ADHS im Erwachsenenalter - Forum und Chat der salus klinik

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ADHS im Erwachsenenalter
Von Dr. Dietmar Kramer
erschienen in der salü 1/2005
In direkter Nachbarschaft der salus klinik, nämlich in Frankfurt am Main, schenkte der Arzt
Heinrich Hoffmann im Jahre 1844 seinem erstgeborenen Sohn Carl Phillip, damals drei Jahre
alt, ein selbst geschriebenes Büchlein zu Weihnachten, den „Struwwelpeter“. Indem er mit
dem „Zappelphillip“ seine Sorgen und Nöte mit dem – offensichtlich hyperaktiven – Sohn in
einer liebenswerten Weise zu Papier brachte, beschrieb der engagierte Arzt die heute
häufigste kinder- und jugendpsychiatrische Krankheit: die AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung, abgekürzt ADHS.
Die von dieser Erkrankung betroffenen Kinder haben eine ausgesprochene Bewegungsunruhe,
können kaum ruhig sitzen, sich nur schlecht konzentrieren, sind leicht ablenkbar und impulsiv
in ihrem Handeln. Viele Eltern geraten mit der Erziehung eines solchen Kindes an ihre
Grenzen, in der Schule sind diese Kinder oft verhaltensauffällig.
War die Vorstellung zunächst, dass sich diese Störung mit dem Erwachsenwerden der Kinder
und Jugendlichen „verwächst“, kamen vor über zehn Jahren erste Berichte auf, dass dies eben
nicht in allen Fällen geschieht, sondern die Störung durchaus bis ins Erwachsenenalter hinein
persistieren kann. Das Time Magazine widmete dieser Erkrankung 1994 eine Titelgeschichte
und benannte als wahrscheinlich Betroffene unter anderem Benjamin Franklin, Winston
Churchill, Albert Einstein und Bill Clinton.
Aktuelle Zahlen besagen, dass ca. 6-10 % aller Kinder an einer ADHS leiden; Jungen sind
etwa 3 bis 4 mal häufiger betroffen als Mädchen. In wie vielen Fällen diese Störung bis ins
Erwachsenenalter weiterbesteht, ist umstritten, die Angaben schwanken zwischen 4% und
70%. Zwischen 0,3 % bis 6% aller Erwachsenen sollen an einer persistierenden ADHS leiden.
Einigkeit herrscht darin, dass ein Erstauftreten einer ADHS beim Erwachsenen nicht
vorkommt, die Diagnose einer ADHS im Erwachsenenalter ein Betroffensein bereits in der
Kindheit voraussetzt.
Nach heutigem Wissensstand ist bei ADHS von einer komplexen Dysregulation von
Neurotransmittern auszugehen, möglicherweise in Form einer Dysfunktion der
präsynaptischen Wiederaufnahmekanäle (Dopamintransporter) in den Basalganglien. Als gut
belegt kann eine starke genetische Komponente gelten. Es wird zur Zeit geschätzt, dass etwa
80 % der Symptomatik vererbt wird.
ADHS und Abhängigkeitserkrankungen
ADHS ist eine Störung, die häufig mit Begleiterkrankungen (komorbiden Störungen)
einhergeht, so z.B. häufig Abhängigkeitserkrankungen. In verschiedenen Studien wurde bei
33%-44 % der erwachsenen ADHS-Patienten ein Alkoholmissbrauch beschrieben. Die Rate
für Drogenabusus (insbesondere Missbrauch von Cannabis und Cocain) liegt nach Studien
sogar noch darüber.
Alkoholabhängige Patienten, die zusätzlich an einer ADHS leiden, beginnen nach einer Studie
früher mit dem Trinken, konsumieren größere Mengen an Alkohol und weisen häufiger eine
antisoziale Persönlichkeitsstörung auf als Alkoholabhängige ohne ADHS.
Zwischen 15 und 32 % (!) aller Patienten, die wegen einer Alkoholabhängigkeit in
Behandlung sind, sollen zusätzlich an einer ADHS leiden. Diese hohe Komorbiditätsrate wird
in mehreren Studien beschrieben, spiegelt sich jedoch in keiner Weise im klinischen Alltag
wider. Im Gegenteil: Die Diagnose einer ADHS bei Suchtpatienten im klinischen Alltag wird
äußerst selten gestellt. Laut Basisdokumentation 2003 des Fachverbandes Sucht, in dem die
Daten von 13.955 Patienten, die im Jahre 2003 eine stationäre Entwöhnungsbehandlung
absolvierten, zusammengefasst werden, wurde lediglich bei 0,3% der Fälle neben der
Abhängigkeitsdiagnose eine ICD-10-Diagnose aus dem Kapitel F9 gestellt, worunter auch die
ADHS subsumiert wird.
