Wittgenstein über „Gedankenexperimente“

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Wittgenstein ber „Gedankenexperimente“
Gedankenexperimente in der neueren analytischen Philosophie
und bei Wittgenstein
Wolfgang Kienzler, Jena
Abstract
Some essential features of the notion of “thought experiment” can be highlighted
by contrasting examples from Wittgenstein and Putnam. Putnam’s famous examples (twin earth, brain in a vat) invite us to imagine that our experience could be
entirely different (“unreal”) while seeming to be entirely the same (“same same,
but different”), thus following along more traditional, partly Kantian lines. Wittgenstein’s examples, by contrast, typically imagine some specific features of our
actual way of experience (or of human behaviour) to change drastically (chairs
vanishing and becoming visible again, a person having no brain in his skull, visible “pain spots”). While Putnam epistemologically asks: Could it be true that our
experience was of such a sort? Wittgenstein inquires what we might say in the
face of such remote possibilities. Furthermore Wittgenstein is very explicit that
his examples are not experiments but rather grammatical variations (and thus
he is rejecting any unqualified quasi-empirical talk of “thought experiments”),
while Putnam seems to contend that his scenarios actually are in some rather
vague and general way “experimental”. Wittgenstein’s approach could therefore
be used to bring the methodological status of many “thought experiments” in
contemporary analytic philosophy into sharper focus.
I. Einleitung
Fiktionen haben, wie wohlbekannt, einen Platz in unsern Betrachtungen.
Aber es sind alles materielle, behavioristische, Fiktionen; Fiktionen, die sich
ganz auf einer Bhne darstellen ließen. (Ms 117, 264)
Ein zentrales Thema der neueren Literatur ber Gedankenexperimente in
der Philosophie ist die Schwierigkeit, Gedankenexperimente als eine erfolgreiche philosophische Methode zu erklren und von anderen Methoden abzugrenzen. Deutungen als wirkliche, empirische Experimente
wirken ebensowenig berzeugend wie platonisierende Auffassungen von
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Erkenntnis aus reinem Denken.1 Diese Schwierigkeit ist nicht zufllig,
sondern beruht auf einer grundlegenden begrifflichen Unklarheit, die die
gesamte Diskussion durchzieht. Zum einen wird philosophische Erkenntnis hufig ohne weiteres mit der Gewinnung „neuer“ Information,
neuen Wissens gleichgesetzt;2 dies verkennt jedoch den grundstzlich
erluternden Charakter der Philosophie.3 Zweitens gehen die Untersuchungen in aller Regel von der Unterstellung aus, es gebe in der Philosophie tatschlich durchschlagend erfolgreiche und insofern definitiv
erkenntniserweiternde Gedankenexperimente. Genauer besehen gibt es in
der neueren analytischen Literatur jedoch kein einziges allgemein als
erfolgreich anerkanntes Gedankenexperiment; ihr in gewissen Grenzen
unbestreitbarer Erfolg liegt gerade nicht darin, dass etwa Putnams
„Zwillingserde“ irgendeinen philosophischen Streit entschieden htte,
sondern darin, dass Putnam dadurch zu einer Vielzahl neuer Streitfragen
angeregt hat.4 Der Erfolg liegt also eher im Anregungspotential, d. h.
darin, Diskussionen zu erçffnen, nicht in der Kraft, Entscheidungen
herbeizufhren und Diskussionen zu beenden. Darin unterscheiden sich
philosophische Gedankenexperimente grundlegend von einigen der
klassischen Gedankenexperimente in der Geschichte der Physik, die zu
definitiven Klrungen gefhrt haben.5 Als „Gedankenexperiment“ werden zudem teilweise ganz unterschiedliche Vorgehensweisen bezeichnet,
die jedoch in zwei Hauptgruppen eingeteilt werden kçnnen.6
In einem positiven, konstruktiven Sinn kann man darunter die detaillierte Beschreibung spezifischer Sprachspiele oder sprachlich-begriff1
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Vgl. etwa die berblicke bei Gooding 1998 und Gendler 2003. Einen davon
abweichenden Vorschlag, Gedankenexperimente als Methode der Philosophie,
die „das Mçgliche und das Vorstellbare“ untersucht, zu charakterisieren bietet
Fuhrmann 2001. Die Allgemeinheit seiner berlegungen, die er selbst „metaphysisch“ nennt ( 343), verbindet Fuhrmann mit Putnam (s.u.).
So bei Gendler 2003, 392 unter Bezug auf Kuhn 1977, 328.
Dies habe ich in Kienzler 2005a erlutert.
Vgl. etwa die Twin Earth Chronicles (Pessin/Goldberg 1996) und Mller 2003,
der allerdings Putnams Gedankenexperiment zu einem „wasserdichten, apriorischen Beweis“ ausgearbeitet hat, und der „eine kleine philosophiegeschichtliche
[gemeint ist wohl „philosophische“, W.K.] Sensation“ dadurch bieten will, dass er
beweist, „dass das gesamte Bild der Welt, das wir uns zurechtgelegt haben, nicht
aus einem teuflisch perfekten Simulationscomputer stammen kann“ (Mller
2003, Bd. 1, XI).
Vgl. dazu Kienzler 2005.
Hier soll keine erschçpfende Einteilung vorgestellt werden, sondern es geht allein
um die Herausarbeitung einiger grundlegender Unterscheidungen.
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licher Verhltnisse und Institutionen verstehen. Solche Flle kommen
etwa bei Wittgenstein hufig vor – es gibt jedoch keine starken Grnde,
hier berhaupt von „Gedankenexperiment“ in einem anderen als einem
sehr lockeren, unterminologischen Sinn zu sprechen.7
Insbesondere in der neueren analytischen Philosophie werden als
„Gedankenexperimente“ Vorgehensweisen verstanden, die nher besehen
einen sehr problematischen, begrifflich unklaren Status aufweisen. Dieser
entspricht der Zusammensetzung des Wortes („Gedanken-Experiment“)
und schwankt zwischen empirisch-aposteriorischen und logisch-apriorischen Elementen bzw. Zgen. Dieses Schwanken rhrt vor allem daher,
dass man in der analytischen Philosophie einerseits die Nhe zu den
„exakten“ Naturwissenschaften sucht und zugleich andererseits doch
begriffliche Untersuchungen anstellt, die auf argumentative Beweise und
Schlssigkeit, nicht auf empirische Besttigung abzielen. Dieses
Schwanken (oder Schillern, um einen Ausdruck Freges zu benutzen, der
die Gleichzeitigkeit beider Gesichtspunkte noch mehr betont) hat allerdings zur Folge, dass letztlich keine berzeugenden und dauerhaften
Resultate zu erwarten sind;8 und auch, dass eine przise methodische
Bestimmung nicht einfach besonders schwierig, sondern genau genommen unmçglich und hoffnungslos ist, weil es sich gar nicht um eine
einheitliche Methode handelt. Um diese weitreichende These zu verdeutlichen und zu belegen gliedert sich das Folgende in drei Teile: 1)
Eine Analyse typischer Gedankenexperimente innerhalb der neueren
analytischen Philosophie; 2) eine Analyse der „Gedankenexperimente“
bei Wittgenstein mit Herausarbeitung der entscheidenden begrifflichen
Unterschiede zum ersten Fall; und 3) eine Erçrterung der Ausfhrungen
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Die Analogie zu einem Experiment besteht hier nur darin, dass man eine nicht
bereits bestehende, also fiktive oder konstruierte, mehr oder weniger scharf abgegrenzte Situation beschreibt und kommentiert. Der fr Experimente im prgnanten Sinn konstitutive Zug, dass man spezifische Reaktionen (der Natur)
provozieren mçchte, fehlt hier vçllig.
Die Situation hat in dieser Hinsicht eine gewisse hnlichkeit zur Situation der
Metaphysik, wie sie Kant in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft beschreibt,
und die Kant auf das Schwanken zwischen dem Bezug auf Erscheinungen und
auf die Dinge an sich zurckfhrt. Die Mçglichkeit, dass man ein solches
Schillern gerade beabsichtigt und als philosophisches Ideal entweder anstrebt
oder als unvermeidbar ins Zentrum der Betrachtung stellt, sei hier wenigstens
erwhnt; sie widerspricht jedoch grundstzlich der Selbsteinschtzung sowohl
Wittgensteins wie der analytischen Philosophie (man vgl. aber einige Debatten
um die Grundlagen der Quantenphysik und Autoren wie Heidegger und Derrida).
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Wittgensteins zum Ausdruck „Gedankenexperiment“. Diese zeigt auf,
dass Wittgenstein auf ganz hnliche Probleme aufmerksam macht, wie sie
im Umkreis der Gedankenexperimente der analytischen Philosophie zu
finden sind. Als Ergebnis wird sich herausstellen, dass seit seiner Prgung
durch Ernst Mach der Ausdruck „Gedankenexperiment“ von hartnckigen begrifflichen Unklarheiten begleitet ist, die in enger Beziehung zur
Frage nach der Natur der Philosophie stehen.9
II. Gedankenexperimente in der analytischen
Gegenwartsphilosophie
1. In den letzten Jahren und Jahrzehnten ist besonders in der analytischen
Philosophie verstrkt von Gedankenexperimenten die Rede. Diese Rede
greift einen lteren, etablierten Sprachgebrauch aus der Grundlagendiskussion der Naturwissenschaften, insbesondere der modernen Physik,
auf.10 Im Folgenden untersuche ich den bestehenden Sprachgebrauch und
versuche eine Analyse des damit einhergehenden begrifflichen Instrumentariums, dies hat mit einer Analyse des Wortes, etwa aus seinen Bestandteilen, zunchst nichts zu tun.
2. Ein inzwischen schon klassisches Beispiel, das viel zum Durchbruch dieser Methode oder wenigstens Redeweise beigetragen hat, ist
Putnams „Gehirn im Tank“ von 1981, ein noch populrerer (weil anschaulicherer und gruseligerer) Nachfolger seiner „Zwillingserde“11 aus
9 Der Gesichtspunkt, dass Gedankenexperimente allein streng genommen nur
Szenen oder Beispiele darstellen und fr sich genommen keine beweisende Kraft
haben kçnnen, schon weil sie keine beweisende Struktur haben, sei hier nur
erwhnt, kann aber nicht weiter verfolgt werden.
10 Diesen lteren Gebrauch habe ich in Kienzler 2005 begrifflich zu charakterisieren
versucht. Die Verbindung zum hier untersuchten Sprachgebrauch ist in vielem
eher locker, so dass eine eigenstndige Analyse angebracht ist.
