Angst und »absolute« Musik

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Hanns-Werner Heister
Angst und »absolute« Musik
Schönberg, Brahms und andere
»Musik spricht in ihrer Sprache anscheinend bloß von musikalischen
Angelegenheiten, oder aber, wie die meisten Ästhetiker annehmen,
von Angelegenheiten der Gefühle und der Phantasie.« In Wahrheit
jedoch, so Schönberg weiter in Nr. 15 seiner Menschenrechte (1947),
ist Musik »die Sprache, in der ein Musiker, ohne es zu wissen, sich
preisgibt, indem er Gedanken formuliert, über die er selbst erschrecken
würde — wüßte er nicht, daß ja doch niemand herausfinden wird, was
er verbirgt, indem er es sagt.« (Schriften 1976, 144)
Trotz solcher Selbstberuhigung bohrt eine geheime Angst weiter:
»Aber eines Tages werden die Kindeskinder unserer Psychologen und
Psychoanalytiker die Sprache der Musik dechiffriert haben. Wehe
dann dem Unvorsichtigen, der sein Innerstes, sein Geheimstes sorg­
fältig verborgen dachte und nun zulassen muß, daß Unreine ihre eigene
Niedrigkeit hineinschmieren. Wehe dann Beethoven, Brahms, Schu­
mann und alle anderen bisher »Unknown«, wenn ihr in solche Hände
fallt; ihr, die ihr von dem Menschenrecht freier Meinungsäußerung
nur Gebrauch machtet, um eure Meinung zu verschweigen.«
Anders als beim Komponieren ist Schönberg hier — es erscheint
ihm dringlich — gegen blanke Wiederholungen nicht empfindlich. So
merkt er apropos »Unknown« an: »Vgl. The Unknown Brahms. Unter
diesem Titel versucht ein Autor, das Bild des Komponisten zu behan­
deln. Ist das Recht zu verschweigen nicht auch schutzwürdig?«
Unermüdlich bemüht sich Schönberg um theoretische Reflexion
seines Schaffens. Diese hat den Charakter einer Rechtfertigung —
zunächst des jeweiligen Werks, der Wendungen und Phasen, der Stile
und Gedanken. Oft aber scheint es, als bedürfe Schönberg grundsätz­
licher, fast zwanghaft, einer Rechtfertigung seiner Person und Existenz,
deren Bedeutung ja auch oft genug angefochten oder negiert wurde
(und wird). Paradox genug, wie er dabei immer wieder Verhüllung und
Entblößung miteinander verschränkt, von (anscheinend finsteren)
Geheimnissen raunt, geheimnisvolle Andeutungen macht, diese dann
aber zugleich zurücknimmt, darüber hinwegredet. Brahms kennt
diesen Drang zur theoretischen Legitimierung nicht, gibt ihm jeden­
falls nicht nach. Immerhin führt auch er in Briefen eine analoge Selbst­
darstellung ein: »Übrigens schreibe ich immer nur halbe Sätze, und es
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Hanns-Werner Heister
ist nötig, daß der Leser die andere Hälfte dazu denkt.« Oder Ver­
schwiegenes andeutend: »Es läuft bei mir alles in Gedankenstrichen
aus —«
Für Schönberg wie für Brahms schien dabei die »absolute« Musik
die feste Burg einer machtgeschützten und ohnmächtigen Innerlich­
keit, ein Rückzugsort vor zudringlicher und bedrängender Öffentlich­
keit. »Denn Musik ist darin wunderbar, daß man alles sagen kann, so
daß der Wissende alles versteht, und trotzdem hat man seine Geheim­
nisse, die, die man sich selbst nicht gesteht, nicht ausgeplaudert.«
(Schönberg 1912, 13)
Dabei definiert Schönberg »absolute Musik« ungewöhnlich und faßt
sie viel weiter als die übliche Bestimmung, die, im Anschluß an E.T.A.
Hoffmann, alles außer der »reinen« Instrumentalmusik ausschließt.
