35 - Theologische Fakultät Paderborn

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P h i l o s o p h i e g e s c h i c h t e – V or l e s u n g S S 2 0 1 3
T h e o l o g i s c h e F a k u l t ä t P a d e r b or n – P r o f . D r . D r . B e r n d I r l e n b or n
P HILOSOPHIE DER G EGENWART :
P HÄNOMENOLOGIE – K RITISCHE T HEORIE – A NALYTISCHE P HILOSOPHIE
– H ERMENEUTIK
Die phänomenologische Tradition:
Martin Heidegger (1889-1976)
Schriften (Auswahl):
Phänomenologie des religiösen Lebens, in: Gesamtausgabe Bd. 60 (1918-1921); Sein und Zeit
(1927); Was ist Metaphysik? (1929); Rektoratsrede (1933); Beiträge zur Philosophie. Vom
Ereignis (1936-1938); Der Brief über den „Humanismus“ (1946); Vorträge und Aufsätze (1954);
Identität und Differenz (1955-1957); Wegmarken (1919-1961); Zur Sache des Denkens (19621964). – Gesamtausgabe im Verlag Vittorio Klostermann (Frankfurt/M.) über 100 Bä nde.
Sekundärliteratur (Einführung):
Zur Phänomenologie: D. Zahavi, Phänomenologie für Einsteiger, Paderborn 2007; R. Bernet,
Was kann Phänomenologie heute bedeuten?, in: Information Philosophie 4 (2010), 7-21. – Zu
Heidegger: W. Biemel, Martin Heidegger, Hamburg 16 2002; G. Figal, Martin Heidegger zur
Einführung, Hamburg 6 2011; A. Luckner, Martin Heidegger: Sein und Zeit. Ein einführender
Kommentar, Stuttgart 2 2007; Th. Rentsch (Hg.), Klassiker Auslegen – Martin Heidegger: Sein
und Zeit, Berlin 2 2008; D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart u. a. 2003; M. Steinmann, Martin Heideggers Sein und Zeit, Darmstadt 2010; H.
Zaborowski, Eine Frage von Irre und Schuld? Martin Heidegger und der Nationalsozialismus,
Frankfurt/M. 2010.
Begriffe:
Sein, ontologische Differenz, Dasein, Seinsverständnis, Jemeinigkeit, Existenz, Alltäglic hkeit,
In-der-Welt-sein, Zeug, Geworfenheit, Mitsein, Verfallenheit an das Man, Eigen tlichkeit,
Uneigentlichkeit, Zeitlichkeit, Sein zum Tode, Angst, Sorge, Ganzseinkönnen, Langeweile,
Gestimmtsein, Nichts, Transzendenz, Metaphysik, Ek-sistenz, Lichtung, Unverborgenheit
(¢l»qeia/alétheia), Seinsvergessenheit, Seinsgeschick, Gestell, Bestand, Fehl Gottes.
Texte:
(1) Sein und Zeit, Tübingen 16 1986, 1 (Vorwort):
„‘Denn offenbar seid ihr doch schon lange mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr
den Ausdruck ‚seiend’ gebraucht, wir jedoch glaubten es einst zwar zu verstehen, jetzt aber sind
wir in Verlegenheit gekommen’ (Plato, Sophistes 244a). Haben wir heute eine Antwort auf die
Frage nach dem, was wir mit dem Wort ‘seiend’ eigentlich meinen? Keineswegs. Und so gilt es
denn, die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu stellen. (…) Die konkrete Ausarbeitung
der Frage nach dem Sinn von ‘Sein’ ist die Absicht der folgenden Abhandlung. Die Interpretation der Zeit als des möglichen Horizontes eines jeden Seinsverständnisses überhaupt ist ihr
vorläufiges Ziel.“
(2) Ebd., 9:
„Sein ist jeweils das Sein eines Seienden.“
(3) Ebd., 41-43:
㤠9. Das Thema der Analytik des Daseins: Das Seiende, dessen Analyse zur Aufgabe steht, sind
wir je selbst. Das Sein dieses Seienden ist je meines. Im Sein dieses Seienden verhält sich dieses
selbst zu seinem Sein. Als Seiendes dieses Seins ist es seinem eigenen Sein überantwo rtet. Das
Sein ist es, darum es diesem Seienden je selbst geht. Aus dieser Charakteristik des Daseins
ergibt sich ein Doppeltes:
1. Das ‚Wesen’ dieses Seienden liegt in seinem Zu-sein. Das Was-sein (essentia) dieses Seienden muß, sofern überhaupt davon gesprochen werden kann, aus seinem Sein (existentia)