11 Das „Gehirn im Tank“-Beispiel beseitigt eine zentrale Schwche der „Zwillingserde“, indem wir uns dort vorstellen sollen, dass Wasser die vçllig abweichende chemische Formel XYZ haben soll, ohne dass erlutert wird, welche
Konsequenzen dies hat: Andere chemische Formeln fhren ja offenbar zwangslufig zu anderen chemischen Eigenschaften, etwa zu anderen Produkten bei der
Analyse. Putnam setzt hier eine vçllig unplausible atomistische Bedeutungstheorie voraus; dieser Umstand wird nur durch die Vagheit verdeckt, dass er eben
gar keine chemische Formel, sondern ein unbestimmtes XYZ schreibt bzw. dass
er uns in ein vorchemisches Zeitalter versetzt, in dem „alles gleich ist“: jede
andere, konkrete chemische Formel wrde die begriffliche Inkonsistenz sofort
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The Meaning of ,Meaning‘ von 1975. Darin entwirft Putnam eine fiktive
Situation, in der wir uns vorstellen sollen, ein nicht genannter Wissenschaftler prpariere menschliche Gehirne in einer Nhrlçsung dergestalt,
dass diesen Gehirnen vorgegaukelt, d. h. simuliert wird, sie fhrten als
vollstndige Menschen ein ganz gewçhnliches Leben auf der Erde. Anschließend wirft Putnam die Frage auf, ob wir sicher sind, dass wir selbst
keine solchen Gehirne im Tank sind, oder genauer, er fhrt Grnde dafr
an, warum wir es nicht sind bzw. nicht sein kçnnen. Der Gesamtzusammenhang der Erçrterung besteht darin, dass Putnam allgemeine
Probleme der Wortbedeutung bzw. der Referenz untersucht. Mit Locke
gesprochen geht es ihm um die Frage, ob sich unsere Wçrter auf unsere
Ideen oder auf die Dinge selbst beziehen; aber diese theoretischen Absichten gehçren nicht zur Substanz des Gedankenexperiments.
3. Im Weiteren soll nun nicht die Schlssigkeit und berzeugungskraft von Putnams Erçrterung diskutiert werden (die Literatur dazu ist
sehr umfangreich), sondern es geht um den Status solcher „Gedankenexperimente“. Als Gedankenexperiment im engeren Sinn ist die Schilderung der Situation selbst zu betrachten, zusammen mit der Aufforderung, sich selbst an die Stelle eines solchen Gehirns zu setzen.12 Diese
erkennen lassen. Diese Inkonsistenz ist beim „Gehirn im Tank“ beseitigt, wir
haben also keine solche Lcke innerhalb der Beschreibung der Erfahrungswelt
mehr; es ist also nicht „alles genau gleich, nur eine isolierte Einzelheit (die wir gar
nicht wahrnehmen kçnnen) ist ganz anders“, sondern „es ist wirklich alles
vollkommen gleich, aber vielleicht ist in Wirklichkeit alles vçllig anders“. Damit
ist aber zugleich die letzte und einzige Verbindung zur Empirie beseitigt und
Putnam spricht jetzt nicht von der Struktur unserer Erfahrung und mçglichen
Abweichungen darin, sondern er spricht ganz allgemein von außen ber die
„Erfahrung berhaupt“, und die Science-Fictiongeschichte ist dazu eine bloße
Bhnendekoration ohne tragende Funktion. Dieser bergang entspricht im
brigen ziemlich genau Putnams Schwanken zwischen einem „internen“ und
„externen“ Realismus: eine konsequente Durchfhrung des externen Realismus,
der noch glaubt, zwei Welten vergleichen zu kçnnen, fhrt zum internen Realismus, in dem es nur noch die eine Erfahrungswelt gibt, deren „Realitt“ in
Frage steht.
12 Putnams berlegungen, warum es unmçglich ist (oder sein soll), dass wir uns in
einer solchen Situation befinden, gehçren nicht zum Gedankenexperiment selbst,
greifen aber zur Erhçhung der Plausibilitt darauf zurck. Eine Diskussion um
seine Grundidee kçnnte folgendermaßen verlaufen: „Wir beziehen uns mit unseren Worten auf Bume, ein Gehirn im Tank kann das nicht, also sind wir kein
Gehirn im Tank.“ Das Gegenargument kçnnte lauten: „Wenn wir ein solches
Gehirn im Tank wren, wrden wir trotzdem annehmen, dass wir uns mit
unseren Worten auf Bume beziehen; was also ist der Unterschied, wenn wir die
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zustzliche Aufforderung stellt ein neues, wesentliches Element dar, das
die eigentliche Pointe des Gedankenexperiments ausmacht und zugleich
das Schwanken zwischen zwei einander ausschließenden Perspektiven
einfhrt.
Obwohl das Szenario an eine Science-Fiction Geschichte erinnert,
erzhlt Putnam keine Geschichte, sondern er beschreibt lediglich eine
Situation. In der Diskussion von Gedankenexperimenten wird oft der
Gesichtspunkt der Realisierbarkeit angesprochen und man kann versucht
sein, Putnams Szenario als „unrealisierbar“ einzustufen. Genauer besehen
ist hier jedoch nicht von schlichter „Unrealisierbarkeit“ zu sprechen,
sondern von Inkohrenz, d. h. es fehlt die elementare „semantische“
Konsistenz der Erzhlung: Man weiß gar nicht, was es denn ist, was man
als realisierbar beurteilen sollte.
Die von Putnam beschriebene Situation ist nmlich von einer eigentmlichen Art: einerseits schließt die Beschreibung verbal an vertraute
Umgebungen an, wie die Situation eines Labors mit Nhrlçsungsbehltern etc., andererseits aber sind Teile der Beschreibung dergestalt, dass sie
vollkommen unvertraut und jedenfalls nicht ohne weiteres nachvollziehbar sind. Es bleibt zunchst ganz unklar, was es genau heißen kann,
einem Gehirn werde „sein Leben vorgegaukelt“. Die Art der Erzhlung
suggeriert beispielsweise, dass diese Vorstellung ußerst unangenehm ist,
obwohl die Situation ja phnomenal absolut ununterscheidbar gestaltet
ist! Putnam fingiert hier eine vollkommene Tuschung, die vom betrogenen Gehirn nicht aufgedeckt werden kann, der also auf der Ebene der
Erfahrung, die das Gehirn (und hier liegt eine weitere Ungenauigkeit
darin, dass ja genau genommen der Mensch oder ein Mensch Erfahrungen macht und nicht ein Gehirn) macht, nichts entspricht: Hier wird
keine Erfahrung (auch keine unangenehme!) beschrieben, sondern die
Knstlichkeit der gesamten Erfahrung suggeriert.
Kategorial gesehen verbindet Putnam also zwei ganz heterogene Betrachtungsebenen, indem er zunchst eine empirisch wirkende Situation
entwirft, die er dann mit einer Gesamtdeutung der Erfahrung berhaupt
verknpft (dies kçnnte man eine transzendentale berlegung nennen).
Sache aus unserer Perspektive, in der wir nun einmal sind, betrachten?“ Diese
Selbstaufhebung des Arguments kann nur angehalten werden, wenn wir uns in
eine andere Perspektive versetzen, nmlich diejenige, in der wir von einem anderen als dem unseren Bewusstsein annehmen, es sei nur ein Gehirn im Tank –
dann kçnnen wir sagen: Hier ist ja kein Bezug auf wirkliche Bume mçglich. Die
Rckbertragung auf unseren eigenen Fall ist aber wiederum nur unter erneutem
Standpunktwechsel mçglich, der den Gewinn an Objektivitt wieder aufgibt.
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Ein solches Verfahren mag zweifelhaft anmuten, aber es ist ein charakteristischer Zug zumindest zahlreicher „philosophischer Gedankenexperimente“. Was Putnam uns vorschlgt, kann man auch so beschreiben,
dass er uns auffordert, zugleich zwei verschiedene Standpunkte einzunehmen: denjenigen des Betrachters einer Science-Fiction Situation und
denjenigen, der innerhalb dieser Situation gefangen ist und sie zu ergrnden versucht, jedoch ohne die Mçglichkeit, die Situation von außen
zu sehen.
Putnam selbst ist ziemlich sparsam in seinen Kommentaren zum
eigenen methodischen Vorgehen. Er schreibt großzgig: „Ein derartiges
Vorgehen ist weder ,empirisch‘ noch durch und durch ,a priori‘, sondern
enthlt Elemente beider Untersuchungsmethoden.“ Andererseits beansprucht er doch, die von ihm aufgeworfene Frage mit Hilfe seiner Methode zu entscheiden: „Diese Mçglichkeit [dass wir „Gehirne im Tank
sind“, W.K.] wird nicht durch die Physik ausgeschlossen, sondern durch
die Philosophie.“ (Putnam 1982, 34 und 33)
4. Eine solche Kombination von empirischer Einkleidung und
transzendentalen berlegungen ist fr die Gedankenexperimente der
neueren analytischen Philosophie keineswegs zufllig, sondern ausgesprochen charakteristisch, geradezu konstitutiv. Darin drckt sich zum
einen die traditionelle Orientierung an den Naturwissenschaften und
ihrer spezifischen Exaktheit und Przision aus, zum anderen der Umstand, dass es in den Untersuchungen (nicht nur) der analytischen Philosophie gerade und wesentlich nicht um empirisch entscheidbare Fragen
geht. Empirisch entscheidbare Fragen werden ja von den Naturwissenschaften selbst und nicht von der Philosophie behandelt.
hnliche empirisch unentscheidbare Elemente finden sich etwa auch
in Putnams Zwillingserde, deren „Zwasser“ phnomenal von unserem
Wasser ununterscheidbar sein soll,13 in Searles „Chinesischem Zimmer“,
13 Putnam verleiht zwar beiden Flssigkeiten eine unterschiedliche chemische Zusammensetzung, aber er fingiert den Fall, dass dieser chemischen Verschiedenheit
in der Erfahrung nichts entspricht. Immerhin lßt er nach Aufkommen der
Chemie beide Wasservarianten auch empirisch auseinandertreten und beschrnkt
sein Gedankenexperiment scheinbar auf die Zeit davor. Die Rtselhaftigkeit der
Beschreibung gewinnt er jedoch wiederum durch die Doppeltheit von wesentlichem Unterschied und empirischer Ununterscheidbarkeit, indem wir in diesem
Fall die Perspektive zweier Zeitstufen gleichzeitig (bzw. im Wechsel) zur Beurteilung der Situation verwenden sollen – ohne zu bercksichtigen, dass wir ja uns
selbst in einer einzigen Situation befinden. In keiner der beiden skizzierten Situationen besteht fr sich genommen ein philosophisches Problem, sondern ein
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wo eine Person, die mit unverstandenen Zeichenreihen hantiert, zu
perfekten Ergebnissen kommen soll, oder auch in den Beispielen zur
Qualia-Debatte, in denen alles empirisch Entscheidbare sorgfltig ausgeschaltet wird.14
5. Will man den gleichzeitigen Einsatz so unterschiedlicher Methoden nicht einfach als Fehler ansehen, sondern positiv werten, so stçßt
man auf den Einfluß Quines und dessen „naturalistischer“ Konzeption
von Wissenschaft und Philosophie, nach der beide Gebiete grundstzlich
mit den gleichen Methoden zu bearbeiten sind, so dass die kategoriale
Doppeltheit keine problematische Inkompatibilitt, sondern eher die
Betonung eines Aspekts darstellt. Die Gesamtsituation ließe sich entsprechend so beschreiben, dass der Einsatz von Gedankenexperimenten
durch die Quinesche Einheitsmethode einerseits gerechtfertigt erscheint,
dass aber bei der konkreten Durchfhrung die Differenz empirisch spezifischer Elemente gegenber Betrachtungen ber die gesamte Erfahrung
(ohne jede Bercksichtigung empirischer Differenzen) doch wieder erscheint. Damit kçnnte die Reflexion auf Gedankenexperimente dazu
beitragen, dass die analytische Philosophie ihr Quinesches Stadium allmhlich hinter sich lßt.15
6. Die kategoriale Unklarheit der „analytischen“ Gedankenexperimente tritt besonders deutlich in den „metaphilosophischen“ Versuchen
hervor, die Funktionsweise dieser Methode zu erklren. Diese sehen sich
regelmßig einem kaum lçsbaren Paradox gegenber: Fasst man die
Gedankenexperimente tatschlich als empirische Methode auf, dann
werden die apriorischen, auf die gesamte Erfahrung bezogenen Zge vçllig
unerklrlich. Ein Ausweg bleibt dann noch, dass man Gedankenexperisolches tritt erst dann auf, wenn wir zugleich beiden Situationen, mit ihren jeweils
abweichenden Kriterien, gerecht werden wollen. Putnams philosophische Probleme werden so durch die berlagerung zweier Perspektiven erzeugt, nicht
durch die jeweilige Situationsbeschreibung. Immerhin ist seine Darstellung im
spteren „Gehirn im Tank“ intern konsequenter, weil er dort nicht mehr innerhalb der Erfahrung einen Unterschied zu beschreiben versucht, sondern die
gesamte Erfahrung unterschiedslos thematisiert. Putnam geht insofern von einem
pseudo-empirischen zu einem transzendentalen (man kçnnte auch sagen: metaphysischen) Szenario ber.