Schönberg akzentuiert die möglichst unvermittelte Beziehung zwischen
Unbewußtem und Musik — die er dezidiert als »Ausdruck« faßt,
insofern also einen gewissen Hang zur bürgerlicherseits verpönten
»Heteronomieästhetik« erkennen läßt: »Die natürliche Reaktion auf
Wagner, den Theatermusiker, hatte ein Aufblühen der sogenannten
absoluten Musik hervorgebracht. Zunächst in der Form des Liedes
und der Programm-Musik. Dann aber immer mehr als rein symphoni­
sche Musik, die nicht mehr Dienerin der Poesie sein wollte; die den
Umweg vermied, die unbewußten Empfindungen erst duch die Sprache
des Bewußtseins auszudrücken und diese Übersetzung zurückzuüber­
setzen in die Sprache des Unbewußten.« (Schönberg 1909, 161)
Auf dem Prinzip des Ausdrucks, ob des Textes oder des Selbsts,
besteht Schönberg auch lang nach der expressionistischen Epoche:
»Übrigens, wie vergewissert man sich, daß die Musik nichts ausdrückt
— oder vielmehr, daß sie nichts ausdrückt, was durch den Text hervor­
gerufen ist? Man kann seine Fingerabdrücke nicht daran hindern,
einen selbst auszudrücken. Allein die Handschrift enthüllt dem Gra­
phologen sehr viel.« (Schönberg 1949,152)
Ein Geständnis wie das eingangs zitierte, das freilich doch wieder
abstrakt-methodologisch bleibt, hat den Charakter einer unwillkürli­
chen Fehlleistung. Ganz bewußt, geradezu penetrant versichert und
proklamiert Schönberg auf der anderen Seite immer wieder, das Werk
sei Selbstausdruck seines Schöpfers. Damit ineins soll das innerste Ich
zugleich Repräsentant der Welt, Aller sein: »Kunst ist der Notschrei
jener, die an sich das Schicksal der Menschheit erleben. Die nicht mit
ihm sich abfinden, sondern sich mit ihm auseinandersetzen. Die nicht
stumpf den Motor ‘dunkle Mächte’ bedienen, sondern sich ins laufende
Rad stürzen. Die nicht die Augen abwenden, um sich vor Emotionen
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zu behüten, sondern sie aufreißen, um anzugehen, was angegangen
werden muß.« (Reich 1968, 80)
Hier wie auch sonst in theoretischen wie kompositorischen Äußerun­
gen besteht also Schönberg darauf, daß er aktiv sein Leben in die Hand
nehme. Und diese seine Widerstandshaltung gehört mit zu seiner
Größe.
Auf der anderen Seite betont er immer wieder das Zwanghafte,
Schicksalhafte, ja Triebhafte seines Komponierens und seiner Ent­
wicklung. Er beruft sich auf eine höhere Notwendigkeit und einen
hohem Auftrag — Schicksal, Gott, Vorsehung usw. So überliefert
Hanns Eisler eine Anekdote aus Schönbergs Militärdienstzeit während
des Ersten Weltkrieges. Gefragt, ob er der Schönberg sei, welcher,
antwortete er, keiner habe es sein wollen, aber einer, er nämlich, habe
es sein müssen.
Was genau jeweils gemußt wird und ausgedrückt werden soll, bleibt
in vielen Fällen ebenso unkonkret und unbestimmt wie das, was ver­
hüllt und chiffriert werden muß. Prinzipiell jedenfalls sind es Bezüge
zur Realität, zum empirischen Dasein, auch und gerade die zu Person
und Leben des Komponisten.
Gelegentlich allerdings legt Schönberg, hin- und hergerissen zwi­
schen dem Drang nach Mitteilung, Bekenntnis, ja Geständnis und dem
Bedürfnis nach Verschweigen, Verleugnen, Verschlüsseln, doch
Spuren — nur um sie in der Regel sogleich wieder zu verwischen. So
schreibt er in seinen Bemerkungen zu den vier Streichquartetten (wohl
1949) anläßlich des 3. Streichquartetts:
»Als kleiner Junge wurde ich von einem Bild einer Szene aus dem Märchen Das
G espensterschiff verfolgt, dessen Kapitän von der meuternden Mannschaft mit
dem Kopf an den Topmast genagelt worden war. (...) Unterbewußt mag es eine sehr
grausige Vorahnung gewesen sein, die mich dieses Werk zu schreiben veranlaßte,
denn so oft ich über diesen Satz nachdachte, kam mir jenes Bild in den Sinn«.
Die »Vorahnung« bei dem 1927 geschriebenen Werk dürfte sich auf den
Nazismus beziehen, gegen den Schönberg ja politisch wie komposito­
risch oft dezidiert Stellung bezog.
