„Wer Sorgen hat, hat auch Likör“ Suchtproblematik bei seelisch und geistig Behinderten Roman Zakhalev, Klinikum Wahrendorff Fachtagung 15.05.14. Substanzabhängigkeit und… • • • • • • …andere Abhängigkeit …Komplikationen der Abhängigkeit …körperliche Erkrankungen …psychische Erkrankungen …geistige Behinderung …Persönlichkeitsstörung Krankheitsbild Sucht Völlig autonomes Geschehen, das auf die unterschiedlichen Störungen „aufgepfropft“ wird? EntwicklungsStörung ? Angststörung Sucht Körperlich bedingt ? Frühe Störung ? Persönlich keitsstörung Affektive Störung Psychose Was behandeln wir? Doppeldiagnosen und Komorbidität • Der Begriff „Doppeldiagnose“ bezeichnet einen Spezialfall von „Komorbidität“ und meint das gemeinsame Auftreten einer psychischen Störung und einer Störung durch Substanzkonsum innerhalb eines Jahres (gebräuchlichste Definition). • Es handelt sich um eine Diagnose nach den Klassifikationssystemen psychischer Störungen ICD-10 und DSM-IV und nicht einfach um einzelne Symptome oder akzentuierte Persönlichkeitsmerkmale • Beide Störungen bestehen an sich unabhängig voneinander, treten aber gleichzeitig oder in nahem Zusammenhang auf • Beide Erkrankungen müssen behandelt werden „Was war früher, Huhn oder Ei?“ Psychische Erkrankung und Abhängigkeit. Persönlichkeitsstörung (antisozial, besonders Männer) • Alkohol: 74 %) • Drogen: 42 % Angststörungen, besonders soziale Phobie • Alkohol: 6 – 20% affektive Störungen • Alkohol: 22 % • Drogen: 19 % • Major Depression 10-28% • Dysthymie 11-30% • Bipolare Störung 45-71% Schizophrenie • allgemein für Substanzmissbrauch 15 - 69% • speziell für Alkohol: 34 % (LZP 10 bis 40% ) • Drogen: 28 %, meist Cannabis, meist multipler Gebrauch • Risiko für Abhängigkeit ist 4,6-fach höher als in der Allgemeinbevölkerung Konzepte und Hypothesen • • • - Konzept der Substanzinduzierung „Komplikationen“ des Abhängigkeitssyndroms (F1x.3,4,5) Somatische Begleit- und Folgekrankheiten „Psychoseinduktion“/Intoxikationspsychosen (z.B. bei Cannabis, Halluzinogene und Stimulanzien) Selbstmedikationshypothese/Affektregulationshypothese: „Behandlung“ psychotischer Symptome oder „primärer“ depressiver oder schizophreniformer Störungen, Verringerung von Dysphorie und Angst durch Substanzkonsum Supersensitivitätsmodell (Vulnerabilität-Stress-Modell) Suchtmittelkonsum als Stressor oder Risikofaktor für Psychosemanifestation Gemeinsame Ätiologie (Dysfunktion des zentralen dopaminergen Systems) Konsum und Psychische Erkrankung Cannabiskonsumenten: Amphetaminkonsumenten: • Angsterkrankungen: 28 % • Depressionen: 26 % • Persönlichkeitsstörungen – Antisozial: 18 % • Aufmerksamkeits-DefizitHyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) • Schizophrenie: Risiko bis zu 6-mal höher • Schizophrenie bis zu 25 % • Induzierte Psychosen • Bipolar affektive Störungen • Antisoziale Persönlichkeitsstörung • ADHS Selbstmedikation bei psychischen Problemen Schizophrenie: Verbesserung von negative Symptomatik - THC - Nikotin - Alkohol Angst, Depression: - Alkohol -Heroin -Benzodiazepine ADHS: -THC Vulnerabilitäts-Hypothese • Substanzmissbrauch ist ein Risikofaktor für den (frühen) Ausbruch von Schizophrenie, ohne ein direkter Auslöser für diese zu sein [Sevy et al. 2001] • Ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der Manifestation von psychotischen Zeichen und Drogenkonsum besteht beim Konsum von Amphetaminen, LSD und Cannabis [Holtmann et al. 2002] Suchtentstehung Psyche ist im Bedürfniszustand Stimulation des striatalen Systems durch die “passende” Droge Kontaktprobleme / Einsamkeit Selbstkrise / Selbstwertkrise Steigerung der Erlebnisfähigkeit Frustrationen / Ängste / Zwänge Lust auf Rausch / Extremes erleben Psychische Erkrankungen / Störungen … Stark lustbetonte Zustände effektives „Lernen“ „Das lernt immer tut nichts lieber und kann sowieso nichts anderes“ [Spitzer 2003] Depressivität, Angst und Alkohol • Etwa 2/3 aller Alkoholabhängigen zeigen vor Ausbruch ihrer Erkrankung Störungen der Emotionalität wie: Depressivität, Angst oder Hypomanie mit der Folge der „Selbstmedikation“ und der „Erlöserwirkung“ der Droge mit gelernter Wirkungserwartung • Stressreaktionen unter Alkohol sind gedämpft – spezifische Erwartungen an die Alkoholwirkung (Phobien, Erwartungsängste usw.) • Alkohol steigert langfristig Angsterleben –kurzfristige angstlösende Effekte- langfristige angststeigernde Effekte • Neurobiologische Prozesse während Panikzuständen und Entzugsgeschehen sind ähnlich. • „Abstinenz-Phobie“ “Basics” zur Doppeldiagnose Schizophrenie und Sucht • Die Lebenszeit-Komorbidität schizophrener Patienten für Drogenmissbrauch beträgt: 47% [Regier et al. 1992, Krausz et al. 1998] • Bei Patienten aus psychiatrischen Kliniken und komplementären Einrichtungen liegen die Prävalenzraten mit bis zu 70% noch höher[Hubbard & Marti 2001] • Patienten mit schizophrener Psychose haben ein 8xhöheres Risiko zur Entwicklung eine Drogenabusus als Gesunde [Boyd et al. 1986, Krausz & Haasen 1999] • Auch bei Medikamenten-Compliance führt ein Drogenabusus zu einem schnelleren Rezidiv (Ø 10 Monaten vs. Ø 37 Monaten) • Bei Medikamenten-Noncompliance und fortgesetztem Drogenabusus findet ein Rezidiv nach Ø 5 Monaten statt (bei MedikamentenNoncompliance ohne Drogenabusus Ø 10 Monate) Schizophrene Patienten mit Substanzkonsum haben im Vergleich zu Patienten ohne Substanzkonsum: Niedrigerer sozioökonomischer Status • Reduzierte psychosoziale Funktionen • Höhere Rehospitalisationsrate • Höheres Suizidrisiko • Erhöhte Kriminalität • Höhere Rückfallrate • Geringere Behandlungseinbindung • Höhere Rate an HIV-Infektionen • Eine höhere Belastung der Angehörigen • Höheres Maß an Aggressivität • Persönlichkeitsstörung und Alkohol Disorder Alcohol Dependence Antisozial 7.1 x Vermeidend 3.8 x Dependent 6.1 x Histrionisch 7.5 x Anankastisch 2.2 x Paranoid 4.6 x Schizoid 2.9 x NIAAA National Epidemiologic Survey on Alcohol and Rel ated Conditions, 2003. Borderline-Persönlichkeitstörung • Mit 2,7% ist die Prävalenz von Borderline PS in der erwachsenen Bevölkerung hoch • Lebenszeitprävalenz für Angst- und affektive Störungen liegt bei 85% • 78% der Betroffenen entwickeln während ihres Leben eine substanzbezogene Störung bis zu einer Abhängigkeit Abhängige Patienten mit Persönlichkeitsstörungen • • • • • • • • Erhöhte psychopathologische Belastung Frühere Erstmanifestation Schwerere Abhängigkeitssymptomatik Niedrigeres soziales Funktionsniveau Polyvalenter Konsum Erhöhtes suizidales Verhalten Kürzere Abstinenzphasen und häufigere Rückfälle Häufigere Therapieabbrüche Suchtmittel und geistige Behinderung • Bereits ohne eine zusätzliche Sucht- oder Missbrauchsproblematik ist die Prävalenz psychischer Störungen bei Menschen mit einer geistigen Behinderung gegenüber der „Normalpopulation“ um das 3- bis 4-fache erhöht (Dilling et al., 2000). • Menschen mit Intelligenzdefiziten reagieren gegenüber Rauschmitteln oft vulnerabler als Menschen ohne ID. • Sie haben größere Probleme, mit Rausch, Intoxikationsfolgen und Craving umzugehen und können ihr Verhalten nicht ohne Schwierigkeiten an langfristigen Konsequenzen orientieren. Wie häufig wird konsumiert? • Repräsentative Vollerhebung in allen Wohneinrichtungen der Behinderten in Sachsen-Anhalt: 6,7% Menschen mit geistiger Behinderung sind „alkoholgefährdet “, 4,2% „alkoholabhängig“ • Studie von DGSGB: Befragung von 2560 Bewohner von betreuten Wohneinrichtungen : – Illegale Suchtmittel spielen keine oder eine sehr untergeordnete Rolle. – Bei legalen Suchtmitteln waren Nikotin und Alkohol die zentralen Probleme. – Problematisch: „Kaffee-Sucht“, „Cola-Sucht“, „Ess-Sucht“, „ FernsehSucht“ Betreuung von Bewohnern mit Suchtproblematik • Die „klassische“ Suchthilfe hat häufig keinen Zugang zu dieser Art von Klienten. • Zugangsbarriere: Wenn wegen des Null-Toleranz-Prinzips die Regeln Substanzkonsum völlig verbieten, wird es für einen Klienten schwierig zuzugeben, dass er ein Problem mit dem Substanzgebrauch hat. Dies kann zu einer ernstzunehmenden Verzögerung der Hilfe führen. • Suchtmittel als „falsche Hilfe“ bei Diskriminierung, Stigmatisierung, eingeschränkter Kommunikation, mangelnder Integration, eingeschränkter Selbstbestimmung Es sollte genau spezifiziert werden: • Schadenminimierung vs. „Entscheidungsfreiheit“ • Welche Konsumfolgen können nicht mehr toleriert werden bzw. sind einzugrenzen? • Rausch: Aggression, Suizidalität, Selbstverletzung • Rückfall als Krise, Ausstieg aus dem „Teufelskreis“ • Verwahrlosung und sozialer Rückzug: Begleitung vs. Konfrontation • Gruppendynamik: Gruppenschutz vs. Einzelbetreuung (Dealerei, Illegale Drogen, Beschaffung) • Konsumkontrollen sind alternativlos, wenn es um eine verlässliche und „objektive“ Einschätzung des tatsächlichen Substanzkonsums geht Behandlung komorbider Störungen I • Etablierung eines tragfähigen Wohn- und Lebenskonzepts • Wertschätzende Kommunikation aufbauen • Suchtbedingte und komorbide Störungen sind gleichermaßen zu berücksichtigen • Vermeidung von Überforderung durch Konfrontation, Ansprüche an hohe Eigenverantwortung und Selbstmotivation (cave: kognitive Defizite) • Integrativer Ansatz (ein Setting, ein Therapeutenteam, angemessene Interventionen für beide Störungen) Behandlung komorbider Störungen II • In einem personenzentrierten Ansatz für chonifizierte Patienten stehen motivierende Interventionen im Vordergrund. • Psychoedukative Verfahren (Einsicht und Therapieverständnis) • Cave: Einsatz von Medikamenten (Abhängigkeit) • Konsumkontrolle ist deswegen Ziel und nicht Voraussetzung des Einstiegs in die Hilfeplanung. • Die Qualität eines Hilfesystems misst sich daran, wie weit es in der Lage ist, den schwierigsten Patienten ein tragfähiges Integrationsangebot zu machen. Warum haben Menschen mit Abhängigkeitsproblemen von psychotropen Substanzen so große Schwierigkeiten, sich zu ändern? Ohne die Substanz drohen: Körperliche Probleme: Psychische Probleme • Suchtverlangen, -hunger (craving) • Entzugssymptome • Dekompensationssymptome (keine Konzentration, kein Schlaf, keine Entspannung) • Schmerzen • Angst • Gedankenfixierung • Unruhe • (Selbst-) Sicherheits-Verlust • Schlaflösigkeit Suchtverhalten als Lösungsstrategie verstehen • Sucht als Ressource Sucht als (falsche) Lösungsstrategie • Alternative Bewältigungsmöglichkeiten finden • Es braucht realistische, überschaubare Ziele: Schadensbegrenzung, Stabilisierung, befriedigende Lebensqualität und Abstinenz • Chronischer Verlauf, die Behandlung verläuft häufig diskontinuierlich und ist von wiederholten Krisen, Rückfällen und Abbrüchen geprägt. Was bedeutet das Problemfeld „Doppeldiagnose“? Bedeutet für den Patienten: – doppelt „gestört“, doppeltes Leiden – doppelte Verleugnung Bedeutet für den Therapeuten: – Doppeldiagnostik – doppelte Kompetenz Bedeutet für die Gesellschaft: – Doppelung der Versorgungssysteme ? – doppeltes Stigma? NICHT VERGESSEN! • Abhängigkeit ist eine Krankheit, wie z.B. Diabetes mellitus • Und Abstinenz ist auch kein 6er im Lotto Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!