14 Vgl. die Listen der bekanntesten Beispiele bei Gooding 1998 und Gendler 2003.
Zu Searles Beispiel gibt es Vorgnger bei Frege, Grundgesetze (§ 90) und Carnap,
Logische Syntax (§ 71 ber die „logischen Beziehungen […] chinesischer Stze“).
15 Quine selbst htte allerdings das Aufkommen von Gedankenexperimenten vermutlich als Symptom fr nachlassende empiristische und logische Strenge, und
fr das Vordringen „bloß“ literarischer Formen angesehen.
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mente nmlich als extrem verdnnte Erfahrung auffasst, die sich sozusagen mit rein begrifflichen berlegungen auf gleichem Niveau verbinden kann (so Sorensen 1992, 250 f., aber teilweise auch Kuhn 1977,
348), aber dies hnelt zu sehr der Annahme eines Phlogiston oder Descartes‘ feinstofflicher Interaktion von Leib und Seele, um berzeugen zu
kçnnen. Umgekehrt kann man auch eine Erkenntnis auf rein gedanklicher, „platonischer“ Basis annehmen, aber damit verliert man zum einen
den Kontakt zum empiristischen Gesamtklima der analytischen Philosophie, und zum anderen bietet ein solcher Ansatz keine Ressourcen, um
irgendwelche spezifischen Begrndungsleistungen zu erklren und verbleibt in der Rolle bloßer Provokation (Brown 1991).16
Eine entschlossene Kritik an Gedankenexperimenten bt Dennett,
der sie als rein rhetorisches Mittel („intuition pumps“) abwertet, mit dem
man fr bestimmte Ansichten Propaganda macht, anstatt klar zu argumentieren.17 Diese Kritik trifft jedoch vor allem diejenigen Gedankenexperimente, die (Dennett) nicht berzeugen.18 Dennetts kritischer Ansatz enthlt jedoch entgegen seiner eigenen Argumentationsabsicht insofern ein fruchtbares Element, wenn man ihn so versteht, dass man
„Gedankenexperimente“ als Mittel einsetzen kann, um ber unsere elementaren und grundlegenden Anschauungen („Intuitionen“) nachzudenken und diese zu berprfen.
7. Abgesehen von den erçrterten kategorialen Schwierigkeiten kann
der Einsatz solcher Beschreibungen von Situationen dadurch zu einer
Erweiterung der analytischen Philosophie beitragen, dass die Konzentration auf die Analyse einzelner Stze in den Hintergrund tritt und
komplexere Zusammenhnge in den Blick kommen. Dadurch werden
16 Browns Ansatz wird so zwar regelmßig als Alternative angefhrt, aber zu Recht
nirgends wirklich ernstgenommen.
17 Dennett 1986, Kapitel 1, untersucht das Problem der Freiheit und findet in der
Literatur zahlreiche „Gedankenexperimente“ (angefangen mit Descartes‘ bçsem
Geist), die die Existenz von Freiheit in Zweifel ziehen sollen. Dennetts Kritik
trifft hier insofern zu, als er auf Gedankenexperimente Bezug nimmt, die
ebenfalls mit empirisch ununterscheidbaren (und daher unentscheidbaren) Fiktionen arbeiten.
18 In spteren Publikationen ußert Dennett dann auch eine ganz vernderte Einstellung: „In short, Artificial Life research is the creation of prosthetically controlled thought experiments of indefinite complexity.“ (Dennett 1994, 291)
Diese Tendenz, den „inexakten“ philosophischen Gedankenexperimenten die
exakten Computersimulationen als die eigentlichen, eben exakten und przisen
Gedankenexperimente gegenberzustellen, bleibt jedoch methodisch ebenso
unreflektiert; dies kann hier jedoch nicht weiter behandelt werden.
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flexiblere, „realistischere“ und freiere Analysen mçglich, die das Spektrum
behandelter Fragen erweitern und besonders nichtsprachliche Elemente
in die Analysen mit einbeziehen kçnnen.19
III. Wittgensteins „Gedankenexperimente“
11. In gegenwrtigen Diskussionen und Darstellungen wird Wittgenstein
hufig als ein Philosoph angesprochen, der „klassische philosophische
Gedankenexperimente“ erfunden und formuliert habe.20 Als solche Gedankenexperimente werden angefhrt: Wittgensteins Beispiele vom Kfer
in der Schachtel (PU 283),21 davon, dass ich zu Stein erstarre und meine
Schmerzen anhalten (PU 293), seine Fiktion eines Tagebuchs in „Privatsprache“ (PU 243), der Sessel, der plçtzlich verschwindet und wieder
auftaucht (PU 80) und insbesondere seine zahlreichen fiktiven „Sprachspiele“ (das erste in PU 2). Die Frage liegt nun nahe, inwiefern Wittgensteins Gedankenexperimente denjenigen der analytischen Philosophie
methodisch hnlich oder unhnlich sind. Hierzu ist zunchst zu bemerken, dass Wittgenstein in keinem der hier angefhrten Flle von „Gedankenexperimenten“ spricht, ja dass er dieses Wort nirgends positiv
verwendet und dessen Verwendung fr seine eigene Arbeit konsequent
ablehnt.22 Grundstzlich betont er wiederholt, wie wichtig es ist, begriffliche, philosophische Untersuchungen von empirischen scharf zu
unterscheiden und abzugrenzen.23
19 Tyler Burge schreibt in einem Bericht ber Diskussionen, an denen er neben
Putnam maßgeblich beteiligt war und mit eigenen Gedankenexperimenten fr
einen Anti-Individualismus in der Bedeutungstheorie argumentierte: „Anti-individualism was supported not only through abstract considerations from the
theory of reference, but also through specific thought experiments.“ (Burge 1992,
47; zu Burges Beitrgen vgl. Pessin/Goldberg 1996) Auch bei Burge bleiben die
Reflexionen auf die angewendete Methode sprlich.
20 Hannah Arendt ußerte in einer ihrer seltenen Anmerkungen zu Wittgenstein die
Meinung, er sei „in seinen frhen Gedankenexperimenten der Auffassung, das
denkende Ich kçnne am Ende ,bloßer Aberglaube sein‘“ (Arendt 1998, 264).
21 Vgl. etwa die Sammlung philosophischer Gedankenexperimente mit dem Titel
„Wittgenstein’s Beetle“.
22 S. den nchsten Abschnitt.
23 Darin stimmt er mit dem fr die analytische Tradition einflussreicheren Carnap
berein, der interne und externe Fragen unterscheidet, sich damit aber gegen
Quine wirkungsgeschichtlich nicht durchgesetzt hat.
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12. Um die Frage konkreter anzugehen, sei ein besonderes Gedankenexperiment Wittgensteins nher untersucht. In PU 80 skizziert er eine
Situation, die an diejenigen Putnams zu erinnern scheint, weil sie vçllig
unrealistisch wirkt: Ein Sessel verschwindet ohne erkennbare Ursache
und erscheint wieder:
Ich sage: „Dort steht ein Sessel“. Wie, wenn ich hingehe und ihn holen will,
und er entschwindet plçtzlich meinem Blick? —
„Also war es kein Sessel, sondern irgend eine Tuschung.“ —
Aber in ein paar Sekunden sehen wir ihn wieder und kçnnen ihn angreifen, etc. —
„Also war der Sessel doch da und sein Verschwinden war irgend eine
Tuschung.“ —
Aber nimm an, nach einer Zeit verschwindet er wieder, – oder scheint zu
verschwinden. Was sollen wir nun sagen? Hast du fr solche Flle Regeln
bereit, – die sagen, ob man so etwas noch „Sessel“ nennen darf ? Aber gehen
sie uns beim Gebrauch des Wortes „Sessel“ ab; und sollen wir sagen, daß wir
mit diesem Wort eigentlich keine Bedeutung verbinden, da wir nicht fr alle
Mçglichkeiten seiner Anwendung mit Regeln ausgerstet sind? (PU 80)24
13. Zunchst fllt auf, dass Wittgenstein bei aller Skurrilitt der Beschreibung eine Situation entwirft, die spezifisch und insofern als Ausschnitt unserer Erfahrung25 artikulierbar, also „denkbar“ (wenn auch
nicht technisch realisierbar) ist. Er spricht nicht von der Erfahrung insgesamt, sondern verndert in seiner Fiktion ein Stck unserer Erfahrung.
In diesem Sinne ist Wittgensteins Vorgehen demjenigen Putnams entgegengesetzt: Putnam arbeitet auf eine bestimmte Deutung unserer gesamten Erfahrung hin, die in all ihren Erscheinungsformen gleichbleibt,
whrend Wittgenstein unsere Erfahrung in seinem Beispiel in spezifischen Punkten auf berraschende Weise verndert.
24 Zur Verdeutlichung des Perspektivenwechsels ist hier nach den langen Gedankenstrichen jeweils ein Zeilenumbruch eingefgt worden. Dieser Wechsel der
Perspektive geschieht hier, anders als bei Putnam, innerhalb unserer Erfahrung:
Wir erleben Geschehnisse, die uns an unseren Begriffen zweifeln lassen und
versuchen nun, fr diese ungewohnte Erfahrung die richtigen Worte zu finden.
Bei Putnam gibt es umgekehrt Worte, zu denen wir keine entsprechende Erfahrung dingfest machen kçnnen.