Im Hinblick auf Bild und Sujet schwächt er vorbeugend ab: »Ich bin
mir sicher, daß dies nicht das »Programm« des ersten Satzes (...) war.«
Und er lenkt ab, indem er bestreitet, daß das Sujet den Schlüssel für
die »Struktur« liefere — was an sich niemand annähme: »Vermutlich
würde ein Psychologe diese Geschichte als Sprungbrett für verfrühte
Schlüsse benutzen. Da sie aber nur den Gefühlshintergrund dieses
Satzes erläutert, gibt sie keinen Aufschluß über die Struktur.« (Schön­
berg 1949b, 424) Immerhin also aber doch über Teilmomente von
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Hanns-Werner Heister
Motivierung wie Gehalt. Überdies macht Schönberg selbst auf eine
obsessive, in sich mit Tonrepetitionen arbeitende Figur in StaccatoAchteln aufmerksam, »die fast immerzu in diesem ersten Satz
erscheint und die ein einendes Bindeglied für all die entfernt ver­
wandten Charaktere und Stimmungen abgeben könnte«.
Auch Brahms, zumal in schriftlichen Äußerungen zurückhaltender
und diskreter, gibt einige Male mindestens in Andeutungen solche
Beziehungen doch preis. So schreibt er am 12.9.1854 aus Düsseldorf an
seinen Freund Joseph Joachim:
»Morgen, den 13ten ist ihr Geburtstag; ich habe ihr einen langjährigen Wunsch
erfüllt, und das Quintett (Klavierquintett Es-Dur op.44) von Schumann zu vier
Händen arrangiert (...) Ich habe mich immer tiefer hinein versenkt, w ie in ein Paar
dunkelblauer Augen (so kömmt’s mir nämlich vor).«
Erst die Vermittlung durch die Reflexion im Werk des Freund-Rivalen
setzt dann, so scheint es, Brahms’ eigene kompositorische Objektivie­
rung seiner Liebesbeziehung frei. Er fährt fort: »Zu meinen Varia­
tionen (op.9) sind noch zwei neue gekommen, in der einen spricht
Klaral« (Hansen 1983, 37)
Nicht zuletzt mit Tonbuchstaben-Chiffren unter anderm nach Schu­
manns Vorbild (ABEGG, ASCH) dürfte Brahms häufiger mehr oder
minder versteckte Liebeserklärungen im Werk ausgesprochen haben;
das C-ASCH bietet dafür ebenso wie sein eigener Name hinreichend
musikalisches Motiv-Material.
Offenkundiger (wiewohl in der Regel nicht offener preisgegeben)
sind biographische Bezüge in der Textwahl: sie macht mit Gedanken,
Schlüssel- und Stichwörtem das Werk im Hinblick aufs Leben als Hin­
tergrund und Grundlage transparent. Bei den Keller-Vertonungen
Brahms’ hat A. Dümling viele und mehrdimensionale Zusammen­
hänge nachgewiesen. Im Zentrum steht die unerfüllte Liebessehnucht.
Nachdem finanzielle Gründe (oder besser Vorwände bzw. Rationali­
sierungen) als Hindernis für Ehe und Familiengründung wegfallen,
treten die psychischen um so deutlicher hervor: »Zu Frauen«, so A.
Dümling, »fühlten sie sich einerseits hingezogen, andererseits versetz­
te deren Nähe sie in Angstzustände. Schuld daran war nicht alleine ihr
zwergenhafter Wuchs, sondern auch eine von übermächtigen Müttern
dominierte Kindheit. (...) Frauen gegenüber verfielen später sowohl
Keller als auch Brahms entweder in eine schüchterne Kinderrolle oder
aber in eine Grobheit, die derb-zudringlich oder kühl-abweisend war.
