Möglichkeiten einer jeden Schule und ich denke auch von den einzelnen Behinderungen der Schüler. Das ist eine sehr differenzierte Diskussion, die ich aber durch die Setzung »Inklusion« prinzipiell gut finde, dass diese angestoßen wurde. Deswegen kann ich jetzt nicht Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 9 sagen, Inklusion ist total gut und Sonderschulen sind Blödsinn, sondern ich finde die differenzierte Diskussion darüber wichtig. Das heißt, für dich ist das grundsätzlich gut, dass dieser Stein überhaupt erst mal ins Rollen gebracht wurde. Genau. Und das Stück leistet den Beitrag dazu. Also jetzt außerhalb von Schule und Bildungsthemen. Wie ist das überhaupt in der Familie? Es geht tatsächlich eher darum, wie geht die Gesellschaft mit behinderten Menschen um. Der Bruder im Stück ist ja auch nur eine fiktive Figur, die sich Patrick ausdenkt, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Und damit macht er das stellvertretend für die Kinder, die in die Vorstellung kommen. Zeigt das für dich auch die Dimension auf, die ein solches Stück oder die ein Theater in dem Zusammenhang leisten kann? Absolut, ja. Und dadurch, dass es so eine große Spielfreude entfacht und es so viele humorvolle Situationen gibt, wird die Zugangsschwelle zu dem Thema Inklusion sehr niedrig. Es hat einen lockeren Umgang damit und geht dennoch sehr sensibel damit um. Das ist eine sehr große Leistung. Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 10 2. ZUM THEMA 2.1 Inklusion – Was ist das eigentlich? Exklusion Was macht den Reichtum einer Gesellschaft aus? Wirtschaftliche Macht? Politische Sicherheit? Oder kulturelle Vielfalt? Es ist von jedem etwas. Dennoch: Eine Gesellschaft besteht aus Menschen. Und sie sind es, die das Wohl einer Gesellschaft prägen – und zwar in allen wichtigen Lebensbereichen. Um nichts anderes geht es bei der Inklusion: Jeder Mensch erhält die Möglichkeit, sich vollständig und gleichberechtigt an allen gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen – und zwar von Anfang an und unabhängig von individuellen Fähigkeiten, ethnischer wie sozialer Herkunft, Geschlecht oder Alter. Separation Inklusion ist also kein Expertenthema. Es ist ein Thema, das die Zustimmung aller erfordert und deshalb gesamtgesellschaftliche Bedeutung besitzt. Gesellschaft besteht aus vielen verschiedenen Menschen: • MenschenmitundohneBehinderung, • MenschenausanderenLändern, • KindernundälterenMenschen, • MännernundFrauen. Integration Alle Menschen haben besondere Fähigkeiten und können voneinander lernen: • ÄltereMenschenhabenschonvielinihremLebenerlebt.Das können sie den jüngeren Menschen erzählen. Und die jungen Menschen können viel von den älteren Menschen lernen. • JungeMenschenkönnenvielfürältereMenschentun.Siekön nen älteren Menschen im Alltag helfen. Oder sie können für die älteren Menschen da sein. Damit sie nicht einsam sind. Damit es allen innerhalb der Gesellschaft gut geht, müssen sie sich gegenseitig unterstützen. Inklusion Dies ist auch der Grundansatz von Inklusion: • AlleMenschensollenüberalldabeisein. • AlleMenschenhabendiegleichenRechte. • AlleMenschenkönnenselbstbestimmen,wassiewollen. • Niemandwirdausgeschlossen. Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 11 2.2. Rechte von Menschen mit Behinderung Schätzungsweise 650 Mio. Menschen leben weltweit mit einer Behinderung. Das sind 10% der Weltbevölkerung, die damit die größte Minderheit bilden. Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Nur in etwa 45 Staaten gibt es Vorschriften, die die Rechte behinderter Menschen besonders schützen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat deshalb 2001 beschlossen, dass Vorschläge für ein umfassendes internationales Übereinkommen zur Förderung und zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen entwickelt werden sollten. Im Dezember 2006 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung verabschiedet. Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention ist es, ihnen die Teilhabe an allen gesellschaftlichen Prozessen zu garantieren. Dieses Menschenrecht in den Alltag umzusetzen, ist nun Aufgabe der UN-Mitgliedsstaaten: Seit März 2007 sind sie dazu aufgerufen, den Vertrag zu unterschreiben und damit die Rechte von Menschen mit Behinderung durchzusetzen. Mittlerweile haben 155 Länder die Konvention unterzeichnet. Damit verpflichten sie sich, den Vertrag zu ratifizieren, ihn also in die nationale Gesetzgebung zu übertragen. In 126 Staaten sowie in der Europäischen Union ist die UN-Konvention nach Ratifizierung geltendes Recht (Stand: März 2013). In Deutschland ist die Vereinbarung im März 2009 in Kraft getreten. Die UN-Behindertenrechtskonvention schafft keine Sonderrechte, sondern konkretisiert und spezifiziert die universellen Menschenrechte aus der Perspektive der Menschen mit Behinderungen vor dem Hintergrund ihrer Lebenslagen, die im Menschenrechtsschutz Beachtung finden müssen. Dazu greift sie auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sowie auf die wichtigsten Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen zurück und formuliert zentrale Bestimmungen dieser Dokumente für die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen. Teilhabe behinderter Menschen ist ein Menschenrecht, kein Akt der Fürsorge oder Gnade. Die UN-Behindertenrechtskonvention stellt dies klar und konkretisiert damit grundlegende Menschenrechte für die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen. Sie erfasst Lebensbereiche wie Barrierefreiheit, persönliche Mobilität, Gesundheit, Bildung, Beschäftigung, Rehabilitation, Teilhabe am politischen Leben, Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung. Grundlegend für die UN-Behindertenrechtskonvention und die von ihr erfassten Lebensbereiche ist der Gedanke der Inklusion: Menschen mit Behinderung gehören von Anfang an mitten in die Gesellschaft. Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 12 2.3. Hilfe für Angehörige – Pass auf ihn auf! Die Geschwister von kranken oder behinderten Kindern tragen oft eine große Last. Jetzt gibt es für sie spezielle Hilfe von Martin Spiewak DIE ZEIT, 5. März 2012 Noch immer dreht sich Carl Wilhelm Macke häufig um, wenn Menschen an ihm vorübergehen. Ein Blick nach hinten, dann ist er beruhigt: Niemand schaut ihm nach. Warum auch? Macke fällt nicht auf. Ein schlanker Mann im fortgeschrittenen Alter, mit grauem Bart und praktischer Kleidung. Nur sein Gang ist etwas bedächtiger. Als warte er auf jemanden, der ein normales Tempo nicht mithalten kann. Carl Wilhelm Macke muss auf niemanden warten. Seit vielen Jahren nicht mehr. Damals haben die Leute hinter seinem Rücken getuschelt. Manche haben begonnen zu torkeln, als wären sie betrunken. So wie der große Junge an seiner Seite: Wolfgang, sein Bruder, der Spastiker. Die Scham ist Vergangenheit. Der Kontrollblick über die Schulter ist geblieben. Eltern sterben, Freunde und Partner kommen und gehen. Die Beziehung zu Bruder oder Schwester ist die dauerhafteste Lebensbindung, nicht selten auch die prägendste. Geschwister sind die ersten Freunde, aber auch die schärfsten Konkurrenten. Im Kinderzimmer lernt man nicht nur Gemeinschaft und Liebe, sondern auch Abgrenzung und Eifersucht. Schwierig wird es nur, wenn in diesem sozialen Trainingscamp nicht für alle die gleichen Spielregeln gelten, etwa weil ein Kind behindert ist. Rücksicht nehmen, anpassen und nicht auffallen, hieß es für Carl Wilhelm Carl Wilhelm Mackes Bruder kam mit einem Geburtsfehler zur Welt. Das Laufen und Sprechen fielen ihm schwer. Schleppend und wackelnd schob er sich vorwärts. Man