"Die Rolle der USA in einer Welt voller Konflikte: Amerika und Europa im 21. Jahrhundert" Reservisten Re-Union Veranstaltung in Brühl 17. September 2016 James D. Bindenagel, US-Botschafter a.D. Henry Kissinger Professor and Founding Director Center for International Security and Governance University of Bonn ********************************************************************* Sehr geehrter Herr Appel, sehr geehrter Oberst Thilo Krökel, sehr geehrte Reservisten, sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte mich als allererstes sehr herzlich für die Möglichkeit bedanken, heute bei der Reservisten-Re-Union hier in Brühl über „die Rolle der USA in einer Welt voller Konflikte“ zu referieren. Ich will die Lage beschreiben, Obamas Strategie erklären und mein Plädoyer für Strategische Studien präsentieren. Täglich sehen wir uns mit Krisen, Konflikten, Terror und Krieg konfrontiert. Terroranschläge haben Paris, Brüssel, Orlando, Istanbul, Nizza sowie Städte des Nahen Ostens getroffen. Der Versuch eines Militärputsches in der Türkei führte zu einem Gegenputsch der Regierung; das NATO-Mitgliedsstaat ist tief gespalten. Großbritannien hat beschlossen, aus der EU auszutreten. Und ein expansives China fordert im Südchinesischen Meer seine Nachbarn heraus. In Europa hat die russische Okkupation der Krim und der von Moskau gesteuerte Krieg in der Ostukraine die Charta von Paris über die Unveränderlichkeit der Grenzen, die 1990 im Zuge der deutschen Wiedervereinigung unterzeichnet worden war, hinfällig werden lassen. Der ISTerrorismus und der syrische Bürgerkrieg zeichnen die 100 Jahre alte Landkarte des Nahen Ostens neu und sind die Ursache einer riesigen Flüchtlingswelle, die sich nach Europa ergießt. Im Westen nährt die Wut über das politische Establishment und kulturelle Eliten in vielen Ländern nationalistische und ausländerfeindliche Bewegungen. Die in Frankreich und Deutschland nächstes Jahr anstehenden Wahlen beginnen die Politik jetzt schon zu prägen. Und zweifellos zeigt auch die amerikanische Präsidentschaftswahl im November Wirkung in Bezug auf den Widerstand gegen das transatlantische Freihandels- und Investitionsabkommen TTIP, weckt aber auch Sorgen über die künftige Rolle der USA in der globalen Sicherheitsarchitektur. Hinzu kommt, dass die Welt in Sachen Globalisierung, Digitalisierung und Technologiesierung einen epochalen Wandel durchläuft. Es gibt keine Regierung, welche die freiheitlich liberalen Kräfte, die daraus entstehen, gänzlich zu kontrollieren vermag. Laut Konrad Adenauer: „So ist die Lage.“ Nun stellen sich zwei Fragen: Wie sieht die Rolle der USA in dieser Welt, die von Konflikten und Krisen herausgefordert wird, aus? Und welche Bedeutung hat insbesondere die transatlantische Partnerschaft? Zunächst müssen wir im Hinterkopf behalten, dass in der Diskussion über die Ausrichtung der US-Außenpolitik lange darüber gestritten wurde, ob der Bismarck’sche Realismus – die ursprüngliche „Realpolitik“ – oder der idealistische Ansatz des früheren Präsidenten Woodrow Wilson die beste Leitidee darstellt. Bei der Entgegennahme seines Nobelpreises im Dezember 2009 in Oslo sagte US-Präsident Obama: „Innerhalb der Vereinigten Staaten gibt es seit langem ein gespanntes Verhältnis zwischen denen, die sich Realisten, und denen, die sich Idealisten nennen – wobei davon ausgegangen wird, dass es eine starre Entscheidung zwischen den eng gefassten Interessen gibt, die man verteidigt, und einem endlosen Feldzug, mit dem wir der Welt unsere Werte aufzwingen.