Astor Piazzolla – der revolutionäre König des Tangos „Dein Tango

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Astor Piazzolla – der revolutionäre König des Tangos
„Dein Tango ist die neue Musik, und sie ist ehrlich“, erklärte Nadia Boulanger, als
Astor Piazzolla 1954 bei ihr in Paris Komposition studierte. Piazzolla (1921-1992)
war schon seit seiner Kindheit mit dem Tango vertraut; doch er liebte genauso den
Jazz, den er in den USA kennenlernte (seine Eltern wanderten 1925 aus Argentinien
nach New York aus und blieben dort elf Jahre lang, bevor sie zurückkehrten), und er
fühlte sich auch zur klassischen Musik hingezogen (1940-46 nahm er deshalb
Kompositionsunterricht bei Alberto Ginastera).
Die Anfänge des Tangos lagen im Hafen- und Halbwelt-Milieu der Vorstädte und
Slums von Buenos Aires und Montevideo, von Städten, in deren Kneipen
Einwanderer und Gauchos, hart arbeitende Menschen und Abenteurer
gleichermaßen ihre Unterhaltung suchten. Zwischen 1930 und 1940 gab es allein in
Buenos Aires hunderte von Tango-Ensembles – in Europa hatte der Tango allerdings
einen anrüchigen Ruf, er galt als „ein Tanz schlecht beleumdeter Häuser und
Tavernen der übelsten Art“, so der argentinische Botschafter in Paris, Enrique
Larreta.
Kein Wunder, dass Piazzolla seine Vertrautheit mit dem Tango zuerst vor Nadia
Boulanger verschwieg: „Tangomusiker war ein schmutziges Wort im Argentinien
meiner Jugend. Es war die Unterwelt.“ Doch nachdem Boulanger in den Tangos
ihres Schülers „den echten Piazzolla“ entdeckt hatte, öffnete sich für ihn der Weg
auf sein eigenes kompositorisches Terrain. „Es war notwendig, den Tango aus jener
Monotonie zu befreien, die ihn harmonisch, melodisch, rhythmisch und ästhetisch
einengte. Es war ein unwiderstehlicher Impuls einer musikalischen
Neueinschätzung, um den Instrumentalisten eine neue Form ihrer Erleuchtung zu
schenken. Mit anderen Worten: den Tango mehr noch als jemals zuvor als Musik zu
begreifen“ (Piazzolla) – der traditionelle Tango, der in den 1960er und 1970er
Jahren durch die veränderte politische, soziale und kulturelle Situation Argentiniens
und durch die immer größere Dominanz „importierter“ Unterhaltungsmusik beinahe
um seine Existenz gebracht wurde, erlebte seine Wiederbelebung vor allem durch
Astor Piazzolla.
Nicht zufällig warf man Piazzolla „seltsame Ideen und sinnlose Modernismen“ vor,
als er in den 1950er Jahren in Argentinien den „Tango nuevo“ vorstellte: der „neue
Tango“ behält zwar die Grundstimmung des „traditionellen“ Tangos voller
Traurigkeit, Verzweiflung, Enttäuschung und Frustration, verwendet aber zugleich
Elemente aus dem klassischen sowie dem Jazz- und Rockbereich und wirkt dadurch
in seiner Struktur komplizierter und elaborierter. Die Tangos von Piazzolla sind nicht
mehr bloße „Tanzmusiken“, sondern Kunstwerke für den Konzertsaal, für das pure
Zuhören – kein Wunder, dass in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch
Musiker der Klassik-Branche wie Gidon Kremer, Yo-Yo Ma, Emanuel Ax oder Daniel
Barenboim Piazzollas Werke auf ihre Programme setzten.
Gewiss kann man im „Tango nuevo“ die neuartigen kompositorischen Züge, etwa
die häufige Verwendung von Dissonanzen, chromatischen Passagen, Glissandi oder
spezifischen Spielweisen oder die Erweiterung der rhythmisch-metrischen Schemata
durch marsch- oder walzerartige Elemente als deutlichen Einfluss der „modernen
Musik“ wie auch des Jazz wahrnehmen. Was aber Piazzollas Werke so
unnachahmlich macht, ist jene wahrhaft zündende Intensität der melodischen und
rhythmischen Einfälle, jene Balance zwischen fast zurückhaltend-wehmütigen
Momenten und lodernden emotionalen Ausbrüchen, die Piazzolla tatsächlich zum
„König des Tangos“ macht.
So lässt der Titel von Las Cuatro Estaciones Porteñas an die „Vier Jahreszeiten“ von
Antonio Vivaldi denken; in den einzelnen vier Sätzen stellt jedoch Piazzolla die
Lebensgefühle, ja die „Seelensprache“ der einfachen Hafenviertelbewohner (=
porteños) von Buenos Aires dar. In Primavera Porteña (1969) wird der kantable
Mittelteil durch scharf akzentuierte Abschnitte umrahmt; der vitale Satz Verano
Porteño wurde 1965 für eine von Alberto Rodriguez Muñóz geleitete
Theateraufführung (Selenita de oro) komponiert. Wie in einem viersätzigen
„klassischen“ Zyklus folgt darauf der herbstlich-melancholische „langsame“ Satz
Otoño Porteño, bevor Invierno Porteño (1970) das Werk wirkungsvoll abschließt.
Oblivion („Vergessenheit“) entstand 1984 für den Film Enrique IV von Marco
Bellocchio (Piazzolla schrieb Musiken für circa 60 Filme); in einer steten
„Lichtbrechung“ zwischen Trauer und Glück entwickelt Piazzolla eine faszinierende
Spannung, die am Schluss eine quasi erlösende Befreiung erhält.
Revirado steht durch seinen Aufbau „schneller, feuriger Hauptteil + elegischer
Mittelteil“ exemplarisch für die Tango-Gattung; Adios Nonino (1959), eines der
bekanntesten Werke Piazzollas, das inzwischen mehr als 200 Bearbeitungen erfuhr,
ist ein ergreifender Abschied von Piazzollas Vater Vicente, der „Nonino“ genannt
wurde. Milonga del Angel (1965) ist ein typisches Beispiel für einen „TangoMilonga“, in dem die rhythmischen Elemente des Tangos mit der Rhythmik des
Tanzes Milonga mal vereint, mal ihr gegenübergestellt werden. Der Titel Fracanapa
weist vielleicht auf eine venezianische Karneval-Maske hin; wahrscheinlicher ist
aber, dass Fracanapa aus Francisco Canaro Pasó („Francisco Canaro passé“, d.h.
„ausgedient“) zusammengesetzt wurde (Francisco Canaro war ein Vertreter des
„orthodoxen“ Tangos; dementsprechend war seine Beziehung zu Piazzolla von
gegenseitigen Feindseligkeiten geprägt).
Le Grand Tango entstand 1982 und wurde dem legendären Cellisten Mstislav
Rostropovitch gewidmet, der 1990 auch bei der Uraufführung in New Orleans den
Cellopart spielte. Wie sehr dieser „Große Tango“ mit den kompositorischen
Elementen der klassischen Musik verbunden ist und dadurch eine faszinierende
Brücke zwischen „Tango“ und „ernster Musik“ schafft, zeigt sich auch darin, dass
keine Geringere als die berühmte Komponistin Sofia Gubaidulina 1995 ein seitdem
vielgespieltes Arrangement für Violine und Klavier anfertigte.
Éva Pintér
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