25 Betrachtungen von einem „absoluten“, von unserer Erfahrung unabhngigen
Standpunkt, und damit verbundene Fragen zu Realismus, Idealismus oder AntiRealismus, gibt es beim spten Wittgenstein nicht. Dummetts „Anti-Realismus“,
mit dem er sich auf Wittgenstein beruft, ist insofern eine unglckliche Vergegenstndlichung und „Metaphysisierung“ von ablehnenden Bemerkungen
Wittgensteins.
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Weiterhin ist das Ziel des Gedankenexperiments jeweils ganz verschieden: Putnam mçchte eine bestimmte Bedeutungstheorie bzw. eine
bestimmte Gesamtdeutung unserer Erfahrung prfen bzw. widerlegen; es
geht ihm um die Frage, welche Art von Bedeutung unsere Wçrter insgesamt haben, indem er das Vorhandensein bestimmter Fakten (aber
nicht Wortgebrauchsweisen) untersucht, whrend Wittgenstein in seinem
Beispiel nur die spezifische Gebrauchsweise des Wortes „Sessel“ untersucht (also eine sprachlich-begriffliche Institution, kein empirisches
Faktum). Die Reaktion auf das im Gedankenexperiment entwickelte
Beispiel lautet bei Wittgenstein: „Was sollen wir dazu sagen?“ Er bemerkt
dazu weiter, dass unsere Gebrauchsweisen der Wçrter fr Normalflle
eingerichtet und an ihnen orientiert sind, so dass wir fr den Fall, dass wir
ganz außergewçhnliche und extrem abweichende Erfahrungen machen
(die aber spezifisch anzugeben und auszumalen sind), uns neu berlegen
mssen, was wir dazu sagen sollen. Die Ausnahmeflle bekrftigen oder
widerlegen bei Wittgenstein gar nichts, sondern sie werfen neue Probleme
des Ausdrucks und der Darstellung auf, weil wir auf solche Situationen
nicht eingerichtet sind. Bei Putnam kommen solche Situationen der
Neuorientierung gerade nicht vor, weil fr die Sprecher in den Situationen alles „ganz normal“ ist und die Merkwrdigkeiten jeweils unsichtbar werden. Putnams berlegungen, die in diese Richtung gehen,
sind smtlich aus einer Beobachterperspektive und somit von außerhalb
der unmittelbaren Sprachverwendung entworfen: Es geht ihm nicht
darum zu untersuchen, wie sich ein solches Gehirn im Tank ausdrcken
wrde, denn Putnam setzt ja voraus, dass das Gehirn im Tank sich
„vollkommen normal“ ausdrcken und keinerlei Problembewußtsein
entwickeln wrde. Insofern ist Putnams Gedankenexperiment fr Wittgenstein leerlaufend, weil es an keiner Stelle den tatschlichen Sprachgebrauch oder die konkrete empirische Situation spezifisch verndert,
whrend Putnam mit der spezifischen, vereinzelten Vorgehensweise
Wittgensteins seinerseits nichts anfangen kann, weil es ihm um die
Struktur der gesamten Erfahrung geht. In diesem Sinne ist Putnam mit
Kant vergleichbar, der auch die Bedingung der Mçglichkeit fr Erfahrung
berhaupt untersucht, nicht nur die, wenn auch exemplarisch gemeinte,
Erfahrung etwa von Sesseln.26
26 Daher ist Wittgenstein in dieser Hinsicht ganz unkantisch. Zudem zeigt sich
Putnams philosophische Grundhaltung als derjenigen Wittgensteins entgegengesetzt (dem widersprechen nicht die relativ ausgedehnten Versuche Putnams, vor
Wittgenstein ber „Gedankenexperimente“
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14. Wittgensteins Gedankenexperimente sind daher einerseits „empirischer“ als die Putnams und der analytischen Philosophie, weil sie sich
ganz innerhalb unseres Rahmens der Beschreibung empirischer Vorgnge
bewegen und keine „transzendentalen“, auf die Gesamtheit der Erfahrung
bezogenen Elemente aufweisen, zum anderen sind sie „begrifflicher“, weil
sie ganz darauf verzichten, irgendwelche Tatbestnde beweisen oder widerlegen zu wollen. Existenzfragen jeglicher Art, etwa ob wir Gehirne im
Tank sind oder ob es Qualia gibt etc; spielen bei Wittgenstein keinerlei
Rolle.27 Die Diskussion solcher Existenzfragen ist aber ein ganz wesentliches Element der analytischen Gedankenexperimente und vor allem ein
Hauptmotiv dafr, den Ausdruck „Gedankenexperiment“ zu verwenden:
Man betont damit die Analogie zur Entscheidung empirischer Fragen
durch Experimente, nur dass im Fall der Philosophie die „Experimente“
eben nicht von empirischer, sondern rein gedanklicher Art sein sollen.
15. Wittgenstein fragt im Gegensatz dazu regelmßig nur danach, wie
wir eine bestimmte reale oder fiktive Situation mit unseren gegenwrtigen Wçrtern und Begriffen am ehesten angemessen beschreiben, d. h. er
verzichtet konsequent darauf, auf philosophischem Wege irgend etwas zu
erklren oder irgendwelche Tatsachen zu etablieren. Das Medium, in dem
Wittgenstein (mit seinen „Gedankenexperimenten“) arbeitet, bildet
weder die Erfahrung mit ihren Tatsachen noch das Reich der abstrakten
Gedanken und apriorischen Erkenntnisse, sondern die Sprache mit ihren
komplexen Verwendungsweisen. Er nennt seine Untersuchungen daher
auch „grammatische Betrachtungen“.
16. Ein Gegenbeispiel zu dieser Auffassung scheinen diejenigen
berlegungen Wittgensteins zu sein, die aufweisen sollen, dass eine
private Sprache unmçglich ist und daher nicht existieren kann, da man
dies als allgemeine These ber die Sprache verstehen kann. Dieses Erallem in seinen spteren Schriften, einzelne Wittgensteinsche Einsichten seinem
eigenen Denken anzugliedern).
27 In diesem Sinne stimmt Wittgenstein mit Hume gegen den analytischen MainACHTUNGREstream darin berein, dass man keine Existenz- und Tatsachenfragen durch
„reines Denken“ entscheiden kann. Die Verwendung von Gedankenexperimenten in der analytischen Philosophie kann man auch als Versuch interpretieren,
um diese fundamentale, elementare Klarstellung Humes herumzukommen und
wieder Zwischenformen in die Philosophie einzufhren. Das Wesen der Metaphysik kann man genau in solchen Zwischenformen sehen. Man kçnnte solche
Versuche, zwischen den Alternativen Tatsachenfeststellung oder Begriffsklrung
vage hindurchgleiten zu wollen, mit Cora Diamond auch als „chickening out“
bezeichnen.
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gebnis des in der Literatur, aber nicht von Wittgenstein selbst so genannten „Privatsprachenarguments“ kommt jedoch in dieser Gestalt bei
Wittgenstein gar nicht vor. Tatschlich stellt er eine ganze Reihe von
berlegungen an, in denen er anhand fiktiver Situationen Mçglichkeiten
durchspielt, eine solche private Sprache, die kein anderer verstehen kann,
weil sie sich konsequent nur auf die eigenen Empfindungen bezieht, zu
beschreiben. In PU 258 beschreibt er etwa den Fall eines Tagebuchs ber
die Empfindung E. Die Beschreibung dieser Situation entwickelt sich
nun aber ganz anders als im Sesselbeispiel, weil Wittgenstein nmlich
wiederholt przisierende Fragen stellt, um die Art der angestrebten privaten Sprache genauer zu bestimmen. Das Resultat dieser Fragen besteht
nun darin, dass sich herausstellt, dass im skizzierten Fall von einem
richtigen oder falschen Verwenden des Zeichens E gar nicht die Rede sein
kann, weil kein Kriterium fr die richtige oder falsche Verwendung
vorliegt. Dieser Mangel wiederum ist nicht zufllig, sondern ist begrifflich mit der Privatheit der angestrebten Sprache verbunden: Diese soll ja
gerade so eingerichtet sein, dass kein anderer sie verstehen, und damit
auch ihre korrekte Anwendung berprfen kann. Die berlegung
kommt also zu dem Resultat, dass die skizzierte Situation (hnlich wie
weitere Versuche in dieser Richtung) gar nicht als Beschreibung einer
(privaten) Sprache anzusehen ist; weitere berlegungen, die Wittgenstein
anstellt, zeigen auf, dass auch andere Wege zu diesem Ziel nicht erfolgreich sind, weil immer wieder hnliche begriffliche Hindernisse auftauchen. In diesem Sinne zeigt Wittgenstein, dass man eine „private Sprache“ gar nicht beschreiben kann, dass man also gar nicht przise angeben
kann, was eine solche Sprache wre. Die Wortprgung „private Sprache“
erweist sich so als in der Luft hngend und insofern bedeutungslos: wir
kçnnen diesem Ausdruck keinen klaren Sinn, keinen konsequenten und
konsistenten Gebrauch in unserer Sprache geben.
Wittgensteins Vorgehen ist hier wieder demjenigen Putnams gerade
entgegengesetzt: Putnam setzt implizit voraus, dass die Annahme, wir
kçnnten Gehirne im Tank sein, sinnvoll ist, denn sonst wrde sich eine
Diskussion darber, ob sie wahr oder falsch ist, erbrigen. Wittgenstein
dagegen setzt seine berlegungen eine Stufe frher an und fragt, ob die
Annahme einer privaten Sprache berhaupt sinnvoll gemacht, also
durchgefhrt werden kann und kommt zu einem negativen Ergebnis. In
diesem Sinne wird auch der Ausdruck „Gedankenexperiment“ fr diese
Untersuchungsart Wittgensteins unpassend, denn im strengen Sinne
scheitert ja bereits der Versuch, ein solches Gedankenexperiment (die
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Konstruktion einer privaten Sprache) zu beschreiben.28 Es ist nicht so, als
fhrte Wittgenstein ein Gedankenexperiment mit negativem Ergebnis
durch, sondern das „Ergebnis“ seiner grammatischen Betrachtung besteht
darin, dass es uns gar nicht erst gelingt, die vage Intuition in eine konkrete Situationsbeschreibung zu berfhren. Wenn man hier von „Experiment“ sprechen wollte, kçnnte es hçchstens darin bestehen, dass man
das Experiment anstellt, ob man eine bestimmte Situation berhaupt
beschreiben kann.29 Dies wre ein Experiment, das die Beschreibungsfhigkeit betrifft und nicht irgendeine „Realitt“.
Man kçnnte nun mit Wittgensteins Einsicht auch Putnams Beschreibung auf den Verdacht hin prfen, dass sie streng genommen inkohrent und insofern unsinnig ist, so dass die Annahme, wir seien
Gehirne im Tank, auf hnliche Weise wie die Annahme einer privaten
Sprache nicht falsch, sondern unsinnig wre. Eine solche „Deutung“ htte
allerdings zur Folge, dass man Putnams Vorgehen ganz anders auffassen
und darstellen msste.