Eine Ausgeglichenheit zwischen beiden Polen, eine Gleichberechti­
gung zwischen den Geschlechtern gab es für sie nicht; stets erwarteten
sie sich von Frauen die führende Rolle. (...) Zwischen körperlicher
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und geistiger Liebe gab es für beide einen unüberbrückbaren Gegen­
satz.« (Dümling 1986, 11)
Verdeckter, zurückgenommen in Skizzen und ins »Rein-Musikalische«, erscheint ein wesentliches Stück von Brahms’ Liebes-Problematik dann in den »Vier ernsten Gesängen« op. 121. Brahms schickt die
im Druck erschienenen Noten im Juli 1896 nach dem Tod C. Schu­
manns an deren Töchter Marie und Eugenie:
»Ich schrieb sie in der ersten Maiwoche: ähnliche Worte beschäftigen mich oft,
schlimmere Nachrichten von Ihrer Mutter meinte ich nicht erwarten zu müssen —
aber tief innen im Menschen spricht und treibt oft etwas, uns fast unbewußt, und
das mag wohl bisweilen als Gedicht oder Musik ertönen. Durchspielen können Sie
die Gesänge nicht, weil die Worte Ihnen jetzt zu ergreifend wären. Aber ich bitte,
sie als ganz eigentliches Totenopfer für Ihre geliebte Mutter anzusehen und hinzu­
legen.« (Litzmann 1902, 309)
Darüber hinaus aber ist das Werk das Totenopfer für eine weitere
geliebte Frau, die 1892 gestorbene Elisabet von Herzogenberg (ihr
Mann war auch Komponist). Der vierte der »Gesänge« war ursprüng­
lich als Teil einer auf sie bezogenen Symphonie-Kantate geplant. Text­
grundlage ist der 1. Korintherbrief (V.13) mit seiner Verherrlichung
der Liebe. In den Skizzen findet sich ein Übergang von Es-Dur nach
H-Dur und die Eintragung von Keller-Versen, u.a. »Nun in dieser
Frühlingszeit / Ist mein Herz ein klarer See.« (Eben diesen Tonart­
wechsel hatte Brahms bereits in dem Lied »Versunken« für den Über­
gang von Feme in Nähe, für die Versöhnung von Sinnlichem und
Geistigem, verwendet.) Das mit dem Text verknüpfte Melodiezitat, so
Max Kalbeck, hatte für Brahms »magische Kraft«. »Und diese Kraft
ging von dem Frauenbild aus, das im Quellgrund seiner Seele badete.
So unwiderstehlich war der Reiz des tiefverborgenen Zaubers, daß er
sich nicht enthalten konnte, die Worte Kellers dem musikalischen Zitat
beizufügen, obwohl er sie gar nicht brauchte. (...) Was er der
Lebenden niemals zugestand, bekannte er der Toten.« (Dümling 1986,
17) Dieses Zitat samt dem Wechsel von Es- nach H-Dur erscheint im
vierten der »Ernsten Gesänge« zu dem Bibeltext »wir sehen jetzt durch
einen Spiegel in einem dunklen Worte (...)« —• eine grandiose Ver­
schränkung von Verbergen und Enthüllen. (Dümling 1986, 17)
So gesehen wirken Bemerkungen von Brahms zu Gustav Ophüls,
der ihm Pfingsten 1896 nach Clara Schumanns Beerdigung begegnete,
weniger unverständlich: »Ich habe mir zu meinem Geburtstag ein paar
Lieder komponiert, es sind ganz gottlose Lieder, aber ihre Texte stehen
Gott sei Dank in der Bibel!« (Ophüls 1921, 19) Verständlicher auch
Brahms’ wohl doch emstgemeinte »Frage, ob etwa der öffentliche
Vortrag der bereits bei Simrock im Druck befindlichen Gesänge aus
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Harns-Werner Heister
religiösen Gründen untersagt werden könne«. (Ophüls 1921, 27) Cha­
rakteristisch schließlich wie der »derbe Schlag auf das Bein«, den der
nach seinem eigenen Vortrag der Gesänge zu Tränen gerührte alte
Brahms dem jungen Ophüls versetzt, die Ablenkung auf die Diskus­
sion und Erläuterung technischer Fragen: »Sie glauben gar nicht, wie
schwer es ist, diese nicht rhythmischen Bibeltexte zu komponieren!«
(Ophüls 1921, 28) Trotz der Verschiebung ins Technische ist freilich
deutlich, daß Brahms das Komponieren hier wohl vor allem aus
Gründen der Thematik und biographischen Motivierung »schwer«
gefallen ist.
Ansonsten scheint er, jedenfalls an der klanglich-sinnlichen Außen­
seite des Werks, oft einem fast stoizistischen Ideal der Unerschütterlichkeit zu folgen (objektiv gemischt und vermittelt mit schmerzlicher
Entsagung), das er Clara Schumann im Jahr nach dem Tod Robert
Schumanns predigt:
»Leidenschaften gehören nicht zum Menschen als etwas Natürliches. Sie sind
immer Ausnahme oder Auswüchse. Bei wem sie das Maß überschreiten, der muß
sich als Kranken betrachten (...). Ruhig in der Freude und ruhig im Schmerz und
Kummer ist der schöne, wahrhafte Mensch. Leidenschaften müssen bald ver­
gehen, oder man muß sie vertreiben.« (Hansen 1983, 81)
Auch und gerade die gebändigte Leidenschaft macht sich freilich
musikalisch bemerkbar — nicht zuletzt als politische, peinlich im
»Triumphlied« »auf den Sieg der deutschen Waffen« im 70er-Krieg;
mit bedeutenden Werken in antifaschistischer Grundhaltung dagegen
bei Schönberg.