musste genau hinhören, um seine verwaschene Sprache zu verstehen. Die Spastik des älteren Sohnes bestimmte den Alltag der Familie Macke – und prägte das Leben seines jüngeren Bruders. »Meine ganze Erziehung war auf ein behindertes Kind zugeschnitten«, sagt er. Zu Hause oder bei Verwandten, in der Schule oder auf der Straße – Rücksicht zu nehmen war das erste Gebot. Das zweite hieß: keine Aufmerksamkeit erregen. In den fünfziger Jahren spukte die Nazi-Rhetorik von »Ballastexistenz« und »unwertem Leben« noch in den Köpfen. Da war es besser, sich zu verstecken. Einmal wollte Carl Wilhelm eine dieser grellgelben Regenjacken haben, wie sie andere Mitschüler trugen. Die Mutter redete ihrem Sohn den Wunsch wieder aus: »Wir fallen schon genug auf.« Carl Wilhelm Macke akzeptierte den Einspruch, so wie er vieles schluckte. Dass er lieber keine Freunde mit nach Hause bringen sollte. Dass er beim Spielen nicht zu häufig gewann, weil sein Bruder schnell wütend wurde. »Ich bin doch auch noch da!«, schrie er manchmal in sich hinein. Es offen zu sagen, wagte er nicht. Die verordnete Dankbarkeit dafür, selbst gesund zu sein, verschloss ihm den Mund. Fünfzig Jahre dauerte es, bis er seine Gefühle zu Papier brachte. Die Scham im Familienwappen überschrieb er den Text. Und wenn Carl Wilhelm Macke von früher spricht, braucht er mehrere Anläufe, bis er sich zu einer Aussage durchringt: »Manchmal glaube ich, unter der Behinderung meines Bruders mehr gelitten zu haben als er selbst.« Heute muss niemand ein Kind mit einer spastischen Lähmung verstecken. Ein Geburtsfehler gilt nicht als »Gottesstrafe« wie im katholischen Cloppenburg der Nachkriegszeit, wo die Mackes wohnten. Doch nach wie vor verlangt ein behindertes Kind allen Familienmitgliedern Beträchtliches ab, auch den nicht behinderten Geschwistern. Sie bekommen weniger Aufmerksamkeit, müssen stärker zu Hause helfen, früher selbstständig werden und möglichst problemlos funktionieren. Selbst wenn sie sich zurückgesetzt fühlen: Den Groll gegen den Bruder mit Downsyndrom oder die Schwester im Rollstuhl dürfen sie nicht zeigen. Geschwister von Behinderten sind Meister der Anpassung. »Sie lernen, ihre negativen Gefühle in sich hineinzufressen«, sagt Marlies Winkelheide von der Lebenshilfe Bremen. Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 13 Der Umgang mit blöden Sprüchen In rund jeder dritten bis vierten Familie in Deutschland lebt ein Kind mit einem dauerhaften Gesundheitsproblem. Mit Allergien oder Asthma; aber auch schweren Krankheiten wie Diabetes, Krebs oder einer geistigen Behinderung. Die meisten von ihnen haben Geschwister. Zwar fühlen sich beileibe nicht alle durch den behinderten Bruder oder die chronisch kranke Schwester beeinträchtigt. »Doch zwischen zehn und zwanzig Prozent der Geschwisterkinder sind gefährdet«, sagt Michael Kusch, Leiter des Instituts für Gesundheitsförderung und Versorgungsforschung (IGV) an der Universität Bochum. Er hat internationale Studien zu den Belastungen von Geschwistern Behinderter ausgewertet. Übertragen auf Deutschland, kommt er auf mindestens 300.000 Kinder, die Unterstützung benötigen. Sie fühlen sich überfordert oder vernachlässigt, Schuldgefühle oder Zukunftsängste plagen sie. Manche werden in der Schule auffällig, andere leiden an Depressionen. Victoria Knoll würde niemals sagen, dass sie unter ihrem Bruder leidet. Die Sechzehnjährige mit den rot gefärbten Haaren und schwarz lackierten Fingernägeln sitzt im Wohnzimmer eines Einfamilienhauses am Stadtrand von Nürnberg. Ab und zu reicht sie Jonas eine Schnullerflasche mit Saft. Der Junge mit dem Kopfschutz aus Gummi schaukelt in seinem Rollstuhl hin und her und schaut in den verschneiten Vorgarten, als lebe er in einer anderen Welt. Ab und zu ertönt aus seinem Mund eine Art Stöhnen oder