Die verschiedenen Facetten des diabetischen Fußsyndroms

Werbung
Die verschiedenen Facetten des diabetischen Fußsyndroms
Unter einem diabetischen Fußsyndrom (DFS) werden verschiedenste Fußläsionen
bei Patienten mit Diabetes mellitus verstanden, die sich am Fußskelett wie auch an
den Fußweichteilen manifestieren. Das Spektrum reicht von der Hornschwiele über
das blande Ulcus bis hin zur Gangrän ganzer Fußteile, von der geringen Deformität
bis hin zum völlig knöchern-destruierten Fuß, dem so genannten „Charcot-Fuß“.
Studien mit einer Beobachtungsdauer von ca. 30 Jahren zeigen, dass ein
diabetisches Fußsyndrom bei Typ 1 wie bei Typ 2 Diabetikern in einer Häufigkeit
bis zu 15 % auftritt. Ähnlich den anderen Diabeteskomplikationen kann das
diabetische Fußsyndrom bei den Typ 2 Diabetikern bereits zum Zeitpunkt der
Diabetesmanifestation vorhanden sein – dies liegt jedoch eher an der verspäteten
Diagnose “Diabetes mellitus Typ 2“. Schätzungen zeigen, dass in Deutschland ca.
240 000 Patienten ein diabetisches Fußsyndrom haben, die Inzidenz liegt bei ca.
120 000 und es werden pro Jahr immer noch ca. 22 000 Amputationen beim
Diabetiker durchgeführt.
Die unterschiedlichen Manifestationsformen des diabetischen Fußsyndroms
spiegelt die komplexe Pathogenese dieses Krankheitsbildes wieder (Abb. 1). Der
Diabetes mellitus führt über die chronische Hyperglykämie sowohl zur
Neuropathie wie auch zur Angiopathie, die ihrerseits zusätzlich durch die
diabetische Dyslipoproteinämie maßgebend gefördert wird. Kommt es, z.B. im
Rahmen schlechter Fußpflege oder bei veränderter Statik des Fußskeletts zu einem
Trauma, so kann sich rasch ein primär blandes Ulcus entwickeln, das nach
Infektion zu einer lebensbedrohlichen Gangrän avancieren kann. Repetitive
Mikrotraumen der Fußknochen bei bestehender Neuropathie können andererseits
einen akuten „Charcot-Fuß“ induzieren.
Die Prognose der Fußulcera ist hierbei ganz entscheidend davon abhängig, ob eine
rein neuropathische Läsion vorliegt (Abb. 2) oder ob eine ischämische bzw.
zusätzlich ischämische Komponente hinzukommt (Abb. 3). Nach den Daten von
Moulik et al. (Diabetes Care 2003; 26: 491) liegt die 5-Jahres-Überlebenszeit bei
rein neuropathischen Ulcera bei 70 %, wohingegen sie bei zusätzlich ischämischer
Genese unter 50 % abfällt. Aus diesem Grunde muss bei der Diagnostik nicht nur
der Lokalbefund exakt beschrieben werden (geeignet sind hierzu die WagnerStadien), sondern auch die Genese des Ulcus Berücksichtigung finden (rein
neuropathisch versus ischämisch/neuroischämisch). Darüber hinaus muss das
Ausmaß der Infektion erfasst sein, da auch hiervon die Prognose abhängt (Ausmaß
der Weichteilinfektion? Osteomyelitis?, systemische Inflammation?). Die
Kombination der Wagnerstadien mit der Armstrong-Klassifikation ist hierzu gut
geeignet, diese Zusatzinformationen mit abzubilden.
Die verschiednen Facetten des diabetischen Fußsyndroms
Referat von Dr. med. habil. Hans-Christian Geiss
2
Zur Diagnostik der Polyneuropathie eignen sich neben dem klinischen Blick
Stimmgabel, Monofilament, Zahnstocher sowie eine „Tip-Therm“-Sonde (Abb. 2).
Für die „basale“ pAVK-Diagnostik sollte neben klinischer Beurteilung (Fußpulse,
Hauttemperatur, -kolorit) und Bestimmung der US-Arterienverschlussdrücke
(Abb. 3) auch die Bestimmung des Knöchel-Brachialis-Index erfolgen. Ist dieser
niedrig (< 0,9) oder pathologisch erhöht (> 1,3), ist weitere angiologische
Diagnostik nötig (cw-Doppler, Oszillographie, ggf. Messung der perkutanen
Sauerstoffsättigung). Abhängig von diesen Befunden muss bei nicht-kompensierter
pAVK
oder
ausbleibender
Abheilung
bildgebende
Diagnostik
(Duplexsonographie,
MRT-Angiographie,
konventionelle
Angiographie)
angeschlossen werden.
