marc-antoine laugier: essai sur l`architecture, paris 1753 (auszüge)

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MARC-ANTOINE LAUGIER:
ESSAI SUR L’ARCHITECTURE, PARIS 1753 (AUSZÜGE)
DEUTSCHE AUSGABE: DAS MANIFEST DES KLASSIZISMUS, ZÜRICH - MÜNCHEN
1989
VORWORT
Wir besitzen verschiedene Traktate über die Architektur, die mit
hinreichender Genauigkeit Maße und Proportionen erläutern, die auf die
Einzelheiten der verschiedenen Säulenordnungen eingehen, und die Modelle
für jede Art zu bauen anbieten. Wir verfügen aber über kein Werk, das feste
Prinzipien aufstellt, das den wahren Geist der Architektur zum Ausdruck
bringt, das Regeln vorschlägt, die geeignet wären, Talente anzuleiten und den
Geschmack zu bestimmen. Was die Künste betrifft, die nicht rein
handwerklicher Natur sind, scheint mir, daß es nicht genügt, zu wissen, wie
man arbeitet, sondern daß es vor allem wichtig ist, zu lernen, wie man denkt.
Ein Künstler muß sich selbst über alles, was er tut, im klaren sein. Dazu
braucht er feste Prinzipien, die sein Urteil bestimmen und seine Wahl
rechtfertigen, und zwar so, daß er von einer Sache nicht einfach instinktiv
sagen kann, sie sei gut oder schlecht, sondern daß er auf Grund von
Überlegungen urteilt und als ein Mann, der über die Wege des Schönen
unterrichtet ist.
Auf dem Gebiet fast aller freien Künste wurden die Kenntnisse sehr weit
vorangetrieben. Eine Menge talentierter Menschen hat sich bemüht, uns alle
ihre Feinheiten nahezubringen. Über Dichtkunst, Malerei und Musik wurde
sehr gelehrt geschrieben. Man drang so tief in die Geheimnisse dieser
geistreichen Künste ein, daß fast nichts mehr zu entdecken bleibt. Wir besitzen abgewogene Regeln und scharfsinnige Kritiken, die ihre wahren
Schönheiten festlegen. Die Phantasie hat Führer, die sie auf den rechten Weg
lenken, und Bremsen, die sie in Grenzen halten. Die Verdienste ihrer guten
Einfälle werden genauso richtig eingeschätzt wie das Durcheinander ihrer
Entgleisungen. Wenn es uns an guten Dichtern, guten Malern oder guten
Musikern fehlte, läge dies nicht an der mangelnden theoretischen Grundlage,
sondern am Mangel von Talent.
Einzig die Architektur wurde den Launen der Künstler preisgegeben, die
für sie völlig wahllos Gesetze aufstellten. Rein zufällig legten sie die Regeln
dafür fest, nur auf Grund genauer Betrachtung alter Bauwerke, deren Fehler
Essai sur l’Architecture
mit der gleichen Sorgfalt kopiert wurden wie ihre Schönheiten: denn da ihnen
Gesetze fehlten, um unterscheiden zu können, mußten sie beide miteinander
verwechseln und in sklavischer Nachahmung alles als legitim erklären, was
sich durch Beispiele bestätigt fand. Indem sie alle Forschungen darauf
beschränkten, das tatsächlich Vorhandene heranzuziehen, schlossen sie
irrtümlicherweise daraus, daß dies auch das Richtige sei, sodaß ihre Lehren
eine einzige Quelle von Irrtümern war.