Brummen. »Wir sagen, Jonas singt«, erklärt Victoria. Als sie anderthalb Jahre alt war, wurde ihr geistig und körperlich schwer behinderter Bruder geboren. Früh hat sie gelernt, Jonas zu füttern und aufzupassen, dass er in der Wohnung nichts kaputt macht. Schüttelt den Jungen ein epileptischer Anfall, kennt sie die helfenden Tabletten. Sie liebt Jonas, ein Leben ohne ihn, der heute die meiste Zeit in einer heilpädagogischen Einrichtung lebt, ist für sie »unvorstellbar«. Als Victoria ihrem behinderten Bruder wehtat, lachte der über das neue Spiel Dass ihr Bruder im Mittelpunkt stand, hat sie dennoch geschmerzt. Er kriegte stets, was er wollte, sie nicht. Sie musste nach der Schule Hausaufgaben erledigen, er bekam nie welche auf. Nicht einmal richtig streiten konnte sie mit ihrem Bruder. Einmal hat sie ihn gekniffen, erinnert sie sich, um ihm wehzutun. Jonas hielt es für ein Spiel und lachte. Das machte Victoria noch wütender. »Manchmal habe ich mir schon einen weiteren Bruder oder eine Schwester gewünscht«, sagt sie. Und meint: ein nicht behindertes Geschwisterkind. Victoria sagt den Satz, als weder Jonas noch ihre Eltern im Zimmer sind. Früher hätte sie ihn wohl gar nicht auszuspre- chen gewagt. Mittlerweile hat sie gelernt, über sich und ihren Bruder zu reden. Einmal im Jahr kommt sie im ehemaligen Kloster Langau in Oberbayern mit Jungen und Mädchen zusammen, die ihr Schicksal teilen. Die Bildungs- und Erholungsstätte organisiert Tagungen für Geschwister behinderter Kinder, eine Mischung aus Ferienfreizeit und Therapiegruppe. Victoria genießt die Geschwistertage. Dort geht es nur um sie. Sie muss keine Rücksicht nehmen, weder auf ihr Gewissen noch auf den Bruder oder die Eltern. Denn nichts, was die Teilnehmer sagen, dringt nach außen. »In der Langau darf ich mich richtig auskotzen!« Sie kann erzählen, wie es sie nervt, wenn Mitschüler sie wegen ihres Bruders ständig bedauern. Oder zugeben, wie sie sich manchmal schämt, wenn ihre Familie in der Öffentlichkeit angestarrt wird »wie ein Tier im Zoo«. Niemand sieht darin einen Widerspruch. Zu erfahren, dass andere Menschen ähnlich gegensätzliche Gefühle kennen, ist für Victoria jedes Mal wieder ein Erlebnis. »In der Langau bin ich irgendwie ein anderer Mensch.« Auch wie sie mit blöden Sprüchen umgehen sollen, beschäftigt die Geschwisterkinder. Carl Wilhelm Macke hat noch den Spott der Straße im Ohr. Einmal, erinnert er sich, habe man einen Nachbarhund auf seinen Bruder gehetzt und sich über dessen Angst amüsiert. Solche Grausamkeiten hat Victoria niemals erlebt. Aber die gängigen Schimpfworte auf dem Schulhof (»Du Spast«) kennt auch sie. Soll sie sie einfach ignorieren? Oder ist sie es ihrem Bruder schuldig, zu reagieren? »Fast alle Geschwister von Behinderten kennen diese Angst vor dem Verrat«, sagt Marlies Winkelheide. Seit dreißig Jahren bietet Winkelheide für die Lebenshilfe Bremen Geschwisterseminare an. Sie war die Erste, die sich mit Brüdern und Schwestern von Behinderten beschäftigte. Die Medizin und die Heilpädagogik befassten sich allenfalls noch mit den Eltern der Behinderten, nicht aber mit deren Geschwistern. Die waren ja schließlich gesund. Das ändere sich allmählich, sagt Eberhard Grünzinger vom Sozialverband VdK Bayern. Er hat einen Ratgeber für Geschwisterkinder geschrieben und beobachte, so sagt er, eine wachsende Zahl von einschlägigen Fachtagungen, Internetseiten und Kontaktstellen. »Heute betrachtet man behinderte oder chronisch kranke Kinder stärker im System der Familie, zu dem natürlich auch Brüder und Schwestern gehören.