Bei vermutetem „Charcot-Fuß“ sollte neben der Erfassung der Hauttemperatur ein
Röntgenbild sowie bei klinischem Verdacht auf ein akutes Stadium (Schwellung,
Rötung, Überwärmung) immer auch ein MRT durchgeführt werden (Abb. 4). Ist
das technisch nicht möglich, so wäre die Durchführung einer 3-PhasenKnochenszintigraphie oder eines Röntgenbildes in Serie eine Alternative.
Bevor bei vermuteter Infektion der Läsion eine antibiotische Therapie durchgeführt
wird, sollten immer Proben zur mikrobiologischen Untersuchung asserviert werden
(optimaler Weise ein Gewebestückchen oder zumindest ein tiefer Gewebsabstrich
oder, wenn möglich, ein Aspirat). Wird Knochen getastet, so ist eine Osteomyelitis
möglich, bei fehlender Erreichbarkeit des Knochens ist sie jedoch nicht
ausgeschlossen. Daher sollte bei Osteomyelitisverdacht immer auch ein MRT zur
Bestätigung und Dokumentation des Ausmaßes durchgeführt werden. Eine
Alternative wären szintigraphische Methoden bzw. Röntgenbilder in Serie.
Die so gewonnenen Informationen sind notwendig, um eine Differentialtherapie
der Fußläsionen durchzuführen, um damit letztendlich den Erhalt der Extremität zu
gewährleisten. Der Fußerhalt, zu dem wir aufgefordert sind, nicht zuletzt da die
Ziele von St. Vincente nicht erreicht wurden, ist auch oberstes Gebot der
Oppenheimer Erklärung, die von der Arbeitsgemeinschaft Diabetischer Fuß in der
Deutschen Diabetesgesellschaft am 2. Okt. 1993 so formuliert wurde (www.agfuss-ddg.de). Kernpunkte sind neben der einwandfreien Diagnostik das primäre
Bestreben Majoramputationen zu vermeiden und bei vorgefundener pAVK eine
aggressive Revaskularisation vor Amputation anzustreben. Vor jeder Amputation
sollten zudem mehrere Meinungen (z.B. ein Gefäßchirurg und ein Diabetologe)
gehört werden.
Folgende Therapieprinzipien stellen primär den Fußerhalt in den Vordergrund:
Als Basismaßnahmen sollte die lädierte Extremität entlastet und einer
stadiengerechten Lokaltherapie zugeführt werden. Parallel sollte der Blutzucker
optimiert werden, infizierte Läsionen müssen prompt antibiotisch behandelt
Die verschiednen Facetten des diabetischen Fußsyndroms
Referat von Dr. med. habil. Hans-Christian Geiss
3
werden. Bei einer rein neuropathischen Läsion oder dem Charcot-Fuß wird eine
primär konservative Therapie durchgeführt (Abb. 5). Bei einer ischämisch- bzw.
neuroischämisch bedingten Läsion muss eine Revaskularisation durchgeführt
werden. Ist diese erfolgreich, so wird weiter konservativ verfahren, es sei denn, der
Restdefekt ist so gross, dass eine Abheilung nicht mehr eintreten kann. Dann sollte
eine möglichst distale Amputation - wenn möglich, immer eine Minoramputation durchgeführt werden. Bei fehlenden Revaskularisationsmöglichkeiten, ist die
Wahrscheinlichkeit einer Majoramputation deutlich erhöht, aber auch hier kann
versuchsweise eine Minoramputation versucht werden. Bei drohender Sepsis sollte
auch geprüft werden, ob – sofern es der Allgemeinzustand des Patienten zulässt –
durch eine schnelle Revaskularisation eine Majoramputation umgangen werden
kann.
Ein solches Therapiekonzept bedingt natürlich eine enge interdisziplinäre
Zusammenarbeit, somit kurze Wege zwischen Internisten/Diabetologen,
Angiologen, Radiologen, Orthopäden und Gefäßchirurgen.
