Psychosoziale Krisen bei Kindern und Jugendlichen Herausforderung für Gesellschaft und Medizin heute Landesfachtagung Notfallseelsorge, Tuttlingen 14.03.2009 Dr. med. Marianne Ledwon- Feuerstein Schwerpunkte Einführende Überlegungen Epidemiologische Fragen Entwicklungen der Inanspruchnahme Bedeutung von Krisen Ausdrucksformen von Krisen Bedeutung sozialer Netzwerke Ausblick Epidemiologie Ziele des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys des RobertKoch- Instituts: 1.Prävalenzschätzung psychischer Auffälligkeiten und Störungen 2.Identifikation von Risikogruppen mit Interventionsbedarf 3.Beschreibung der subjektiven Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland Ergebnisse des KiGGS Psych. Auffälligkeiten im SDQ bei 7,2%; 7,5% grenzwertig Mädchen 5,3%; Jungen 9,0% Höheres Risiko bei niedrigem sozioökonomischen Status Emotionale Probleme: 9,1% auffällig; 7,2% grenzwertig; mehr Mädchen; Kinder mit Migrationshintergrund 11% Verhaltensprobleme: dissozial/ deviant – 14,8% auffällig, 16% grenzwertig; mehr Jungen; niedrigerer sozioökonomischer Status Hyperaktivität: 7,9% Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen: 11.5% Defizite im prosozialen Verhalten :3,6% Gewalterfahrungen als Täter oder Opfer zur Lebensrealität eines Viertels der Kinder und Jugendlichen von 11-17 Jahren in Dtschl. gehörend Rate der ausschließlichen Opfer mit 4,6% mehr als dreimal niedriger als die der Täter (ca. 15%) KiGGS unterscheidet nicht, wo Gewalt stattgefunden hat; klare Hinweise, dass Familie Hauptort für Gewalt darstellt Krise als notwendiger Wendepunkt? Entwicklung - Einschlagen des einen oder anderen Weges Eröffnen von Hilfsquellen des Wachstums, der Wiederherstellung, der weiteren Differenzierung In individueller Entwicklung, in Therapie eines Einzelfalles, in Spannungen historischer Verhältnisse Herausführen aus der „Identitätsverwirrung“ Adoleszenz – Zuordnung einer normativen „Identitätskrise“ (Erikson, Erik H.; 1968) Entwicklungsförderung versus Entwicklungszusammenbruch in Adoleszenz Reaktivierung traumatischer Erfahrungen Reaktivierung von Verlusten Gestörtes Selbstbild Misslingende Ablösung Ausdrucksformen der Adoleszenzkrise Zwanghaftes Essen Zwanghaftes Fasten Versagen in der Schule Selbstmordversuche Selbstverletzungen Drogenkonsum Schwere Depressionen Psychogene Anfälle Delinquenz Bettnässen Promiskuität Suizidale Krisen bei Kindern und Jugendlichen Suizidversuche: Vergiftungen, Schneiden, Stechen, Alkoholintoxikation häufigste Methoden Impulsive suizidale Handlungen charakteristisch Suizidale Entwicklungskette (Poustka 1986) Höhere Suizidrate bei Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen –Suizid und Suizidversuche in hohem Maße mit psychiatrischen Störungen verknüpft – häufig Assoziation mit Anpassungsstörungen, akuten Belastungsreaktionen, akuten Konflikten und Überforderungserleben ( Warnke et al. 1996) Schwerere psych. Störungen – Depressionen, Psychosen, Persönlichkeitsstörungen Persönlichkeitstypische Risikofaktoren für suizidale Handlungen Strenges, rigides Über- Ich Schnelle Verunsicherung des Selbstwerterlebens Hohes Ich-Ideal Ambivalente, leicht störbare Beziehungen Kein realitätsgerechter Umgang mit Aggressionen- Aggressionsumkehr Angst vor Verlassenheit und Hilflosigkeit Realitätsverleugnung Todesphantasien Diskrepanz zwischen Todesphantasien und Wirklichkeit des Todes So schnell wie möglich - bevor Abwehr wieder steht/ Chance der Selbsttherapie nutzen Tiefes Verständnis der Tatsache, dass Krisenhandlung auch Selbsthilfe ist KI so nah wie möglich dort, wo Patient Krise lebt – Entfernung so lange wie nötig Krise offen halten; Sinn der Krise aus sich heraus zu finden – Cave: Fremdbestimmung Pflegerische, körpermedizinische, soziale Kontextarbeit – Bedürfnisse als Entlastungsmöglichkeiten Krisenpartner – zunächst getrennt selber Hilfe brauchend Risikoverhalten Grenzüberschneidungen: Suizidalität und nicht-suizidales Risikoverhalten Indirektes suizidales Verhalten bis zu Hochrisikoverhalten einschließlich Selbstverletzung und Möglichkeit des Versterbens ohne Todesabsicht Selbstverletzendes Verhalten Meist oberflächliche Verletzungen der Haut durch das Ritzen, Schneiden mit scharfen Gegenständen oder Kratzen mit Fingernägeln Bevorzugt an Armen und Handgelenken Verbrennen der