IV. Wittgenstein ber den Ausdruck „Gedankenexperiment“
und seine Versuchungen
21. Wittgensteins „grammatische Betrachtungen“ sind also, wie gesehen,
methodisch den „Gedankenexperimenten“ der neueren analytischen
Philosophie gerade entgegengesetzt. Dazu passt, dass Wittgenstein selbst
sein methodisches Vorgehen wiederholt gegenber der (lteren) Rede von
„Gedankenexperimenten“ abgrenzt. Solche klrenden Abgrenzungen sind
das hauptschliche Ziel der verstreuten Bemerkungen, in denen Witt28 Man kçnnte hier das Wort „Gedankenversuch“ oder „Gedankenexperiment“ so
verstehen, dass man zu einem vorgegebenen Terminus der philosophischen
Tradition versucht, eine konkrete Situation, in der er tatschlich angewendet
werden kann, zu entwerfen und zu beschreiben. Solche Versuche wren dann
Arbeiten daran, den Sinn von Ausdrcken zu berprfen. Passender wre hier
jedoch ein Ausdruck wie „Beschreibungsversuch“, whrend die Rede von „Experiment“ schon voraussetzt, dass wir es mit sinnvollen Ausdrcken zu tun
haben. Wittgensteins berhmter Kfer, der sich als funktionslos erweist (PU
293), ist insofern strukturell mit Punams leerlaufenden Szenarien zu vergleichen.
Eine ausfhrlichere Darstellung der Problematik der „privaten Sprache“ findet
sich in Kienzler 2007, Kapitel 5.
29 Der Fall ist hnlich dem einer naturwissenschaftlichen Experimentbeschreibung,
bei deren Umsetzungsversuch man ihre Unrealisierbarkeit bemerkt (etwa weil
man die Mçglichkeit eines Perpetuum mobile implizit vorausgesetzt hat).
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genstein zwar nur bedingt auf Gedankenexperimente, dafr aber wiederholt auf den Ausdruck „Gedankenexperiment“ eingeht.30 Er erkennt
beispielsweise kein einziges philosophisches Gedankenexperiment an und
bemerkt wiederholt, dass es etwas Derartiges nicht gibt, es handele sich
um eine „grammatische Fiktion“, eine Vorspiegelung, die aus einem
Missverstehen der Sprache und der Philosophie entspringt.31 Wittgensteins Hauptverdacht gegenber „Gedankenexperimenten“ stimmt mit
seiner Diagnose der Hauptursache philosophischer Unklarheiten berein:
Es handelt sich dabei um die Vermengung empirischer und begrifflicher
Fragen, sowie darum, dass man sachliche Fragen mit Fragen der Darstellungsweise verwechselt. Diese Verwechslungen kçnnen jedoch in unterschiedlichen Formen auftreten und insofern sind die genauen Diagnosen auch unterschiedlich. Insgesamt zeigen Wittgensteins verstreute
30 Wittgensteins Stellung zu „Gedankenexperimenten“ behandeln auch Kroß 2004
und Griesecke/Kogge 2005. Khne 2005, 218 – 220 erwhnt zwar Wittgenstein,
findet aber keinen produktiven Zugang. Kroß betont, dass fr Wittgenstein
Gedankenexperimente definitiv keine Experimente sind (133), und er bemerkt
treffend: „Die ,Experimente‘, die Wittgenstein […] ersinnt, sind beeindruckende
Belege fr seine Erfindungsgabe.“ (134) Insgesamt bleibt seine Darstellung jedoch relativ textfern und hnlich wie Fuhrmann 2001 an der Frage des Verhltnisses von Mçglichkeit und Wirklichkeit (139) orientiert.
Griesecke/Kogge versuchen demgegenber bei Wittgenstein einen positiven
Begriff vom Gedankenexperiment aufzuzeigen, indem sie entsprechend einem
„neuen Experimentalismus“ ein „experimentelles Denken“ zu fassen versuchen,
das sie als „materiales Handeln“ begreifen (45). Dabei deuten sie zum einen
Wittgensteins „grammatische Betrachtungen […] als Paradigma fr experimentelles Denken“ (46; erneut 62), indem sie die Bemerkung zu Mach (s.u.) umgekehrt lesen. Vor allem aber glauben sie eine Entwicklung in Wittgensteins
Auffassung zu entdecken, die weiter unten zu diskutieren sein wird. Der Feststellung, dass Wittgenstein auf immer wieder berraschende Weise Beobachtungen zusammenstellt und dadurch fruchtbare „Konstellationen kreiert“ (69),
ist nur zuzustimmen; Wittgenstein selbst spricht davon, dass er durch neue
Beispiele das von einseitiger Dit verformte Denken der Philosophen erweitern
will. Dadurch wird jedoch noch keine Korrektur an Wittgensteins methodischer
Trennung von Empirischem und Begrifflichem erforderlich; immerhin ist der
Hinweis (u. a. mit Fleck und Kuhn, 66) berechtigt, dass der Begriff des Experiments um einiges komplexer ist als in Wittgensteins Bemerkungen, die es
schlicht mit dem Empirischen gleichzusetzen scheinen. Dies ist aber eine Korrektur an Wittgensteins Gebrauchsweise von „Experiment“, nicht an seiner
Grundunterscheidung und seinen Ausfhrungen zur nicht-empirischen Natur
seiner philosophischen Untersuchungen.
31 Leider hat sich Wittgenstein nie zu Gedankenexperimenten in der Physik geußert (einige berlegungen dazu und zum Begriff der „Unvollstndigkeit der
Quantenmechanik“ in Kienzler 2002).
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Bemerkungen zu „Gedankenexperiment“ jedoch ein hohes Maß an methodischer Geradlinigkeit und Klarheit.
Bekanntlich hat Ernst Mach den Ausdruck „Gedankenexperiment“ in
seinem Buch Erkenntnis und Irrtum (1905, es beruht auf seiner ersten
Wiener Vorlesung von 1895/96 mit einer Teilverçffentlichung 1897) in
die philosophische Sprache eingefhrt.32 Der systematische Ort des Abschnitts „ber Gedankenexperimente“ liegt in Machs „Psychologie der
Forschung“ nach „Empfindung, Anschauung, Phantasie“ sowie „Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander“ und vor „das
physische Experiment und dessen Leitmotive“. Das heißt, fr Mach
folgen Gedankenexperimente auf individuelle, mehr oder weniger geordnete Gedanken und Vorstellungen, und sie gehen den wirklichen
Experimenten und der wissenschaftlichen Forschung voraus.33 Damit
wird ihnen schon hier eine eigentmliche Zwischenstellung angewiesen,
die ihnen bis heute anhaftet:
Das physische Experiment haben wir schon als die natrliche Folge des
Gedankenexperiments kennen gelernt, welche berall da eintritt, wo eine
Entscheidung durch ersteres zu schwierig, oder zu unvollstndig, oder unmçglich ist. (Mach 1991, 201)
Auffassungen wie diese sind von Zeitgenossen wie Duhem und Cassirer
heftig kritisiert worden, die Mach die Auffassung zuschrieben, er wolle
reale Experimente durch vorgestellte einfach ersetzen.
Mach bringt jedoch in seinem Kapitel auch eine ganze Reihe von
Beobachtungen unter, die mit dem erwachenden Forschungsprozess
nichts zu tun haben, sondern viel eher auf grundstzliches Umdenken
32 Diese Prgung scheint in der Luft gelegen zu haben, denn bei verschiedenen
Zeitgenossen Machs tauchen ganz hnliche Wendungen auf, und insbesondere
wird der Ausdruck von Anfang an so behandelt, als sei er immer schon dagewesen
(eine Hauptanregung liegt in Mills Begrndung der Geometrie durch „Experimente […] mit den Figuren in unserem Geiste“ in seiner Logik, II, 6, § 5, 280).
Der Streit betrifft die Frage, ob es Derartiges wirklich gibt, aber nie das Verstndnis des Terminus selbst. Eine Darstellung der frhen Terminusgeschichte
muss aber einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben.
33 Die von Mach angelegte Systematik ist allerdings auch wieder nicht zu ernst zu
nehmen, denn als paradigmatische Beispiele fhrt er Galilei und Newton an, die
mit der Anfngerphase zwischen kindlich-laienhafter, versuchender berlegung
noch vor dem bergang zum wirklichen Experiment nichts zu tun haben,
sondern viel eher mit Phasen radikaler Neuorientierung, die auf einem komplexen Zusammenspiel von tatschlich ausgefhrten realen Experimenten und
intensiver gedanklicher Arbeit beruht und in Machs Systematik eigentlich ans
Ende gehçrte.
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und Neuorientieren innerhalb von wissenschaftlichen Revolutionen zu
tun haben, mit Situationen also, in denen berhmte Naturwissenschaftler
philosophisch an den Grundbegriffen ihres Fachs gearbeitet haben. Diese
Beispiele, die Wittgenstein „grammatische Betrachtungen“ nennen wird,
machen die interessantesten Passagen des Kapitels aus.34
22. Die frheste Bemerkung Wittgensteins zum Thema ist auch die
einzige, die (noch) davon spricht, als handele es sich um eine zu erwgende Mçglichkeit. Im Rahmen seiner berlegungen zur Struktur des
Gesichtsraums entwirft Wittgenstein um 1929/30 eine ganze Reihe teils
bizarrer Fiktionen. (Keine davon nennt er „Gedankenexperiment“, obwohl sie heute hufig so angesprochen werden.) Eine davon beschreibt er
so:
Angenommen alle Teile meines Kçrpers kçnnten entfernt werden bis auf
einen Augapfel; dieser wrde unbeweglich irgendwo befestigt und behielte
die Fhigkeit zu sehen. Wie wrde uns die Welt erscheinen? (Ms 106, 128)35
Anhand solcher berlegungen versucht Wittgenstein philosophische bzw.
phnomenologische Fragen wie die folgende zu beantworten:
Heißt das alles nun aber, daß das Gesichtsfeld doch wesentlich ein Subjekt
enthlt oder voraussetzt? (Ms 106, 132)
Darauf antwortet er sich selbst mit einer Gegenfrage, dass es hier um
Geometrie, also Apriorisches, Begriffliches, nicht um Experimente und
Informationsgewinn geht:
Oder ist es nicht vielmehr so, daß jene Versuche mir nur rein geometrische
Aufschlsse geben? (Ms 106, 132)
In dieser Bemerkung scheint das Wort „Versuch“ hnlich wie „Experiment“ verwendet zu werden, als wolle Wittgenstein mit solchen Fiktionen
tatschlich „Gedankenexperimente“ vornehmen. Er lehnt einen solchen
„experimentellen“ Ansatz bzw. ein derartiges Verstndnis seiner Untersuchungen aber doch ab:
Es ist nicht notwendig, ausschaltende Experimente (etwa Gedankenexperimente) zu machen. Der Gesichtsraum, so wie er ist, hat eine selbstndige
Realitt. Er selbst enthlt kein Subjekt. Er ist autonom. Er lßt sich unmittelbar beschreiben (aber wir sind weit davon entfernt, eine Ausdrucksweise zu kennen, die ihn beschreibt). (Ms 107, 1)
34 Auf eine gehe ich in Kienzler 2005a, 19 ein.
35 Wittgensteins Orthographie und Zeichensetzung in seinen Manuskripten ist
durchgehend normalisiert, entsprechend seiner eigenen Praxis bei der Textbearbeitung.