begriffen werden. Dabei ist es gerade die ontologische Aufgabe zu ze igen, daß, wenn wir für das
Sein dieses Seienden die Bezeichnung Existenz wählen, dieser Titel nicht die ontologische
Bedeutung des überlieferten Terminus existentia hat und haben kann; existentia besagt ontol ogisch soviel wie Vorhandensein, eine Seinsart, die dem Seienden vom Charakter des Daseins
wesensmäßig nicht zukommt. Eine Verwirrung wird dadurch vermieden, daß wir für den Titel
existentia immer den interpretierenden Ausdruck Vorhandenheit gebrauchen und Existenz
als Seinsbestimmung allein dem Dasein zuweisen. Das ‚Wesen’ des Daseins liegt in seiner
Existenz. Die an diesem Seienden herausstellbaren Charaktere sind daher nicht vorhandene
‚Eigenschaften’ eines so und so ‚aussehenden’ vorhandenen Seienden, sondern je ihm mögliche
Weisen zu sein und nur das. Alles Sosein dieses Seienden ist primär Sein. Daher drückt der
Titel ‚Dasein’, mit dem wir dieses Seiende bezeichnen, nicht sein Was aus, wie Tisch, Haus,
Baum, sondern das Sein.
2. Das Sein, darum es diesem Seienden in seinem Sein geht, ist je meines. Dasein ist daher nie
ontologisch zu fassen als Fall und Exemplar einer Gattung von Seiendem als Vorhandenem.
Diesem Seienden ist sein Sein ‚gleichgültig’, genau besehen, es ‚ist’ so, da ihm sein Sein weder
gleichgültig noch ungleichgültig sein kann. Das Ansprechen von Dasein mu ß gemäß dem
Charakter der Jemeinigkeit dieses Seienden stets das Personalpronomen mitsagen: ‚ich bin’,
‚du bist’.
Und Dasein ist meines wiederum je in dieser oder jener Weise zu sein. Es hat sich schon immer
irgendwie entschieden, in welcher Weise Dasein je meines ist. Das Seiende, dem es in seinem
Sein um dieses selbst geht, verhält sich zu seinem Sein als seiner eigensten Möglichkeit. Dasein
ist je seine Möglichkeit und es ‚hat’ sie nicht nur noch eigenschaftlich als ein Vorhandenes. Und
weil Dasein wesenhaft je seine Möglichkeit ist, kann dieses Seiende in seinem Sein sich selbst
‚wählen’, gewinnen, es kann sich verlieren, bzw. nie und nur ‚scheinbar’ gewinnen. Verloren
haben kann es sich nur und noch nicht sich gewonnen haben kann es nur, sofern es seinem
Wesen nach mögliches eigentliches, das heißt sich zueigen ist. Die beiden Seinsmodi der
Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit – diese Ausdrücke sind im strengen Wortsinne
terminologisch gewählt – gründen darin, daß Dasein überhaupt durch Jemeinigkeit bestimmt
ist. Die Uneigentlichkeit des Daseins bedeutet aber nicht etwa ein ‚weniger’ Sein oder einen
‚niedrigeren’ Seinsgrad. Die Uneigentlichkeit kann vielmehr das Dasein nach seiner vollsten
Konkretion bestimmen in seiner Geschäftigkeit, Angeregtheit, Interessiertheit, Genußfähigkeit.“
(4) Ebd., 126:
„Das Dasein steht als alltägliches Miteinandersein in der Botmäßigkeit der Anderen. Nicht es
selbst ist, die Anderen haben ihm das Sein abgenommen.  Das Wer ist nicht dieser und
nicht jener, nicht man selbst und nicht einige und nicht die Summe aller. Das ‚Wer‘ ist das
Neutrum, das Man.“
(5) Ebd., 258f.:
„Der Tod als Ende des Daseins ist die eigenste, unbezüglichste, ge wisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins.“
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(6) Was ist Metaphysik? (in: Wegmarken, Frankfurt/M. 1978, 109-117):
„() So sicher wir nie das Ganze des Seienden an sich absolut erfassen, so gewiss finden wir
uns doch inmitten des irgendwie im Ganzen enthüllten Seienden gestellt. Am Ende besteht ein
wesenhafter Unterschied zwischen dem Erfassen des Ganzen des Seienden an sich und dem