Vitruv hat uns eigentlich nur von dem unterrichtet, was zu seiner Zeit
ausgeführt wurde; wenn bei ihm auch ein Genie durchschimmert, das fähig
wäre, zu den wahren Geheimnissen seiner Kunst vorzudringen, so hält er sich
doch nicht damit auf, den Schleier, der sie verhüllt, zu zerreißen; immer
wieder entfernt er sich von den Tiefen der theoretischen Grundlagen und
zeigt uns praktische Wege, die uns mehr als einmal vom Ziel abbringen. Alle
modernen Autoren, mit Ausnahme von M. de Cordemoi, kommentieren nur
Vitruv und folgen ihm vertrauensvoll bei all seinen Verirrungen. Wie gesagt,
mit Ausnahme von M. de Cordemoi; dieser Autor, tiefgehender als die
meisten anderen, hat die Wahrheit erkannt, die ihnen verborgen blieb. Sein
Architekturtraktat ist äußerst kurz, enthält aber ausgezeichnete Grundsätze
und ausgesprochen überlegte Ansichten. Hätte er sie weiter entwickelt, so
hätte er aus ihnen Schlüsse ziehen können, die große Klarheit in das Dunkel
seiner Kunst gebracht und die störende Unsicherheit beseitigt hätten, die ihre
Regeln als willkürlich erscheinen lassen.
Es wäre also wünschenswert, daß sich ein großer Baumeister findet, der
es unternimmt, die Architektur vor allerlei merkwürdigen Ansichten zu
retten, indem er uns ihre festen und unwandelbaren Gesetze klarlegt. Jede
Kunst, jede Wissenschaft ist auf eine ganz bestimmte Aufgabe gerichtet.
Nicht alle Wege sind gleich gut, um zur Lösung dieser Aufgabe zu gelangen;
es gibt nur einen, der direkt zum Ziel führt, und dieser einzige Weg ist es,
den man kennen muß. Auf allen Gebieten gibt es immer nur eine Art, es
richtig zu machen. Und was ist Kunst denn anderes als diese auf klaren
Prinzipien beruhende Art, die im Rahmen unveränderlicher Gesetze
angewendet wird!
In der Erwartung, daß ein weitaus Geschickterer als ich es unternimmt,
das Chaos der Architekturregeln so zu entwirren, daß es künftig keine Regel
mehr gibt, die man nicht stichhaltig begründen kann, werde ich es mir zur
Aufgabe machen, in dieses Chaos einen Schimmer von Licht zu bringen.
Immer wenn ich unsere größten und schönsten Bauwerke aufmerksam betrachtete, wurde meine Seele von den verschiedensten Empfindungen
ergriffen. Manchmal übten sie einen solchen Zauber aus, daß ich gleichzeitig
von Bewegung und Begeisterung erfaßt wurde. Ein anderes Mal wieder
fühlte ich mich — ohne das gleiche Fortgerissensein zu verspüren — auf
angenehme Weise beschäftigt; es war dann zwar ein geringeres — aber doch
ein echtes Vergnügen. Oft blieb ich völlig kalt; oft war ich auch angewidert,
schockiert, empört. Lange habe ich über diese unterschiedlichen Wirkungen
nachgedacht. Ich wiederholte meine Beobachtungen, bis ich mir sicher war,
daß die gleichen Gegenstände auf mich immer den gleichen Eindruck
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Essai sur l’Architecture
machten. Ich zog den Geschmack anderer zu Rate, und als ich sie der
gleichen Prüfung unterzog, fand ich bei ihnen alle meine Empfindungen
wieder, mehr oder weniger lebhaft ausgeprägt, je nachdem, ob ihre Seele von
Natur aus zu mehr oder weniger starken Gefühlen fähig war. Daraus zog ich
den Schluß:
1. Daß es in der Architektur wesentliche Schönheiten gibt, die
unabhängig sind von den gewohnten Sinneseindrücken oder den Regeln der
Menschen.
2. Daß ein architektonisches Gebilde, wie alle Werke des Geistes, sowohl
Kälte wie Lebhaftigkeit, sowohl Ordnung wie Unordnung auszudrücken
vermag.
3. Daß bei dieser Kunst, wie bei allen anderen, ein Talent vorhanden sein
muß, das man nicht erwerben kann, ein Schuß Genie, den nur die Natur gibt;
aber daß dieses Talent, dieses Genie andererseits Gesetzen unterworfen und
von ihnen in Grenzen gehalten werden muß.