“ In seiner Amtszeit hat Obama eine ausbalancierte Zwitterstrategie verfolgt, die die beiden konfligierenden Lager amerikanischer Außenpolitik berücksichtigte. Während des derzeitigen aufgeheizten Präsidentschaftswahlkampfes in den Vereinigten Staaten fragen sich Amerikaner und Europäer, ob die nächste Regierung der USA in Obamas Fußstapfen des praktischen Realismus treten wird. Denn die zukünftige außenpolitische Strategie der USA wird einen gehörigen Einfluss auf die Politik Europas haben, sodass sich an dieser Stelle zwei Fragen stellen: Kann die EU dem Brexit standhalten und sichert sie als Partner gemeinsam mit den USA weiterhin Frieden und Wohlstand in der westlichen Welt? Die Antworten darauf sind von elementarer Bedeutung, da die europäisch-amerikanische Kooperation eine absolut unverzichtbare Partnerschaft darstellt. Doch wie ist es überhaupt zu der derzeitigen Situation gekommen? Die transatlantische Partnerschaft bildete sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einer liberalen internationalen Ordnung zu einer Zeit, als die Vereinigten Staaten die mächtigste Nation der Welt waren. Diese liberale internationale Ordnung – geprägt durch den praktischen Realismus – bildete sich in Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern heraus, die während der anschließenden Zeit des Kalten Krieges gemeinsam mit der „Hard Power“ zur Stabilisierung der europäischen Sicherheit beitrugen. Die Charta von Paris und eine neue Vision von Europa standen am Ende des Kalten Krieges und führten diese geschaffene friedliche Weltordnung fort. Gemeinsam mit Russland lebten Europa und Amerika in den letzten 25 Jahren die Vision eines ausgedehnten Friedens der Charta von Paris und in den letzten acht Jahren die Strategie des praktischen Realismus unter Präsident Obama. Aber durch Russlands Annexion der Krim und das Eingreifen in der Ukraine hat der russische Präsident Wladimir Putin jetzt jedoch zum Ausdruck gebracht, dass er Frieden und die Grundsätze der Charta von Paris ablehnt. Wir alle sind beinahe ein Vierteljahrhundert in den Genuss eines friedlichen und vereinigten Europas gekommen und haben die Illusion gelebt, Friede sei garantiert. Doch das System internationaler Normen und anerkannter Richtlinien hat an Bedeutung verloren. Die freie und friedliche Weltordnung, die nach der Ära des Kalten Krieges für so viel Zufriedenheit und Wohlstand gesorgt hat, löst sich auf. Das nenne ich auf englisch: „The Great Unraveling of the World Order.“ Anhand des breiten Spektrums und der Vielfalt der genannten Krisen müssen wir uns nochmal vor Augen führen: Die transatlantische Partnerschaft ist im 21. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung für den Erhalt von Frieden und die Förderung von Wohlstand. Wie sieht die beste Strategie für die Zukunft der transatlantischen Partnerschaft aus? Lassen Sie mich auf vier Eckpunkte der Strategie gehen. Den ersten Eckpunkt hat hier Russland gesetzt. Die jahrzehntelangen Anstrengungen, Russland über die Teilhabe an internationale Institutionen, einer Mitgliedschaft in der WTO und in Assoziation mit der NATO zu einem Pfeiler der friedlichen Weltordnung zu machen, sind gescheitert. Bereits 2007 schleuderte Präsident Putin dem Westen anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz ein „Nein“ entgegen. Stattdessen plant er für Russland eine Rückkehr zum Status einer Großmacht. Seine an das frühe 20. Jahrhundert angelehnte Strategie des Mächtegleichgewichts hat eine militärische Aggression hervorgerufen, welche das transatlantische Bündnis extrem herausfordert. Putin hat eigenmächtig Grenzen verschoben, er stiftet mutwillig Verwirrung und destabilisiert Staaten in und an der Grenze zu Europa wie die Ukraine, Georgien, Moldau und Armenien mit festgefahrenen Konflikten. Der russischen Aggression steht in Europa die transatlantische Partnerschaft mit ihrer strategischen Zurückhaltung gegenüber. Im Zeichen strategischer Geduld beschränkte sich der Westen auf Wirtschaftssanktionen – nicht