Sichbefinden inmitten des Seienden im Ganzen. Jenes ist grundsätzlich unmöglich. Dieses
geschieht ständig in unserem Dasein. Freilich sieht es so aus, als hafteten wir gerade im
alltäglichen Dahintreiben je nur an diesem oder jenem Seienden, als seien wir an diesen oder
jenen Bezirk des Seienden verloren. So aufgesplittert der Alltag erscheinen mag, er behält
immer noch das Seiende, wenngleich schattenhaft, in einer Einheit des »Ganzen«. Selbst dann
und eben darin, wenn wir mit den Dingen und uns selbst nicht eigens beschäftigt sind, übe rkommt uns dieses »im Ganzen«, z. B. in der eigentlichen Langeweile. Sie ist noch fern, wenn
uns lediglich dieses Buch oder jenes Schauspiel, jene Beschäftigung oder dieser Müßi ggang
langweilt. Sie bricht auf, wenn »es einem langweilig ist«. Die tiefe Langeweile, in den Abgrü nden des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herziehend, rückt alle Dinge, Menschen
und einen selbst mit ihnen in eine merkwürdige Gleichgültigkeit zusammen. Diese Langeweile
offenbart das Seiende im Ganzen.
Eine andere Möglichkeit solcher Offenbarung birgt die Freude an der Gegenwart des Daseins –
nicht der bloßen Person – eines geliebten Menschen. Solches Gestimmtsein, darin einem so
und so »ist«, lässt uns – von ihm durchstimmt – inmitten des Seienden im Ganzen befinden.
Die Befindlichkeit der Stimmung enthüllt nicht nur je nach ihrer Weise das Seien de im Ganzen,
sondern dieses Enthüllen ist zugleich – weit entfernt von einem bloßen Vorkommnis – das
Grundgeschehen unseres Da-seins. Was wir so »Gefühle« nennen, ist weder eine flüchtige
Begleiterscheinung unseres denkenden und willentlichen Verhaltens, noch ein bloßer verursachender Antrieb zu solchem, noch ein nur vorhandener Zustand, mit dem wir uns so oder so
abfinden.
Doch gerade wenn die Stimmungen uns dergestalt vor das Seiende im Ganzen führen, verbe rgen sie uns das Nichts, das wir suchen. 1 Wir werden jetzt noch weniger der Meinung sein, die
Verneinung des stimmungsmäßig offenbaren Seienden im Ganzen stelle uns vor das Nichts.
Dergleichen könnte entsprechend ursprünglich nur in einer Stimmung geschehen, die ihrem
eigensten Enthüllungssinne nach das Nichts offenbart. Geschieht im Dasein des Menschen ein
solches Gestimmtsein, in dem er vor das Nichts selbst gebracht wird?
Dieses Geschehen ist möglich und auch wirklich - wenngleich selten genug - nur für Augenblicke in der Grundstimmung der Angst. Mit dieser Angst meinen wir nicht die recht häufige
Ängstlichkeit, die im Grunde der nur allzu leicht sich einstellenden Furch tsamkeit zugehört.
Angst ist grundverschieden von Furcht. Wir fürchten uns immer vor diesem oder jenem
bestimmten Seienden, das uns in dieser oder jener bestimmten Hinsicht bedroht. Die Furcht
vor  fürchtet jeweils auch um etwas Bestimmtes. Weil der Furcht diese Begrenztheit ihres
Wovor und Worum eignet, wird der Fürchtende und Furchtsame von dem, worin er sich
befindet, festgehalten. Im Streben, sich davor - vor diesem Bestimmten - zu retten, wird er in
bezug auf Anderes unsicher, d. h. im Ganzen »kopflos«. Die Angst lässt eine solche Verwirrung
nicht mehr aufkommen. () In der Angst - sagen wir - »ist es einem unheimlich«. Was heißt
das »es« und das »einem«? Wir können nicht sagen, wovor einem unheimlich ist. Im Ganzen
ist einem so. Alle Dinge und wir selbst versinken in eine Gleichgülti gkeit. () Es bleibt kein
Halt. Es bleibt nur und kommt über uns - im Entgleiten des Seienden - dieses »kein«. Die Angst
offenbart das Nichts.