Ein entscheidendes Mittel wie Ausdruck der musikalischen Trieb­
regulierung ist bei Brahms wie Schönberg und anderen das TechnischHandwerkliche, zumal die Verfahren der thematisch-motivischen
Arbeit samt Kontrapunkt und, so Schönbergs Terminus, »entwickeln­
der Variation«. Die hohe affektive Besetzung des Technischen beson­
ders bei Schönberg läßt vermuten, daß hier mehr gemeint ist als eine
bloß musikimmanente Gestaltung. Es geht nicht nur um eine inner­
musikalische Absicherung des Komponierens und des Komponierten,
sondern auch um eine nach außen. Zum einen beweisen handwerk­
liches Können und Solidität die Meisterschaft gegenüber der Zunft;
der »Akademiker« Brahms mit seinen historistischen Zügen und der
als Lehrer wie Theoretiker vorwiegend konservative Schönberg über­
decken so ihre Herkunft aus kleinen Verhältnissen —- Schönberg war
überdies in einem hohen Ausmaß Autodidakt. Zum anderen überdeckt
oder tilgt die »Arbeit im geistfahigen Material« (so ein Begriff Eduard
Hanslicks) die Spuren der Entstehung, die Wundmale des realen
Lebens, das Stoffliche in der Musik. Freilich distanziert sich Brahms
Angst und absolute Musik
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von Hanslick, dem Dogmatiker der »absoluten« Musik und späteren
Propagator seiner Musik, wenn er am 15.1.1856 an Clara Schumann
schreibt: »Hanslick ist auch mus. Schriftsteller. Sein Buch Vom musi­
kalisch Schönen (...) wollte ich lesen, fand aber gleich beim Durch­
sehen so viel Dummes, daß ich’s ließ.« (Hansen 1983, 70)
Gedeckt durch Konstruktion, teilweise sogar vermittelt durch deren
Radikalisierung, kommt dann der Ausdruck doch zu seinem Recht.
Das Unbewußte, als chaotisch erlebte Triebhafte, wird bedingt freige­
lassen, wobei dann das Technisch-Materiale selber, wie Schönbergs
Formel vom »Triebleben der Klänge« zeigt, geradezu erotisch aufge­
laden werden kann.
In seinem programmatischen Vortrag Brahms, der Fortschrittliche
analysiert Schönberg u.a. den dritten der »Ernsten Gesänge«. Dabei
hebt er, wie Brahms selber, Technisches hervor, vor allem die »außer­
ordentliche motivische Logik«, und entdeckt für die Schlüsselworte
»O Tod, wie bitter« als »Geheimnis« die Verkettung von Terzen.
Zugleich aber weist Schönberg, der sich dem Dogma der »absoluten«
Musik allenfalls in Teilbereichen seiner Ideologie unterwirft, darauf
hin, daß Brahms hier »bis zu den äußersten Grenzen des noch Ausdrückbaren vordringt«. Und, da bei ihm die Verdrängungen nur par­
tiell wirksam sind, bemerkt er an Brahms den »schützenden Wall von
Trockenheit«.
Bei Brahms setzen Tod und/oder Liebe, Nähe des Sterbens und Ent­
fernung des Lebens besonders nachdrücklich Hemmungen außer Kraft
und Energien frei, die das Werk auf die eigene Lebenswirklichkeit hin
durchlässiger machen. Während er, anders als Keller, sich mit »Ehre
statt Ehe« nur notgedrungen beschied (so A. Dümling), war Schönberg
zweimal verheiratet. Einer seiner entscheidenden kompositorischen
Durchbrüche, der zur »freien Atonalität«, ist eben mit einer tiefen
Lebenskrise im Zusammenhang mit dem Scheitern seiner ersten Ehe
verknüpft.
