THEMA Jagd-Ethik in der antiken Philosophie Der Begriff der Ethik (griechisch „ethos“: Brauch, Sitte) hat seine Wurzeln in der antiken Philosophie. Nach Anfängen bei Sokrates und Platon wurde die Ethik von Aristoteles zu einer eigenen Wissenschaft erhoben. René E. Felber unächst fragte die Ethik nach den Mitteln, die einem Streben Erfüllung bieten, im Besonderen dem Streben nach dem höchsten Gut als dem letzten Ziel des Menschen. Dieses letzte Ziel bedeutete „Glückseligkeit“. Zu erreichen war diese in der Vollkommenheit vernunftgemäßer menschlicher Tätigkeit, das heißt in Tüchtigkeit und Tugend. Erst die stoische Philosophie fragte nach der sittlichen Wertung menschlichen Tuns und postulierte ein naturgegebenes sittliches Gesetz, dem nachgelebt werden muss. Das Grundziel blieb aber immer noch die Glückseligkeit. Für Aristoteles (geb. 384 v. Chr.) entspringt die Tugend und damit die Glückseligkeit des Menschen dem Logos (griechisch: Wort, Vernunft), den jener allein von allen Lebewesen besitzt. In der Stoa (griechische Philosophenschule) wird der Z Schale, attisch, um 480 v. Chr., mit Wildschweinjagd 16 Logos zur „Weltvernunft“, zu einer Kraft, die alles durchdringt. Die griechische Philosophie bietet mit ihrem Gedankengut die Grundlagen zur Forderung, dass der Mensch zu Tüchtigkeit und Tugend erzogen werden muss, um als Endziel vollkommen und glücklich zu sein. In dieser Erziehung hat die Jagd einen unglaublich großen Stellenwert. Die folgende Zusammenstellung von schriftlichen Zeugnissen aus der Antike soll dies verdeutlichen. Jagd als Erziehungsmittel Die zentrale Stellung, welche die Jagd im griechischen Erziehungssystem einnahm, wird in erster Linie durch die Werke Kynegetikos („Lehre von der Jagd“), Kyropaideia („Erziehung des jungen Kyros“) und Lakedaimonion Politeia („Staat der Spartaner“) des griechischen Schriftstellers Xenophon sowie durch Platons Gesetze unterstrichen. Jagen bedeutete für Männer, sich selbst und andere ihres Mutes, ihrer Tapferkeit, ihrer körperlichen Gewandtheit und auch ihrer Intelligenz zu versichern. Dass Jünglinge, die die Jagd betreiben, ein Segen für den Staat, ihre Eltern, ihre Mitbürger und Freunde sind, sagt Xenophon an mehreren Stellen: „Wenn sie nämlich nicht durch körperliche Anstrengungen, kluge Pläne und Tatkraft sich überlegen zeigen, so werden sie das Wild nicht fangen.“ „Diejenigen nur, die im Staatsleben sich emporschwingen wollen, üben sich ein, über Freunde, die Jäger dagegen über gemeinschaftliche Feinde zu siegen.“ „Ich ermahne deshalb die Jungen, die Jagd und die sonstigen Bildungsmittel nicht zu vernachlässigen, denn dadurch werden sie tüchtig wie für den Krieg, so für alles andere, was mit Notwendigkeit dahin führt, edel zu denken, zu reden und zu handeln.“ An anderer Stelle sagt Xenophon, es sei Sache des Gesetzgebers, die Formen der Jagd für die Erziehung der Jugendlichen festzulegen. Und Platon, der die Erziehung des Bürgers vom Säugling bis ins hohe Alter organisiert wissen wollte, stellt eine solche Anordnung als vorbildlich heraus. Er lässt den Spartaner Megillos in den Gesetzen sagen, neben den gemeinsamen Mahlzeiten und den Leibesübungen habe der Gesetzgeber die Jagd im Hinblick auf den Krieg ersonnen, und „weil die Bürger ihr eigenes Land genau kennen lernen sollen, soll der junge Mann an Treibjagden und anderem Weidwerk teilnehmen“. Platon definiert auch, was er für die edelste Jagd hält: „Da bleibt also für alle als einzige und beste Jagd nur die auf Vierfüßer übrig mit Hilfe von Pferden und Hunden und mit dem Einsatz der eigenen Körperkräfte, wobei die Jäger, denen es um die göttliche Tapferkeit zu tun ist, alle diese Tiere mit eigener Hand durch Lauf, Schlag und Wurf überwinden.“ Durch die Jagd, d. h. durch persönliche Anstrengung, das Bestehen von Gefahren und die WEIDWERK 3/2004 THEMA Möglichkeit, verwundet zu werden, wird laut Xenophon und Platon der Heldenmut der Männer, die der Staat im Krieg braucht, herausgebildet. In der Kyropaideia heißt es dazu: „So wird denn wohl schwerlich etwas ausfindig zu machen sein, was nur im Kriege und nicht schon auf einer Jagd vorkommen sollte.“ Jagd und Krieg Auch in der griechischen Poesie wird die Verbindung von Jagd und Krieg betont: „Jagd ist Übung zum Krieg. Jagd lehrt uns Verstecktes zu fangen, Nahendes fest zu bestehen und Fliehendes schnell zu verfolgen.