« Mittlerweile ist eine bundesweite Stiftung im Aufbau, die sich allein den Geschwisterkindern widmet: FamilienBande heißt sie. Unterstützt von der Pharmafirma Novartis , will die Initiative die öffentliche Aufmerksamkeit schärfen sowie Hilfsangebote und Fachwissen bündeln. Unter anderem hat das Bochumer IGV eine – nach dem römischen Familiengott Lares benannte – Früherkennungsstrategie entwickelt. Mit einem einfachen FragebogenkönnenÄrzte,PädagogenoderElternrelativ Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 14 schnell erkennen, ob ein Geschwisterkind mit den Belastungen zurechtkommt oder selbst Hilfe braucht. Dabei hat die Schwere des Handicaps kaum Einfluss darauf, ob die Geschwister ihre spezielle Lebenssituation meistern, weiß Sonja Richter, Sozialpädagogin in der Langau. Sie kennt Familien mit mehreren geistig behinderten Kindern, deren gesunde Geschwister ohne jede Beeinträchtigung aufwachsen – während in anderen Fällen bereits ein lernschwaches Kind das gesamte Beziehungsgefüge ins Wanken bringt. »Bin ich jetzt Opfer oder Täter?« »Es kommt darauf an, wie die Eltern auf die Situation reagieren«, sagt Richter. Hadern sie mit ihrem Schicksal? Weigern sie sich – »Wir sind eine ganz normale Familie!« –, über Probleme zu reden? Manche Eltern sind enttäuscht über das behinderte Kind und projizieren ihre Wünsche in den gesunden Bruder. Andere Eltern reiben sich mit Pflege und Förderung auf und verlangen – oft unausgesprochen – ähnlichen Einsatz von der nicht behinderten Schwester. Gerade Mädchen fügen sich oft willig in die Rolle der ewigen Babysitterin und Pflegeassistentin. Denn dafür ist ihnen Lob sicher (»Meine Große, wenn wir dich nicht hätten!«). Die frühe Verantwortung kann die Geschwisterkinder aber auch stark machen. Als »ausgesprochen reflektiert und umsichtig« erlebt Sonja Richter ihre Schützlinge während der Seminare in der Langau: »Es ist erstaunlich, wie reif viele von ihnen sind.« Victoria glaubt, dass sie mutiger ist als viele ihrer Freundinnen und keine Angst hat, etwa auf Fremde zuzugehen. »Irgendetwas Soziales« möchte sie später machen, vielleicht sogar in der Behindertenpädagogik. Schließlich kennt sie beide Welten – ihre Familie wie die Welt draußen. Carl Wilhelm Macke ist ein Helfertyp geblieben. Neben dem Studium hat er für eine Behindertenzeitung geschrieben und als Freiwilliger in einem evangelischen Industriepfarramt Arbeiter und Studenten zusammengebracht. Heute leitet er den Verein »Journalisten helfen Journalisten«, der sich für verfolgte Kollegen im Iran, in Pakistan oder Guatemala einsetzt. Macke selbst blieb freier Journalist. Zum Redakteur bei einer Zeitung oder einem Radio habe ihm wohl das Selbstbewusstsein gefehlt, meinter.OhneseineFrau,eineÄrztin,hätteesfürihnnurzu einem kargen Leben gereicht. Dafür ist der Kreis der Freunde und Bekannten riesig. »Ich habe mein ganzes Leben soziales Kapital angehäuft«, sagt er. Und sein Bruder? Der hat seinen Weg gemacht. Er lernte Buchhändler, heiratete, hat heute zwei erwachsene Kinder. Auf Familienfeiern führt nicht Carl Wilhelm, sondern Wolfgang das Wort. Trotz Sprachfehler. »Wer mich nicht versteht, muss eben besser zuhören«, sagt er immer. Macke erzählt es lächelnd und schüttelt dabei den Kopf. Bis heute telefonieren die Brüder regelmäßig miteinander, sie teilen ähnliche Ansichten über die Dinge. Bloß über das Verhältnis zueinander und die Zeit damals haben sie nur ein Mal gesprochen. Vor einigen Monaten, nachdem Carl Wilhelm Macke den Text geschrieben hatte: Die Scham im Familienwappen. Sein Bruder hörte zu und fragte dann: »Und: Bin ich jetzt Opfer oder Täter?« Carl Wilhelm Macke wusste keine Antwort. Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 15 2.4. Weit vom Stamm. Wenn Kinder ganz anders als ihre Eltern sind Auszug aus dem Buch »Weit vom Stamm. Wenn Kinder ganz anders als ihre Eltern sind« von Andrew Solomon, S. 211-212. Ich werde oft gebeten meine Erfahrungen zu beschreiben, die ich beim Großziehen eines kranken Kindes gemacht habe, um all jenen ein Gefühl zu geben, die diese einzigartige Erfahrung nicht gemacht haben. Um es ihnen verständlich zu machen und ihnen eine Vorstellung davon zu verleihen, wie es sein könnte. Es ist etwa so: Wenn du ein Baby erwartest, ist es ähnlich wie bei der Planung einer wunderbaren Italienreise. Du kaufst ein ganzes Bündel von Reiseführern und entwirfst herrliche Pläne: das Kolosseum, Michelangelos David, die venezianischen Gondeln. Eventuell lernst du auch ein paar gebräuchliche Redewendungen. Es ist alles sehr aufregend. Nach Monaten sorgfältigster Vorbereitung kommt endlich der lang ersehnte Tag. Du packst deine Koffer und los geht’s. Einige Stunden später landet das Flugzeug, die Stewardess kommt und sagt: »Willkommen in Holland!« »Holland? Was meinen Sie mit Holland? Ich habe Italien gebucht! Also erwarte ich, nun in Italien zu sein! Mein Leben lang habe ich davon geträumt, nach Italien zu reisen!« Aber der Flugplan hat sich geändert. Wir sind in Holland gelandet und müssen nun hier bleiben. Das Wichtigste ist doch, dass man dich nicht an einen furchtbaren, abstoßenden, ekelhaften Ort gebracht hat, voll von Gift, Schmutz und Krankheiten. Es ist nur ein anderer Ort. Du musst nun also losziehen und neue Reiseführer kaufen. Du musst eine ganz neue Sprache lernen, und du wirst eine Menge Leute treffen, die du noch nie gesehen hast. Es ist nur ein anderer Ort! Er ist nicht so schnelllebig wie Italien, nicht so unkompliziert. Aber wenn du eine Weile dort gewesen bist und die Luft eingeatmet hast, wirst du dich umsehen und merken, dass Holland dir Windmühlen, Tulpen oder einen Rembrandt bietet. Aber jeder, den du kennst, ist damit beschäftigt, von und nach Italien zu reisen, und alle erzählen, wie wunderbar es dort ist. Und für den Rest deines Lebens wirst du sagen: »Ja, das ist es, wo ich hinwollte… das ist es, was ich geplant hatte.« Und du denkst, der Schmerz darüber wird niemals enden, denn der Verlust eines Traumes ist ein sehr großer Verlust. Wenn du aber den Rest deines Lebens damit haderst, nicht in Italien gewesen zu sein, wirst du niemals so frei sein, die ganz speziellen, liebenswerten Eigenheiten Hollands zu genießen. Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 16 3. SPIELPRAKTISCHE HINWEISE 3.1 Spielideen zur Einführung / Gemeinsamkeiten und Unterschiede a) Patricks Trick – Arbeit mit dem Stücktitel Patrick hat einen Trick mit der Nachricht, dass er möglicherweise einen behinderten Bruder bekommen wird, umzugehen. Die Klasse stellt sich in einem Kreis auf und jede(r) Einzelne zeigt (nonverbal) einen Trick. Das kann ein Zaubertrick, ein lustiger Trick, was auch immer sein… Moleküle der Gemeinsamkeit Alle Schüler bewegen sich frei im Raum. Nach Aufforderung sammeln sich die Jugendlichen zu 3er- oder 4erMolekülen zusammen, mit jeweils einer Gemeinsamkeit. Das können z.B. sein: Brille, lange oder kurze Haare, Haarfarbe, T-Shirt-Farbe, Schuhgröße… Mein rechter Platz ist leer Stuhlkreis. Der Schüler wünscht sich für den leeren rechten Platz einen neuen Nachbarn, nach dem Kriterium der Unterschiedlichkeit. Beispiel: »Ich wünsche mir jemanden, der eine andere Augenfarbe hat als ich«, oder »der größer ist als ich.« Was ist gut daran, verschieden zu sein? Sammlung und Diskussion über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Schüler der Klasse. b) c) d) 3.2 Spielideen zur Wahrnehmung und Beobachtung a) Irgendwas ist anders 3 Schüler verwandeln sich in Statuen. Die Mitschüler haben 60 Sekunden, um diese Körperhaltungen genau zu beobachten und sich zu merken. Alle Schüler, bis auf die 3 Statuen, schließen die Augen. Währenddessen verändert jede der Statue ein Detail an seiner Körperhaltung. Die Klasse darf die Augen wieder öffnen und muss herausfinden, welche Details verändert wurden. Stille Post für den Körper Die Klasse wird in 2 