Seit Sommer 1907 verkehrte der Maler Richard Gerstl, der einzige
Wiener Fauvist, im Hause Schönberg, und Schönberg selbst erhielt für
seine Malweise einige Anregungen. Zwischen Gerstl und Mathilde
Schönberg entwickelte sich eine Liebesbeziehung; während eines
Urlaubs zu dritt in Gmunden im Sommer 1908 floh sie dann mit Gerstl
und ließ Schönberg samt den Kindern zurück. Erst gemeinsame
Freunde, vor allem Webern, bewogen sie zur Rückkehr.
Schönberg trug sich in dieser Zeit wohl mit Suizidgedanken. Wäh­
rend er aber die Krise im Komponieren bewältigte, brachte sich Gerstl,
am 4. November, wirklich um — was wahrscheinlich bei Schönberg
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Hanns-Wenter Heister
unter anderem auch Schuldgefühle erzeugte. In dieser Zeit arbeitete er
weiter am 2. Streichquartett wie an den 15 Liedern aus Stefan Georges
Buch der hängenden Gärten. In diesem Lieder-Zykius riskiert Schön­
berg den Durchbruch zur Atonalität, zur »Emanzipation der Disso­
nanz« und zum Verzicht auf Tonartbindung der Stücke. In einer pro­
grammatischen Erklärung anläßlich der Uraufführung 1910 schreibt er
dazu: »Mit den Liedern nach George ist es mir zum ersten Mal
gelungen, einem Ausdrucks- und Formideal nahezukommen, das mir
seit Jahren vorschwebt. Es zu verwirklichen, gebrach es mir bis dahin
an Kraft und Sicherheit. Nun ich aber diese Bahn endgültig betreten
habe, bin ich mir bewußt, alle Schranken einer vergangenen Ästhetik
durchbrochen zu haben.«
In seiner ausführlichen Darlegung der komplexen biographischen
wie kultur- und kompositionsgeschichtlichen Zusammenhänge weist
A. Dümling (Dümling 1981,194) daraufhin, »daß sich die Lieder 11-15,
die bei George nach der Peripetie liegen, auch musikalisch von den
Liedern des Frühjahrs, die noch vor der Peripetie lagen, unter­
scheiden, nämlich durch völlige Preisgabe tonaler Bezüge. Die Peri­
petie des Gedichtzyklus galt auch für Schönberg und sein Verhältnis
zur Tonalität. Parallel zum Zerbrechen der Liebe in den Liedern, zum
Hereinbrechen des Herbstes, vollzog sich gleichzeitig die Emanzipa­
tion der Dissonanz.« Sie vollzieht sich auch innerhalb des 2. Streich­
quartetts in fis-moll, dessen letzter (4.) Satz »Entrückung« auf Tonartvorzeichnung verzichtet.
Er wurde im Verlauf des August 1908 vollendet; am 11. Juli der
3. Satz, die »Litanei«, mit der bewegenden Schlußstrophe »töte
das sehnen, / schließe die wunde! / Nimm mir die liebe, / gib mir dein
glück!« Am 27. Juli vollendete Schönberg den 2. Satz, das Scherzo:
hier zitiert er beziehungsreich das Wienerlied »O du lieber Augustin /
alles ist hin« im Trio. Das »intervallische Autogrammsigel A-Es
gleich im ersten Takt als Zeichen der Identifikation«, so Frank
Schneider, »gründlich versteckt« schon im 1. Satz (Schneider 1985,
90), erscheint auch nebst anderen Buchstaben-Anspielungen am
Beginn des Trios.
In seiner bereits erwähnten Analyse der vier Streichquartette spricht
Schönberg apropos der Notenbeispiele mit den Textzeilen »Tief ist die
Trauer die mich umdüstert« und »Leih deine kühle, lösche die brände«
von »Begleitstimmen deren Zweck ganz und gar nicht harmonischer
Natur ist«, und S hrt, fast verräterisch, fort: »Ihre Funktion und Ab­
leitung wird vielleicht in der nahen Zukunft entdeckt werden, da
ihr Autor sie psychologisch tröstlich fand, als er sie schrieb.« Die
Angst und absolute Musik
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Verallgemeinerung des Individuellen, der Übergang ins Methodische,
wirkt verdeckend und ablenkend.
