Konferenz Cultural Heritage and Contemporary Art Antalya, Türkei, 9.11.2003 Regina Bärthel Kulturelles Gedächtnis – Tradition und Erinnerung 1. Voraussetzungen: Zwischen Erinnern und Vergessen Die Gedächtnisforschung nimmt seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts einen breiten Raum im wissenschaftlichen, aber auch öffentlichen Interesse ein. Dies wurde nicht zuletzt angesichts der Jahrtausendwende als Anzeichen einer Krisensituation gewertet: Hervorgerufen durch den Verlust einer verbindlichen Weltanschauung - sei sie nun kulturell, religiös oder politisch bestimmt - und einem allgemeinen Glauben an den Fortschritt, ausgelöst aber auch durch die zunehmende Mediatisierung, dem steten Voranschreiten technischer Kommunikationsmittel und künstlicher Speicherkapazitäten. Heute, nachdem sich diese Jahrtausendwende im Großen und Ganzen doch recht still - man ist fast versucht zu sagen: unbemerkt – vollzogen hat, ist eine gewisse Beruhigung um dieses Thema eingetreten. Nicht zuletzt, da sich diverse andere, und sicherlich auch existentiellere Probleme in den Vordergrund geschoben haben. Da die Auswirkungen der Globalisierung jedoch zu einem dieser Problemfelder gehört und die positiven wie negativen Erfahrungen im Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen einen immensen Bereich innerhalb dieses Problemfeldes ausmachen, ist die Frage nach dem kulturellen Gedächtnis und seiner identitätsstiftenden Funktion auch weiterhin von großem Interesse. Gedächtnis nicht mehr festgeschrieben, in Erz gegossen Denn ein besonderer Umstand darf in der Auseinandersetzung mit diesem sehr komplexen Themenbereich nicht vergessen werden: Der Begriff des Gedächtnis umfaßt neben dem Erinnern auch die Funktion des Vergessens 1. Beide Funktionen, das Erinnern wie das Vergessen, tragen bei zur Manifestation sowohl der kulturellen wie individuellen Identität. Beide Funktionen beruhen auf bestimmten Selektionskriterien, die mal das eine Faktum aus der Vergangenheit ausradieren, bzw. überschreiben, mal das andere Faktum mit leuchtenderen Farben malen. Dieser kreative Umgang mit den „Fakten“ der Vergangenheit macht den „Selbstbeschreibungsentwurf“ einer Kultur oder eines Individuums flexibel und ermöglicht es so, ihn dem jeweiligen geschichtlichen Wandel anpassen zu können.2 Ohne diese Anpassungsfähigkeit, ohne diese Möglichkeit, bestimmte „dunkle Stellen“ im Verlauf der Geschichte einer Kultur, einer Nation oder auch eines Individuums überschreiben zu können, kann in extremen Fällen die weitere Existenz gefährdet sein. (Ich möchte uns allen in diesem Moment einen Exkurs zu den dunklen Stellen unserer Staaten ersparen; ein individuelleres Beispiel wäre das eines Menschen, der – beispielsweise – einen anderen Menschen vorsätzlich tötet, um dann, da seine auf Ethik und Moral basierenden Schuldgefühle unerträglich werden, diesen Mord als Fall von Notwehr hinzustellen: Hätte ich nicht zuerst, hätte er....) Eben diese Anpassungsfähigkeit von kultureller wie individueller Geschichte macht deutlich, dass das Erinnern letztendlich nur zu vorläufigen, zwischenzeitlichen, instabilen Konfigurationen führt. Instabile Konfigurationen, wie sie letztendlich auch unsere persönliche/soziale und kulturelle/politische Identität bestimmt. Diese Eindrücke führen letztendlich zu einem Bewußtsein für die Relativität aller Erfahrung und damit des Wissens und der Erkenntnis Begriffe, die stets eng mit dem Bereich des Gedächtnisses verknüpft waren. Welches nicht mit dem technischen Terminus des ‘Löschens’, also der totalen Vernichtung sämtlicher Informationen, verwechselt werden darf. Vgl. Renate Lachmann: „Kultursemiotischer Prospekt.“ In: „Memoria. Vergessen und Erinnern.“ Hsgg. von Anselm Haverkamp und Renate Lachmann, München 1993, S. XVII - XXVII. 