Serie Tier-Ethik Pionier der Tierethik: Albert Schweitzer (1875 – 1965) Von Dr. Christoph Ammann, Stiftungsrat ProTier W ie die Hausfrau, die die Stube gescheuert hat, Sorge trägt, dass die Türe zu ist, damit ja der Hund nicht hereinkomme und das getane Werk durch die Spuren seiner Pfoten entstelle, also wachen die europäischen Denker darüber, dass ihnen keineTiere in der Ethik herumlaufen.» Diese Worte stammen von Albert Schweitzer, vielen bekannt als «Urwald-Doktor» von Lambarene, der zugleich auch ein berühmter Philosoph,Theologe und Orgelvirtuose war. Vor 50 Jahren, am 4. September 1965, ist er gestorben. Seit Kindheitstagen beschäftigte ihn das Anliegen, in der Ethik mögen auch «Tiere herumlaufen». Das macht ihn zu einem heute oft vergessenen Pionier der Tierethik. Die Formel, auf die er selber sein ethisches Denken gebracht hat, ist die der «Ehrfurcht vor dem Leben». Das Leben als solches, nicht nur das von Menschen und nicht nur das von empfindungsfähigen Tieren, stellte er in den Mittelpunkt der Ethik. Durch die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben «kommen wir dazu», so Schweitzer, «nicht nur mit Menschen, sondern mit aller in unserm Bereich befindlichen Kreatur in Bezug zu stehen und mit ihrem Schicksal beschäftigt zu sein, um zu vermeiden, sie zu schädigen, und entschlossen zu sein, ihnen in ihrer Not beizustehen, soweit wir es vermögen». Er sah die Notwendigkeit, zum Leben überhaupt – zu allem Leben – in ein neues Verhältnis zu kommen. Nun war sich der Mediziner Schweitzer nur allzu sehr bewusst, wie sehr uns eine solche Einstellung in Widersprüche und Konflikte verwickelt: «Um mein Dasein zu erhalten, muss ich mich des Daseins, das es schädigt, erwehren. Ich werde zum Verfolger des Mäuschens, das in meinem Hause wohnt, zum Mörder des Insekts, das darin nisten will, zum Massenmörder der Bakterien, die mein Leben gefährden können. Meine Nahrung gewinne ich durch Vernichtung von 22 ProTier_Heft_4_15.indd 22 Pflanzen undTieren. Mein Glück erbaut sich aus der Schädigung des Nebenmenschen.» Das ist alles sehr drastisch formuliert, aber der Punkt ist klar: «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.» Mit Notwendigkeit ist daher menschliches Leben in Spannungen und Konflikte verwickelt. Der absolute Charakter von Schweitzers Ethik «Aber wissen wir das nicht alle?», könnte man fragen und das mit der Feststellung verbinden, dass wir doch gerade deswegen die Ethik brauchen: als Orientierung, wann wir wie zu entscheiden haben, als Richtschnur, wann wir wem wie viel Leiden zufügen dürfen und wann nicht. Genau an diesem Punkt tritt die Eigenart von Schweitzers ethischem Denken am stärksten zutage: «Die gewöhnliche Ethik sucht Kompromisse. Sie will festlegen, wie viel ich von meinem Dasein und von meinem Glück dahingeben muss und wie viel ich auf Kosten des Daseins und Glücks anderen Lebens davon behalten darf. Mit diesen Entscheiden schafft sie eine angewandte, relative Ethik. […] Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben erkennt keine relative Ethik an. Als gut lässt sie nur Erhaltung und Förderung von Leben gelten. Alles Vernichten und Schädigen von Leben, unter welchen Umständen es auch erfolgen mag, bezeichnet sie als böse. Gebrauchsfertig zu beziehende Ausgleiche von Ethik und Notwendigkeit hält sie nicht auf Lager.» Mit seltener Hellsichtigkeit war sich Schweitzer der Gefahr einer Entmündigung durch Ethik bewusst. «Die Ethik» – wer auch immer das ist – soll sagen, was «man» tun darf. Ethik wird dann zu einer Instanz, die Menschen ihre Verantwortung abzunehmen droht. Ethik als Ruf in die Verantwortung Dagegen akzentuiert Schweitzer, dass das Ethische Menschen stets neu in die Verantwortung stellt: «Nur subjektive Entscheide kann der Mensch in ethischen Konflikten treffen. Niemand kann für ihn bestimmen, wo jedes Mal die äusserste Grenze der Möglichkeit des Verharrens in der Erhaltung und Förderung von Leben liegt. Er allein hat es zu beurteilen, indem er sich dabei von der aufs höchste gesteigerten Verantwortung gegen das andere Leben leiten lässt. Nie dürfen wir abgestumpft werden. In der Wahrheit sind wir, wenn wir die Konflikte immer tiefer erleben.» So liegt denn der Zweck und der Wert von Schweitzers Ethik nicht darin, uns genaue Anweisungen zur Lösung unserer ethischen Probleme zu liefern. Aber sie kann uns sensibilisieren dafür, was überhaupt ein «moralisches Problem» ist: eines nämlich, das jede und jeden von uns unmittelbar angeht und auf das wir deshalb als Einzelne eine subjektive Antwort geben müssen – nicht mit Worten oder einzelnen Taten, sondern mit unserem Leben. Diese Zumutung in aller Deutlichkeit herausgestellt zu haben, ist nicht das geringste Verdienst von Albert Schweitzers Ethik. Eine sehr schöne Auswahl von Texten Albert Schweitzers zurTierthematik bietet das Büchlein: E. Grässer (Hsg.): Albert Schweitzer – Ehrfurcht vor den Tieren, 2. Aufl., München 2011. ■ Porträt Dr. Ch. Ammann Dr. Christoph Ammann ist Ober­ assistent am Institut für Sozialethik der Universität Zürich. Sein gegenwärtiger Forschungsschwerpunkt ist Tierethik. Er ist Mitglied der Tierversuchskommission des Kantons Zürich, verheiratet und Vater von drei kleinen Kindern. ProTier 4 / 15 05.11.15 11:50