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Wittgenstein formuliert hier seine Grundeinsicht, dass er an Problemen
der Ausdrucksweise fr die Phnomene des Gesichtsraumes arbeitet, und
dass in einer solchen Untersuchung Variationen und Fiktionen hilfreich
sind, dass Experimente irgendwelcher Art hier jedoch keine Stelle haben,
unter anderem deshalb, weil sie eine funktionierende Ausdrucksweise
nicht schaffen kçnnen, sondern sie bereits voraussetzen mssen. Dies
drckt Wittgenstein so aus, dass die Beschreibungen „unmittelbar“, also
nicht durch Experimente vermittelt geschehen kçnnen und mssen.
Immerhin ist er in dieser Phase der Versuchung, etwas wie Gedankenexperimente anzunehmen, so nah wie nie zuvor oder danach.36 Bereits
kurze Zeit spter, in Bemerkungen gegen Ende von Ms 107, die in das
Big Typescript aufgenommen wurden, behandelt Wittgenstein die Frage
viel distanzierter.
23. Kapitel 95 des Big Typescript trgt die (jetzt rhetorisch gemeinte)
berschrift: „Kann man in die Eigenschaften des Gesichtsraumes tiefer
eindringen? Etwa durch Experimente?“ (BT 443) Wittgenstein stellt
ohne Zçgern fest:
Die Geometrie unseres Gesichtsraumes ist uns gegeben, d. h. es bedarf keiner
Untersuchung bis jetzt verborgener Tatsachen, um sie zu finden. Die Untersuchung ist keine, im Sinn einer physikalischen oder psychologischen
Untersuchung. Und doch kann man sagen, wir kennen diese Geometrie
noch nicht. Diese Geometrie ist Grammatik und die Untersuchung eine
grammatische Untersuchung. […]
Niemand kann uns unsern Gesichtsraum nher kennen lehren. Aber wir
kçnnen seine sprachliche Darstellung bersehen lernen. Unterscheide die
geometrische Untersuchung von der Untersuchung der Vorgnge im Gesichtsraum. (BT 444)
Wittgenstein stellt vollkommen klar, dass er nur an einer „grammatischen
Untersuchung“ interessiert ist. Aus dem gleichen Entstehungskontext
stammt auch seine bekannteste Bemerkung zum Thema:
Was Mach ein Gedankenexperiment nennt, ist natrlich gar kein Experiment. Im Grunde ist es eine grammatische Betrachtung. (BT 441/PB 52/Ms
107, 284)
Diese lakonische und zunchst etwas rtselhafte Bemerkung ist oft als
schlichte Kritik an Mach missverstanden worden. Tatschlich bezieht sich
die Bemerkung unmittelbar weniger auf Mach als vielmehr auf Wittgensteins eigene Untersuchungen, etwa zum Gesichtsraum und zur Frage
36 Diese „phnomenologische Phase“ habe ich in Kienzler 1997, 105 – 142, ausfhrlich dargestellt.
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dort anzusiedelnder Experimente.37 Der Sache nach merkt Wittgenstein
hier an, dass er dasselbe tut wie Mach, indem er eine „grammatische
Untersuchung“ anstellt, nur mit dem Unterschied, dass sich Mach ber
den Status seiner Untersuchung nicht im Klaren war.38 Insbesondere
kritisiert Wittgenstein hier die Prgung „Gedankenexperiment“ als einer
tiefsitzenden philosophischen Konfusion entsprungen. Fr ihn ist Machs
Bescheidenheit, mit der er es ablehnt, „im geringsten Philosoph sein zu
wollen“ (Mach 1991, V), tatschlich ein gravierender und folgenschwerer
Fehler, weil Mach dadurch den kategorialen Unterschied zwischen naturwissenschaftlichen und philosophischen Untersuchungen zu einem
bloßen Gradunterschied umdeutet. Diese Nivellierung durchzieht konsequent Machs gesamte Darstellung (so wie spter bei Quine). Das von
Mach etwa angesprochene Verfahren der „Variation der Tatsachen in
Gedanken“ (Mach 1991, 188) hat methodisch mit Naturforschung oder
Experimenten nichts zu tun und ist durch und durch als philosophisch zu
bezeichnen. Mach spricht weiter davon, dass wir auf diesem Wege „eine
Gedankenerfahrung“ (Mach 1991, 186) machen und vermischt damit
auch verbal beide Sphren. Unmittelbar dagegen formuliert Wittgenstein:
Die Philosophen, die glauben, daß man im Denken die Erfahrung gleichsam
ausdehnen kann, sollten daran denken, daß man durchs Telefon die Rede,
aber nicht die Masern bertragen kann. (PB 95/Zettel 256)
Wittgenstein wendet sich damit in aller Klarheit gegen die Auffassung,
die der Redeweise von „Gedankenexperimenten“ zugrunde zu liegen
scheint, nmlich dass man in Gedanken eben doch irgendwie ber die
37 Wittgenstein bezieht sich in BT, Kapitel 98 „Der Gesichtsraum mit einem
ebenen Bild verglichen“ auch explizit auf Machs berhmte Zeichnung des Gesichtsfeldes im Anfangskapitel der Analyse der Empfindungen. Er schreibt jetzt
ganz kritisch: „Wer aufgefordert wrde, das Gesichtsfeld zu malen und es im
Ernst versuchte, wrde bald sehen, dass es unmçglich ist.“ (BT 465) Ernst Mach
schien diese Unmçglichkeit (wie auch sonst genau jene kategorialen Unterschiede, auf die es Wittgenstein gerade ankam) nicht zu spren, und Wittgenstein nennt das Bild, das Mach vom Gesichtsfeld entworfen hat, „eines der
klarsten Beispiele der Verwechslung zwischen physikalischer und phnomenologischer Sprache“ (BT 467). Dabei wertet Wittgenstein klare Fehler entschieden
positiv, verglichen mit unklaren Vermengungen.
38 Diesen positiven Bezug auf Mach betonen auch Griesecke/Kogge 2005, 45.
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bestehende Erfahrung hinausgehen kçnne. Es gibt aber keine „Gedankenerfahrung“ in diesem Sinn.39
24. Deutliche Abgrenzungen nimmt Wittgenstein auch in anderen
Kontexten vor. Um 1933 behandelt er etwa Fragen der „Geometrie der
Farben“. Dabei skizziert er nachdrcklich eine irrtmliche, weil physikalische Deutung der Farbkomplementaritt:
Man mçchte immer denken, Grn mische sich mit Rot nicht, wie l nicht
mit Wasser, oder wie Wasser an einer çligen Flche nicht angreift. Ferner
meint man, man brauche das Mischen von Rot und Grn gar nicht wirklich
zu versuchen, sondern es gbe hier ein Gedankenexperiment und das mißlinge! (Whrend es mit Rot und Gelb gelingt.) Es ist wirklich, als ob die
Farben Grn und Gelb sich mischten wie l mit etwas ligem, und Grn
und Rot nicht, als griffe das Rot am Grn nicht an, als rinne es ab, wie
Quecksilber von einer Eisenplatte. Aber ist es nun wirklich so? (Ts 219, 13)
In einer weiteren Bemerkung des Big Typescript zeigt Wittgenstein, wie
man die harmlose Ttigkeit, sich etwas zu berlegen, philosophisch
missdeuten und schließlich als Gedankenexperiment auffassen kann:
Sich etwas berlegen. Ich berlege, ob ich jetzt ins Kino gehen soll.40 Ich
mache mir ein Bild der Zeiteinteilung des Abends. Aber wozu tue ich das?
Ich mache ja kein „Gedankenexperiment“! (111, 138/BT 227)41
Auch hier will Wittgenstein keineswegs etwas leugnen, sondern er erinnert nur daran, dass eine in gewissem Sinne naheliegende Deutung ge39 Die Erfahrung, die man mit dem Denken gewinnen und darin entwickeln kann
(nmlich erfolgreich Gedankengnge anzustellen; vgl. Heideggers Aus der Erfahrung des Denkens), ist hiervon begrifflich zu trennen, ebenso wie die „Erfahrenheit“ im Experimentieren, die Fleck und Kuhn betonen (vgl. dazu Griesecke/
Kogge 2005, 66). Auch die sptere Bemerkung PU 81, die die „pneumatische
Auffassung des Denkens“ ablehnt, und in Varianten schon auf das BT zurckgeht, betont diesen zentralen Punkt (vgl. dazu Kienzler 2006, 26 – 30).
40 Wittgenstein ist gerne und hufig ins Kino gegangen.
41 In einer wenig spteren Variante dieser Bemerkung sind die persçnlichen Anklnge getilgt. Sie lautet: „Wir berlegen uns Handlungen, ehe wir sie ausfhren.
Wir machen uns Bilder von ihnen; aber wozu? Es gibt doch kein „Gedankenexperiment“!“ (PG 109)
Auch die traditionelle Auffassung der „Normativitt“ der Logik, in dem Sinne,
dass die Logik danach einzurichten ist, dass man ihr folgend die Wahrheit findet
(vgl. dazu Kienzler 1997, 63 – 76), spielt hier eine problematische Rolle. Wittgenstein notiert: „Hier kommen wir auch zur Frage: inwieweit hilft Denken die
Wahrheit finden? (Johnson)/ „Ich male mir das aus“/ Das Denken faßt in gewissem Sinne nur zusammen.“ (111, 138f.) Johnson war 1912 in Cambridge
Wittgensteins erster Betreuer fr Logik. Beide haben die Diskussionen ber
Logik bald abgebrochen, aber viel ber Musik gesprochen.
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nauer besehen unsinnig ist, oder, anders ausgedrckt, zu einer Hypostasierung fhrt, die philosophische Probleme erst erzeugt.
25. In einer weiteren Bemerkung der Philosophischen Grammatik
scheint Wittgenstein erneut thematisch zu Gedankenexperimenten Stellung zu nehmen. Den Kontext bildet hier die Darlegung der Grammatik
des Wortes „Denken“, eine Untersuchung, die man auch irrefhrend als
„Erforschung des Denkens selbst“ bezeichnen kçnnte. Wittgenstein untersucht hier eine Quelle, die dazu fhren kann, die Rede von „Gedankenexperimenten“ einfhren zu wollen. Diese Versuchung besteht
hauptschlich in der Neigung zu glauben, dass Gedanken die „Realitt“
in irgendeiner Weise enthalten (oder „konstitutiv auf Realitt bezogen“
sind), wodurch der Schritt zum Gedankenexperiment als der philosophischen Bewegung innerhalb dieser Realitt der Gedanken nahegelegt
wird. Ein Missverstehen der Sprachform wird als etwas „Experimentelles“
gedeutet:
Der Gedanke kommt uns geheimnisvoll vor. Aber nicht whrend wir denken. Auch meinen wir nicht psychologisch merkwrdig. Wir sehen in ihm
nicht nur eine besondere Art, Bilder und Zeichen herzustellen; sondern es
scheint uns, als htten wir in ihm die Realitt eingefangen.
Er scheint uns ein seltsamer Vorgang nicht wenn wir ihn ansehen;
sondern wenn wir uns von der Sprache fhren lassen, wenn wir ansehen, was
wir ber ihn sagen.