Durch immer eingehenderes Nachdenken über die unterschiedlichen
Eindrücke, welche die verschiedenen Werke der Architektur auf mich
machten, wollte ich die Ursache ihrer Wirkung ergründen. Ich forderte von
mir selbst Rechenschaft über meine Gefühle. Ich wollte herausfinden, warum
eine bestimmte Sache mich begeisterte, eine andere mir nur gefiel; warum
ich an einer kein Gefallen und eine andere unerträglich fand. Diese
Nachforschungen führten mich zunächst nur ins Dunkel und Ungewisse. Ich
ließ mich aber nicht entmutigen; ich drang in die Tiefe vor, bis ich glaubte
auf Grund zu stoßen; ich ließ nicht nach, meine Seele zu erforschen, bis sie
mir eine zufriedenstellende Antwort gab. Ganz plötzlich wurde es Licht vor
meinen Augen, und wo vorher nur Nebel und Wolken waren, erkannte ich
nun deutlich voneinander verschiedene Gegenstände, derer ich mich mit
Begeisterung bemächtigte; ich benützte die Erleuchtung, die sie mir brachten,
und bemerkte, wie nach und nach meine Unsicherheit schwand, meine
Schwierigkeiten sich verflüchtigten; ich bin dahin gelangt, mir selbst durch
Prinzipien und Folgerungen die Notwendigkeit aller Wirkungen beweisen zu
können, deren Ursachen mir unbekannt waren.
So war der Weg beschaffen, den ich eingeschlagen hatte, um mich selbst
zufriedenzustellen. Es erschien mir von Nutzen, die Öffentlichkeit am Erfolg
meiner Bemühungen teilhaben zu lassen. Wenn es mir auch nur gelänge,
meine Leser zu veranlassen, nachzuprüfen, ob ich sie nicht getäuscht habe,
meine Überlegungen streng zu kritisieren, zu versuchen, selbst noch weiter in
die gleichen Tiefen vorzustoßen, dann würde die Architektur dadurch
unendlich viel gewinnen. Ich kann wahrheitsgemäß sagen, daß es mein
Hauptanliegen ist, die Öffentlichkeit und vor allem die Künstler dahin zu
bringen, zu zweifeln, Vermutungen anzustellen, sich nicht leicht zufrieden zu
geben. Nur allzu glücklich wäre ich, wenn ich sie dazu brächte, selbst Forschungen
anzustellen,
nachzuweisen,
meine
die
ihnen
Gelegenheit
Ungenauigkeiten
zu
geben,
mir
Fehler
korrigieren,
über
meine
Überlegungen noch hinauszugehen.
Es handelt sich hier um einen Versuch, bei dem ich eigentlich nur auf die
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Essai sur l’Architecture
Dinge hinweise und einen Weg bahne; ich überlasse anderen die Aufgabe,
mit Intelligenz und Scharfsinn, über die ich nicht verfüge, meinen Prinzipien
vollen Umfang zu geben und sie anzuwenden. Meine Ausführungen gehen
weit genug, um den Architekten feste Regeln für ihre Arbeit und unfehlbare
Mittel zur Erreichung der Vollkommenheit zu geben. Ich versuchte, so
verständlich wie möglich zu sein, konnte aber oft die Verwendung von
Fachausdrücken der Kunst nicht vermeiden. Letztere sind fast alle
hinreichend bekannt. Da es mein Hauptanliegen ist, den Geschmack der
Architekten zu bilden, vermeide ich alle Einzelheiten, die anderswo
vorkommen.