Im einzelnen wird wie folgt vorgegangen:
Zur Entlastung können beim akuten Ulcus neben lokaler Polsterung und Bettruhe
Vorfuß- wie Rückfußentlastungsschuhe verwendet werden. Für plantare Ulcera
bietet sich der „Mabal-Schuh“ oder eine Orthese (ggf. kombiniert mit UnterarmGehstützen) oder der aufwendigere „total contact cast“ an. Beim Charcot-Fuß stellt
die absolute Entlastung oberstes therapeutisches Prinzip dar: diese kann mit
Bettruhe / Rollstuhl + Zweischalengips oder „total contact cast“ zur völligen
Entlastung. Später kann dann eine vorsichtige Teilbelastung mit „total contact
cast“, einer Glasfiberorthese oder einem Aircast-Walker erfolgen.
Bei offenen Läsionen muss eine stadiengerechte Lokaltherapie erfolgen:
Entzündung: mechanische oder enzymatische Reinigung, ggf. Madentherapie;
Granulationsphase: feuchtes Wundenmilieu, ggf. V.A.C.-Therapie.
Im Stadium der Epithelialisierung ist ebenso auf ein feuchtes Wundmilieu zu
achten, bei größeren Defekten ist eine „mesh graft“-Deckung zu überlegen.
Infizierte Läsionen, z.B. der Weichteile und solche, die eine Osteomyelitis
vermuten lassen, müssen adhoc antibiotisch behandelt werden. Da initial der
Keimbefund nicht vorliegt, muss angesichts des zu erwartenden polymikrobiellen
Wundbefalls initial eine breite Abdeckung erfolgen. Als einfache Merkregel kann
gelten „je tiefer die Wunde, desto mehr Keime“, bei tiefen Wunden muss zudem an
Anaerobier gedacht werden. Entsprechend den Empfehlungen der DDG
(Diabetologie und Stoffwechsel, Supplement S2, 2007) ist eine breite Antibiose
mit Staphylokken-wirksamen ß-Lactamantibiotika oder Gyrasehemmern
empfohlen. Bei der Verwendung von Cephalosporinen, sollte unbedingt bei
Anaerobierverdacht Metronidazol hinzugefügt werden. Bei vermuteter
Die verschiednen Facetten des diabetischen Fußsyndroms
Referat von Dr. med. habil. Hans-Christian Geiss
4
Osteomyelitis hat sich die Kombination aus einem Gyrasehemmstoff mit
Clindamycin gut bewährt. Zunehmend wird – insbesondere bei bereits
hospitalisierten oder antibiotisch vorbehandelten Patienten – MRSA im
Wundgebiet gefunden. Bei Verdacht muss neben der Isolierung des Patienten ein
entsprechendes Antibiotikum (z.B. Vancomycin oder Cotrimoxazol plus
Rifampicin) gegeben werden. Hierbei ist auch die lokale Resistenzlage zu
berücksichtigen. Nach Erhalt des mikrobiologischen Befundes sollte dann gezielt
vorgegangen werden. Die Länge der antibiotischen Therapie wird insbesondere
von den radiologischen Befunden (Ausdehnung der Osteomyelitis) beeinflusst.
Bisher gibt es keinen Goldstandard in der Behandlung der Osteomyelitis, bewährt
hat sich oft ein kombiniertes Verfahren aus mittelfristiger Gabe von Antibiotika
und gezielter Ossektomie bzw. Minoramputation. Kleinere Osteomyelitisherde
können jedoch auch rein konservativ therapiert werden.
Zur Therapie der pAVK kommen prinzipiell die PTA mit oder ohne
Stentimplantation oder eine Bypassoperation (letzteres bei multiplen und distal
gelegenen Stenosen) in Frage. Neben der technischen Realisierung durch z.B.
distale Rekonstruktionen ist es aber ebenso wichtig durch eine konsequente
Antikoagulation (z.B. Marcumarisierung bei Bypässen) für langfristige Patenz zu
sorgen. Der Patient muss zudem regelmäßig angiologisch nachuntersucht werden,
um Bypassstenosen frühzeitig entdecken und ggf. mit PTA versorgen zu können.
Nach durchgeführter Revaskularisation sind nicht selten Minoramputationen nötig.
Diese sollten möglichst distal durchgeführt werden, um eine noch gute
Funktionalität des Restfußes zu gewährleisten.
