Praxis: Rothenbaumchaussee 7, 20148 Hamburg Internationales Symposium Forensische Psychiatrie Zürich – 8.-10. Juni 2011 Sexuell süchtige Entwicklungen PD Dr. med. Andreas Hill Historisch Richard Freiherr von KrafftEbing (1840 – 1902) „Sexuelle Hyperaesthesie : Ein Geschlechtstrieb, der „das ganze Denken und Fühlen in Beschlag nimmt, nichts anderes neben sich aufkommen läßt, [...] brunstartig nach Befriedigung verlangt, [...] sich mehr oder weniger impulsiv entäußert, [...] nach vollzogenem Akt nicht oder nur für kurze Zeit befriedigt, [...]. (nach Briken 2007) Historisch Hans Giese (1920 – 1970) Leitsymptome von Perversionen • Verfall an die Sinnlichkeit • Zunehmende Frequenz, Abnahme an Satisfaktion • Promiskuität und Anonymität • Ausbau von Phantasie, Praktik, Raffinement • Süchtiges Erleben • Periodizität der dranghaften Unruhe (nach Briken 2007) Sexuelle Sucht • Unfähigkeit trotz schädlicher Konsequenzen aufzuhören, Kontrollverlust • Sexualität als primäre Bewältigungsstrategie • Zunehmende Frequenz (Dosissteigerung) • Schwerwiegende Folgen • Schwere Stimmungsschwankungen • Soziale, berufliche oder erholsame Aktivitäten werden vernachlässigt (Einengung) • Wunsch, das sexuelle Verhalten einzuschränken (Leidensdruck) (Carnes 1992) Bisherige Klassifikationen Im DSM-IV: • nicht näher spezifizierte sexuelle Störung (302.9) In ICD-10: • Gesteigertes sexuelles Verlangen (F 52.7): Nymphomanie / Satyriasis • sonstige Störung der Sexualpräferenz (F 65.8) Hypersexuelle Störung (Vorschlag für DSM V, Kafka 2010) A. Über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten wiederkehrende und intensive sexuelle Fantasien, sexuelle Bedürfnisse oder Verhaltensweisen in Verbindung mit ≥ 3 der folgenden Kriterien: 1. 2. 3. 4. 5. Starke zeitliche Beanspruchung durch sexuelle Fantasien, Bedürfnisse und Verhaltensweisen; wiederholte Beeinträchtigung von anderen wichtigen Zielen, Aktivitäten und Verpflichtungen ... als Reaktion auf dysphorische Stimmungszustände (Angst, Depression, Langeweile, Reizbarkeit) ... als Reaktion auf belastende Lebensereignisse Wiederholte erfolglose Bemühungen, die sexuellen Fantasien, Bedürfnisse, Verhaltensweisen zu kontrollieren oder reduzieren Wiederholtes sexuelles Verhalten trotz Risiko von körperlicher und psychischer Schädigung für sich selbst oder andere Hypersexuelle Störung (Vorschlag für DSM V, Kafka 2010) B. Klinisch bedeutsames persönliches Leiden und eine Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen und anderen wichtigen Funktionsbereichen C. Die Symptomatik ist nicht auf eine direkte physiologische Wirkung exogener Substanze (z.B. Drogen, Medikamente) zurückzuführen. Spezifisches Verhalten: Masturbation, Pornografie, direkte sexuelle Kontakte (Prostituierte, Escortservice, „One-night-stands , Anonyme sexuelle Begegnungen, Affären), Cybersex, Telefonsex, Strip Clubs etc. Befragung von 43 TherapeutInnen der DGfS Mit welchen Symptomen stellen sich „sexsüchtige Patienten vor? Briken, Habermann, Berner, Hill; Sexual Addiction & Compulsivity 2007 „Hypersexuality in einer repräsentativen Stichprobe • Repräsentative, nicht-klinische Bevölkerungsstudie aus Schweden 1996 (N=1244 Männer; N=1142 Frauen) • Interviews und Fragebögen • Vergleich derjenigen, die in ≥3 Bereichen (Masturbationshäufigkeit, Pornografiekonsum, Anzahl der Partner, Gruppensex) oberhalb der 90er Perzentile lagen (12,1% der Männer und 6,8% der Frauen) mit denjenigen, die in keinem Bereich oberhalb der 90er Perzentile lagen Langstöm & Hanson 2006 „Hypersexuality „Hypersexualität korrelierte mit: • Jüngeres Alter • Trennung der Eltern in der Kindheit • Früher erster Geschlechtsverkehr • Sexueller Missbrauch in der Vorgeschichte (F) • Keine stabile Partnerschaft • Paraphile Interessen (exhibit., voyeurist., S/M) • Jemals sexuell übertragbare Erkrankung • Unzufriedenheit mit Sexualleben und Gesundheit • Drogen-, Alkohol- und Tabakkonsum • Problematisches Spielverhalten (M) Langstöm & Hanson 2006 Leiden und Beeinträchtigungen infolge Hypersexualität • Bindungsschwierigkeiten (Trennung, Scheidung) • Probleme bei der Arbeit (z.B durch Konsum von Internetpornographie) • Finanzielle Schwierigkeiten • Geschlechtskrankheiten • HIV • Ungewollte Schwangerschaften (Übersicht bei Kafka 2010) Häufigkeit von sexueller Sucht / Hypersexueller Störung • unklar, weil keine einheitliche Definition und Operationalisierung • Schätzungen: 3-6% (USA, Kaplan & Krueger 2010) ? • Therapiesuche wegen „sexueller Zwanghaftigkeit (sexual compulsivity): 1,6% M vs. 0,8% F (Winters et al. 2009) • Männer >> Frauen (ca. 5 : 1) Erklärungsmodelle für Hypersexuelle Störung (Kafka 2010) • Dysregulation des sexuellen Verlangens (Gegenpol zur hyposexuellen Störung) • Sexuelle Abhängigkeit / Sucht (progressive Entwicklung, Toleranz, Entzugssymptome, Kontrollverlust) • Impulsivitätsstörung (Impulskontrollstörung, wie z.B Pathologisches Spielen und Kleptomanie) Ätiologische Erkärungsmodelle • biologisch erhöhte Vulnerabilität (Dysbalancen im dopaminergen (é) und serotonergen (ê) System) • negative frühe Bindungserfahrungen / traumatische Erfahrungen • Scham-, Schuldgefühle, Selbstwertproblematik • Vermeidung von Intimität • Entkoppelung von sexueller Lust und Beziehungsbedürfnis (Briken & Basdekis-Josza 2010) • häufig: versteckte / unbewusste Aggression (Feindseligkeit) gegenüber Sexualobjekt (Frauen)! Sex