“ Die Jugendlichen sollten, bevor sie an einer richtigen Jagd der Erwachsenen teilnehmen durften, durch Vorübungen in die Jagdmethoden eingeführt werden, wofür den Persern u. a. die Paradeisoi (Wildparks) dienten. Hier erlernten sie an mageren, alten und hinkenden Tieren die Hetzjagd und das Töten des Wildes. Dies war also noch keine Jagd im freien Territorium mit all ihren Gefahren, sondern eine spielerische Einübung von Fähigkeiten, mit denen man später größere Kämpfe mit Tieren und, wenn nötig, mit Menschen bestehen konnte. Eine derartige Vermischung von Erziehung, Jagd und Krieg erhielt ihre soziologische Bedeutung dadurch, dass sie durch Xenophon und Platon zur programmatischen Erziehungsethik in Athen erhoben wurde, die „vorzügliche Bürger“ hervorbringen sollte. So wie Xenophon der Funktion der Jagd in der Erziehung des Prinzen Kyros einen erstrangigen Stellenwert zumisst, um ihn für seine zukünftigen Aufgaben und Pflichten im Staat auszurüsten, so möchte er generell die Jugend der Oberschicht erzogen sehen. Dass auch der Sport, insbesondere die Disziplinen Speerwurf und Waffenlauf, auf dieses Erziehungsziel ausgerichtet war, versteht sich von selbst, denn auch von ihm heißt es wiederholt, er erziehe zum Krieg. So lässt der Schriftsteller Lukian Solon auf die Frage des Anacharsis, warum die Athener ihre Jugendlichen Boxen, Pankration (Verschmelzung von Faust- und Ringkampf) und so viele andere Sportarten lehrten, antworten: „Denn wir machen alle diese WEIDWERK 3/2004 Vorbereitungen, Anacharsis, im Hinblick auf den Wettstreit, den Wettstreit in Waffen.“ Der sportliche Wettkampf diente also als Vorbereitung auf den kriegerischen Wettkampf. Wenn man einwenden will, dass Xenophon und Platon mit ihren Erziehungstendenzen nur für ihre Zeit, ab 400 v. Chr., eine gültige Aussage machen konnten, so widerlegt dies Xenophon selbst, wenn er im Kynegetikos sagt: „Auch unsere Voreltern haben eingesehen, dass ihr Glück gegen die Feinde darin (in der Ausübung der Jagd) seinen Grund habe und haben deshalb besonders Rücksicht auf die Jünglinge genommen ... denn sie sahen, dass von den meisten Vergnügungen der Jugend diese (die Jagd) allein das meiste Gute im Gefolge hatte. Sie machte sie nicht nur Maß haltend, sondern auch gerecht durch die in der Schule der Wirklichkeit gewonnene Bildung – und dass sie ihr Glück im Krieg solchen Männern verdankten, merkten sie wohl.“ Xenophon nennt als Beispiel für eine erfolgreiche Erziehung durch Jagd viele Heroen (Halbgötter der griechischen Mythologie), die durch den weisen Zentauren Chiron, das Urbild des Heldenerziehers, für ihr späteres Leben ausgerüstet wurden: „... denn die in ihrer Jugend, mit der Jagd beginnend, viele schöne Kenntnisse erwarben und in der Folge davon eine Höhe der Tugend erstiegen, deretwegen sie auch heute noch bewundert werden.“ – Nämlich weil sie die Schlechten bestraften, Ungeheuer überwältigten und griechische Städte vor den Barbaren retteten. Also die mythologischen Vorbilder erweisen auch zu Xenophons Zeit ihre idealisierende Kraft. Sie werden „von den Guten verehrt, von den Schlechten beneidet“, und der Sinn ihrer immer wiederholten Erwähnung liegt darin, die Lebenden anzuspornen, ihnen nachzueifern. Es wird jedem in Aussicht gestellt, die gleiche sittliche Höhe wie die genannten Heroen zu erreichen, wenn er nur den richtigen, weisen und gerechten Erzieher findet. Die Jagd wird hier also als ideales Mittel zur Schulung von Körper und Geist verstanden. Mit der Beherrschung der Jagd, die Tüchtigkeit und sittliches Verhalten voraussetzt, vermag sich der Mann auf eine hohe Stufe der „Vollkommenheit“ zuzubewegen. Sein ganzes Tun und Denken wird von der stoischen „Vernunft“ durchdrungen, die zugleich ein Beachten des naturgegebenen sittlichen Gesetzes einschließt. Damit wäre der Begriff der Ethik für den Jäger definiert. Vergessen wir aber nicht, dass die Jagd nur einen Teilaspekt des menschlichen Tuns darstellt. Sittliches Verhalten gilt für das ganze Spektrum des menschlichen Lebens. Die Jagd ist ein Weg, der auf dieses Ziel hinführt. Genauso sollte Jagd-Ethik heute ein Teil unserer Lebenshaltung sein. Sie ist nicht mehr Vorbereitung für heldenhafte Kriegsführung wie bei den alten Griechen, aber sie kann uns zu verantwortungsvoller Haltung der Natur und dem Mitmenschen gegenüber erziehen. Protokorinthische Weinkanne, Ende 7. Jh. v. Chr., mit Löwenjagd 17