Dieses Geheimnis verlegen wir in die Natur des Vorgangs. (Wir deuten
das Rtselhafte, das durch ein Mißverstehen unserer Sprachform hervorgebracht wird, als das Rtselhafte eines uns unverstndlichen Vorgangs.) […]
Ein Gedankenexperiment kommt auf dasselbe hinaus, wie ein Experiment, welches man, statt es auszufhren, aufzeichnet, malt oder beschreibt.
Und das Ergebnis des Gedankenexperiments ist dann das erdichtete Ergebnis
des erdichteten Experiments. (PG 154 f.)42
Wenn man diesen Gedankengang ernsthaft verfolgt, wird deutlich, dass
der „Begriff“ des Gedankenexperiments im Sinne eines in Gedanken
durchgefhrten Experiments eine Absurditt darstellt, weil man reale
Experimente natrlich nicht einfach durch Vorstellungen von Experimenten ersetzen kann. Diese Auffassung ist gewissermaßen die grçbste
Art, den Ausdruck aufzufassen, und insofern auch die harmloseste, weil
42 Im gedruckten Text steht nach ,Gedankenexperiment‘ ein Komma, das gesetzt
wurde, als der Satz noch lautete: „Ein Gedankenexperiment, das kommt auf
dasselbe hinaus…“, also bevor Wittgenstein das „das“ strich, aber (ebenso wie der
Herausgeber) vergaß, das Komma zu tilgen.
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sie so weniger Anlaß zu philosophischer Verwirrung gibt als subtilere
Varianten.
26. In Ms 115, 226 (BrB 194)43 entwickelt Wittgenstein die ausfhrlichste Erçrterung zum Ausdruck „Gedankenexperiment“. Der thematische Kontext ist die Erçrterung, wie man das Phnomen des Wiedererkennens eines Gegenstandes richtig beschreibt:
Angenommen, das Spiel bestehe darin, daß B dem A sagt, ob er einen
Gegenstand erkennt; aber nicht, was der Gegenstand sei. Nach einem Hygrometer, das er nicht erkennt, zeigt A ihm einen gewçhnlichen Bleistift. B
sagt, er erkennt ihn. – Was geschah da, als er den Bleistift erkannte? Mußte
er zu sich selbst sagen – obwohl er es dem A nicht sagte – dies sei ein
Bleistift? Warum sollte das geschehen sein mssen? – Als was also erkannte
er das Ding? (BrB 193)
Nach einigen Zwischenschritten berlegt Wittgenstein weiter:
Sollen wir nun sagen, daß B, als A ihm den Bleistift zeigte nach dem
Hygrometer, das er noch nie gesehen hatte, beim Anblick des Bleistifts das
Gefhl der Vertrautheit hatte? Stellen wir uns vor, wie es wirklich geschehen
sein mag. Er sah den Bleistift, lchelte, fhlte Erleichterung, und sagte sich
innerlich das Wort, oder sprach es aus.44 (BrB 193 f.)
Anhand dieser Beschreibung fragt Wittgenstein nun:
Aber wie ist es: haben wir hier ein ,Gedankenexperiment‘ gemacht? (BrB
194)
Wittgenstein stellt zunchst nchtern fest, dass die eben gegebene Beschreibung in keiner Weise auf einem „Versuch“ beruht; allerdings in
Gestalt einer Frage:
Wie wissen wir denn, daß es sich so verhlt, bloß dadurch, daß wir es uns so
vorstellen? Was ist das fr eine seltsame Weise, festzustellen, wie sich eine
Sache verhlt? (Ebd.)45
In einem Exkurs, der sich nicht auf seine eigene Vorgehensweise bezieht,
greift Wittgenstein nun die Rede von einem Versuch zunchst auf:46
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Dazu gibt es in Ms 152, 17 f. eine Vorstufe.
Am Rand trgt dieses Beispiel die „Sprachspielnummer“ (95).
In einer Zwischenpassage lehnt er auch die Introspektion als mçgliche Quelle ab.
Griesecke/Kogge 2005, 53 und 72, interpretieren diese Passage als Beleg fr eine
nderung in Wittgensteins Auffassung von Gedankenexperiment. Dabei bersehen sie jedoch den Status der Ausfhrungen als Exkurs, der etwas expliziert, was
mit Wittgensteins eigener Methode gerade nichts zu tun hat.
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Nun kann man ja wirklich ein Experiment machen, dadurch, daß man sich
etwas vorstellt. Nicht ein Experiment in der Vorstellung, das ist, das bloße
Vorstellungsbild eines Experiments. (Ein Laboratorium kann man nicht
dadurch berflssig machen, daß man sich Apparate und Versuche einfach
vorstellt.) Wenn mich zum Beispiel jemand fragt, „Wie begrßt Du den N.,
wie gehst Du auf ihn zu?“, so kann ich, um antworten zu kçnnen, mir
vorstellen, N. trete herein und ich mache etwa dabei die Bewegung des
Begrßens. Und dies ist ein Versuch. Er mag mich tuschen, und was
wirklich in so einem Fall geschieht, mag etwas anderes sein; aber die Erfahrung lehrt vielleicht, daß wirklich meist das geschieht, was so ein Versuch
zeigt. Htte also die Frage gelautet –, „Lchelt ein Mensch in so einem Fall?“,
so htte ich allerdings den Versuch durch ein Vorstellen machen kçnnen.
[…] Aber kçnnte es nicht vorkommen, daß mir ein Augenzeuge sagte: „Ich
versichere Dir, Du hast in diesen Fllen nie gelchelt“; und ist es nicht
mçglich, daß ich ihm glaubte? (BrB 194 f.)
Ein Versuch der beschriebenen Art ist tatschlich mçglich, um sich etwas
klarzumachen (hnlich wie durch ein Rollenspiel), aber dieser Versuch
selbst entscheidet die Frage gar nicht, sondern das Ergebnis muss seinerseits gegenber der Erfahrung, an der auch andere beteiligt sind,
berprft werden. Insofern kann ein solcher Versuch wohl als heuristisches Werkzeug zur Besinnung dienen, er reicht aber nicht zur Begrndung von Resultaten aus; insofern fehlt hier die gerade Kontrollinstanz,
die ein zentrales Element tatschlicher Experimente darstellt.
Außerdem beschreibt diese Nebenbemerkung gerade nicht die Methode von Wittgensteins eigener philosophischer Untersuchung, wie er
gleich anschließend klarstellt:
Aber um einen solchen Versuch hatte es sich in (95) nicht gehandelt. Denn
die Frage war nicht, ob das und das uns bekannte Gefhl in diesem Falle
auftrete oder nicht, sondern ob wir bei seiner Betrachtung ein Gefhl unterscheiden, das wir ,Gefhl der Vertrautheit‘ (oder ,Bekanntheit‘) nennen
wollten. Wenn ich also sagte: „Stellen wir uns vor, was in so einem Falle
geschehen kçnnte“, so hieß das: stellen wir uns den Fall einmal vor, ohne
von dem Wort ,Gefhl der Vertrautheit‘ beeinflußt zu sein, also – wie wir
sagen kçnnten – ohne grammatisches Vorurteil. Und wir kçnnten fragen: Hast
Du nun noch das Bedrfnis zu sagen: er habe beim Anblick des Bleistifts das
Gefhl der Vertrautheit? (BrB 195)
Wittgenstein will also gerade nicht irgendein Gefhl oder einen Vorgang
erforschen, sondern seine Untersuchung betrifft die sprachliche Darstellung bestimmter Wortverwendungen. Seine „grammatische Untersuchung“ richtet sich vielmehr gegen das „grammatische Vorurteil“. Die
von ihm selbst beschriebene Mçglichkeit, „in der Vorstellung Versuche
anzustellen“, ist demgegenber gerade keine philosophisch interessante
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Methode, und nicht einmal eine empirische berprfungsmethode,
sondern, so kçnnte man sagen, ein Mittel, sich bestimmte konkrete
Vorgnge oder Handlungsweisen anschaulich zu vergegenwrtigen. Der
Philosophie geht es aber gerade nicht um solche (oder irgendwelche)
Vorgnge.47
27. In den Philosophischen Untersuchungen kommt der Ausdruck
„Gedankenexperiment“ nicht vor – seltsamerweise jedoch im Register.48
Die entsprechende Passage (PU 265 – 267) gehçrt in die Erçrterungen
einer privaten Sprache und formuliert den bereits erçrterten (falschen)
Gedanken, dass „die Vorstellung des Ergebnisses eines vorgestellten Experiments das Ergebnis eines Experiments ist“. Die Vorstellung einer
Rechtfertigung ist nicht nur nicht dasselbe wie die Rechtfertigung einer
Vorstellung, sondern berhaupt keine Rechtfertigung:
Angenommen, ich wollte die Dimensionierung einer Brcke, die in meiner
Vorstellung gebaut wird, dadurch rechtfertigen, daß ich zuerst in der Vorstellung Zerreißproben mit dem Material der Brcke mache. Dies wre
natrlich die Vorstellung von dem, was man die Rechtfertigung der Dimensionierung einer Brcke nennt. Aber wrden wir es auch eine Rechtfertigung der Vorstellung einer Dimensionierung nennen? (PU 267)
28. Eine zentrale Gegenberstellung in Wittgensteins Sptphilosophie ist
die Unterscheidung von Rechnung und Experiment; dies stellt eine besondere Form der Trennung des Begrifflichen vom Empirischen dar.
Rechnungen sind etwas, was man wesentlich auf dem Papier (mit Zeichen oder „in Gedanken“) macht49 und wo eine Bezugnahme auf Erfahrung widersinnig wre, was umgekehrt bei Experimenten (in Wittgensteins Sinn) gerade die (oder zumindest eine) wesentliche Komponente darstellt. Die Unterscheidung ist auch fr die Bestimmung der
Philosophie wichtig, weil Wittgenstein die Ttigkeit der Philosophie mit
Rechnungen vergleicht, d. h. mit der Zusammenstellung von Begrifflichem, was methodisch „apriori“ genannt werden kann, auch dort, wo es
mit „empirisch“ zusammengestelltem Material (also etwa unserer faktisch
47 Allerdings ist die Rede von solchen und hnlichen Vorgngen in der Philosophie
des Geistes ausgesprochen verbreitet.
48 Der Ausdruck findet sich im ansonsten sehr brauchbaren und bersichtlichen
Register von W. Breidert zur Einzelausgabe von 1978, das in die Werkausgabe
(1984) und auch in die Kritisch-genetische Ausgabe (2001) bernommen wurde.
49 Der Handlungscharakter bedeutet nicht, dass hier Empirisches beteiligt wre,
sondern schließt dies gerade aus, weil es hier fr das richtige Ergebnis nur auf die
Handlungen, aber auf keinerlei Vorgnge oder Wirkungen ankommt.