als Copingstrategie „ .... interessante Minderheit, bei denen das sexuelle Verlangen und die sexuelle Aktivität zunimmt, wenn sie bedrückt oder depressiv sind. Dieses paradoxe Muster kommt bei Männern häufiger vor als bei Frauen [... und ist] mit bestimmten Typen riskanten Sexualverhaltens assoziiert ..., also mit dem, was man gemeinhin „sexuelle Sucht oder „sexuellen Zwang nennt. (Bancroft et al. 2003, 2004) Neigung zu sexueller Erregung und Hemmung stark Leicht erregbar, mangelnde Kontrollfähigkeit schwach HEMMUNG Schwer erregbar, wenig gehemmt Leicht erregbar, E gute R Kontrollfähigkeit R stark E KONTROLLE G Schwer U erregbar, N gehemmt G schwach Briken 2007, Modifiziert nach Bancroft 2004 Belohnungssystem anterior cingular Cortex (ACC) Differentialdiagnostik • • • • Manie / Hypomanie (bipolare Störung) Schizophrenie, wahnhafte Störungen Borderline-Persönlichkeitsstörung Hirnorganische Störungen (frontal, temporolimbisch) • L-Dopa-Therapie bei Parkinson-Patienten • sexuelle Zwangsgedanken (ich-dyston! kein Lustgewinn!) (Briken & Basdekis –Josza 2010) Komorbidität Achse I: • Angststörungen; aber nur selten Zwangsstörungen (!) • Affektive Störungen : Depression, Dysthymie, bipolare Störung • Substanzmissbrauch / -abhängigkeit • Impulskontrollstörungen • ADHS • Sexuelle Funktionsstörungen (v.a. Erektionsstörung) • Paraphilien Achse II – Persönlichkeitstörungen, v.a.: • Paranoid • Passiv- aggressiv • Vermeidend-selbstunsicher • Zwanghaft • Narzisstisch • Histrionisch (Übersicht bei Kafka 2010) Verlauf Positive und negative Verstärker bei sexuell süchtiger Symptomatik (Briken & Basdekis-Josza 2010) Forensische Relevanz des PRD- Konzepts • Fragestellung: Wie häufig kommen neben Störungen der Sexualpräferenz/Paraphilien (PA) auch PRD vor und wie relevant sind diese hinsichtlich der Gesamtsymptomatik und delinquenter Entwicklung? • Hypothese: Bei einer Kombination von PA und PRD zeigen sich die schwersten Entwicklungsdefizite, das stärkste Ausmaß an Beschäftigung mit Sexualität und die am stärksten ausgeprägte (Vor-) Delinquenz. • Methode: Gruppenvergleich. Retrospektive Auswertung von 166 Gutachten über Männer mit sexuellem Tötungsdelikt Briken, Habermann, Berner, Hill. J Forensic Sci 2006 Delinquenz Schlussfolgerung: PRD ist eine sinnvolle Erweiterung der Diagnostik! Briken, Habermann, Berner, Hill. J Forensic Sci 2006 Screening-Fragen • Hatten Sie jemals wiederkehrende Schwierigkeiten, Ihr sexuelles Verhalten zu kontrollieren? • Hatte Ihr sexuelles Verhalten negative Konsequenzen (juristische, in der Partnerschaft, im Beruf, medizinisch, z.B. Geschlechtskrankheiten)? • Gab es Versuche, das Verhalten zu verheimlichen und/oder Schamgefühle? • Hatten Sie jemals das Gefühl, zu viel Zeit mit sexuellen Aktivitäten zu verbringen? (Kafka 2000) Diagnostik: Fragebögen / Interviews • Sexual Compulsivity Scale (SCS, Kalichman & Rompa 1995, 2001) • Sexual Sensation Seeking Scale (SSSS, Kalichman et al. 1997) • Compulsive Sexual Behavior Inventory (CSBI, Coleman et al. 2001, 2007) • Hypersexual Behavior Inventory (Reid & Caros, 2007) • Sexual Addiction Screening Test (SAST, Carnes 1989, 1991) • Sexual Dependency Inventory-Revised (Delmonico et al. 1998) • Sexual Inhibition & Sexual Excitation Scales (SIS/SES, Carpenter et al. 2008, Janssen et al. 2002a, b) • Cognitive and Behavioral Outcomes of Sexual Behavior (CBOSB, McBride et al. 2008) • Diagnostic Interview for Sexual Compulsivity (DISC, Morgenstern et al. 2009) (Übersicht: Hook et al. 2010) Therapie Therapieziele 1. Ordnung • Psychiatrisch-psychologische Diagnostik und Behandlung anderer psychischer Störungen (Komorbidität) • Förderung des Problembewusstseins (z.B. Motivational Interviewing) • Reduzierung der Verfügbarkeit (Stimuluskontrolle), Kontrollmöglichkeiten bessern (z.B. Internetzugang sperren, Filtersoftware, meiden auslösender Situationen) • Klärung von auslösenden Gedanken, Affekten, Stressoren und Entwicklung von möglichen Handlungsalternativen • Psychoeduktion inkl. Information über Komorbidität und Behandlungsmöglichkeiten (modifiziert nach Delmonico et al. 2002, Briken et al. 2005) Therapie Therapieziele 2. Ordnung • Rückfallvermeidung und Bearbeitung assoziierter Probleme: z.B. Trauerprozesse, Stress- und WutManagement, Schuld und Scham, Kindheitstraumata, kognitive Verzerrungen, ggf. Opfer-Empathie • Abbau der sozialen Isolation • Förderung einer integrativeren und beziehungsreicheren Sexualität • Einbeziehung von Partnern (evtl. Paartherapie), Kindern, Angehörigen, Freunden oder Arbeitskollegen • Evtl. Selbsthilfegruppe (AS, SLAA, S-Anon) • Pharmakotherapie inkl. Komorbidität (z.B. SSRI) (modifiziert nach Delmonico et al. 2002, Briken et al. 2005) The Sex Addiction Workbook (Sbraga & O Donohue 2003) Kognitiv-Behaviorales Selbsthilfemanual (englisch) • Analyse des Problems (Verhaltensanalyse, costs & benefits) • Lang- und kurzfristige Ziele (bzgl. Symptomatik und allgemeine Lebensziele) • Vor- und Nachteile von Behandlung • Analyse und Bearbeitung kognitiver Verzerrungen • Analyse von Verhaltensketten, alternative Handlungsmöglichkeiten • Analyse und Übungen zu Emotionsregulation, insbes. Selbstwertprobleme • Empathie in Folgen für andere • Rückfallvermeidung, Analyse & adäquate Bewältigung von Risikosituationen • Social Skills • Förderung von „sicherer und befriedigender Sexualität & Intimität