um Putin in die Knie zu zwingen, sondern um ihn zur Raison zu bringen. Die transatlantische Partnerschaft passte ihre Strategie an die des russischen Präsidenten an und offeriert Russland nun eine Rolle innerhalb der internationalen Institutionen, die auch russischen Interessen dienen würde. Grundvoraussetzung für eine Einigung ist jedoch, dass die Russische Föderation sowohl ihre Machtspiele als auch ihre Militäreinsätze beendet. Die NATO hat sich erst kürzlich dazu durchgerungen, in Osteuropa mit je einem multinationalen NATO-Bataillon von rund tausend Mann in Estland, Lettland, Litauen und Polen militärische Abschreckung zu betreiben und so Putins strategischem Kalkül etwas Handfestes entgegenzusetzen. Die USA vervierfachen nun ihr Militärbudget für Europa, was jedoch nichts an der Reduktion der US-Truppen von 80 Prozent seit dem Fall der Berliner Mauer ändert. Mit diesen Maßnahmen betreiben die NATO und die USA Real- und nicht Machtpolitik. Die NATO bleibt eine Verteidigungsallianz, die sich ihren gemeinsamen Werten verpflichtet fühlt. Solch realistische Abschreckung verschließt dem Kreml nicht die Möglichkeit, mit dem Westen da zusammenzuarbeiten, wo es gemeinsame Interessen gibt – etwa im Fall der Bekämpfung des vom Islamischen Staat ausgehenden Terrorismus, einer der größten Herausforderung unserer Zeit, oder im syrischen Bürgerkrieg. Trotz unterschiedlicher Interessen muss es ein gemeinsames Anliegen sein, den Iran vom Bau der Atombombe abzuhalten und Asads Chemiewaffen zu zerstören. Der zweite Eckpunkt ist eine große Herausforderung für die Weltordnung – das aufstrebende China mit seinen Großmachtambitionen. Es verfolgt mit Nachdruck den Traum, die Senkaku Inseln, Taiwan sowie das Südchinesische Meer unter seine Kontrolle zu bringen. Dieses Meer, das den Pazifik mit dem Indischen Ozean verbindet, ist von hoher strategischer Bedeutung; werden darüber doch fast 50 Prozent des Welthandels abgewickelt, darunter die Ölversorgung Japans, Südkoreas und Taiwans. Die Freiheit der Seewege durch diese internationalen Gewässer ist von globaler Wichtigkeit. Unter Obama haben die USA beides angestrebt – starke bilaterale Beziehungen zu Chinas Nachbarn, aber auch zu China selbst. Es geht darum, künftigen Konflikten vorzubeugen, auch indem die US-Navy im Namen der Freiheit der Schifffahrt vor Ort Präsenz zeigt. Die USA nehmen an Gesprächen zur diplomatischen Lösung von Land- und Seekonflikten teil. China und die USA wiederum arbeiten gemeinsam darauf hin, Nordkorea zu einem Verzicht auf Atomwaffen zu bewegen. Der dritte Eckpunkt ist die Herausforderung des terroristischen Extremismus des Islamischen Staates in Syrien und im Irak, der mit dem syrischen Bürgerkrieg zusammenhängt. Der IS hat den Nahen Osten ins Chaos gestürzt und damit Ströme von Flüchtlingen in Gang gesetzt, die sich nach Europa ergießen. In Irak und Syrien hat er ein archaisches Kalifat errichtet, das auf brutalster Unterdrückung basiert. Amerikaner bekämpfen den IS zusammen mit Europäern und Russen. Ein weiterer wichtiger Akteur ist der Iran. Obwohl er sich fürs erste nachgiebig gezeigt hat, bleibt offen, ob das iranische Mullah-Regime mittelfristig nicht doch nach Atomwaffen strebt. Hinzu kommt die Herausforderung, dass der Iran in der Region terroristische und sektiererische, gewalttätige Bewegungen unterstützt, durch die sich Saudi Arabien und Israel bedroht fühlen. Als Ko-Vorsitzende der International Syria Support Group (ISSG) haben die Russische Föderation und die Vereinigten Staaten von Amerika schon im Februar dieses Jahres in der Münchener Erklärung der ISSG-Bedingungen die Einstellung der Feindseligkeiten im syrischen Bürgerkrieg vereinbart. Außerdem wurde abgemacht, syrischen Zivilisten dringend benötigte humanitäre Hilfe zukommen