1 2 Die Veränderung des Gedächtnisprozesses von einer sicheren Erkenntnisquelle hin zu einer relativen Ansammlung von Erinnerungspartikeln scheint jedoch prädestiniert zur Herausforderung künstlerischer Kreativität. Die Beschäftigung mit dem Thema des Gedächtnisses zeigt sich als Konstante der Geschichte der Menschheit. Um so problematischer ist der Umgang mit den dieses Thema berührenden Begriffen, die über den langen Zeitraum von Platon bis heute starken Wandlungen unterlagen. Durchgehend jedoch erscheint das Begriffspaar Mneme/Memoria und Anamnesis/Reminiscentia, das auf Aristoteles zurück geht. Aristoteles unterschiedet zwischen dem Vermögen, „sich zufällig an etwas zu erinnern und früher Erlebtes in der Seele wieder auftauchen zu lassen“ und dem Vermögen, „sich wirklich auf etwas zu besinnen und das von der Memoria Vergessene wieder aktiv aufzuspüren“.3 Das Gedächtnis bleibt eine recht virtuelle Angelegenheit, scheint sich sogar in Bezug auf die neuen Speichermedien – Bits und Bytes, noch „fluktuativer“ sozusagen das Internet - immer mehr zu verflüchtigen. Interessant ist, wie schnell man beim Sprechen über das Gedächtnis und die Erinnerung zu Metaphern greift: Vielleicht sind Sie Ihnen schon aufgefallen: Speichern, natürlich, aber auch Überschreiben und Eindrücken. Dies alles Begriffe, die – zumindest in der westlichen Kultursphäre – zur Beschreibung der Gedächtnisthematik herangezogen werden. Kommen wir daher zu einem kleinen Exkurs, sozusagen dem archivarischen Teil dieses Vortrags: 2. Gedächtnismetaphern der westlichen Tradition: Die Matephorik der Memoria Als Metaphernfelder können die räumlichen und die zeitlichen unterschieden werden: A Räumliche Gedächntnismetaphern: Gebäude Die antike Mnemotechnik, also jener Kunst der Rhetorik, sich Texte und Sachverhalte im Gedächtnis zu bewahren und jederzeit abrufbar zu machen, arbeitete mit dem Raum als Medium. In ihm wurde zu Erinnerndes in prägnante Bilder - den imagines – übersetzt. Diese wiederum wurden an spezifischen Orten - loci – eines zuvor erdachten und architektonisch strukturierten Raumes zugeordnet. War dies stets ein virtueller Raum, der sich lediglich im Kopf des sich Erinnernden öffnete, erweiterten solche Räume der Erinnerung bald schon ihre Existenz als tatsächliche, reale Räume und wurden in einem Rückschlussverfahren wiederum zur Metapher für das Gedächtnis selbst. Hierbei unterscheiden sich: A1.) TEMPEL (Denkmal, Andenken für die Zukunft) Die im Tempel des Ruhmes aufgenommenen Helden und Taten werden hier für die Zukunft konserviert. War für die Kanonisierung ehemals nicht der Grad der Verdienste, sondern der launische Wille von Fama, der Göttin des Ruhms, zuständig, wird diese Selektion später von der Gesellschaft selbst durchgeführt: Sie, die Gesellschaft entscheidet nun, wer zukünftig als „Held der Nation“ zu erinnern sein wird. Doch ändert sich durch die Verlagerung der Entscheidungsgewalt die "Willkür" der Heldenverehrung nur gering, da das soziale Gedächtnis ebensolchen Schwankungen unterliegt wie die Launen einer Göttin (Perspektivierungen der Historienschreibung). Wolfgang Kemp: „Memoria, Bilderzählung un der mittelalterliche Esprit der Systeme.“ In: Haverkamp/Lachmann 1993, S. 263-282). Desgl. : „mémoire involontaire“ und „mémoire volontaire“ (Proust); „Mnemosyne und Sophrosyne“ (Warburg), „mémoire und histoire“ (Halbwachs), „Eingedenken und Angedenken“ (Benjamin), „punktum/studium“ (Barthes). (Ebda, S.264). Anschauliche Hinweise zur Unterscheidung dieser Begriffspaare bietet: Alaida Assmann: „Zur Metaphorik der Erinnerung.“ In : Alaida Assmann, Dietrich Harth (Hg.): „Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung.“ Frankfurt/M. 1991, S. 13-36. 3 A2.) BIBLIOTHEK (Archiv für Wissen von der Vergangenheit) Die Metapher der Bibliothek verdeutlicht – stärker als der zur „Anbetung“ bestimmte Tempel - das Begriffspaar Gedächtnis-Erinnerung. Die hier gelagerten Bücher und Schriften dokumentieren die Ereignisse der Vergangenheit; bilden also als Speicher ein passives Gedächtnis. Der Archivar, der sich in dieser Bibliothek bewegt und das Gespeicherte nutzt, verkörpert das aktive Erinnern des Auffindens und Hervorholens (Anamnestes). "Das Gedächtnis ist die Dispositionsmasse, aus der die Erinnerung auswählt, aktualisiert, sich bedient." (Alaida Assmann) B Schrift-Metaphern B1) BUCH Wenn auch auf Zweidimensionalität beschränkt, steht das Bild des Buches dem der Bibliothek sehr nahe: "Das beiden gemeinsame Prinzip ist die Totalität, die Kopräsenz und Vollständigkeit der vielfältigen Elemente." (Assmann) D.h., hier laufen die Masse der zu erinnernden Fakten ineinander, werden sortiert und