Medikamentöse Therapie 1 Doppelblinde, placebo-kontrollierte Studie (n=28 „men who have sex with men , Wainberg et al. 2006): • 12 Wo., 20-60 mg Citalopram (SSRI) • Signifikant stärkere Reduktion in der CitalopramGruppe bzgl.: – Verlangen und Drang nach Sex – Masturbationshäufigkeit – Pornographie-Konsum (7,1 è 2,3 Std. pro Wo. in Citalopram-Gruppe versus 6,4 è 5,9 Std. pro Wo. in Placebogruppe) Medikamentöse Therapie 2 Naltrexon (Ryback 2004) • langwirksames Opioid • Anwendung bei Alkohol/Drogenabhängigkeit, Impulskontroll- und Borderline-Persönlichkeitsstörung • Bestimmte endogener Opioidspiegel notwendig für sexuelle Erregbarkeit • Aber: hohe Dosen von Opioiden hemmen Dopaminausschüttung! • Offene, prospektive, unkontrollierte Studie mit 21 jugendlichen Sexualstraftätern (Sex. Missbrauchstäter) mit Hypersexualität • Naltrexon: Ø 170 mg/d (100-200 mg, einschleichend mit 50 mg/d) • Erfolg (30% Reduktion sex. Fantasien u. Masturbation über mindestens 4 Monate) Medikamentöse Therapie 3 Offene Studie ohne Kontrollgruppe (n=76, nichtparaphile Hypersexualität, Iran!, Safarinejad 2009): • 3,75 mg Triptorelin (LHRH-Agonist = antiandrogene Medikation!), unbegrenzte Zeit • Reduktion der Häufigkeit von Geschlechtsverkehr nach 6 / 12 und 24 Monaten • Cave!!! Erhebliche, z.T. irreversible Nebenwirkungen (z.B. Unfruchtbarkeit, Osteoporose, Übergewicht, Gynäkomastie, Thromboembolien) bei antiandrogener Medikation! èdaher nur in extremen Fällen! Kasuistik: Herr O. (Hill et al. 2011) • attraktiver, intelligenter und sensibler, lediger u. kinderloser selbständiger 26jähriger Fotograf • sucht therapeutische Hilfe, weil er seit über 10 Jahren an einer „Sexsucht leidet: 2-4 x 1-3 Std. Konsum eher ästethischer Pornographie, v. a. Nacktfotos im Internet, mit Masturbation • Folgen: fühlt sich oft total leer, depressive Verstimmungen, (ichdystone) sexualisierte Wahrnehmung von Frauen, vermeidet berufliche Weiterentwicklung („Prokrastination ), z.T. Blutergüsse am Penis Kasuistik: Herr O. (Hill et al. 2011) Sexualanamnese: ab 6. Lj. regelmäßige Masturbation., etwa ab dem 14. Lj. fast ausschließlich mittels Pornographie im Internet (Suche nach dem ästhetisch-perfekten Körper) In mehreren, z.T. längeren Beziehungen mit etwa gleichalten Frauen häufig gelitten, u. a. weil die Partnerinnen z. T. fremd gingen. Er nahm das hin, brachte sich durch Pornokonsum in einen „emotionalen Leerzustand , um die Kränkung auszuhalten. Bei depressiven Stimmung bes. starker Pornographiekonsum, um „Gefühle abzustellen . Kasuistik: Herr O. (Hill et al. 2011) Biographischer Hintergrund: • Sehr harmonisches, z.T. idealisiertes Elternhaus, sehr enge Mutterbeziehung bei gleichzeitig mehreren frühen, z. T. krankheitsbedingten Trennungen von den Eltern. è Aggressive Impulse gegenüber der Mutter, die diese Trennungen nicht verhinderte, werden verdrängt. • Körperliche Erkrankungen in der Kindheit (Asthma, Neurodermitis) und hohe Erwartungen des Vaters, mit dem er Rivalität vermeidet è Störung der Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühls Kasuistik: Herr O. (Hill et al. 2011) Hypothesen: • schon in der frühen Kindheit Sexualität als Selbsttröstung (bei Einsamkeit, Unterlegenheit) und Lösung / Autonomie von Mutter. Wiederholung dieses Musters bei späteren Kränkungen durch das Fremdgehen der Freundinnen. • Beim Pornographiekonsum muss er sich nicht dem Willen der Frau unterwerfen und behält die Kontrolle, auch latente Feindseligkeit (Frauen werden als Objekte benutzt) • Sexsüchtige Symptomatik zur Abwehr von Depression (Dysthymia und rezidivierende leicht- bis mittelgradige depressive Episoden), aber auch von aggressiven Impulsen gegenüber Frauen. • Pornographie-Sucht (erleichtert durch leichten Zugang im Internet) verstärkt wiederum depressive Verstimmungen. • Zentrale Konflikte (nach OPD-2): Selbstwert, Unterwerfung-versusKontrolle und Ödipaler Konflikt. Kasuistik: Herr O. (Hill et al. 2011) Behandlung: • Tiefenpsychologische Psychotherapie (auf Wunsch des Pat. niedrigfrequent) • mit Verwendung eines kognitiv-behavioralen Selbsthilfemanuals • Stimuluskontrolle mit Filtersoftware (Netnanny)! Gefahren des Konzepts Sexueller Süchtigkeit (Briken 2007) Gefahren • Sexualität und Lust sind gefährlich • Es gibt eine richtige Sexualität • Beziehungen mit Intimität sind am besten • Wenn man sich außer Kontrolle fühlt, ist man außer Kontrolle • Normen definieren sexuelle Gesundheit Was muss ein klinisches Modell berücksichtigen? • Den kulturellen und individuellen Kontext • Die Gefahr der Pathologisierung und Medikalisierung • Die Gefahr von falschen Selbstdiagnosen • Differentialdiagnosen und Komorbiditäten • Die Gefahr von Stigmatisierung und Benutzung diagnostischer Begriffe zur sozialen Kontrolle Fazit 1. Es gibt sowohl paraphile als auch nicht paraphile (Paraphilieverwandte Störung) süchtige Formen der Sexualität. 2. Die Einführung einer Diagnose „Hypersexuelle Störung ist sinnvoll. 3. Ätiologisch sind eine Interaktion von biologischer Vulnerabilität, Bindungs- und Beziehungsstörungen, Störungen in der Affektregulation und Kontrolle sexueller Erregung von Bedeutung. 4. Es gibt Menschen, die auf Depressivität und Ängstlichkeit eher mit Steigerung sexueller Erregbarkeit reagieren und mit sexueller Aktivität negative Emotionen zu bewältigen versuchen (Funktionalität). 