Gruppen aufgeteilt – Darsteller und Zuschauer. Die Darsteller stellen sich hintereinander in einer Reihe auf. Der letzte Schüler dieser Reihe zeigt seinem Vordermann eine Geste oder eine Bewegung, die möglichst exakt bis an den Kopf der Reihe durchgegeben werden soll. Die Zuschauer beobachten den Verlauf der Weitergabe und achten darauf, wann und wie sich die Geste/Bewegung verändert hat. b) 3.3 Spielideen zur sozialen Interaktion und Toleranz a) Die rettende Insel Der Klassenraum wird zum »Wasser« ernannt. Die Insel wird an einer Seite des Raumes mit Klebeband abge grenzt. Jeder Schüler steht auf einem Blatt Papier, welches die »Steine« sind. Ziel ist es, dass alle Schüler die »rettende Insel« erreichen, ohne ins Wasser zu fallen. Das bedeutet, alle dürfen sich nur auf den »Steinen« fort bewegen, in dem sie von »Stein« zu »Stein« hüpfen oder auch die »Steine« selbst bewegen oder verschieben. Die Vorteile der Zusammenarbeit und Abstimmung in einer Gruppe beim Lösen schwieriger Probleme werden unmittelbar erfahrbar. Stopp & Go – Grenzen setzen Die Schüler bilden Paare, bestehend aus A und B. Beide stehen in einem großen Abstand zueinander. A beginnt B zu sich soweit heranzuwinken, bis A die Distanz richtig und angenehm empfindet und bittet B dann, sich zu entfernen. A und B tauschen. A und B probieren aus, was sie tun können, wenn die Distanz nicht eingehalten wird. Das kann im ersten Ablauf durch verbale Statements (z.B. »Bleib stehen!«) oder aber auch durch Mimik und Gestik (z.B. einen oder beide Arme ausstrecken) im zweiten Durchlauf geschehen. b) Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 17 4. LITERATUR-, FILM- UND MEDIENEMPFEHLUNGEN Literatur Ein großer Schritt nach vorn. Broschüre zur UN-Behindertenrechtskonvention. Online unter: publikationen.aktion-mensch.de/5mai/AktionMensch_5Mai_UN-Konvention.pdf Crazy. Roman von Benjamin Lebert, Köln 1999 UN-Behindertenrechtskonvention. Online unter: http://www.behindertenbeauftragte.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Broschuere_UNKonvention_ KK.pdf?__blob=publicationFile Solomon, Andrew: Weit vom Stamm. Wenn Kinder ganz anders sind als ihre Eltern. Frankfurt/Main: Fischer, 2013. Film Alphabet. Dokumentarfilm, Österreich 2013, Regie: Erwin Wagenhofer Crazy. Spielfilm, Deutschland 2000, Regie: Hans-Christian Schmid, mit: Robert Stadlober, Tom Schilling Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa. Spielfilm, USA 1993, Regie: Lasse Hallström, mit: Johnny Depp, Leonardo Di Caprio Medien Inklusion in 80 Sek. erklärt. Animationsfilm Online unter: www.aktion-mensch.de/inklusion/un-konvention-leicht-erklaert.php Unsere Welt ist bunt – Spiele für Vielfalt und Toleranz Online unter: www.jf-hessen.de/downloads/7.1_Unsere_Welt_ist_bunt_-_Spiele_und_Anregungen.pdf 5. QUELLEN DIE ZEIT Nº 10/2012. Hamburg 5. März 2012. Portmann, Rosemarie: Die 50 besten Spiele für mehr Sozialkompetenz. München: Don Bosco, 2010. Šagor, Kristo: Patricks Trick. Berlin 2014. (als eBook unter www.textbuehne.eu) Solomon, Andrew: Weit vom Stamm. Wenn Kinder ganz anders sind als ihre Eltern. Frankfurt/Main: Fischer, 2013. (Auszug: S. 211 – 212) www.aktion-mensch.de/inklusion www.behindertenrechtskonvention.info de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Inklusion#mediaviewer/Datei:Stufen_Schulischer_Integration.svg www.inklusion-als-menschenrecht.de www.institut-fuer-menschenrechte.de www.kiepenheuer-medien.de www.zeit.de/2012/10/Geschwister-Behinderte Impressum: Theater der Jungen Welt // Eigenbetrieb der Stadt Leipzig // Lindenauer Markt 21 // 04177 Leipzig // 0341.486 60-0 // www.tdjw.de // Intendant: Jürgen Zielinski // Redaktion: Dramaturgie und Theaterpädagogik // Inszenierungsfotos: Tom Schulze // Spielzeit 2014 /15 Patricks Trick – Material zur Inszenierung – Seite 18