Zur Rezidivprophylaxe ist die Versorgung mit geeignetem Schuhwerk
unverzichtbar: nach Amputationen geschieht dies optimaler Weise mit einem
orthopädischen Maßschuh und nach Abdruck gefertigten diabetes-adapierten
Einlagen (Abb. 6). Hier ist eine enge Zusammenarbeit mit dem orthopädischen
Schuhmacher, für Interimslösungen auch Orthopädietechniker, nötig. Bei fehlender
Fußfehlstellung und nur geringen Deformitäten reicht eine diabetes-adaptierte
Einlage zusammen mit Konfektionsschuhen für Diabetiker aus (Abb. 6). Die
Rezeptierung der entsprechenden Schuhversorgung sollte entsprechend den
Richtlinien der AG-Fuß RLP/Saarland erfolgen (www.ade-rlp.de).
In die optimale Therapie des diabetischen Fußsyndroms sind somit viele
Fachdisziplinen involviert. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit ist aber auch
bereits in der Primärprävention nötig. Hier sollte neben der guten
Blutzuckereinstellung, dem Polyneuropathiescreening und der regelmäßigen
Fußinspektion auch eine Schulung des Patienten erfolgen. Neben der Verordnung
geeigneter Schuhe sollte der Patient auch podologisch gesehen werden. Ggf. sind
auch von angiologischer Seite her regelmäßige Kontrollen des Gefäßstatus nötig.
Eine orthopädische Korrektur schwerer Fehlstellungen kann ebenfalls der
Prävention von Ulcera dienen.
Die verschiednen Facetten des diabetischen Fußsyndroms
Referat von Dr. med. habil. Hans-Christian Geiss
5
Weiterführende Literatur:
www.ade-rlp.de
www.ag-fuss-ddg.de
www.Deutsche-Diabetes-Gesellschaft.de
Morbach S., Müller E., Reike H., Risse, A, Spraul, M. Diabetisches Fußsyndrom.
Praxis-Leitlinien der Deutschen Diabetes Gesellschaft, S2, 2007, Seite 197 ff.
Evidenzbasierte Leitlinien der Deutschen Diabetes Gesellschaft;
Geiß, H.C. Das diabetische Fußsyndrom. In: Göke, Parhofer, Otto (Herausgeber),
Diabetes mellitus, Urban und Fischer 2002.
Eckardt A, Lobmann R. Der diabetische Fuß. Interdisziplinäre Diagnostik und
Therapie. Springer, Heidelberg 2005.
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. habil. Hans-Christian Geiss
Stoffwechselzentrum der Klinik Hirslanden
Witellikerstr. 40
CH-8032 Zürich
Die verschiednen Facetten des diabetischen Fußsyndroms
Referat von Dr. med. habil. Hans-Christian Geiss
6
Abb. 1: Pathogenese des DFS
Diabetes
Unwissenheit
Ignoranz
Hyperglykämie
Angiopathie
Neuropathie
Trauma
Schlechte
Fußpflege
Trauma
„blande Läsion“ / Charcotfuß
Infektion
Infektion
infiziertes Ulcus, Gangrän, Osteomyelitis
Abb.2: PNP-Diagnostik
Die verschiednen Facetten des diabetischen Fußsyndroms
Referat von Dr. med. habil. Hans-Christian Geiss
Abb. 3: pAVK-Diagnostik
Verschlussdruckmessung
(A. dorsalis pedis. / A. tibialis posterior)
Abb. 4: Diagnostik beim Charcot-Fuß
Röntgenbild
MRT
Hauttemperatur
7
Die verschiednen Facetten des diabetischen Fußsyndroms
Referat von Dr. med. habil. Hans-Christian Geiss
8
Abb. 5: Therapieprinzipien beim DFS
Entlastung, Lokaltherapie, ggf. Antibiose, BZ-Einstellung
rein neuropathische
Läsion, Charcotfuß
(neuro-)ischämische
Läsion
Drohende
Sepsis
Revaskularisation
möglich ?
erfolgreich
frustran
Konservativ, ggf. Minoramputation,
primär abwartend
Majoramputation
versuchsweise Minoramputation
Abb. 6: Schuhversorgung
„Konfektionsschuhe“ für Diabetiker
Orthopädischer
Maßschuh
Diabetes-adaptierte Einlagen
Herunterladen