5. Bei manchen Menschen schlägt diese Funktionalität in Dysfunktionalität mit negativen Folgen um. 6. Die Fähigkeit zur Kontrolle sexueller Aktivität hat wahrscheinlich neurobiologische Korrelate. 7. Neben Psychotherapie bieten medikamentöse Ansätze (SSRI, Antiandrogene) eine zusätzliche Hilfe. 8. Cave: Gefahr einer Medikalisierung moralischer Bewertungen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!! [email protected] [email protected] Selbsthilfegruppen • AS: Anonyme Sexaholiker ([email protected]) • SLAA: Sex- und Liebessüchtige Anonym ([email protected], info@skaa,at) • S-Anon: für Angehörige von Sexsüchtigen ([email protected]) è „Hypersexualität birgt höheres Risiko von psychosozialen und somatischen Problemen Methode Gutachten zu Delinquenten, die mindestens 1 sexuelles Tötungsdelikt begangen haben (N=166), davon N=161 auswertbar keine PA, keine PRD N=47 29% nur PRD N=29 18% nur PA N=29 18% PA + PRD N=56 35% PA= Paraphilie; PRD= Paraphilia related disorder Briken, Habermann, Berner, Hill. J Forensic Sci 2006 Entwicklungsstörungen, sexuelle Präferenzstörungen Briken, Habermann, Berner, Hill. J Forensic Sci 2006 Frau A. • 29 Jahre, ledig, kinderlose Ergotherapeutin • Anlass der Vorstellung: Zunächst kam Partner (32 J., Betriebswirt, ledig, kinderlos) wegen sexueller Lustlosigkeit (im Verlauf: Diagnose eines Hypogonadismus mit erniedrigtem Testosteron, Z.n. Hoden-Ca.) • Gespräch mit Frau A. u.a. zur Abklärung der Indikation für eine Paartherapie • Frau A: – „Sexualkonflikt mit Partner : Sexualität für sie wichtig, für ihn nicht – „hoher Leidensdruck wegen überdurchschnittlicher Libido Frau A. sexuelle Problematik Frau A: • Wütend, dass sie selbst „dauernd Lust hat , z.T. „zwanghaft • Wache morgens auf mit Angst, Lust zu haben → Angst steigert diese Lust weiter • Lust, wenn es gar nicht passt (z.B. bei Arbeit oder Sport), macht dann z.T. vorher (‚prophylaktisch ) Selbstbefriedigung, um Lust zu reduzieren • Selbstbefriedigung z.T. mehrmals täglich, z.T. „zwanghaft , trotz multipler Orgasmen (10-20x) keine richtige Befriedigung, „wie ein Fass ohne Boden • Wenn keine SB: angespannt, unruhig, Brennen • „keine Kontrolle über ihre Lust Frau A.- Sexualanamnese Somatische Abklärung: • Gynäkologin: „Freuen Sie sich doch! , aber: „extrem gesteigerte Libido mit großem Leidensdruck • Androgene im hoch-normalen Bereich (Testosteron 0,48 ng/ml, DHEAS 1,4 µg, Androstendion: 2,14 ng/ ml) • Nimmt u.a. deswegen seit 14. Lj. Pille; Biviol, (früher auch Diane - mit Antiandrogen Cyproteronacetat -, darunter aber depressiv) • craniales MRT (o.B.) Frau A.- Biographie • Ab dem 3. Lebensmonat bei Pflegeeltern, aber bis 8. Lj. Regelmäßig Kontakt zu leiblichen Eltern • Leibliche Mutter: leicht geistig behindert,derbe, peinlich • Leiblicher Vater: Alkoholiker, „totgesoffen • Pflegemutter: Kaufmännische Angestellte, sehr intelligent, unzufrieden, somatisiere • Pflegevater: Bank-Filialleiter • Zwei Pflegeschwestern (+7, +4) • Immer „zwischen den Stühlen gesessen, nirgends richtig zu Hause, nicht dazugehörig • Gefühl, nicht richtig akzeptiert und nicht normal zu sein • Aber in Schule immer gut integriert, kontaktfreudig • Abitur • Ausbildung zur Ergotherapeutin, Steuerfachangestellten Frau A.- Sexualanamnese • • • • • • Schon immer starke Lust im Kindergarten „exzessiv Doktorspiele Ab 12/13. Lj. SB, etwa ab 19. Lj. „sehr häufig In Pubertät oft „wie ferngesteuert Sexualität als „Selbsttröstung bei Depressivität 16. Lj. Einmalig in Jugendherberge: Mann in der Nachbardusche masturbierte vor ihr (wurde wegen versuchter Vergewaltigung gesucht) Frau A.- Sexualanamnese Beziehungen • Seit dem 14. LJ fast durchgängig feste Partner • 1. GV (14. LJ) schmerzhaft, kein Orgasmus; Sex. später gut • In 2. Beziehung (Partner verständnisvoll, sensibel) hatte sie wenig sexuelle Lust, zunehmend depressiv • In 3. Beziehung viele gemeinsame Interessen; Sexualität erstmals richtig genossen, GV 2x/Wo. • In 4. Beziehung Partner distanziert, wenig gemeinsames; MS, z.T. Erektionsstörung. Sex war „schön , Lust eher gering; aber: sexuelle Außenbeziehung. Nach Trennung „stalkte er sie. • In 5. Beziehung: Beide „sich sehr geliebt , sehr ähnlich. Sexualität sehr leidenschaftlich. Aber: sie hatte „zu oft Lust (Leidensdruck), er verliebt sich in andere Frau Frau A.- Sexualanamnese Aktuelle Beziehung • Seit ca. 1/2 Jahr • Auf Single-Seiten im Internet kennen gelernt • Sie schätzt seine Verlässlichkeit • Schwierig: Partner ist zwanghaft (Händewaschen, Knöpfe), emotional verhalten, wenig sportlich • Sie vermisst Spontanität, Leidenschaft • Gefühl, er halte sie hin, vertröstet sie • Gleichzeitig große Zweifel an sich, ihrer Beziehungsfähigkeit • Erster GV erst nach 3 Monaten, eher selten (1 x pro Wo.), sie beklagt Erektionsprobleme, er kommt selten zu Orgasmus • Gefühl, Sexualität sei für ihn Pflichtprogramm Frau A.- Psychiatrische Anamnese • Depressionen (seit Jugend) und Ängste (Agoraphobie mit Panikattacken, z.B. in Fahrstühlen, Menschenansammlungen; Umwelt- und hypochondrische Ängste; als Kind Angst, dass Schlange aus Toilette kommt) • Starke Stimmungsschwankungen • Neigung zu Somatisierung • → Ambulante Psychotherapie 1998-2003 (1 St./Wo., später alle 2 Wo.), gewisse Besserung • Z.T. Johanniskraut, Trimipramin (Stimmung besser, • bei ausgeglichener Stimmung → Sexualität weniger zwanghaft Frau A.