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bestehenden Sprache) vorgenommen wird.50 In den Bemerkungen ber die
Grundlagen der Mathematik untersucht er ausfhrlich Tendenzen, die
Mathematik als „von etwas handelnd“ aufzufassen und insofern mit einer
empirischen Untersuchung zu vergleichen oder ihr nahezurcken. Er
stellt fest: „In der Vorstellung kann ich rechnen, aber nicht experimentieren.“ (BGM I, 98)
Ein wichtiger Unterschied liegt hier darin, dass ein Experiment ein
berraschendes Resultat haben kann, whrend bei Rechnungen und
berlegungen berraschungen nicht vorgesehen sind.51
Wittgenstein behandelt nun genau diesen Fall: „Eine berlegung gibt
ein berraschendes Resultat.“ (Ms 118, 73v) Das Auftreten solcher
berraschungen kann dazu verleiten, Rechnungen und berlegungen
(„Denken“) als eine Art von Experiment anzusehen, eben ein „Gedankenexperiment“. Wittgenstein macht Ernst mit dieser Mçglichkeit52 und
fhrt fort:
Aber eine berlegung ist ja nur ein Bild; warum berrascht es Dich? Oder
sollte ich sagen: „Mich berrascht nicht das Bild, sondern der Ausgang des
Gedankenexperiments“? (Ms 118, 73v)
Wittgenstein geht zunchst auf diese Deutung ein und spricht auch von
„Denkexperiment“:
Wenn das Gedankenexperiment – mit allen Vorkehrungen – so verluft,
dann nehmen wir seinen Gang zur Regel. Ist er bei dem Gedankenexperiment erst einen Weg gegangen, so kann es sein, daß er beim ,berprfen‘
50 Wittgenstein verwendet in seinen begrifflichen Untersuchungen vçllig gleichberechtigt erfundene Sprachspiele und solche, die tatschlich vorkommen.
51 Die Selbstverstndlichkeit, mit der Wittgenstein von berraschenden Resultaten
der Experimente spricht, msste noch einmal berprft werden, weil Experimente ja genau so gestaltet werden, dass sie ihre mçglichen Resultate bereits in
ihrer Beschreibung vorwegnehmen. Klassisch sind hier Experimente, die zwischen zwei Theorien entscheiden sollen. berzeugendere Beispiele von berraschungen bilden etwa Datenerhebungen, die quantitativ berraschen kçnnen
oder Expeditionen, auf denen z. B. unbekannte Tiere und Pflanzen entdeckt
werden. Man denke hier etwa an Formulierungen wie diese: „Das Wunder in der
Wissenschaft ist, dass es kein Wunder ist.“ Dabei wre auch das Verhltnis von
berraschung und Wunder genauer zu beleuchten. Zur Frage der berraschungen vgl. auch Mhlhçlzer 2002.
52 Hier findet sich ein satirisches Element in Wittgensteins Methodik, indem er
durch ein konsequentes Ernst- bzw. Wçrtlichnehmen einer Konzeption deren
Unsinnigkeit aufzeigt. Die gemachte Annahme weist daher nicht darauf hin, dass
Wittgenstein darber im Zweifel ist, ob sie stimmt oder nicht, sondern sie drckt
die Auffassung mçglichst klar aus, um ihre Verfehltheit aufzuzeigen.
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einen anderen Weg geht, und erklrt, er habe sich beim ersten geirrt. (Ms
118, 75)
Diese berlegung weist auf, dass die Rede von einem „Gedankenexperiment“, trotz ihrer scheinbaren Griffigkeit und berzeugungskraft,
wenn man sie hier ernstnimmt, leerluft: Ein Gedankenexperiment kann,
wenn man es als einzelnen Vorgang auffasst, kein mathematisches Resultat
begrnden, sondern muss sich der berprfung stellen und kann bei
Nichtbestehen als „Irrtum“ ausgeschieden werden. Hier zeigt schon die
Redeweise von „Irrtum“, dass wir uns nicht in der Sphre der Erfahrung,
sondern in der der Rechnung befinden.
Diese berlegungen sind im brigen entgegen dem ersten Anschein
keine abstrusen Spekulationen, sondern gehçren zu Wittgensteins Bemhungen, methodische Unklarheiten im modernen Verstndnis der
Mathematik aufzuklren, fr die die Rede von besonderen berraschungen eine wichtige Rolle spielt. Er stellt dabei auch einen engen
Zusammenhang zu Diskussionen um Gçdels Beweise her (in BGM Teil I,
Anhang III). In Anhang II (zum berraschenden) schreibt er:
Hievon verschieden ist aber eine heute herrschende Auffassung, der das
berraschende, das Erstaunliche darum als Wert gilt, weil es zeige, in welche
Tiefe die mathematische Untersuchung dringt – wie wir den Wert eines
Teleskops daran ermessen kçnnten, daß es uns Dinge zeigt, die wir ohne
dieses Instrument nicht htten ahnen kçnnen.53 Der Mathematiker sagt
gleichsam: „Siehst du, das ist doch wichtig, das httest du ohne mich nicht
gewußt.“ So als wren durch diese berlegungen, als durch eine Art hçheren
Experiments, erstaunliche, ja die erstaunlichsten Tatsachen ans Licht gefçrdert worden. (BGM I, Anhang II, 1)
Gegenber solchen, im Kern platonischen Auffassungen von „hçheren
Experimenten“ (dazu werden auch Gçdels Forschungen gerechnet) betont er den konstruktiven Charakter der Mathematik. Fr ihn ist der
Mathematiker, wie er pointiert formuliert, ein Erfinder, kein Entdecker.54
29. In einer isolierten Aufzeichnung zu Vorlesungen notiert Wittgenstein in einem sonst englischen Manuskript das deutsche Wort „Gedankenexperiment“. Er behandelt dort die Thematik, dass wir, sozusagen
mit dem geistigen Auge, mathematische Gegebenheiten erkennen kçn53 Diese Auffassung findet sich schon bei Frege, der im Vorwort seiner Begriffsschrift
seine Logik mit einem Mikroskop vergleicht.
54 Durch ihre Betonung des Handlungscharkters des Experimentellen verwischen
Griesecke/Kogge tendenziell diesen zentralen Unterschied. Zu Wittgensteins
Verhltnis zu Gçdels Resultaten vgl. Kienzler 2008.
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nen, auch ohne einen Beweis zu haben, also unabhngig, sozusagen absolut, gegenber einer bestimmten Beweismethode:
„We seem to recognize mathematical truths by experience before we can
prove them.“ (Ms 161, 16)
30. In einer sehr spten Bemerkung greift Wittgenstein die Unterscheidung von Experiment und Rechnung noch einmal auf. Der Zusammenhang ist hier die Untersuchung des Aspektsehens:
Der Aspekt leuchtet nur auf, er bleibt nicht stehen. Und das muß eine
begriffliche Bemerkung sein, keine psychologische. Der Ausdruck des Sehens
des Aspekts ist der Ausdruck der neuen Wahrnehmung. (Ms 137, 128/LS
518)
Solche auf den ersten Blick Fakten und Vorgnge konstatierenden Bemerkungen stellt Wittgenstein in das richtige Licht, indem er an dieser
Stelle betont:
Ich mache scheinbar ,Gedankenexperimente‘. Nun, es sind eben keine Experimente. Viel eher Rechnungen. (Ms 137, 128/LS 519)
31. Die Synopse der unterschiedlichen Beispiele, in denen sich Wittgenstein mit ,Gedankenexperimenten‘ auseinandersetzt, zeigen insgesamt
also eine hohe Konstanz der Einschtzung: Immer wieder grenzt er sein
eigenes grammatisches, begriffliches und sprachbeschreibendes Verfahren
gegenber Tendenzen ab, die in der Philosophie zumindest in Teilen eine
empirische, experimentelle55 Untersuchung sehen wollen. Dies gilt gleichermaßen von Untersuchungen zu Begriffen der Gesichtswahrnehmung,
55 Den Begriff des Experimentellen fasst Wittgenstein dabei so, dass damit der
Aufbau einer Versuchsanordnung fr Naturerscheinungen gemeint ist, im Unterschied zum Entwerfen von Regeln oder Handlungszusammenhngen, deren
Ergebnis wir noch nicht vollstndig bersehen. Das Auftreten von Widersprchen in der Logik gehçrt etwa zum zweiten Fall, wird aber hufig als unangenehme berraschung derart aufgefasst, als sei man einem schrecklichen Naturereignis begegnet. Wittgenstein deutet die Widersprche als Symptome fr
schlichte Unklarheit in unseren Regelwerken, die durch Klrung dieser Regelwerke zu beheben sind. Dieser Ansatz wurde hufig so gedeutet, als nehme
Wittgenstein die Widersprche in Logik und Mathematik nicht richtig ernst;
tatschlich weist er darauf hin, dass die „experimentelle“ Deutung dieser Widersprche eine kategoriale Fehlinterpretation (als „Ereignis“ hnlich einem
physikalischen Vorgang, etwa einem Experiment, das nicht den gewnschten
Ausgang findet) darstellt. Nicht das logische Schicksal, sondern begriffliche
Unklarheiten waren die Ursache fr das Scheitern von Freges Versuch, die
Arithmetik aus der Logik zu begrnden.
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zum Begriff bzw. der verzweigten Verwendung des Wortes „Denken“,
oder auch „Wiedererkennen“, aber auch in Fragen der Mathematik und
schließlich des Aspektsehens. In allen Fllen erweisen sich die angeblichen
Gedankenexperimente als seltsame Zwitterwesen zwischen Begrifflichem
und Empirischem, wobei der Begriff des Experimentes selbst zuweilen
zwischen beiden Aspekten schwanken kann.
Die Rede von Gedankenexperimenten in der neueren analytischen
Philosophie kann in ihrem methodischen Status durch einen Vergleich
mit Wittgensteins Anwendung scheinbar hnlicher Methoden (Sprachspiele, Fiktionen) beleuchtet werden. Die markante Divergenz und
Kontrritt beider Anstze besttigt sich durch die Beschreibung und
Analyse seiner Bemerkungen zu Tendenzen, das Wort „Gedankenexperiment“ anzuwenden. Wittgenstein versucht zwar einerseits eine Auflockerung des philosophischen Instrumentariums, insbesondere durch die
Betrachtung einer Vielzahl realer wie fiktiver Beispiele, verbindet dies
aber mit einer strikten methodischen Trennung empirischer und begrifflicher Fragen. Die Philosophie hat es fr Wittgenstein nur mit begrifflichen Fragen zu tun. Allerdings tauchen dabei an verschiedenen
Stellen Situationen auf, wo die Versuchung naheliegt, von Experimenten,
oder auch Gedankenexperimenten zu sprechen. Einige dieser Flle behandelt Wittgenstein in seinen Manuskripten. Diese lokalen Abgrenzungsarbeiten fhren bei ihm allerdings nicht zu einem zusammenhngenden Text, der die Frage der Gedankenexperimente thematisiert. Die
methodische Linie bleibt jedoch von dieser Lokalitt unberhrt.
Machs Wortprgung „Gedankenexperiment“ erweist sich so als einerseits beraus griffig und eingngig, aber zugleich methodisch unklar,
so dass der hauptschliche Ertrag von Machs Vorschlag darin besteht, dass
man mit seiner Hilfe einige methodische Fehlerscheinungen besonders
klar aufzuweisen vermag.
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Wittgenstein ber „Gedankenexperimente“
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