konserviert. (göttliches Weltbuch, in das alles von er Vergangenheit bis zur Zukunft inskribiert ist) B2) PALIMPSEST Das Palimpsest kann als dynamisiertes Buch verstanden werden; durch Tilgung (das heißt praktisch: Abschaben) alter Aufzeichnungen, um Platz für neue zu schaffen, wird es über Jahrhunderte zum Träger verschiedenster Informationen und gleicht somit einem Phönix, der aus seiner eigenen Asche geboren wird. Doch wird im Palimpsest das Alte nicht gänzlich gelöscht, Fragmente des überschriebenen Textes scheinen zwischen den neuen Zeilen auf, verweben sich mit ihnen; beides, alt und neu, Vergangenheit und Gegenwart durchdringen sich. B3) WACHSTAFEL Das natürliche Gedächtnis beschreibt Platon im Theatet als Wachstafel im innersten der Seele, auf der sich die Urbilder der reinen Erkenntnis abdrückten (Der Zusammenhang mit Platons Höhlengleichnis ist hier evident, also von der Erinnerung des von der Seele geschauten Urbildes und der irdischen Wahrnehmung des Abbildes.) Dieses Bild wird von den biblischen Propheten weitertransportiert: die göttlichen Gesetze sollen in die Tafeln des Herzen graviert werden (Jeremia 31,33). Nietzsche formt diese Verinnerlichung zur Erfahrung des Schmerzes als "mächtigstes Hilfsmittel der Mnemotechnik" um, nur was schmerzt, wird erinnert (Kafka: Strafkolonie) B4) SPUR Der Psychoanalytiker Sigmund Freud beschäftigte sich mit dem Problem des Bewahrens ("Erhaltung von Dauerspuren") und des Löschens (Problem der "unbegrenzten Aufnahmefähigkeit"). Freud löst das Paradox mit Hilfe eines "Wunderblocks": (Von mir modernisiert): 1. Zelluloidfolie; 2. Durchschlagpapier; Farpigmente setzen sich beim Schreiben auf Folie ab; beim Durchziehen verschwinden sie wieder, wobei bei bestimmtem Lichteinfall die Spuren der Schrift auf der Folie noch sichtbar sind: Sozusagen im Unterbewußtsein, das durch einen bestimmten Reiz wiedererscheint. C Zeitliche Gedächtnis-Metaphern C1. ERWACHEN Der Einbruch der Zeit und damit des Vergessens in das menschliche Leben ist in der westlichen Kulturgeschichte eine Folge des Sündenfalls, ähnlich dem Fall in einen Alptraum. Die eschatologische Vision des Christentums hofft auf das Erwachen im zukünftigen Jenseits, das den Alptraum der heil-losen Zeit vergehen und den paradiesischen Urzustand wiederaufleben läßt. Ebenso lassen politische Ziele die negative Gegenwart als Interim zwischen einer großen Vergangenheit und einer ebenso großen Zukunft, deren Nähe man durch die Erinnerung halten muss, erscheinen. Das politische Erwachen soll allerdings noch in der historischen Zeit geschehen - statt erst im Jenseits. C 2. ERWECKEN Hofft die jüdisch-christliche Tradition auf ein passives Erwachen, glaubt die antik-heidnische an das Erwecken als magische Animation. (Wasser: Lethe-Vergessen; Kastalia-Erinnerung; Feuer) Die Erinnerung durch "Erweckung" kommt nicht aus einer durchlebten Tradition, sondern aus der Erfahrung der Diskontinuität, die zwei Reaktionen ermöglicht: Die Historisierung der Vergangenheit bewirkt eine Entfremdung, die jede Epoche als für sich stehend erscheinen lässt; die Teilnahme durch Intuition und Imagination eines kreativen Geistes aber vermag das Vergangene wiederzuerwecken, indem Geist gleich einem Archäologen in immer tieferen Schichten gräbt. (Renaissance) So. Ende des archivarischen Teils. An dieser Metaphorik der Memoria lässt sich aber sehr schön ablesen, wie vielfältig die Bilder von Gedächtnis und Erinnerung sind und welchen Wandlungen und nicht zuletzt Perspektivierungen sie im Laufe der Jahrhunderte unterlagen. Sehr geehrte Damen und Herren, Sie haben gesehen, dass das aristotelische Begriffspaar Mneme/Memoria und Anamnesis/Reminiscentia nur ungenau mit den heutigen Begriffen Gedächtnis - als virtuelle Fähigkeit und organisches Substrat - und Erinnerung - als aktuellem Vorgang des Einprägens und Rückrufens spezifischer Inhalte 4 zu übersetzen sind. Hier hat der Begriffswandel seine deutlichen Spuren hinterlassen; zudem hat sich unser Bild des Gedächtnisses und der mit ihr verbundenen Erinnerung über den Lauf der Jahrhunderte weiter ausdifferenziert: Wurde das Gedächtnis, bzw. die Erinnerung (Anamnesis) seit Platons metaphysischer Ideenlehre als Mittel der wahren, also göttlichen