- Diagnosen • Gesteigertes sexuelles Verlangen (F52.7) • Rezidivierende (leichte) depressive Störung • Z.n. Agoraphobie mit Panikstörung • Leicht histrionische Persönlichkeitsstruktur Frau A.- Therapie • Paartherapie seit 1 1/2 Jahren (bisher 57 Paarsitzungen à 1,5 Std.) nach dem Hamburger Paartherapie-Modell (Arentewicz & Schmidt; Hauch et al. 2006) • Anfangs für ca. 2 Mo. Fluoxetin (SSRI) zur Besserung der depressiven und der sexuell-zwanghaft/süchtigen Symptome. Wegen NW (v.a. Schwitzen, Albträume, evtl. etwas histrionisch überlagert?) Wechsel auf Trevilor, wegen ähnlicher NW abgesetzt • Seit 4/07 erneute Gabe von Fluoxetin, diesmal weniger NW, leichte Stabilisierung der Stimmung und weniger zwanghaft erlebte Sexualität • Partner: Androgensubstitution (Gel) • Medikamentöse Behandlung jeweils durch andere Kollegen (niedergelassene Psychiaterin bzw. Andrologen) Frau A.- Therapie In der Paartherapie: • Entlastung durch – Trennung zwischen aktiver und passiver Rolle – Stufenweise Entwicklung von Intimität u. Sexualität, Reduzierung des Leistungsdrucks – Fokussierung auf Selbstverantwortung – Reduktion des starken Kontrollbedürfnisses bei gleichzeitiger Stärkung des Sicherheitsgefühls • In Selbsterfahrungsübungen Förderung der Selbstakzeptanz: eigene Lust zulassen können, weniger zwanghaft erleben, Differenzierung zwischen Varianz (relativ starkem sexuellen Verlangen) und Pathologie (Bsp. Gaußsche Normalverteilung) Frau A.- Therapie • Immer wieder Bezug auf Biographie (Situation zwischen den beiden Familien) u. intrapsychische Konflikte: Veränderung von Wunsch nach NormalSein in Wunsch nach Akzeptanz des Anders-Sein • Lernen, dass nicht alle Wünsche/Bedürfnisse erfüllt werden (Umgang mit Frustration) Frau A.- Therapie Bisheriges Therapie-Ergebnis: • Besserung des zwanghaften Erlebens der eigenen Sexualität • Zwanghaftes Erleben der Sexualität als Selbstbestrafung (für die Lust und das Anderssein) nicht mehr so notwendig • Koitus mittlerweile für beide befriedigend möglich • Er hat an Kontur gewonnen, grenzt sich aktiver ab, äußert eigene Bedürfnisse und genießt körperliche Nähe • Aber weiterhin Ergebnis-offen: Ist dauerhafte Beziehung trotz unterschiedlicher sexueller Bedürfnisse und Temperamente möglich? Erstkontakt • Anlaß: Freundin hat sich getrennt, weil er sich immer stärker zurückzog • Er blieb abends im Wohnzimmer, während sie schlief Pornografiekonsum im Internet, Videos • Oft mehrere Stunden Selbstbefriedigung, 1-2 x bis zum Orgasmus • Ähnliches bereits in früheren Beziehungen erlebt • Daneben ständiges Flirten und „Cruising Biografie • 5 LJ Scheidung der Eltern, Pat. wächst bei Mutter auf • Materielle Verhältnisse unauffällig • Bruder (+3J), im 20 LJ Psychose • Mutter: sexy, verführerisch, jähzornig, überlastet, wenig Aufmerksamkeit für Bedürfnisse der Kinder, sehr mit sich beschäftigt, viel geschlagen • Vater: Architekt, weltgewandt, gebildet, nach Scheidung kaum präsent Biografie • Schule: Grundschule zappelig, Schwierigkeiten mit Konzentration, danach Gymnasium, sitzen geblieben, Realschulabschluss, Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann • Selbständiger Kurier, Verschuldung • Später angestellter Kurier, Disponent • Freizeit: Buddhismus Sexuelle Entwicklung • Mutter „mit Aufklärung überfordert • 13 LJ Pubertät, Beginn von Selbstbefriedigung, Mutter habe ihn „erwischt , Kommentar: „Männer wollen nur das eine • Pornografie ab 14 LJ, in Mülleimern gesucht • Vorhautverengung, OP mit 17 Jahren, SB schmerzhaft • Viele Partnerinnen, entweder lustbetonter Sex ohne Beziehung, oder • Beziehung, in denen er Sex langweilig fand • Einige Jahre verheiratet, 2 Kinder Diagnosen ??? Gesteigertes sexuelles Verlangen Störung der Impulskontrolle „Sexsucht Paraphilie verwandte Störung Störungsmodell • Zentrale Konflikte: Abhängigkeit vs Autonomie, Selbstwert, ödipale Konfliktsituation • Probleme in der Selbststeuerung: Sexualität, Aggressivität • Verwechselt Lust mit Nähe und kann Nähe nicht mit Lust verbinden • Mutter wurde als übergriffig erlebt: verführt aber verbietet Lust, kann nicht auf Kinder bezogen sein • Beziehungsobjekte werden als übergriffig erlebt und erzeugen Aggressivität • Zu „Lustobjekten kann er keine Beziehung eingehen, fühlt sich minderwertig • Sexualität als Plombe bei drohendem Strukturverlust, der ängstigt Therapie I Stimuluskontrolle: Internet, Fernseher – Affekt: Strukturverlust, innere Leere, Angst, Depressivität • Dahinter auch Aggressivität – Alternativen zum Spannungsabbau: körperliche Bewegung, Reduktion von meditativen Zuständen (Buddhismus) – Klares Herausarbeiten kurzfristiger, erreichbarer Ziele zur Strukturierung (z.B. Auszug aus Wohnung von Exfreundin, Umgang mit Schulden) – Manipulation in der Therapie (holt Fernseher wieder vom Boden): Klärung der Spaltung in der therapeutischen Beziehung • Mutterübertragung Therapie II • Abbau von Schuldgefühlen bei der Selbstbefriedigung – Kein Masturbationsverbot – Phantasien, Wünsche? • Arbeit an Beziehungsmustern in und außerhalb der therapeutischen Beziehung – Klärung bisheriger Beziehungsmuster – Klärung aktueller Beziehungsmuster – Umgang mit Nähe und Distanz in der therapeutischen Beziehung • Immer wieder Klärung realer sexueller Handlungen Gegenwart und Ausblick • Bisher 6 Monate Therapie, wöchentlich 50 Min • Seit einigen Monaten keine Pornografie, etwa 2 x wöchentlich SB, keine Partnerin aber Beziehungswunsch • Neustrukturierung (Wohnen, Kontakt zu eigenen Kindern, Verantwortungsübernahme, Umgang mit Finanzen) • Weitere Klärung der Beziehungsmuster – Beziehung zur Mutter • Was macht seine Identität als Mann aus Diagnoseverteilung nach Geschlechtern Wie werden (nicht - paraphile) sexuell süchtige Symptome diagnostisch verschlüsselt? %! Briken, Habermann, Berner, Hill; Sexual Addiction & Compulsivity 2007 Paraphilie Spezifika von Internet-Pornographie (Hill et al. 2007) 1. Niedrige Zugangsschwelle: leicht zugänglich (zu Hause, jederzeit), kostengünstig, anonym 2. Mannigfaltigkeit des pornographischen Materials: Fotos, Filme, Texte, Message-Systeme, Chats (zu zweit oder mit mehreren Personen), audio-visuelle Kommunikation (Mikrofon, Webcams, evtl. auch andere Sinnesqualitäten: „Teledildonics ) 3. Grenzenloser Markt: ständig neues Material 4. Verschwimmen der Grenzen zwischen Konsument, Produzent und Anbieter 5. Deviantere, gewalttätigere Pornographie (Zeitschriften < Videos < Internet) Spezifika von Internet-Pornographie (Hill et al. 2007) 6. Interaktive Kommunikation mit gegenseitiger Beeinflussung von Fantasien bzw. realem Verhalten, zeitversetzt und synchron 7. Raum zum Experimentieren zwischen Fantasie und „real life -Verhalten 8. Virtuelle Identitäten 9. Weltweite Bühne 10. Suchtartiger Konsum wird erleichtert 11. Leichte, unbegrenzte Vernetzung: anonyme Kontaktanbahnung zwischen ‚Täter und ‚Opfer bzw. verschiedenen ‚Tätern 12. Niedriges Risiko bzgl. Entdeckung illeg. Aktivitäten Fazit I 1. Soft-Core-Pornographie und gewaltfreie Pornographie im allgemeinen eher „harmlos , aber bei Hochrisikopersonen evtl. bedeutsam. 2. Hard-core und Gewalt-Pornographie steigern Aggressivität. 3. Wechselseitige Beeinflussung: Männer mit hohem Risiko für sex. Gewalt haben mehr Interesse für gewalttätige Pornographie und werden durch diese stärker beeinflusst. 4. Wahrscheinlich ist früher, häufiger Konsum von devianter Pornographie besonders risikoreich. 5. Auch bei Pornographie (?): Die Dosis macht das Gift. Fazit II 6. (Internet-)Pornographie sicher nur einer von vielen Einflussfaktoren auf sexuelle Devianz: Diathese/ Vulnerabilität + spezifisches Medium + situative Belastungen/Stress (ähnlich wie Alkohol/Drogen) 7. Spezifische Risiken durch Internet-Pornographie (v.a. hinsichtlich süchtiger und devianter Entwicklungen)! 8. Vorsicht vor unkritischer Pathologisierung neuer Ausdrucks- und Kommunikationsformen der Sexualität! Filter-Software als Schutz • Filter/Blocking-Software reduziert Häufigkeit von unerwünschter Exposition mit Pornographie bei Kindern und Jugendlichen (10-17 J.): 25% vs. 43% (mit vs. ohne Filtersoftware) • Filter/Blocking/Monitoring-Software etwas wirksamer als reine Pop-up/Spam-Blocker (65% vs. 59%) • Hilfreich im Alter von 10-15 J., nicht bei 16-17 J. (Ybarra et al. 2009) Paraphilie-verwandte Störung • Wiederkehrende, intensive sexuell erregende Phantasien, sexuell dranghafte Bedürfnisse oder Verhaltensweisen • Mindestdauer 6 Monaten • Klinisch relevante Funktionseinbußen in persönlichen, beruflichen oder sozialen Bereichen • Zwanghafte Selbstbefriedigung • Fortgesetzte Promiskuität • Pornographieabhängigkeit • Telefonsexabhängigkeit Kafka 1994, 1999 PRD-Screening Fragen nach Kafka 2000 • Jemals wiederkehrende Schwierigkeiten sexuelles Verhalten zu kontrollieren? • Negative Konsequenzen (juristische Probleme, Partnerschaft, Beruf, medizinisch)? • Versuch zu verheimlichen, Schamgefühle? • Jemals selbst dass Gefühl, zu viel Zeit mit sexueller Aktivität zu verbringen? • (Sexuelle Aktivitäten: 7x/Woche über eine Periode von 6 Monaten nach der Adoleszenz?) Abgrenzung zur Paraphilie • Paraphilie: Von empirischer Norm abweichende sexuelle Fantasien und Bedürfnisse • Hypersexuelle Störung: Ungehemmte und exzessive sexuelle Fantasien und Bedürfnisse, aber kulturell adaptiert, Unterschied von Norm nur in der Häufigkeit nicht in der Art • Frauen- Männer- Anteil: 1:20 vs. 1:5 • Überschneidungen: Bsp. Pornos • Neue psychische Störung vorgeschlagen fürs DSM- V • Nicht- paraphile sexuelle Störung • Sexuelle Fantasien, Bedürfnisse, Verhaltensweisen in gesteigerter, ungehemmter und maladaptiver Form verbunden mit persönlichem Leiden • Viele Daten zu sexuellem Verhalten bei nicht klinischen Stichproben erhoben als empirische Norm Sexuell süchtige Entwicklungen Historisch Richard Freiherr von KrafftEbing (1840 – 1902) „Sexuelle Hyperaesthesie : Ein Geschlechtstrieb, der „das ganze Denken und Fühlen in Beschlag nimmt, nichts anderes neben sich aufkommen läßt, [...] brunstartig nach Befriedigung verlangt, [...] sich mehr oder weniger impulsiv entäußert, [...] nach vollzogenem Akt nicht oder nur für kurze Zeit befriedigt, [...]