Hintergrund dieser Suche im vorangehenden Text von Was ist Metaphysik?: „() Erforscht werden soll
nur das Seiende und sonst - nichts; das Seiende allein und weiter - nichts; das Seiende einzig und darüber
hinaus - nichts. Wie steht es um dieses Nichts? Ist es Zufall, dass wir ganz von selbst so spr echen? Ist es nur
so eine Art zu reden - und sonst nichts? Allein was kümmern wir uns um dieses Nichts? ()“
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() In der hellen Nacht des Nichts der Angst ersteht erst die ursprüngliche Offenheit des
Seienden als eines solchen: dass es Seiendes ist - und nicht Nichts. Dieses von uns in der Rede
dazugesagte »und nicht Nichts« ist aber keine nachgetragene Erklärung, sondern die vor gängige Ermöglichung der Offenbarkeit von Seiendem überhaupt. Das Wesen des  Nichts
liegt in dem: es bringt das Da-sein allererst vor das Seiende als ein solches. () Da-sein heißt:
Hineingehaltenheit in das Nichts. Sich hineinhaltend in das Nichts ist das Dasein je schon über
das Seiende im Ganzen hinaus. Dieses Hinaussein über das Seiende nennen wir die Transzendenz. Würde das Dasein im Grunde seines Wesens nicht transzendieren, d. h. jetzt, würde es
sich nicht im vorhinein in das Nichts hineinhalten, dann könnte es sich nie zu Seiendem
verhalten, also auch nicht zu sich selbst. () Die Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts
auf dem Grunde der verborgenen Angst macht den Menschen zum Platzhalter des Nichts. So
endlich sind wir, dass wir gerade nicht durch eigenen Beschluss und Willen uns ursprünglich
vor das Nichts zu bringen vermögen. So abgründig gräbt im Dasein die Verendl ichung, dass
sich unserer Freiheit die eigenste und tiefste Endlichkeit versagt. Die Hineingehaltenheit des
Daseins in das Nichts auf dem Grunde der verborgenen Angst ist das Übersteigen des Seienden
im Ganzen: die Transzendenz. () Metaphysik ist das Hinausfragen über das Seiende, um es
als ein solches und im Ganzen für das Begreifen zurückzuerhalten. In der Frage nach dem
Nichts geschieht ein solches Hinausgehen über das Seiende als Seiendes im Ganzen.“
(7) Brief über den „Humanismus“ (in: Wegmarken, 327f.):
„Der Mensch ist vielmehr vom Sein selbst in die Wahrheit de s Seins ‚geworfen’, dass er, dergestalt ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende als
das Seiende, das es ist, erscheine. Ob es und wie es erscheint, ob und wie der Gott und die
Götter, die Geschichte und die Natur in die Lichtung des Seins hereinkommen, an- und
abwesen, entscheidet nicht der Mensch. Die Ankunft des Seienden beruht im Geschick des
Seins. Für den Menschen aber bleibt die Frage, ob er in das Schickliche seines Wesens findet,
das diesem Geschick entspricht; denn diesem gemäß hat er als der Ek-sistierende die Wahrheit
des Seins zu hüten. Der Mensch ist der Hirt des Seins.“
(8) Gespräch mit der Zeitschrift „Spiegel“ (1968):
„Wenn ich kurz und vielleicht etwas massiv, aber aus langer Besinnung antworten darf: Die
Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes bewirken kö nnen. Dies gilt nicht nur von der Philosophie, sondern von allem bloß menschlichen Sinnen und
Trachten. Nur noch ein Gott kann uns retten. Uns bleibt die einz ige Möglichkeit, im Denken
und im Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder für die
Abwesenheit des Gottes im Untergang; dass wir im Angesicht des abwesenden Gottes
untergehen.“
(9) Identität und Differenz, Frankfurt/M. 91990, 64f.
„Zu diesem Gott der Philosophen; B. I. kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm
opfern. Vor der Causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor
diesem Gott musizieren und tanzen. Dem gemäß ist das gott-lose Denken, das den Gott der
Philosophen, den Gott als Causa sui preisgeben muss, dem göttlichen Gott vielleicht näher.“
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