Erkenntnis angesehen, wurde der Begriff von Erinnerung seit dem 18. Jahrhundert verstärkt auf die Subjektivität des Menschen bezogen: Erinnerung wurde nun für fähig befunden, Ganzheit und Identität in Bezug auf Geschichte und Individuum zu stiften.5 Von diesem Punkt teilt sich ihr Weg: Zum einen wird ein geschichtsphilosophischer Ansatz fortgeführt und Begriffe vom kulturellen, bzw. sozialen Gedächtnis geprägt; zum anderen vollzieht sich eine zunehmende Individualisierung der Erinnerung.6 Beiden Richtungen ist jedoch eines gemein: Der statische Gedächtnisbegriff der Mnemotechnik 7, für die das Gedächtnis als passiver Speicher diente, hat sich heute zu einem dynamischen Prinzip gewandelt: Dies zeichnete sich auch schon an den behandelten Gedächtnismetaphern ab, die sich immer weiter vom Archiv – letztlich auch vom Gebäude – weg bewegen und immer stärker hin zu jenen fluktuierenden, veränderbaren, überschreibbaren Bildern tendierten. Fluktuation, Veränderung, Überschreibung – alle diese Begriffe verdeutlichen noch einmal sehr gut, dass in der aktuellen Gedächtnismetaphorik neben dem Erinnern eben auch das Vergessen eine bedeutende Rolle in der Auseinandersetzung mit dem Gedächtnis spielt. Das Gedächtnis bietet uns einen Pool an Erfahrungen, Beschreibungen und Bildern, die - je nach Konzeptbildung vergessen und erinnert, verdrängt und hervorgerufen werden. Assmann, 1991, S.14. Persönliche Erinnerungen konstituieren z.B. bei John Locke die menschliche Identität, wodurch die Grundlage zum Entstehen des bürgerlichen Subjektes gebildet wurde - obgleich schon David Hume die Erinnerungen nicht mit Identitätskonstruktion, sondern vielmehr mit der Dekonstruktion und Fragmentierung der Person verband. Die Problematik um Erinnerungen und Identität taucht damit schon sehr früh auf. (Vgl. Alaida Assmann: „Die Wunde der Zeit. Wordsworth und die romantische Erinnerung.“ In: Haverkamp/Lachmann 1993, S.359-382.). Zum Begriff der Erinnerung s.a. Joachim Ritter (Hg.): „Historisches Wörterbuch der Philosophie“, Bd.2, Basel, Stuttgart 1972, Sp. 636-643. Hier allerdings wird die erkenntnistheoretische Funktion der Anamnese hervorgehoben; während der Begiff ‘Gedächtnis’ rein psychologisch aufgefaßt wird. 6 Diese Unterscheidung trifft z.B. der Soziologe Maurice Halnwachs: Gedächtnis wird nach ihm von sozialen Gruppen konstruiert, während Einzelne Erinnerungen im wörtlichen Sinne hätten. Vgl. Peter Burke: „Geschichte als soziales Gedächtnis“, in: Assmann/Hart 1991, S.289-304. 7 Statisch, da hier jeweils eine Erinnerung an einem bestimmten Ort memoriert wurde. Vgl. hierzu: Frances A. Yates: „Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare.“ (1966), dt. Weinheim 1990. 4 5 Dies veranschaulicht schon Aby Warburgs Mnemosyne Atlas, der eine Kartographie künstlerischer - und damit sowohl gesellschaftlicher wie individueller - Ausdrucksformen darstellt; jenen „Pathosformeln“ (Warburg), die innerhalb der Kulturgeschichte sowohl als ‘hohe Kunst’ als auch in der Massenkultur immer wieder auftauchen und damit einen sozialen wie auch psychischen Sprachschatz bilden. Warburg wie auch Walter Benjamin situieren Kunst- bzw. soziale Geschichte sowohl im subjektiven wie im kollektiven Gedächtnis und zeigen die enge Verwobenheit beider auf: Hier beginnt die Dekonstruktion des positivistischen, handlungsmächtigen (Künstler)Subjekts.8 Daher soll hier nun auch zwischen dem kulturellen und dem individuellen Gedächtnis unterschieden werden. Ich möchte im Folgenden zunächst auf die kulturelle Erinnerung eingehen, die sozusagen den Rahmen absteckt, in dem sich dann die individuelle Erinnerung, die hier auch als künstlerischer Motor definiert werden wird, situiert. 