EINLEITUNG
Unter allen nützlichen Künsten verlangt die Architektur die hervorragendsten
Talente und die umfassendsten Kenntnisse. Um ein großer Architekt zu
werden, muß man wahrscheinlich über genauso viel Genie, Geist und
Geschmack verfügen wie nötig sind, um einen erstrangigen Maler und
Dichter heranzubilden. Es wäre ein großer Irrtum, anzunehmen, hier handle
es sich nur um Technik, daß alles damit getan sei, Fundamente zu legen,
Mauern hochzuziehen, und das alles den Regeln entsprechend, für welche die
Routine nur Augen voraussetzt, die gewohnt sind, ein Senkblei zu beurteilen,
und Hände, die eine Maurerkelle handhaben können.
Ein
Durcheinander
von
störenden
Schutthaufen,
eine
riesige
Ansammlung formloser Baumaterialien, der schreckliche Lärm des
Hämmerns, gefährliche Gerüste, eine furchterregende Ansammlung von
Maschinen und eine Armee schmutziger, verdreckter Arbeiter — das ist
alles, was vor den Augen des gemeinen Mannes ersteht, wenn man von der
Baukunst spricht. Hier haben wir die äußerlichen, unangenehmen
Erscheinungen einer Kunst, deren geistreich-erfinderische Geheimnisse nur
wenige erfassen. Voller Bewunderung entdecken sie diese wenigen
Erfindungen, die ein kühnes und produktives Genie voraussetzen,
Proportionen, die zu strenger und systematischer Genauigkeit zwingen, und
einen
Schmuck,
dessen
Eleganz
ein
delikates
und
exquisites
Einfühlungsvermögen verrät. Wer dazu fähig ist, solche wahren Schönheiten
zu begreifen, wird, anstatt die Architektur zu den niederen Künsten zu
rechnen, ganz im Gegenteil eher dazu neigen, sie unter die hervorragendsten
Wissenschaften einzureihen. Der Anblick eines Bauwerkes, das in
künstlerischer Vollkommenheit errichtet wurde, ruft in uns ein Gefühl des
Vergnügens und Entzückens hervor, auf das man keinen Einfluß hat. Dieses
Schauspiel laßt in der Seele edle und ergreifende Gedanken wachwerden. Es
versetzt uns in diese freudige Erregung, in diese angenehme Aufwallung, die
alle Werke hervorrufen, die den Stempel einer echten Überlegenheit des
Geistes tragen. Ein schönes Gebäude spricht in überzeugender Weise für
seinen Architekten. In seinen Schriften ist M. Perrault im besten Falle ein
Gelehrter, die Louvrekolonnade aber macht ihn zum großen Mann .
Die Architektur verdankt ihre größte Vollkommenheit den Griechen,
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Essai sur l’Architecture
diesem bevorzugten Volk, dem es vorbehalten war, alle wissenschaftlichen
Kenntnisse zu besitzen und in der Kunst alles zu erfinden. Die Römer wußten
die ihnen von den Griechen überlieferten, hervorragenden Modelle zu
bewundern und nachzuahmen; sie wollten aber Eigenes hinzufügen und
erreichten dabei nur, der ganzen Welt zu zeigen, daß, wenn einmal der Grad
der Vollkommenheit erreicht ist, nur Nachahmung oder Versagen übrig
bleiben. Nachdem die schönen Künste unter den Ruinen des einzigen
Reiches, das ihren Geschmack und ihre Prinzipien bewahrt hatte, von der
Barbarei der darauffolgenden Jahrhunderte begraben worden waren, brachte
dieses ein neues Architektursystem hervor: Ohne Proportionen, mit
merkwürdig gestalteten und töricht aufeinandergehäuften Ausschmückungen
konnte es nur ausgezackte Steine, Unförmiges, Groteskes und Übertriebenes
anbieten. Allzulange hat diese moderne Architektur ganz Europa mit
Entzücken erfüllt. Der überwiegende Teil unserer großen Kirchen ist leider
dazu bestimmt, bis in die entfernteste Zukunft für sie Zeugnis abzulegen. Um
aber bei der Wahrheit zu bleiben, müssen wir sagen, daß diese Architektur
trotz unzähliger Mängel auch Schönheiten gehabt hat. Wenn auch in ihren
großartigsten Werken eine geistige Schwerfälligkeit und eine ganz und gar
schockierende Grobheit des Gefühls vorherrschen, so kann man doch nicht
anders als Bewunderung empfinden für die Kühnheit der Entwürfe, die
Feinheit des Meißels, den Ausdruck von Majestät und Entrücktheit, den man
in bestimmten Teilen spürt, und die dort überall etwas hoffnungslos
Unnachahmliches haben. Aber schließlich gelang es doch den glücklichsten
Geistern, mit Hilfe der antiken Denkmäler den allgemeinen Irrtum
aufzuzeigen und durch sie Mittel zu finden, davon wieder loszukommen.
