Magister-/Master-/Diplomarbeit Zum Einfluss der musikalischen und musiktheoretischen Expertise auf individuelle Strategien der Erstellung vereinfachender Diagramme musikalischer Struktur. Mehrere musiktheoretische Ansätze beschreiben tonale Musik als hierarchisch strukturiert. Ob diese Beschreibungen der Weise entsprechen, in der Musikhörer musikalische Kompositionen kognitiv repräsentieren, wird von der Musikpsychologie seit Anfang der 1980er Jahre empirisch untersucht. Alle Studien arbeiteten mit Hörversuchen, in denen musikalische Originale und theoriebasierte Reduktionen dieser Originale präsentiert wurden. Zur Herstellung der Reduktionen wurde entweder die Schichtenlehre Heinrich Schenkers (Shifres 2007) oder die Generative Theory of Tonal Music (GTTM) von Fred Lerdahl und Ray Jackendoff (Bigand 1990, Dibben 1994) herangezogen (Für eine umfassende Literaturliste siehe Shifres 2007). Allerdings lassen die vorliegenden Studien mehrere Fragen offen: • Sowohl Schenkers Schichtenlehre als auch Lerdahl/Jackendoffs GTTM wurden experimentell bestätigt. Unklar ist aber nach wie vor, welche Theorie die kognitiven Repräsentationen hierarchischer Tonhöhenstrukturen besser beschreibt. Unklar ist zudem, ob kognitive Repräsentationen hierarchischer Tonhöhenstrukturen durch andere Beschreibungsweisen adäquater erfasst werden könnten. • Einige Studien differenzieren zwischen musikalischen Laien und Experten. Als Experten gelten für gewöhnlich Studierende eines musikbezogenen Faches. Das dichotome Laien-Experten-Schema erfasst allerdings die realen Unterschiede der musikalischen und musiktheoretischen Expertise nur unzureichend. • Hinzu kommen praktische Schwierigkeiten, denen jede hörexperimentelle Untersuchung der kognitiven Repräsentation hierarchischer Strukturen ausgesetzt ist: Da die meisten melodischen Parameter nicht unabhängig voneinander variiert werden können, ist es fraglich, ob eine hinreichend kontrollierte Variation von Hintergrund- und Vordergrundmerkmalen überhaupt durchführbar ist. Zudem stellt die auditive Präsentation einer Mittelgrund-Reduktion nach Schenker insofern vor Probleme, als tiefe Reduktionsschichten für sich genommen wenig Informationsgehalt haben, die gleichzeitige auditive Präsentation verschiedener Reduktionsschichten aber nicht möglich ist (siehe Dibben 1994). Vor diesem Hintergrund wird die eingeführte Forschungsfrage nach der kognitiven Realität hierarchischer Strukturen durch die Frage nach dem Einfluss der musikalischen und musiktheoretischen Expertise auf individuelle Strategien der Erstellung vereinfachender Diagramme musikalischer Struktur ersetzt. Zu ihrer Beantwortung soll eine explorative Studie durchgeführt werden. Als Probanden werden notenfeste Personen herangezogen, die sich in der Ausrichtung ihrer musikalischen Expertise unterscheiden: musikalisch literate Laien, ausübende Musiker, Komponisten, Dirigenten, Musikproduzenten, -theoretiker und wissenschaftler. In jeder Gruppe wird außerdem der Ausprägungsgrad der Expertise zweistufig variiert (z.B. Student–Dozent). Die individuellen musikalischen und musiktheoretischen Vorerfahrungen der Probanden werden über Fragebogen erfasst. Das Testverfahren basiert auf einem ProduktionsParadigma: Die Probanden erhalten eine mehrstimmige Originalkomposition und werden gebeten, in vertrauter Umgebung, ohne Zeitdruck und unter Zuhilfenahme ihrer Stimme bzw. eines Musikinstrumentes eine notenschriftliche Reduktion anzufertigen, von der sie glauben, dass sie die ästhetischen Eigenschaften des Originals bestmöglich konserviert. Für die Reduktionstiefe wird ein Korridor vorgegeben (minimale / maximale Anzahl der Noten). Die produzierten Notentexte werden von musiktheoretischen Experten in methodischer Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2003) ausgewertet. Da nicht die unmittelbare perzeptuelle Reaktion auf den Stimulus, sondern der »Endzustand eines Verstehensprozesses« (Lerdahl/Jackendoff 1983, 4) im Fokus der Untersuchung steht, kann und soll der Einfluss musiktheoretischen Vorwissens auf die Reduktionen nicht ausgeschlossen werden. Nach Möglichkeit zu minimieren sind allerdings – obwohl kaum zu erwarten – mechanische, ohne Bezug auf die auditive Wahrnehmung vorgenommene Anwendungen abstrakten Regelwissens. Es wird erwartet, dass sich unter den experimentell erstellten Reduktionen auch solche finden, die mit keiner der in der bisherigen Forschung verwendeten Theorien zu erstellen gewesen wären. Es wird zudem erwartet, dass sich aus der interpretativen Beschreibung dieser Reduktionen neue Einsichten in individuelle Weisen des Musikverstehens und ihren Zusammenhang mit der musikalischen und musiktheoretischen Expertise eröffnen. Eine Folgestudie soll prüfen, inwieweit die experimentell erstellten Reduktionen die kognitive Strukturierung ausschließlich auditiv wahrgenommener Musik abbilden. Hierzu sind die Reduktionen in Regelsysteme zu übersetzen, die als Grundlage für die Generation neuer Reduktionen dienen können. Die kognitive Realität dieser Reduktionen soll mit quantitativen Verfahren empirisch untersucht werden. Eine weitere Folgestudie stellt auf die Qualia der klingenden Reduktionen ab: Die produzierten Notentexte werden eingespielt. Die Einspielungen werden von Laienhörern angehört und offen beschrieben. Die auf diese Weise erzeugten Texte werden mit qualitativen Verfahren ausgewertet (Flick 2007). Auf diese Weise wird erkundet, inwieweit die verschiedenen Expertisegruppen zur Produktion von Reduktionen unterschiedlicher Wirkung neigen. Voraussetzungen: • Gute musiktheoretische Vorkenntnisse, insbesondere in den Bereichen Harmonik und Kontrapunkt sowie Rhythmik und Metrik • • Kenntnisse in den analytischen Methoden von Schenker und Lerdahl/Jackendoff Interesse an der Durchführung qualitativer empirischer Studien Literatur: Schenker, Heinrich (1956): Der Freie Satz, 2. Aufl., Wien: Universal Edition. Lerdahl, Fred / Ray Jackendoff (1983): A Generative Theory of Tonal Music, Cambridge: MIT Press. Bigand, Emmanuel (1990): »Abstraction of Two Forms of Underlying Structure in a Tonal Melody«, Psychology of Music 18/1, 45–59. Dibben, Nicola (1994): »The Cognitive Reality of Hierarchic Structure in Tonal and Atonal Music«, Music Perception 12/1, 1–25. Flick, Uwe (Hg.) (2007): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 5. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Mayring, Philipp (2003): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, 8. Aufl., Weinheim, Basel: Beltz. Shifres, Favio (2007): Beyond Cognitivism. Alternative Perspectives on the Communication of Musical Structure Through Performance, Ph.D. Diss., School of Education, Roehampton University, University of Surrey. Betreuung: Oliver Schwab-Felisch, FG Audiokommunikation, [email protected] Dr. Hans-Joachim Maempel, FG Audiokommunikation, [email protected]