3. Kulturelles Gedächtnis in der westlichen Tradition und seine Funktion Die Beschäftigung mit der Frage nach dem Gedächtnis zieht sich offensichtlich als Konstante durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Stets waren zwei Stränge zu unterscheiden: Zum einen existiert ein anthropologischer Gedächtnisbegriff, der sich auf das Erinnern und Vergessen des menschlichen Individuums bezieht; zum anderen ein kulturologischer: Die Kultorsemiotik z.B. sieht Kultur als „nicht vererbbares Gedächtnis eines Kollektivs, das vermittels eines überindividuellen Speicher - und Transformationsmechanismus in Erscheinung tritt“. Der um die Jahrhundertwende verbreitete Glaube an ein biologisch vererbbares Gedächtnis, oftmals als "Rassengedächtnis" bezeichnet, wurde in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts von zwei voneinander unabhängig forschenden Wissenschaftlern negiert: Der Kunsthistoriker Aby Warburg wie der Soziologe Maurice Halbwachs entwickelten die heute allgemein anerkannte These des kulturellen Gedächtnisses, das sich durch Sozialisation wie auch durch Überlieferung dem Individuum mitteilt und so - sozial vermittelt und gruppenbezogen - identitätsstiftend auf einen Kulturbereich einwirkt. Unterschieden wird hier zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis resultiert aus der Alltagskommunikation und wird – wie der Name schon sagt – über Erzählungen überliefert. Der Begriff der „Erzählung“ ist hier nicht unbedingt auf die rein orale Überlieferung zu beziehen, sondern enthält in moderner Zeit auch „kurzlebigere“ Texte wie Zeitungen, Fernsehen, Internet. Der Zeithorizont des kommunikativen Gedächtnisses ist mit 80-100 Jahren beschränkt und enthält keine Fixpunkte, sondern wandert dem jeweiligen Gegenwartspunkt mit. Das kulturelle Gedächtnis hingegen hält für die Gruppe schicksalshafte Ereignisse der Vergangenheit (Fixpunkte) wach, indem sie sie kulturell umformt - als Texte, Riten oder Denkmale - und ihnen institutionalisierte Pflege zukommen lässt (Archive, Museen, Kirche, Lehrbetriebe). Diese Objektivationen der Kultur - seien es Kunstwerke oder festliches Brauchtum - besitzen nach Aby Warburg, eine "mnemische Energie", die kulturelle Erfahrung über Jahrtausende hinweg konserviert, deren Sinngehalt sich damit von Nachfahren des gleichen Kulturstammes blitzartig wieder erschließen lässt. Dieses sogenannte „Gemeingedächtnis“ sammelt die Sinngehalte – Mythen, Rituale, Erzählungen - einer Kultur und festigt damit kulturelle Identität, da durch die Sammlung und Festschreibung kulturelle Sinnverschiebungen Als eine wichtige künstlerische Umsetzung dieses Konzeptes ist hier Samuel Becketts Roman L’ Imnommable von 1953 anzuführen: Sprechen (und damit durchaus auch Denken) kann hier nicht mehr personalisiert werden und taugt demnach nicht mehr als Identitätsausweis. Man erkennt hier die allmähliche Preisgabe der subjektzentrierten Kreativität, wie sie auch die poststrukturalistische Diskursanalyse postuliert. 8 verhindert wird, bzw. werden soll. Das so entstandene kulturelle Gedächtnis zeichnet sich jedoch durch ein dynamisches Prinzip aus: Die Sinngehalte werden hier nicht lediglich in einem passiven Speicher eingelagert, sondern dienen zur Produktion neuer kultureller Codes wie Mythen, Erzählungen, Kunst. Die Beschäftigung mit dem Gedächtnisbegriff sollte demnach sowohl das Prinzip des Erinnerns wie auch das Prinzip des Vergessens untersuchen: Die Selbstbeschreibungsentwürfe einer Kultur (wie auch eines Individuums) resultieren aus der lebendig gehaltenen Erinnerung ebenso wie aus den vergessenen, respektive verdrängten Elementen, die in einer Art Negativ-Speicher enthalten sind und nach Bedarf wieder reaktiviert werden können: „Der selektive Mechanismus, der die Etablierung eines nationalen Gedächtnisses begleitet, ist ein komplexer Wertungsprozeß, der Hierarchien errichtet, alte abbaut, umwertet oder revitalisiert. In der Geschichtsschreibung wird das kulturelle Gedächtnis gewissermaßen institutionalisiert, und als institutionalisiertes fungiert es im Verarbeitungsprozeß nationaler Geschichte im Kontext von Gedächtnisritualen (Denkmalskult, Gedenktage, Jahrhundertfeiern) und Gedächtnisorten (Friedhöfe, Nationalmuseen), die eine Kultur sich einräumt. Krisen, Diskontinuitäten und Antagonismen innerhalb einer Kultur lassen sich an der Problematisierung gerade des institutionalisierten Gedächtnisses (das immer auch einen totalisierendes Geltungsanspruch behauptet) ablesen. In einem viele Phasen durchlaufenden Arbeitsgang von Erinnern und Vergessen, Bewahren und Verdrängen, Einschließen und Ausschließen avanciert die Geschichte (bzw. die Geschichten) zum wesentlichen Faktor des Selbstbeschreibungsmodells einer Kultur, der deren Konzeptbildung (Ideologieproduktion) und soziales Handeln bestimmt und auf die Rekonstruktionsstile ‘faktischer’ Geschichte zurückwirkt. Wenn die Diskrepanz zwischen institutionalisiertem Gedächtnis und ausgegrenzter Geschichte (faktischer und mythischer), die das inoffizielle Gedächtnis bewahrt, unerträglich wird und die Kultur in eine Aporie treibt, werden Modi der Rekonstruktion durchgesetzt, die Fälschungen aufdecken, Lücken schließen, globale Reinterpretationen der Nationalgeschichte versuchen.