Zumal im Schlußsatz rettet sich Schönberg aus der realen Misere in
eine überschwängliche, wobei er das Georgesche »Ich fühle luft von
anderem planeten« ganz buchstäblich-naturalistisch deutet:
»Der vierte Satz, ‘Entrückung’, beginnt mit einer Einleitung, die die Abreise von
der Erde zu einem anderen Planeten ausmalt. Der visionäre Dichter hat hier
Empfindungen vorausgesagt, die vielleicht bald bestätigt werden. Die Loslösung
von der Erdanziehung — das Emporschweben durch Wolken in immer dünnere
Luft, das Vergessen aller Mühsal des Erdenlebens — all das wird in dieser Ein­
leitung zu schildern versucht.« (Schönberg 1949b, 421)
Eine freie, unbestimmte, »schwebende« Musik hatte Busoni in seinem
1907 veröffentlichten »Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst« als
Utopie anvisiert:
»So jung es ist, dieses Kind, eine strahlende Eigenschaft ist an ihm schon
erkennbar, die es vor allen seinen älteren Geschwistern auszeichnet. Und diese
wundersame Eigenschaft wollen die Gesetzgeber nicht sehen, weil ihre Gesetze
sonst über den Haufen geworfen würden. Das Kind — es schwebt! Es berührt nicht
die Erde mit seinen Füßen. Es ist nicht der Schwere unterworfen. Es ist fast un­
körperlich. Seine Materie ist durchsichtig. Es ist tönende Luft. Es ist fast die Natur
selbst. Es ist frei.« (Busoni 1907, 89)
Schönberg kommentierte in der zweiten, etwas veränderten Fassung
des »Entwurfs« von 1916: »Und nun sehe Busoni einmal dieses Flöten­
solo aus meinen Pierrot-lunaire-Melodramen an (...) ob diese Melodie
(...) nicht der göttlichen Freiheit des schwebenden Kindes mehr ent­
spricht als was dem Gefängnis seiner Tonreihen entspränge!« (Busoni
1974, 73)
Vor allem aber sah Schönberg Busonis Wunschträume in seiner
schwebenden Tonalität verwirklicht. Der Durchbrach dazu ist Voll­
streckung von »Tendenzen des Materials«, als solcher aber biogra­
phisch mit motiviert und vermittelt. Zurecht bezieht A. Dümling das
»Alles ist hin« zugleich auf die Tonalität wie auf Schönbergs Ehe.
Dieser selber nahm in der Harmonielehre (1911) eine analoge Verknüp­
fung vor, die ohne die biographischen Bezüge merkwürdig bis wider­
sinnig wirkt:
Dem »Formgefühl der Gegenwart (...) bleibt ein Stück auch faßlich, ohne daß die
Beziehung auf den Grandton fundamental behandelt (wird), es kann auch folgen,
wenn die Tonalität sozusagen schwebend erhalten wird.
(...) — der Vergleich mit der Unendlichkeit könnte kaum nähergerückt werden, als
durch eine schwebende, sozusagen unendliche Harmonie, durch eine, die nicht
Heimatschein und Reisepaß beständig mit sich führt, Ausgangsland und Reiseziel
sorgfältig nachweisend. Es ist ja recht nett von den Bürgern, daß sie gerne wissen
möchten, wo die Unendlichkeit anfängt und w ie sie aufhören wird. Und man kann
es ihnen verzeihen, daß sie einer Unendlichkeit, die sie nicht nachgemessen haben,
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Hanns-Wemer Heister
wenig Vertrauen entgegenbringen. A ber die Kunst, soll sie irgend etwas m it dem
Ewigen gemein haben, hat das Vakuum nicht zu scheuen.
Das Formgefühl der Alten verlangte das anders. Für sie schloß das Lustspiel mit
der Ehe, das Trauerspiel m it der Sühne oder der Vergeltung und das M usikstück im
gleichen Ton. Darum entsprang für sie aus der Wahl der Tonleiter die Verpflich­
tung, deren ersten Ton als Grundton zu behandeln, ihn als Alpha und Omega aller
Ereignisse darzustellen, als patriarchalischen Beherrscher des durch seine Macht
und seinen Willen abgegrenzten Gebiets: an den sichtbarsten Stellen stand sein
Wappen, insbesondere am Anfang und Ende.« (Harmonielehre 1966, 151. Hervor­
hebung v. H.-W.H.)