Wie kommt es zu dieser Diskrepanz zwischen den hohen Zahlen in den Studien und den
niedrigen Zahlen in der Praxis? Entweder wird diese Störung im Klinikalltag deutlich
unterdiagnostiziert oder in den beschriebenen Studien überdiagnostiziert.
Dass die Störung deutlich seltener diagnostiziert wird als es aufgrund der Studien zu erwarten
wäre, könnte folgende Gründe haben:
• • Die Störung ist auch in Fachkreisen immer noch sehr wenig bekannt und wird daher
übersehen.
Noch vor ca. 10 Jahren war gängige Lehrmeinung, dass ADHS eine Erkrankung des
Kinder- und Jugendalters ist und bei Erwachsenen nicht vorkommt. Es wird noch einige
Zeit benötigen, bis eine ADHS im Erwachsenenalter so selbstverständlich diagnostiziert
wird wie andere psychische Störungen.
• • Die Störung wird in der Fülle der anderen Diagnosen übersehen.
Eine ADHS geht häufig mit einer Vielzahl komorbider Störungen einher. Insbesondere
sind dies Depressionen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen (v.a. antisoziale und
emotional instabile Persönlichkeitsstörung) und Abhängigkeitserkrankungen. Wenn schon
mehrere psychiatrische Diagnosen gestellt wurden, die die Mehrzahl der vorliegenden
Symptome erklären, wird eine zusätzliche ADHS-Diagnose möglicherweise nicht gestellt.
• • Es wird zwar an das Vorliegen dieser Diagnose gedacht, die Diagnose aber letztlich
nicht gestellt, weil daraus keine therapeutischen Konsequenzen erwachsen.
Entsprechend der Leitlinien soll eine ADHS im Erwachsenenalter erst dann behandelt
werden, wenn der Patient in mindestens einem Lebensbereich durch die Erkrankung stark
eingeschränkt ist. Da dies häufig nicht der Fall ist wäre denkbar, dass zwar nach ICDoder DSM-Kriterien die Diagnose gestellt werden könnte, dies aber – gerade weil bei
diesen Patienten häufig schon mehrere psychiatrische Diagnosen vorliegen – nicht getan
wird. Möglicherweise werden aber auch nur deshalb keine therapeutischen Konsequenzen
gezogen, weil Unklarheiten über die therapeutischen Optionen bei Suchtpatienten mit
ADHS bestehen (s. Diskussion weiter unten).
Die Störung wird in den genannten Studien möglicherweise überdiagnostiziert, weil in jenen
Studien aus Gründen der Reproduzierbarkeit die Diagnose ADHS häufig ausschließlich
testdiagnostisch gestellt wird, meist indem der WURS (Wender Utah Rating Scale zur
Beurteilung der Symptome in der Kindheit) und ein anderes Testverfahren, welches das
aktuelle Vorliegen von ADHS-Symptomen im Erwachsenenalter erfragt (z.B. Brown Scales),
über dem Cut-off liegen. Gemäß den Leitlinien ist die Diagnose einer ADHS aber keine
testdiagnostische, sondern eine klinische. Insbesondere die möglichen Differentialdiagnosen
werden durch diese Testdiagnostik zu wenig berücksichtigt. Voraussetzung für die
Diagnosestellung ist laut DSM IV: „Die Symptome treten nicht ausschließlich im Verlauf
einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen psychotischen
Störung auf und können auch nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt
werden (z.B.affektive Störung, Angststörung, dissoziative Störung oder eine
Persönlichkeitsstörung)“. Das heißt, ADHS ist eine Ausschlussdiagnose, die nur dann gestellt
werden soll, wenn andere psychische Diagnosen das Krankheitsbild nicht ausreichend
erklären, was möglicherweise in den Studien zu wenig berücksichtigt wird.
Therapie der ADHS
Wie oben schon angedeutet, stellt sich neben der Unsicherheit in der Diagnosestellung für
Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen und ADHS auch noch die Frage nach der
geeigneten Therapie. Gemäß den Leitlinien wird bei ADHS im Erwachsenenalter eine
„multimodale Therapie“ bestehend aus pharmakologischen und psychotherapeutischen
Therapien empfohlen.