“ (Renate Lachmann) Die Funktionsweise des dynamischen Erinnerns und Vergessens gilt somit sowohl kulturell, d.h. in bezug auf ein „Gemeingedächtnis“ (Lachmann), als auch anthropologisch in bezug auf eine individuelle Lebensgeschichte. Beiden aber sollte die Konstruktion von Gedächtnis bzw. Erinnerung zur kontinuierlichen Stabilisierung von Identität dienen. Gerade dies zweifeln jedoch Medienkritiker angesichts heutiger umfassender Speicherkapazitäten an, da diese die Dynamik der Geschichtskonstruktion unterliefen. Auch die Analysen Sigmund Freuds bewiesen schon die Unzulänglichkeiten psychischer Verdrängungsmechanismen, aus denen sich immer wieder unliebsame Erinnerungspartikel lösen. Die heutige Kognitionswissenschaft und mit ihr der Radikale Konstruktivismus wiederum definieren den Menschen als ein autopoietisches System, dessen Gedächtnis lediglich als kognitive Leistung zu werten ist, die aus dem Zusammenwirken von Assoziationen und deren Verbindung zu kognitiven Mustern in einem kreativen Prozeß Vergangenheit - und mit ihr Wahrnehmung und Erkenntnis - entstehen läßt.9 Unter solchen Voraussetzungen gewinnt der Topos von Mnemosyne als der Mutter der Musen eine gänzlich neue Bedeutung. Der Moment der Erinnerungselaboration zeigt sich hier eng mit der Frage nach dem künstlerischen Schaffen selbst verknüpft. Fragmentarisches Wiedererkennen führt hier zum Beginn eines Elaborierungsprozesses von Erinnerungen, welche der Identitätsstabilisierung dienen soll. Als prominentes Beispiel hierfür kann Marcel Prousts umfangreiches Romanwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ angeführt werden. Im Falle Prousts wurde die z.B. durch den Geschmack einer Madeleine hervorgerufende ‘mémoire involontaire’ künstlerisch festgehalten - für Proust selbst als Darstellung der ‘Essens der Dinge’, also ihrer ‘Wahrheit’; doch im Grunde changierend zwischen Fiktion und Realität. Proust befindet sich hier zwischen zwei Polen: Hegel einerseits, der an die Teleologie des Geistes und der Möglichkeit einer daraus erwachsenden totalen Erkenntnis glaubt, und der Moderne, die diese Totalität noch sucht, aber nicht mehr - und vor allem nicht mehr im Subjekt selbst - finden kann. Zum Ansatz der Kognitionsforschung siehe u.a. Siegfried J. Schmidt (Hg.): „Gedächtnis. Probleme und Perspektiven einer interdisziplinären Gedächtnisforschung.“ Frankfurt am Main 1991. Darin insbesondere: Gebhard Rusch: „Erinnerungen aus der Gegenwart“, S. 267-292. Die Kognitionstheorie wird besonders auch im Bereich der Erzählforschung diskutiert. Zur Kreativitätsforschung siehe auch: Günther K. Lehmann: „Phantasie und künstlerische Arbeit. Betrachtungen zur poetischen Phantasie. „ Berlin u. Weimar 1966. Bernahrd Floßdorf: „Kreativität. Bruchstücke einer Soziologie des Subjekts.“ Frankfurt/M. 1978. H.U. Gumbrecht: „Kreativität - ein verbrauchter Begriff?“, München 1988. 9 Und dies führt uns zur Frage nach den 4. Inneren Welten. Subjektive Erinnerung als Identitätssuche und kreativer Motor Einer der wichtigsten Texte zur Elaboration von Erinnerung, aus der dann nach und nach ein künstlerisches Werk entsteht, ist eindeutig das Romanwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. Ein Zitat hieraus: "Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlag waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, (...), gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder die Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. (...) [Ich spüre], wie etwas in mir sich zitternd regt und verschiebt, wie es sich zu erheben versucht, wie es in großer Tiefe den Anker gelichtet hat; ich weiß nicht, was es ist, doch langsam steigt es in mir empor; ich spüre dabei den Widerstand und höre das Rauschen und Raunen