zu lassen. Bis vor acht Tagen hat die tiefe Spaltung der internationalen Lager noch eine friedliche Lösung der Syrienkrise tragischer Weise blockiert. Doch Freitag vor einer Woche haben die Außenminister John Kerry und Sergej Lawrow endlich einen Plan zur Waffenruhe für Syrien und einen gemeinsamen Kampf gegen den IS und die alNusra-Front präsentiert. Diese Einigung könnte einen Wendepunkt im syrischen Bürgerkrieg darstellen. Die geplante Feuerpause soll nun die dringend benötigten Hilfsgüter für die Bevölkerung ermöglichen. An dem Tag, an dem das Abkommen erreicht wurde, forderte der türkische Außenminister erneut die Einrichtung einer Safe Zone im Norden Syriens, um den vielen Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimat und die Belieferung mit Hilfsgütern zu ermöglichen. Im Dezember letzten Jahres ließ Präsident Obama verlauten, dass die Strategie in Bezug auf die Terrorismusbekämpfung „sich mit einem großen Gespür für Dringlichkeit an vier Fronten vorwärts bewegt – das Jagen und Ausschalten von Terroristen; die Ausbildung und Ausrüstung von irakischen und syrischen Bodenkräften im Kampf gegen ISIL; das Stören der Rekrutierung, Finanzierung und Propaganda von ISIL; und schlussendlich hartnäckige Diplomatie, um den syrischen Bürgerkrieg zu beenden, sodass sich alle auf die Zerstörung von ISIL konzentrieren können.“ So weit Obama. Die Bilanz der Koalition im Kampf mit Luftschlägen gegen den IS zeigt Resultate – alleine im Jahr 2015 wurden über 9.000 Lufteinsätze geflogen. Seit Sommer letzten Jahres hatte der IS nicht einen erfolgreichen Bodenangriff – weder in Syrien, noch im Irak. Die internationale Koalition hat die Ölinfrastruktur des IS durch Luftschläge schwer getroffen, hunderte Tankwagen, Brunnen und Raffinerien wurden zerstört. Der IS verliert weiterhin Gebiete in Syrien. Zur gleichen Zeit hat die Koalition die Luftunterstützung und die Lieferung von Waffen und Versorgungsgütern an lokale Gruppen wie syrische Kurden, Araber, Christen und Turkmenen ausgebaut. Mit Erfolg! Zwar gibt es noch keine militärische Lösung gegen den Terrorismus, aber es wurden Fortschritte gemacht, um die Gefahr zu beseitigen. Als vierter Eckpunkt hat der Einfluss der Innenpolitik auf die Außenpolitik zugenommen. Öffentliche Unterstützung ist heute nötig, um Krisen aller Art zu bewältigen. Henry Kissinger hat daran erinnert, wie wichtig Vertrauen ist, um die Weltordnung aufrechtzuerhalten: „Wie die Menschen die Fairness einer Weltordnung wahrnehmen, hängt ebenso vom Zustand der eigenen Institutionen wie von taktischen außenpolitischen Interessen ab. Daher bildet das Zusammenspiel der eigenen Institutionen ein Rückgrat des Friedens.“ Auf der Grundlage eines einheitlichen Konzepts von Gerechtigkeit hat Obamas Sicherheitsstrategie die Zustimmung einer Mehrheit von Amerikanern gefunden. Zustimmung an der Heimatfront ist ein kritisches Element in Obamas Strategie. Innerhalb des transatlantischen Bündnisses selbst gibt es Spannungen in den Verhandlungen über das Freihandels- und Investitionsabkommen TTIP. Widerstand erwächst diesem in Europa wie in den USA vor allem von zivilgesellschaftlichen Gruppen. Der Versuch der Unterhändler beider Seiten, die Vorteile des auf gemeinsamen Normen und Standards basierenden Vertrages hinsichtlich Arbeitsplätzen und Wachstum zu erläutern, hat die Skepsis gar noch verschärft. Obwohl TTIP eine überlegte strategisch kluge Antwort auf die heutigen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen darstellt, kommen die Politiker nicht darum herum, auf die Sorgen der Öffentlichkeit vor sinkender Lebensmittelqualität, steigender Liberalisierung und einer Vorherrschaft amerikanischer Weltkonzerne einzugehen. Das ist bisher noch zu wenig geschehen. Furcht ist ein schlechter