Berufen, an diesen während Jahrhunderten vergebens vor aller Augen
ausgebreiteten Herrlichkeiten Geschmack zu finden, machten sie sich
eingehend Gedanken über deren Ähnlichkeiten und ahmten ihre kunstvolle
Bauweise nach. Durch Nachforschen, Prüfen und Versuche ließen sie das
Studium richtiger Regeln neu erstehen und setzten die Architektur wieder in
ihre alte Rechte ein. Gotischer Firlefanz und Arabesken wurden aufgegeben
und durch männlichen und eleganten dorischen, jonischen und korinthischen
Schmuck ersetzt. Die Franzosen, zwar langsam in ihrer Vorstellungskraft,
aber schnell bei der Hand, um glücklichen Einfällen zu folgen, gönnten
Italien nicht den Ruhm, allein die großartigen Schöpfungen Griechenlands
wiederauferstehen zu lassen. Bei uns ist alles voll von Monumenten, die von
der Begeisterung zeugen, den Erfolg bestätigen, den unsere Väter bei diesem
Wettstreit hatten. Wir hatten unsere Bramantes, Michelangelos, unsere
Vignolas. Das vergangene Jahrhundert war das Jahrhundert, in dem die
Natur, was Talente anbetrifft, unter uns ihren ganzen Reichtum ausgebreitet
und vielleicht auch erschöpft hat; in der Architektur hat es Meisterwerke
hervorgebracht, die denen der besten Zeiten würdig zur Seite stehn. Aber in
dem Augenblick, als wir die Vollkommenheit erreichten, fielen wir zurück in
das Niedrige und Fehlerhafte, als hätte die Barbarei noch nicht alle ihre
Rechte über uns verloren. Ein vollständiger Niedergang scheint uns von allen
Seiten zu bedrohen.
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Essai sur l’Architecture
Diese von Tag zu Tag näher kommende Gefahr, der man jedoch noch
vorbeugen kann, zwingt mich dazu, hier bescheiden meine Überlegungen zu
einer Kunst vorzutragen, für die ich immer eine große Zuneigung empfand.
Bei diesem Vorhaben bin ich weder von der Leidenschaft erfüllt, zu
kritisieren, eine Leidenschaft, die mir verhaßt ist, noch von dem Verlangen
beseelt, Neues zu sagen, ein Verlangen, das ich mindestens für oberflächlich
halte. Voller Hochachtung gegenüber unseren Künstlern, von denen mehrere
über anerkannte Fähigkeiten verfügen, beschränke ich mich darauf, ihnen
meine Ideen und Zweifel mitzuteilen, mit der Bitte, sie einer wohlüberlegten
Prüfung zu unterziehen. Wenn ich einige Gewohnheiten, die sie allgemein
akzeptieren, als echte Mißbräuche aufdecke, so erhebe ich nicht den
Anspruch, sie sollen einzig meine Meinung vertreten; ich unterbreite sie von
Herzen gern ihrer scharfsinnigen Kritik. Alles, was ich verlange, ist, sich
freizumachen von bestimmten Vorurteilen, die zu allgemein sind und dem
Fortschritt der Künste immer abträglich.