der durchmessenen Räume."10 Die oben beschriebene sinnliche Anmutung, durch die Prousts Romanwerk begann, wurde hervorgerufen durch den Geschmack einer in Tee getauchten Madelaine. Dieser mémoire involontaire, dieser unbewussten, ihn wie ein Rausch überkommenden Erinnerung allein ist es - nach Proust - möglich, die wahre ‘Essenz der Dinge’, die im Innern, in der Erinnerung des Menschen liegt, heraufzubeschwören. Marcel, der Protagonist des Romanwerkes, das Alter ego Prousts also, sucht nach der visuellen Erinnerung, die zu der Geschmackserfahrung gehört. Diese zeigt sich jedoch vorerst lediglich als "gestaltloser Lichtschein (..), in dem sich der ungreifbare Wirbel der Farben vermischt und verliert"; erst nach langem Bemühen wird auch die Form, das vergessene Bild erkannt: Die andere, sozusagen die bessere Hälfte der Kindheit in Combray gelangt in allen Einzelheiten wieder in Marcels Bewußtsein. Der Geschmack der im Tee aufgeweichten Madelaine erweist sich als eine Anmutung, die durch ein fragmentarisches Wiedererkennen eines Impulses ausgelöst wurde. Der Impuls scheint eine Tür in Marcels innerem Archiv geöffnet zu haben, durch den ein Lichtschein dringt. Man könnte sagen, dass hierdurch der Archivar aufgeweckt wurde, der nun konzentriert versucht, die Erinnerung, den richtigen Text zu dieser Erfahrung, wiederzufinden. Es beginnt ein Prozess der Bedeutungszuweisung, der Erinnerungselaboration. Marcel lässt seinen Geist suchen. "Suchen? nicht nur das: Schaffen. Er (der Geist, Anm. d. Verf.) steht vor einem Etwas, das noch nicht ist, und das doch nur er in seiner Wirklichkeit erfassen und dann in sein eigenes Licht rücken kann." Hier verweist Proust explizit auf die kognitive Leistung, die benötigt wird, um aus der unbestimmten Anmutung die bestimmte Erinnerung werden zu lassen, die durch die sprachliche Fixierung und der dadurch erreichten stringenten Abfolge vormals ungeordneter Eindrücke für das Bewußtsein greifbar wird. Auf solchen Anmutungen, solchen Fragmenten von Erinnerungen, wie sie die in Lindenblütentee getauchte Madelaine hervorrief, basiert Marcel Prousts Poetik. In seinem Romanwerk À la recherche du temps perdu lässt er seinen Protagonisten Marcel diese Anmutungen zu quasi-religiösen Evokationserlebnissen umdeuten, die ihm die Erkenntnis nicht allein über die Wahrheit der Vergangenheit, sondern auch die Erkenntnis der „Essenz der Dinge“, also der den Dingen innewohnenden Wahrheit vermittelt. Die Gewissheit über diese Wahrheit scheint jedoch geringer zu werden, je mehr man sich um die Wiedererlangung der gesamten Erinnerung bemüht: Ist sie anfangs noch allgemeingültig, wird sie im weiteren Verlauf der Recherche subjektiv; wird lediglich zu einer Möglichkeit der Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Frankfurt am Main 1981. Bd. 1: In Swanns Welt, S.64f. 10 Sicht auf die Dinge umgedeutet: Proust begann sein Werk im Jahr 1909; bei seinem Tod 1922 war es noch nicht vollendet: Jede zur Korrektur übersandte Druckfahne wurde von ihm mit weiteren Einfügungen und Anmerkungen bedacht. So muß man À larecherche du temps perdu noch immer als Fragment ansehen. "Wir wissen nicht“, so schreibt P. Brun in seiner Einleitung zu Le Temps retrouvé, „bis zu welchem Punkt Proust noch Ordnung in das Chaos hätte bringen können, wenn ihm Zeit geblieben wäre. Ebensowenig aber wissen wir, ob nicht die andere Tendenz noch beherrschender geworden wäre, 'une dégénérescence de l'écriture, une imposibilité de terminer, une impasse de laisser entrevoir la prolifération du texte et de ses additions successives.' " Die mémoire involontaire und das mit ihr verbundene Evokationserlebnis erinnert stark an den von Hegel entwickelten ‘Schacht der Intelligenz’11: Hegel siedelt - entgegen den üblichen Magazinmetaphern - Erinnerungen in einem "bewußtlosen Schacht" an. Hegel zufolge wandelt ein produktives Gedächtnis wahrgenommene Bilder zu Vorstellungen um; diese Vorstellungen sind zu reinen Zeichen umgeformte Synthesen aus verinnerlichtem Bild und wiedererinnertem Dasein. Zu dieser "abstrakten Mnemosyne", die deutlich den Einfluss von Platon zeigt, hat die Intelligenz allerdings - im Gegensatz zum Gedächtniskonzept Prousts – uneingeschränkten Zugriff. Erinnerungen