Womit schreibt das Gehirn? Handschrift ist Lebensschrift. Was beim Schreiben im Kopf geschieht © Susanne Dorendorff, im März 2013, www.europhi.de Die Verschaltungsfreudigkeit der Kinderhirne kommt dem Zeitfenster „Kindergarten, Vorund Grundschule“ dem speziellen Prägungsprozess „Schreibenlernen und Alphabetisieren“ sehr entgegen und sollte von Anfang an intelligent und sensibel genutzt werden. Denn irgendwann schließt es sich wieder. Was hier versäumt wird, ist nur schwer nachzuholen. Deshalb wollen wir uns den Schreiblernprozess jetzt einmal ganz genau ansehen. Als erstes stellen wir fest: Die Augen werden beim Schreiben immer übersehen. Alle schauen auf die Hände, keiner auf die Augen. Ohne visuelle Begleitung ist Schreiben aber gar nicht möglich. Die Hände sind nur so wichtig, wie die Füße beim Laufen. Zwar kann man ohne Füße nicht laufen. Aber die Füße können nicht bestimmen wohin sie gehen sollen. Sie haben keine Befehlsgewalt, sie können sich weder selbst motivieren, noch können sie selbsttätig eingreifen. Genauso ist es mit den Händen. Hände sind die Marionetten des Gehirns. Sie bekommen ihren Bewegungsauftrag erst nachdem die Augen die entsprechenden Anregungen gegeben haben. „Die Augen sind das Fenster der Seele“ wusste schon Leonardo da Vinci. Jeder kann hineinschauen und seine Schlüsse ziehen. Aber die Augen schauen auch selbst in die Welt hinein und saugen alles auf, was sich im Blickfeld tummelt. Sichtbares und anscheinend Unsichtbares. serem Gehirn erzeugt werden. Es ist jedem überlassen, darin Geist und Seele oder chemisch-physikalische Vorgänge oder die Persönlichkeit des Menschen zu erkennen. Für das Schreibenlernen existiert zwar kein evolutionär gewachsenes spezifisches Hirnareal, wie für das Bewegen und Hören. Aber dafür ist in uns das Verlangen nach Selbstdarstellung angelegt. Das motiviert uns, dauerhafte und unveränderbare Zeichen entstehen zu lassen, die mit den eigenen Händen erzeugt werden. Das Schreibenlernen der Grundschüler ist in den Prozess des Alphabetisierens eingebunden und deshalb nicht zu vergleichen mit dem Einüben eines Handwerks oder mit Auto- oder Radfahrenlernen, Schwimmen- oder Kochenlernen. Schreiben geschieht nämlich nicht nur mit allen Sinnen, man gibt gleichzeitig auch noch sehr viel von sich preis. Schreibende lassen einen dauerhaften, authentischen Ausdruck zurück, der nicht korrigierbar ist. Das ist eine hochbrisante Situation. Pädagogen sollten ihr mit viel Fingerspitzengefühl begegnen. Schreibenlehren und -lernen ist, wie ich gleich erläutern werde, eine diffizile, anspruchsvolle Kopfarbeit mit vielen Beteiligten, die harmonieren müssen wie ein Orchester: das Stammhirn, das Zwischenhirn, das Limbische System, das Kleinhirn, das Großhirn, die Großhirnrinde. Die Erforschung des Gehirns, besonders seines inneren Aufbaus und seiner Funktionen brachte schon vor längerem die Erkenntnis, dass die Verbindungen der Nervenzellen im Gehirn unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. Der persönliche Ausdruck ist das Resultat körperlicher Gegebenheiten, die durch das Zusammenwirken von Nervenzellen in un- © Illustration: Susanne Dorendorff Das Stammhirn (Hirnstamm) steuert Herzfrequenz, Blutdruck, Atmung und alle lebenswichtigen Reflexe. Das Zwischenhirn beherbergt den Thalamus, den „Türöffner“ des Bewusstseins. Er entscheidet, welche Sinneseindrücke ins Bewusstsein eindringen dürfen und leitet sie an die Verteilerzentren weiter. Der Rest bleibt im Unbewussten hängen. Im Zwischenhirn ist der Hypothalamus ansässig, er koordiniert das Spannungsverhältnis zwischen Hormonen und Nervensystem. Das Limbische System liegt im inneren des Großhirns und wird auch Gefühlshirn genannt. Es ist mit einem sogenannten Belohnungszentrum versehen. Das Limbische System bewertet, ob etwas positiv, neutral oder negativ ist, wenn wir etwas denken, fühlen oder wahrnehmen. Die Informationen werden sofort an den Hirnstamm gesendet und lösen je nach Situation eine Reaktion aus. Das Kleinhirn (Cerebellum) koordiniert das Gleichgewicht und die Bewegungen und sorgt dafür, dass sie fließend (nicht: „flüssig“) ablaufen. Das Großhirn ist links für Sprache und Logik verantwortliche, rechts für Kreativität und den räumlichen Orientierungssinn. In der Großhirnrinde (Neocortex) sitzen unter anderem die Areale für Seh-, Sprech-, Lern- und Denkfähigkeit. Hier laufen alle Informationen der Sinnesorgane zusammen, werden sortiert und als Wahrnehmung im Gedächtnis eingelagert. Hier findet das eigentliche Denken statt. Dies alles - und noch mehr - ist an den Schreibbewegungen beteiligt, mündet in den Stift und fließt als Handschrift aufs Papier. Eine schlechte Schrift melden die Augen dem Gehirn als „schlechtes Gefühl“. Ist man guter Dinge und die Schrift schwingt wie ein Schmetterling, dann melden die Augennerven: „Die Welt ist schön!“ Stammhirn © Illustration: Susanne Dorendorff Genau hier kann man einschreiten und dafür sorgen, dass die Kinderaugen dem Gehirn Freude am Schreiben signalisieren. Der „optisch“ gute oder schlechte Eindruck einer Handschrift bezeichnet allerdings etwas, das nur schwer zu beschreiben ist. Er ist zwar immer deutlich sichtbar. Aber präzise zu definieren ist er nicht. Für die Bewertung der Handschrift kann es keinen allgemeingültigen Maßstab geben, weil jeder Mensch anders „spürt“. Bei ihrer Beurteilung muss daher vorsichtig und empathisch vorgegangen werden. Die Aufgabe der Lehrerinnen besteht darin, den Kindern zu einer Schreibtechnik zu verhelfen, die Ergebnisse zeitigt, vergleichbar dem Sprechen oder dem Verhalten. Eine klare, deutliche Ausdrucksweise ist das Ziel. Und dazu gehört die Handschrift. Ob eine Handschrift gefällt oder nicht, ist Geschmacksache. Beurteilen kann und darf das nur der Schreibende selbst. Denn es ist SEINE Handschrift.