. Historisch Hans Giese (1920 – 1970) Leitsymptome von Perversionen • Verfall an die Sinnlichkeit • Zunehmende Frequenz, Abnahme an Satisfaktion • Promiskuität und Anonymität • Ausbau von Phantasie, Praktik, Raffinement • Süchtiges Erleben • Periodizität der dranghaften Unruhe Historisch Eberhard Schorsch (1935-1991) Sporadisch oder als Konfliktlösungsmuster Äußere Belastungsfaktoren Stabile Perversionsbildung Kaum Bezug zu äußeren Krisen Süchtigprogrediente Entwicklung als Zusammenbruch der Abwehr weniger Stabilisierung durch perverse Praktik Sex als Copingstrategie „ .... interessante Minderheit, bei denen das sexuelle Verlangen und die sexuelle Aktivität zunimmt, wenn sie bedrückt oder depressiv sind. Dieses paradoxe Muster kommt bei Männern häufiger vor als bei Frauen [... und ist] mit bestimmten Typen riskanten Sexualverhaltens assoziiert ..., also mit dem, was man gemeinhin „sexuelle Sucht oder „sexuellen Zwang nennt. (Bancroft et al. 2003, 2004) Modisch? Verhaltenssucht Sexsucht Glücksspiele Computerspiele Kaufsucht Arbeitssucht Internetsucht Essucht ... Sexuelle Sucht • Unfähigkeit trotz schädlicher Konsequenzen aufzuhören, Kontrollverlust • Sexualität als primäre Bewältigungsstrategie • Zunehmende Frequenz (Dosissteigerung) • Schwerwiegende Folgen • Schwere Stimmungsschwankungen • Soziale, berufliche oder erholsame Aktivitäten werden vernachlässigt (Einengung) • Wunsch, das sexuelle Verhalten einzuschränken (Leidensdruck) Carnes 1992 Befragung von 43 TherapeutInnen der DGFS Mit welchen Symptomen stellen sich „sexsüchtige Patienten vor? Briken, Habermann, Berner, Hill; Sexual Addiction & Compulsivity 2007 Diagnoseverteilung nach Geschlechtern Wie werden (nicht - paraphile) sexuell süchtige Symptome diagnostisch verschlüsselt? %! Briken, Habermann, Berner, Hill; Sexual Addiction & Compulsivity 2007 Therapie Briken, Habermann, Berner, Hill; Sexual Addiction & Compulsivity 2007 Gefahren des Konzepts Sexsucht Gefahren des Konzepts • Sexualität und Lust sind gefährlich • Es gibt eine richtige Sexualität • Beziehungen mit Intimität sind am besten • Wenn man sich außer Kontrolle fühlt, ist man außer Kontrolle • Normen definieren sexuelle Gesundheit Was muss ein klinisches Modell berücksichtigen? • Den kulturellen und individuellen Kontext • Die Gefahr der Pathologisierung und Medikalisierung • Die Gefahr von Selbstdiagnosen • Differentialdiagnosen und Komorbiditäten • Die Gefahr von Stigmatisierung und Benutzung diagnostischer Begriffe zur sozialen Kontrolle Unterschied paraphile vs. nicht paraphile Formen Paraphile Symptome • Fetischismus • Pädophilie • Sadismus • Masochismus Nicht paraphile, exzessiv betriebene Verhaltensweisen • „Abhängigkeit von Pornografie, Internetsexsucht, Telefonsex • „Exzessive Masturbation • „Ausgedehnte Promiskuität Paraphilie-verwandte Störung • Wiederkehrende, intensive sexuell erregende Phantasien, sexuell dranghafte Bedürfnisse oder Verhaltensweisen • Mindestdauer 6 Monaten • Klinisch relevante Funktionseinbußen in persönlichen, beruflichen oder sozialen Bereichen • Zwanghafte Selbstbefriedigung • Fortgesetzte Promiskuität • Pornographieabhängigkeit • Telefonsexabhängigkeit Kafka 1994, 1999 Paraphilie Ätiologie Auslöser Kontrollfähigkeit Gestörte Affektregulation; ggf. deviante Neigungen Bindungs- und Beziehungsstörungen (z.B. frühe Traumatisierungen) Biologisch erhöhte Vulnerabilität (z.B. Belohnungssystem, hirnorganische Störung etc.) Komorbidität Verschiedene (mit-)ursächliche Störungen: • Affektive, Angst- und Zwangsstörungen • Impulskontrollstörungen (z.B. pathologisches Spielen) • Persönlichkeitsstörungen • Substanzmissbrauch u. -abhängigkeit • Psychoorgan. Störungen (z.B. Frontalhirnschädigungen, Intelligenzminderung) Sex als Copingstrategie „Es ist eine Binsenweißheit, dass sexuelles Interesse und sexuelle Erregbarkeit abnehmen, wenn man gedrückter Stimmung ist. Aber wir fanden eine interessante Minderheit, bei denen das sexuelle Verlangen und die sexuelle Aktivität zunimmt, wenn sie bedrückt oder depressiv sind. Diese paradoxe Muster kommt bei Männern häufiger vor als bei Frauen[...]. Weiterhin fanden wir, dass dieses Muster mit bestimmten Typen riskanten Sexualverhaltens assoziiert ist, also mit dem, was man gemeinhin „sexuelle Sucht oder „sexuellen Zwang nennt. Bancroft et al. 2003, 2004 Aus: Lykins et al. 2006 Neigung zu sexueller Erregung und Hemmung stark Leicht erregbar, mangelnde Kontrollfähigkeit schwach HEMMUNG Schwer erregbar, wenig gehemmt Leicht erregbar, E gute R Kontrollfähigkeit R stark E KONTROLLE G Schwer U erregbar, N gehemmt G schwach Modifiziert nach Bancroft 2004 Kontrolle sexueller Erregung Aktivierung in der A: Amygdala, B: dem anterioren Temporalpol und C: dem Hypothalamus; Beauregard, M. et al. J. Neurosci. 2001;21:165 Kontrolle sexueller Erregung Aktivierung im rechten, dorsolateralen präfrontalen Kortex und dem anterioren Cingulum; Beauregard, M. et al. J. Neurosci. 2001;21:165 Relevanz? „Hypersexuality in einer repräsentativen Stichprobe • Repräsentative, nicht-klinische Bevölkerungsstudie aus Schweden 1996 (N=1244 Männer; N=1142 Frauen) • Interviews und Fragebögen • Vergleich derjenigen, die in ≥3 Bereichen (Masturbationshäufigkeit, Pornografiekonsum, Anzahl der Partner, Gruppensex) oberhalb der 90er Perzentile lagen (12,1% der Männer und 7,0% der Frauen) mit denjenigen, die in keinem Bereich oberhalb der 90 Perzentile lagen Langstöm & Hanson 2006 „Hypersexuality • • • • • • • • • • Jüngeres Alter Trennung der Eltern in der Kindheit Früher erster Geschlechtsverkehr Sexueller Missbrauch in der Vorgeschichte Keine stabile Partnerschaft Paraphile Interessen Jemals sexuell übertragbare Erkrankung Unzufriedenheit mit Sexualleben und Gesundheit Drogen-, Alkohol- und Tabakkonsum Problematisches Spielverhalten Langstöm & Hanson 2006 Forensische Relevanz? „Sexuelle Tötungsdelikte • Retrospektive Auswertung von 166 Gutachten über Männer, die ein sexuelles Tötungsdelikt begangen haben – Definition sexuelles Tötungsdelikt (nach Ressler et al. 1988): Vergewaltigung, Entblößung / Verletzungen der Geschlechtsmerkmale, Einführen von Gegenständen in Körperöffnungen, Samenflüssigkeit , sexuelle Ersatzhandlungen, sexuelle Motivation • Schuldfähigkeits- und Prognosegutachten • Operationalisierter Erhebungsbogen mit standardisierten Instrumenten (SKID-II, PCL-R, HCR-20, SVR-20, Static-99 u.a.) • Förderung durch die DFG Relevanz des PRD- Konzepts • Problem: Bisher wurden „sexuell süchtige Symptome, insbesondere aber die Paraphilie-verwandten Störungen (PRD) bei sexuellen Tötungsdelikten nicht untersucht. • Fragestellung: Wie häufig kommen neben Störungen der Sexualpräferenz/Paraphilien (PA) auch PRD vor und wie relevant sind diese hinsichtlich der Gesamtsymptomatik und delinquenter Entwicklung? • Hypothese: Bei einer Kombination von PA und PRD zeigen sich die schwersten Entwicklungsdefizite, das stärkste Ausmaß an Beschäftigung mit Sexualität und die am stärksten ausgeprägte (Vor-) Delinquenz. • Methode: Gruppenvergleich. Briken, Habermann, Berner, Hill. J Forensic Sci 2006 Methode Diagrammtitel Gutachten zu Delinquenten, die mindestens 1 sexuelles Tˆtungsdelikt begangen haben (N=166), davon N=161 auswertbar keine PA, keine PRD N=47 29% nur PRD N=29 18% nur PA N=29 18% PA + PRD N=56 35% PA= Paraphilie; PRD= Paraphilia related disorder Briken, Habermann, Berner, Hill. J Forensic Sci 2006 Entwicklungsstörungen, sex. Präferenzstörungen Briken, Habermann, Berner, Hill. J Forensic Sci 2006 Delinquenz Schlussfolgerung: PRD ist eine sinnvolle Erweiterung der Diagnostik! Briken, Habermann, Berner, Hill. J Forensic Sci 2006 Therapie • • • • • Therapieziele 1. Ordnung Förderung des Problembewusstseins Psychiatrisch-psychologische Diagnostik und Behandlung komorbider Störungen Reduzierung der Verfügbarkeit (Stimuluskontrolle), Kontrollmöglichkeiten bessern (z.B. Internetzugang sperren, Filtersoftware, meiden auslösender Situationen) Klärung von auslösenden Gedanken, Affekten, Stressoren und Entwicklung von möglichen Handlungsalternativen Psychoeduktion inkl. Information über Komorbidität und Behandlungsmöglichkeiten z.B. Delmonico et al. 2002, Briken et al. 2005 Therapie • • • • • • • Therapieziele 2. Ordnung Rückfallvermeidung und Bearbeitung assoziierter Probleme: z.B. Trauerprozesse, Stress- und WutManagement, Schuld und Scham, Kindheitstraumata, kognitive Verzerrungen, Opfer-Empathie Abbau der sozialen Isolation Förderung einer integrativeren und beziehungsreicheren Sexualität Einbeziehung von Partnern, Kindern, Angehörigen, Freunden oder Arbeitskollegen Evtl. Teilnahme an Selbsthilfegruppe Spezielle Formen: Gruppe, Paartherapie, DBT Pharmakotherapie inkl. Komorbidität (z.B. SSRI) z.B. Delmonico et al. 2002, Briken et al. 2005 Serotonerge Dysbalance stark Leicht erregbar, mangelnde Kontrollfähigkeit schwach HEMMUNG Serotonin Schwer erregbar, wenig gehemmt E R R E G U N G Leicht erregbar, gute Kontrollfähigkeit KONTROLLE stark Serotonin Schwer erregbar, gehemmt schwach Modifiziert nach Bancroft 2004 Selektive Serotonin Wiederaufnahme Hemmer (SSRI) Sexuell süchtige Symptomatik • Paraphilien • Angststörungen • Depression Serotonerges Defizit? • emotional instabile Persönlichkeitsst. • Impulskontrollstörungen Selektive SerotoninWiederaufnahmehemmer (SSRI) Behandlungsalgorithmus bei Paraphilien leicht Bei starken devianten Phantasien/Impulsen oder Risiko von Sexualstraftaten Alle SSRI mittel Patienten: Bei unzureichender Wirksamkeit und mittlerem bis hohen Risiko für „Hands-on -Delikte, starker Impulsivität, Aggressivität, „Psychopathy , gefährlicheren Paraphilien (Pädophilie, Sadismus) CPA oral, bei problematischer Compliance: → intramuskuläre Applikation (i.m.) schwer Bei unzu- reichender Wirksamkeit oder Leberfunktionsstörungen unter CPA LHRH (i.m./s.c.) Bei einem Risiko für gleichzeitigen Anabolokamissbrauch LHRH (i.m./s.c.) + CPA i.m. + SSRI Insbesondere bei Bei unzu- reichender depressiver, Wirksamkeit ängstlicher und zwanghafter Symptomatik Psychotherapie (supportiv oder intensiv) + Pharmakotherapie komorbider Störungen Briken, Hill, Berner. J Clin Psychiatry 2003 Zusammenfassung 1. Es gibt sowohl paraphile als auch nicht paraphile (Paraphilieverwandte Störung) süchtige Formen der Sexualität. 2. Ätiologisch sind eine Interaktion von biologischer Vulnerabilität, Bindungs- und Beziehungsstörungen, Störungen in der Affektregulation und Kontrolle sexueller Erregung von Bedeutung. 3. Es gibt Menschen, die auf Depressivität und Ängstlichkeit eher mit Steigerung sexueller Erregbarkeit reagieren und mit sexueller Aktivität negative Emotionen zu bewältigen versuchen (Funktionalität). 4. Bei manchen Menschen schlägt diese Funktionalität in Dysfunktionalität mit negativen Folgen um. 5. Die Fähigkeit zur Kontrolle sexueller Aktivität hat wahrscheinlich neurobiologische Korrelate, die Hinweise auf therapeutische Möglichkeiten geben können. 6. Neben Psychotherapie bieten medikamentöse Ansätze (SSRI, Antiandrogene) eine zusätzliche Hilfe. Paraphilie-verwandte Störung Paraphilie mit paraphilie-verwandter Störung (ParaphiliaRelated Disorder, Kafka u. Hennen 1999): Nach Erscheinungsbild nicht-paraphile Sexualität, die durch übermäßige Manifestation Störungscharakter erhält: – Zwanghafte Masturbation – Ausgedehnte Promiskuität – Abhängigkeit von Pornographie, Telefon- oder Internetsex Neigung zu sexueller Erregung und Hemmung Aus: Janssen et al. 2002