können als allgemeingültige Zeichen abstrahierter Wahrnehmungen (also als Vorstellungen) im Falle eines Wiedererkennens (der Anschauung) abgerufen werden. Hegel operiert demnach mit dem Prinzip der Bedeutungszuweisungen in der kognitiven Interaktion zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis, wobei er dem Gedächtnis einen aktiven Part in der Erkenntnis der Dinge zuweist: Das Subjekt eignet sich die Wahrnehmungen der Umwelt an, um sie in seinem Inneren zu einer allgemeingültigen Idee umzuformen. Die Objekte werden von ihrer Vielschichtigkeit auf ein allgemeines Maß hin reduziert und können dann in ihrer Zeichenhaftigkeit aus dem Gedächtnis abgerufen und mit erneuten Wahrnehmungen eines Objekts der gleiche Kathegorie verglichen werden. Durch diesen Vergleich wird die momentane Wahrnehmung in die vom Gedächtnis gebildeten allgemeingültigen Ideen eingegliedert und damit in ihrer Totalität erkannt. "Indem die Intelligenz diese Einheit des Allgemeinen und des Besonderen, des Innerlichen und des Äußerlichen, der Vorstellung und der Anschauung hervorbringt und auf diese Weise die in der letzten vorhandene Totalität als eine bewährte wiederherstellt, vollendet sich die vorstellende Tätigkeit in sich selber, insofern sie produktive Einbildungskraft ist. Diese bildet das Formelle der Kunst; denn die Kunst stellt das wahrhaft Allgemeine oder die Idee in der Form des sinnlichen Daseins, des Bildes dar." (§ 456) Hegel geht von einem Geist aus, der sich selbst als etwas Absolutes begreift und durch sein Denken wahre Erkenntnis ermöglicht. Die neuere Gedächtnisforschung jedoch postuliert ein stark dynamisiertes Gedächtniskonzept: Erinnerungen gelten hier nicht mehr als unveränderliche Dokumentationen vergangener Ereignisse, sondern unterliegen einer ständigen Veränderung des menschlichen Bewußtseins. Der radikale Konstruktivismus definiert das menschliche Wesen als ein autopoietisches System, das sich durch ein operational geschlossenes, selbstreferentiell organisiertes Nervensystem auszeichnet. Die Erfahrungswirklichkeit des Menschen ist hier das Resultat seiner eigenen kognitiven Leistung; Bedeutungszuweisungen resultieren aus einem ständigen Vergleichen der von Außen über die Sinnesorgane eintretenden und in der neuronalen Struktur des Cortex durch physikochemische Prozesse festgehaltenen Erregungsmuster. Die vom Gehirn getroffenen Einordnungen dieser Muster geschehen jedoch nicht nach objektiven, sondern nach möglichen, für die neuronale Struktur zu diesem Zeitpunkt logischen Kriterien. Die Art und Fülle dieser festgehaltenen Muster hängen demnach vom momentanen Entwicklungsstand, Erfahrungsschatz und psychischem Zustand des Menschen ab. Eine ‘absolute Wahrheit’ kann dieser damit niemals erlangen.12 11 12 G.W.F Hegel (Werke in 20 Bänden, Bd. 10): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Frankfurt am Main, 1970. Siehe hierzu u.a. Siegrfried J. Schmidt (Hg.): Gedächtnis. Probleme und Perspektiven einer interdisziplinären Gedächtnisforschung.. Frankfurt am Main 1991. Durch das Gefühl der Bekanntheit, einer ‘Anmutung’, kann lediglich "ein Elaborationsprozeß in Gang gebracht werden, dessen Verlauf - dem subjektiven Erleben nach - den Vorgang des Erinnerns im eigentlichen Sinne ausmacht."13 Wir haben dieses Moment bei Proust erlebt. ‘Gedächtnis’ ist somit als kognitive Leistung zu sehen, die aus dem Zusammenwirken von Assoziationen und deren Verbindung zu kognitiven Mustern in einem kreativen Prozeß Vergangenheit entstehen läßt. Das Bewußtsein intendiert also z.B. im Fall einer unbestimmten Anmutung, sie in eine bestimmte Erinnerung zu transformieren und diese - nun durch eine Benennung bewußte - Erinnerung wiederum in einen verifizierbaren Kontext zu stellen, um so eine kohärente, die subjektive Vergangenheit beschreibende Geschichte zu erhalten. Im Falle Prousts wurde diese dann künstlerisch festgehalten - für Proust selbst als Darstellung der ‘Essens der Dinge’, also ihrer ‘Wahrheit’; doch im Grunde changierend zwischen Fiktion und Realität. 13 Gebhard Rusch: Erinnerungen aus der Gegenwart. in: Siegrfried J. Schmidt (Hg.): Gedächtnis. Probleme und Perspektiven einer interdisziplinären Gedächtnisforschung.. Frankfurt am Main 1991.