Und auch an anderer Stelle kommt er, im Text-Kontext der »Harmonie­
lehre« völlig unvermittelt und unmotiviert, eine »Verwerfung« (um
einen Begriff Harry Goldschmidts variativ anzuwenden), durchaus
sinnvoll aber im Kontext der Biographie, auf die Schuldfrage wie
obsessiv zurück:
»Man versteht es heute besser denn je, sich das Leben angenehm zu machen. Man
löst Probleme, um eine Unannehmlichkeit aus dem Wege zu räumen. Aber, wie
löst m an sie? Und daß man überhaupt meint, sie gelöst zu haben! Darin zeigt sich
am deutlichsten, was die Voraussetzung der Bequemlichkeit ist: die Oberflächlich­
keit. So ist es leicht, eine ‘Weltanschauung’ zu haben, wenn man nur das anschaut,
was angenehm ist, und das Übrige keines Blickes würdigt. Das Übrige, die Haupt­
sache nämlich. Das, woraus hervorgeht, daß diese Weltanschauungen ihren
Trägern zwar wie angemessen sitzen, aber daß die Motive, aus denen sie bestehen,
vor allem entspringen dem Bedürfnis, sich zu exkulpieren. D enn komischerweise:
die Menschen unserer Zeit, die neue Moralgesetze aufstellen (oder noch lieber alte
umstoßen), können m it der Schuld nicht leben! Aber der Komfort denkt nicht an
Selbstzucht, und so wird die Schuld abgewiesen oder zur Tugend erhoben. Worin
sich für den, der genau hinsieht, die Anerkennung der Schuld als Schuld aus­
drückt. D er Denker, der sucht jedoch, tut das Gegenteil. Er zeigt, daß es Probleme
gibt, und daß sie ungelöst sind. Wie Strindberg, daß ‘das Leben alles häßlich
macht’. Oder wie Maeterlinck, daß ‘drei Viertel unserer Brüder zum Elend ver­
dammt’ sind. Oder wie Weininger und alle anderen, die ernsthaft gedacht haben.«
(Harmonielehre 1966, 6. Hervorhebung H.-W.H.)
So finden sich Spuren des realen Lebens nicht nur im Werk, sondern
sogar in der Theorie. Die Lebenskrise, die ihrerseits sich auf dem Hin­
tergrund einer gesellschaftlichen Krise im Jahrzehnt vor dem Beginn
des Ersten Weltkrieges entwickelte, setzte mit ihren Affektstaus und
-ausbrüchen in Schönberg die Energie und den »Mut« frei, das zu rea­
lisieren, was objektiv in der Luft lag, oder, in seiner Terminologie, das
zu »können«, was er »mußte«. Das auslösende »Geheimnis« deutet er
musikalisch-textlich an und verbirgt es. Und nach dem Krisen-Jahrzehnt mit der freien Atonalität, in der viele der geglücktesten Werke
Schönbergs entstanden, folgt die rigorose Ordnung der »Komposition
mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen«. Aber auch sie hindert
dann Schönberg nicht daran, sich mit der Realität weiter auseinander­
zusetzen.
Angst und absolute Musik
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Marginalien
»Werte Freunde! Es ist nur, daß endlich einmal ein Blatt Papier hinkommt! Rosenfarb vor Scham und freundlich wie ein Engel müßte es aussehen! Aber leider, mein
Briefpapier so wenig wie mein Gesicht können so lieb und freundlich aussehen wie
beides bei Frau Elisabet. (...) Es war so schön bei Ihnen; ich empfinde es heute
noch wie eine angenehme Wärme und möchte zuschließen und zuknöpfen, daß sie
lange bleibt. Aber so Gutes macht und sagt sich besser auf Notenpapier; so möchte
ich diesen Zettel nur (wie meinen Arm beim Souper) aus schuldiger Rücksicht
meiner gütigen Wirtin gereicht haben. Dann suche ich die schönste Tonart und das
schönste Gedicht, um behaglich weiter zu schreiben.«
Johannes Brahms am 31.1.1877 an Heinrich und Elisabet von Herzogenberg
»Ein richtiges Gefühl darf sich nicht abhalten lassen, immer wieder von neuem ins
dunkle Reich des Unbewußten hinabzusteigen, um Inhalt und Form als Einheit her­
aufzubringen.«
Schönberg, Franz Liszts Werk und Wesen (1911)
»Ich bin sicher, daß sich zukünftige Musiktheoretiker auf neue Wege der For­
schung werden einstellen müssen. Musik ist die Emanation der Seele, und ihre
beherrschenden Kräfte sind die gleichen, die alle Manifestationen der Seele
beherrschen. Daher könnte es der Psychologie gelingen zu analysieren: warum
etwas auf etwas anderes folgt; warum etwas solche Folgen hat; warum dieses lang
und jenes kurz ist etc.«
Schönberg, Bemerkungen zu den vier Streichquartetten (1949)
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