Haut mit Zigaretten Treten und Schlagen gegen/ an harte Gegenstände Schnell sich wiederholenden Charakter annehmend Von Suizidalität: Suizidversuche können äußerlich SVV ähneln, führen aber zu völlig unterschiedlichen psychosozialen Interventionen Gemeinsamkeiten: ca. 50% der Personen mit SVV auch suizidal Oder: SVV kann spätere Suizidversuche vorhersagen Häufig tägliche Suizidgedanken, Menschen mit SVV grundsätzlich höherem Suizidrisiko ausgesetzt Eigene Gefühle sichtbar machen Regulation von Gefühlen: - Beendigung negativer Gefühlszustände (Ventilwirkung) Abbau von Stress und Anspannung -Herstellung positiver Gefühlszustände (trostspendend, beruhigend, entspannend; Rauschzustände, „Kicks“) -Selbstkontrolle Schulverweigerung Ausdruck einer komplexen psychiatrischen Störung Komorbidität mit Depressionen, Phobien sowie anderen Angststörungen Therapieprogramme multimodal konzipiert Langzeitfolgen hinsichtlich der beruflichen bzw. schulischen Integration und der weiteren psychiatrischen Morbidität Auslösende und aufrechterhaltende Faktoren sind heterogen kein typisches psychosoziales Belastungsmuster 16.03.2009 19 Prävalenz 5% aller Schulkinder Anfällige Altersgruppen: mittleres Alter 12,5 Jahre (Lehmkuhl et al. 1988)/ zwischen 5. und 6.Lj. und 10. und 11. Lj. (Ollendick und Mayer, 1984) Außerschulische und schulische Belastungsfaktoren bei fast 50% der Kinder Unterschiedliches Muster psychosozialer Risiken in wenigen Studien über den familiären Hintergrund und psychosoziale Belastungsfaktoren 16.03.2009 20 Dissozialität – Störungen des Sozialverhaltens Übermaß an Ungehorsam, Streitlust, und tyrannisierendem Verhalten übermäßig häufige und schwere Wutausbrüche Grausamkeit gegenüber anderen Menschen und Tieren Erhebliche Zerstörungswut gegenüber Eigentum Zündeln, Stehlen, Lügen und Betrügen Schuleschwänzen unangemessenes Weglaufen Erscheinungsformen; Häufigkeit bei 48% der ambulanten und stationären Patienten der KJP Störungen des Sozialverhaltens, Impulshaftigkeit, hyperkinetische Verhaltensweisen Reaktives aggressives Verhalten = feindselige, bösartige Reaktion als Antwort auf Frustration - affektive Aggression Kontrolliertes, zielgerichtetes aggressives Verhalten: instrumentelles aggressives Verhalten Bullying Spezifische Art der Gewalt unter Kindern und Jugendlichen mit einem systematischen und dauerhaften Missbrauch von Macht (Hayer, Scheithauer, 2008) Ausdrucksformen: physisches, verbales, relationales Bullying, aber auch mit Hilfe von Internet, Mobiltelefon Machtgefälle zwischen Täter, Tätergruppe und dem hilf-/wehrlosen Opfer Meist im Rahmen sozialer Netze, wie Schulklassen, Sportvereinen - jahrelanges Leiden unter isolierenden, erniedrigenden Attacken Bullying quasi zum Schulalltag gehörend assoziiert mit erhöhtem Risiko für ungünstige Entwicklungsverläufe nicht nur Täter und Opfer, auch Assistenten, Verstärker der Bullies; Verteidiger der Victims, Außenstehende Prävention: Mind Matters Module – Unterstützung für eine systematische, nachhaltige Veränderung des Sozialsystems Schule Literatur Brunner, R.; F. Resch(Hg.): Borderline- Störungen und selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen Dark Angel; Anders leben - Selbstverletzendes Verhalten; Ubooks-Verlag, 2004 Endres, Manfred: Krisen im Jugendalter, 1994 Erikson, Erik: Jugend und Krise, 1968 Hoffmann, Jens; Isabel Wonrak(Hrsg.): Amok und zielgerichtete Gewalt an Schulen Israel, Agathe; Bettina Sauer: Krise und Krisenintervention im Jugendalter Landolt, Markus: Psychotraumatologie des Kindesalters Lehmkuhl, G. et al.: Schulverweigerung: Klassifikation, Entwicklungspsychopathologie, Prognose und therapeutische Ansätze; Praxis d. Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie; 6/03 Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter; Hrsg. DGKJP, BAG; Berufsverband der Ärzte f. KJPP;2007 Petermann, Franz, Sandra Winkel; Selbstverletzendes Verhalten; Klinische Kinderpsychologie, Band 9,Hogrefe, 2005 Poustka, van Engeland, Resch: Entwicklungspsychiatrie: Dissozialität –Störungen des Sozialverhaltens; Schattaer 2008 Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie: Bullying im Kindes- und Jugendalter; Robert- Koch- Institut, Berlin: Kinder- und Jugendgesundheitssurvey;2007 Warnke, Entwicklungspsychiatrie: Suizidalität- Schattauer, 2008