Ratgeber, aber sie beginnt die Stabilität des Westens zu unterminieren und das politische Handeln in den USA und in Europa zu leiten. Hinzu kommen ausgeprägte Meinungsverschiedenheiten in der Euro-Krise, wie in der griechischen Schuldenkrise. Die anämische Erholung von der Finanzkrise und der großen Rezession sowie der Streit über Austerität und Zinspolitik befördern den Euro-Skeptizismus und bereiten das Terrain für nationalistische Bewegungen wie die Front National und die AfD. Großbritannien hat sich dazu entschlossen, die EU zu verlassen. Die Brexit-Debatte steht emblematisch für die populistischen Kräfte, die in Europa wie in den USA die politische Szene zu dominieren beginnen. Misstrauen gegen die Eliten hat in Europa die Kräfte von Desintegration und Fragmentierung befeuert. Dafür steht die Flüchtlingspolitik Viktor Orbans ebenso wie der Beinahe-Sieg der europaskeptischen Rechten bei der Wahl zum österreichischen Bundespräsidenten. Der amerikanische und der französische Wahlkampf wecken Befürchtungen, dass die transatlantische Einheit je nach Wahlausgang Schaden nehmen könnte. Nicht weniger als der Friede von Jahrzehnten steht auf dem Spiel. Es ist nicht leicht, dagegen anzugehen. Wo es ohnehin schwierig ist, unsere Werte zu verteidigen und das transatlantische Bündnis zu bewahren, machen die Auseinandersetzungen im Vorfeld der amerikanischen Wahl beides noch schwerer. Donald Trumps Wahlkampf setzt voll auf Populismus, indem er Angst, Hass und Vorurteile weckt und diese schürt. Trumps bisher erfolgreiche Kandidatur für die Präsidentschaft stürzt die USA in tiefe Verwirrung. Seine Relativierung von NATO Artikel 5 über die gemeinsame Hilfe bei einem Bündnisfall, sein Aufruf, Handelsabkommen neu zu verhandeln, seine Zurückweisung von TTIP und seine Gedankenspiele, die angemaßte russische Herrschaft über die Krim anzuerkennen, machen aus ihm einen denkbar ungeeigneten, ja gefährlichen Kandidaten für die US-Präsidentschaft. Die Demokraten mit ihrer Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton an der Spitze sind in sich immer noch gespalten durch den Verdruss über die Exzesse der Finanzindustrie, deren Folge eine gigantische Rezession war. Groß ist auch der Ärger darüber, dass die Produktivitätsgewinne der letzten Jahre in die Taschen einiger weniger Großverdiener geflossen sind. Wenn Hillary Clinton zur Präsidentin gewählt wird, wird sie in Abkehr von Obama wohl auf mehr außenpolitischen Interventionismus setzen. Die Chancen auf den Sieg stehen für die Demokraten nicht schlecht, wenn es ihnen gelingt, sich als jene zu empfehlen, die dem Prinzip „good governance“ Priorität einräumen. Aber anstatt von Fakten wird der US-Wahlkampf von Furcht dominiert. Die meisten Beobachter sagen voraus, dass das amerikanische politische System in den nächsten Jahren noch dysfunktionaler und festgefahrener werden wird als in der Vergangenheit – kein Grund zur Freude. Der Kampf um die Kontrolle über das Weiße Haus im Jahr 2016 ist in vollem Gange – mit unvorhersehbarem Ausgang. Wir befinden uns auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob die Atlantische Gemeinschaft im 21. Jahrhundert immer noch von Bedeutung für Amerika und Europa ist. In Zeiten der Krise haben die europäischen Staatslenker in der Vergangenheit immer Abhilfe in der Zusammenarbeit mit der anderen Seite des Atlantiks gesucht. Diese Partnerschaft ist auch heute unverzichtbar für die globalen Sicherheitsinteressen, die von den USA und Europa verfolgt werden. Sie darf nicht nur Europa und den USA in außenpolitischen Belangen dienen, sondern muss auch den führenden Politikern in Asien, Afrika und Südamerika ein Vorbild dabei sein, existierende und neue politische Strukturen zu fördern, die eine friedliche Weltordnung gewährleisten. Es