Bei Kindern und Jugendlichen ist Mittel der ersten Wahl für eine ADHS-Behandlung
Methylphenidat, eine amphetaminähnliche Substanz. Im Erwachsenenalter ist
Methylphenydat zwar zur Behandlung einer ADHS nicht zugelassen, aber in der Literatur
wird dieses Medikament auch bei Erwachsenen als Mittel der ersten Wahl bezeichnet. Die
Studienlage ist nicht überwältigend groß, aber die vorliegenden Studien belegen die
Wirksamkeit von Methylphenidat auch im Erwachsenenalter. Methylphenydat ist eine
Substanz mit Missbrauchs- und Abhängigkeitspotential. Die Studien weisen zwar darauf hin,
dass Jugendliche, die mit Methylphenidat behandelt werden, seltener an einer Sucht erkranken
als Jugendliche, die dieses Medikament nicht bekommen. Es gibt allerdings wenig
Informationen, wie Patienten, die bereits manifest an einer Abhängigkeitserkrankung leiden,
auf dieses Medikament reagieren. Zum einen besteht natürlich die Gefahr, dass dieses
Medikament gerade von dieser Personengruppe missbräuchlich konsumiert wird bis hin zur
Abhängigkeit. Zum anderen ist aber auch denkbar, dass diese Menschen Alkohol oder andere
Drogen im Sinne einer Selbstmedikation nutzen, um die Symptome ihrer ADHS zu bessern.
Dann könnte eine Therapie der ADHS mit Methylphenidat die Abhängigkeitserkrankung
sogar verbessern. Beides wurde in unserer Klinik schon beobachtet: Die Besserung der
Abstinenzfähigkeit alkoholabhängiger ADHS-Patienten unter Methylphenidat, aber auch der
Missbrauch von Methylphenidat im Sinne eines ständigen Drängens nach höheren und
häufigeren Dosen und die Einnahme unregelmäßiger Dosen entgegen der Verordnung.
Eine Alternative zu Stimulanzien stellen Antidepressiva mit noradrenerger Wirkkomponente
dar (z.B. Reboxetin, Venlafaxin). Gerade bei ADHS-Patienten mit einer
Abhängigkeitsproblematik wird häufig auf diese Substanzen zurückgegriffen, wobei
aussagekräftige Vergleichsuntersuchungen zu einer Behandlung mit Stimulanzien aber noch
ausstehen.
Zur medikamentösen Therapie von Suchtpatienten mit ADHS sind daher dringend weitere
Studien notwendig.
Zur Psychotherapie von Patienten mit ADHS im Erwachsenenalter sind bislang keine
kontrollierten Studien publiziert. Vergleichende Studien zeigen jedoch die Wirksamkeit einer
störungsspezifischen Psychotherapie. Hier werden sowohl verhaltenstherapeutische als auch
tiefenpsychologisch orientierte Verfahren empfohlen.
Die Freiburger Arbeitsgruppe um B. Hesslinger hat kürzlich ein Therapiemanual zur
Psychotherapie der ADHS vorgelegt, welches sich an der Dialektisch-Behavioralen Therapie
(DBT) nach M. Linehan zur Behandlung von Patienten mit emotional instabiler
Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (Borderline-Persönlichkeits-Störung) orientiert.
Grundlage der DBT ist das dialektische Balancieren zwischen Validierung und Veränderung.
Damit ist ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den beiden Polen „Akzeptanz der Störung
wie sie ist, Rückmeldung, dass die Störung nachvollziehbar und verständlich ist“ und „Arbeit
in Richtung Veränderung, kontinuierliche Besserung der Symptomatik“ gemeint. Die
Therapieziele werden in der DBT nach Wichtigkeit hierarchisiert.
Beide Prinzipien wurden in dem Therapiemanual von Hesslinger et al. auf die Therapie einer
ADHS angewandt. Übergeordnetes Therapieziel des Verfahrens ist es, dass der Patient lernt,
ADHS zu kontrollieren und nicht mehr von ADHS kontrolliert zu werden. Das Verfahren
wird als Gruppentherapieprogramm beschrieben und arbeitet mit 13 Modulen à zwei Stunden
in wöchentlichem Abstand. Wesentliche Bestandteile sind Psychoedukation (Aufklärung über
das Krankheitsbild und die Begleiterkrankungen), Erlernen von Achtsamkeitsübungen, Zeitund Organisationsplanung, Erstellen von Verhaltensanalysen in Eigenregie,
Gefühlsregulation, Impulskontrolle und Stressmanagement. Eine erste Studie belegt die
Wirksamkeit dieses Verfahrens.