ist Zeit für Realpolitik. In seinem Buch “Weltordnung” stellt Henry Kissinger fest, dass die im Vertrag des Westfälischen Friedens festgehaltene Souveränität der Nationalstaaten sich in Gefahr befindet. Die NATO und der Westen müssen sich innerhalb der konkurrierenden Ansätze der strategischen Zurückhaltung und der Suche nach einer geopolitischen Balance von Machtstrategien behaupten. Werden die transatlantischen Partner in Bezug auf diese strategischen Fragen Antworten finden und erfolgreich Rechtsstaatlichkeit, Weltordnung und Stabilität etablieren können? Das Ergebnis dieser Debatte wird maßgeblich dafür sein, ob der Westen im 21. Jahrhundert immer noch eine sinnvolle Einheit zwischen Amerika und der EU darstellt. Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk und USPräsident Barack Obama haben alle vor der Auflösung Europas und der Zersplitterung der Weltordnung gewarnt. Von den transatlantischen Partnern werden in der derzeitigen Situation mit den vielfältigen geopolitischen Herausforderungen Opfer verlangt. Europa und die Vereinigten Staaten müssen als Partner dazu bereit sein, unterschiedliche politische Ansichten und Ambitionen zu diskutieren und diese auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, um eine funktionierende Zusammenarbeit sicherzustellen. Deutschland ist rechtlich und politisch an die NATO gebunden, doch hat es im kürzlich erschienenen neuen Weißbuch 2016 zum ersten Mal mehrfach deutsche sicherheitspolitische Interessen definiert und einer „Führungsrolle“ der Bundeswehr für militärische Einsätze zugestimmt. Das neue Weißbuch stellt in dieser Form und mit der ausformulierten Bereitschaft zur Übernahme sicherheitspolitischer Verantwortung einen Wendepunkt für die deutsche Sicherheitspolitik dar. Im Jahr 2014 haben sowohl Bundespräsident Joachim Gauck als auch die Minister Steinmeier und von der Leyen angeregt, dass Deutschland mehr Führung auf internationaler Ebene übernehmen solle. Deutschland zeigt sich nun bereit, diese Herausforderung anzunehmen – und die ganze Welt schaut zu. Nichts ist wichtiger, als diese Übernahme von sicherheitspolitischer Verantwortung zu unterstützen – auch für uns alle. Wie schon als die Charta von Paris unterzeichnet und EU und NATO ins Leben gerufen wurden, müssen wir jetzt den politischen Willen zeigen, unsere Werte zu verteidigen. Die Faust‘sche Gretchenfrage stellt sich: „Sind wir dazu bereit unsere Werte zu verteidigen“, wie Außenminister Steinmeier es formulierte? Falls notwendig auch mit militärischer Gewalt? Weder die Vereinigten Staaten noch die Europäische Union können die bereits aufgezeigten Krisen auf eigene Faust bewältigen. Europa und Amerika müssen mutig sein und zusammenhalten, um unsere Freiheit zu verteidigen und für Rechtsstaatlichkeit einzustehen. Die Zeit ist wie im Flug vergangen, wenn wir uns daran erinnern, wie über 200.000 Deutsche sich an der Berliner Siegessäule versammelten, um den amerikanischen Präsidentschaftsbewerber Barack Obama das Folgende sprechen zu hören: „Wahre Partnerschaft und wahrer Fortschritt […] verlangt Verbündete, die einander zuhören, voneinander lernen, und am allerwichtigsten, die einander vertrauen.“ Lassen Sie uns nicht vergessen, einander zuzuhören. Lassen sie mich Ihnen versichern, dass das, was Präsident Obama im Jahr 2008 an der Siegessäule sagte, immer noch gilt: „Amerika hat keinen besseren Partner als Europa.“ Und ich möchte hinzufügen: Europa hat keinen besseren Partner als Amerika. Lassen Sie uns die Hoffnung nicht verlieren, die Präsident Obama vor acht Jahren verbreitete. Denken Sie an das Sprichwort: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Verlieren Sie nicht die Hoffnung. Denn wenn Sie die Hoffnung verlieren, dann verlieren Sie alles. Vielen Dank!