War ADHS im Erwachsenenalter in den letzten Jahren noch ziemlich unbekannt, so wird
diese Erkrankung im Moment immer mehr zu einer Modediagnose: „ADHS ist in“. Es bleibt
abzuwarten, ob sich diese Entwicklung in den nächsten Jahren auch in den Institutionen der
Suchtkrankenhilfe widerspiegelt. Ein erster entsprechender Trend, dass Patienten mit dieser
Störung häufiger in Suchtfachkliniken betreut werden, deutet sich an. Eine stationäre
Behandlung dieser Patienten bietet sich aufgrund der hohen Komorbiditätsrate und der damit
verbundenen Notwendigkeit einer mehrdimensionalen Therapiestrategie an.
Symptomatik
In leicht modifizierter Form übernommen aus „ADHS im Erwachsenenalter – Leitlinien auf
der Basis eines Expertenkonsensus mit Unterstützung der DGPPN“, basierend auf den
Wender-Utah-Kriterien der ADHS (Ebert et al., Der Nervenarzt 10, 2003; S. 939-944)
1. Aufmerksamkeitsstörung:
Gekennzeichnet durch das Unvermögen, Gesprächen aufmerksam zu folgen, erhöhte
Ablenkbarkeit, Schwierigkeiten, sich auf schriftliche Dinge oder Aufgaben zu konzentrieren,
Vergesslichkeit, häufiges Verlieren oder Verlegen von Gegenständen wie Autoschlüssel,
Geldbeutel oder der Brieftasche.
2. Motorische Hyperaktivität:
Charakterisiert durch das Gefühl innerer Unruhe, Unfähigkeit, sich zu entspannen,
„Nervosität“ Unfähigkeit, sitzende Tätigkeiten durchzuhalten, z. B. am Tisch still sitzen,
Spielfilme im Fernsehen ansehen, Zeitung lesen, stets „auf dem Sprung“ sein, dysphorische
Stimmungslagen
bei Inaktivität.
3. Affektlabilität:
Diese charakteristische Stimmungsstörung wird nicht im DSM-IV beschrieben. Sie besteht
gewöhnlich schon vor der Adoleszenz, gelegentlich schon so lange, wie sich der Patient
erinnern kann. Gekennzeichnet ist sie durch Wechsel zwischen normaler und
niedergeschlagener Stimmung sowie leichtgradiger Erregung. Die niedergeschlagene
Stimmungslage wird vom Patienten häufig als Unzufriedenheit oder Langeweile beschrieben.
Die Stimmungswechsel dauern Stunden bis maximal einige Tage; hat das Verhalten bereits zu
ernsthaften oder anhaltenden Schwierigkeiten geführt, können sie sich ausdehnen. Im
Gegensatz zur „major depression“ (endogene Depression) finden sich kein ausgeprägter
Interessenverlust oder somatische Begleiterscheinungen. Die Stimmungswechsel sind meist
reaktiver Art, deren auslösende Ereignisse zurückverfolgt werden können. Gelegentlich treten
sie aber auch spontan auf.
4. Desorganisiertes Verhalten:
Aktivitäten werden unzureichend geplant und organisiert. Gewöhnlich schildern die Patienten
diese Desorganisation in Zusammenhang mit der Arbeit, der Haushaltsführung oder mit
schulischen Aufgaben. Letztere werden häufig nicht zu Ende gebracht, die Patienten wechseln
planlos von einer Aufgabe zur nächsten und lassen ein gewisses „Haftenbleiben“ vermissen.
Unsystematische Problemlösestrategien liegen vor, daneben finden sich Schwierigkeiten in
der zeitlichen Organisation und Unfähigkeit, Zeitpläne oder Termine einzuhalten.
5. Affektkontrolle:
Patienten (und ihre Partner) berichten von andauernder Reizbarkeit, auch aus geringem
Anlass, verminderter Frustrationstoleranz und Wutausbrüchen. Gewöhnlich sind die
Wutanfälle nur von kurzer Dauer. Eine typische Situation ist die erhöhte Reizbarkeit im
Straßenverkehr im Umgang mit anderen Verkehrsteilnehmern. Die mangelhafte
Affektkontrolle wirkt sich nachteilig auf Beziehungen zu Mitmenschen aus.
6. Impulsivität:
Einfache Formen hiervon sind Dazwischenreden, Unterbrechen anderer im Gespräch,
Ungeduld, impulsiv ablaufende Einkäufe und das Unvermögen, Handlungen im Verlauf zu
protrahieren, ohne dabei Unwohlsein zu empfinden.
7. Emotionale Überreagibilität:
Patienten sind nicht in der Lage, adäquat mit alltäglichen Stressoren umzugehen, sondern
reagiert überschießend oder ängstlich, sie beschreiben sich selbst häufig als schnell „belästigt“
oder gestresst.
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