Sie sollen nicht sagen, meine Kenntnisse seien nicht ausreichend für eine
Stellungnahme, da ich kein Architekt bin; das stellt gewiß die geringste
Schwierigkeit dar. Tagtäglich urteilt man über eine Tragödie, ohne jemals
einen Vers geschrieben zu haben. Die Kenntnis der Regeln ist jedermann
zugänglich, wenn auch ihre Ausführung nur wenigen vorbehalten bleibt. Sie
sollen mir keine Autoritäten entgegenhalten, die angesehen sind, ohne
unfehlbar zu sein. Es hieße alles verderben, wenn man das, was sein soll,
nach dem beurteilen wollte, was tatsächlich ist. Die größten Männer haben
sich ab und zu geirrt; ihr Beispiel immer als die Regel zu betrachten, ist also
kein sicheres Mittel, Irrtümern zu entgehen. Man soll mich nicht mit dem
Argument des angeblich Unmöglichen ausschalten. Die Faulheit findet vieles
unmöglich, wovon die Vernunft nichts bemerkt. Ich bin überzeugt, daß
diejenigen unter unseren Architekten, die mit echtem Eifer nach einer
Vervollkommnung ihrer Kunst streben, mir für meinen guten Willen dankbar
sein werden. Vielleicht werden sie in dieser Schrift Überlegungen finden, die
ihnen entgangen sind, und wenn sie diese für begründet halten, werden sie es
nicht verschmähen, von ihnen Gebrauch zu machen; das ist alles, was ich von
ihnen verlange. Denn wer nur mit Bedauern sieht, wie eine fremde Hand mit
der Fackel der Wahrheit in noch nicht erhellte Geheimnisse eindringt, wer
eine sich bietende Aufklärung zurückweist, aus Abneigung gegen ihren
Ursprung, wer sich mit blindem Mißtrauen gegen den Eifer eines Amateurs
stellt, der versucht, unter vielen Wegen diejenigen zu finden, die zum Ziel
führen und sie von den Irrwegen zu unterscheiden, wer sich energisch gegen
den Erfolg wendet, den diese Anstrengungen haben können, aus Furcht, von
nun an aufmerksamere Kritiker und strengere Richter zu finden, der zeigt
eine Haltung, die nur zu Künstlern ohne Genie und Gefühl paßt.
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Essai sur l’Architecture
1. KAPITEL. ALLGEMEINE PRINZIPIEN DER ARCHITEKTUR
Die Architektur ist wie alle anderen Künste beschaffen, d. h. ihre Prinzipien
beruhen auf der einfachen Natur, und das Verhalten der letzteren bestimmt
klar die Regeln der ersteren. Betrachten wir einmal einen Menschen in
seinem ursprünglichen Zustand, ohne jede Hilfe, nur ausgestattet mit einem
natürlichen Instinkt für seine Bedürfnisse. Er muß einen Ort der Ruhe haben
und entdeckt am Ufer eines friedlichen Bächleins eine Wiese, deren frisches
Gras sein Auge erfreut und deren weiches Bett ihn einlädt; er tritt heran, und
während er sanft ausgestreckt auf dem glänzenden Teppich ruht, sind seine
Gedanken nur darauf gerichtet, in Frieden die Gaben der Natur zu genießen;
nichts fehlt ihm, und er verspürt keinen Wunsch. Aber bald muß er vor der
brennenden Sonnenhitze Schutz suchen. Er entdeckt einen Wald, der ihm seinen erfrischenden Schatten spenden will, und eilt, sich in seiner Dichte zu
verstecken, worauf er sich ganz zufrieden fühlt. Jedoch eine große Anzahl
gerade aufsteigender, feuchter Dämpfe trifft aufeinander und bildet dichte
Wolken am Himmel; ein fürchterlicher Regen ergießt sich wie ein Wildbach
über den schönen Wald. Nur ganz ungenügend schützen dessen Blätter den
Menschen, der nicht mehr weiß, wie er sich einer ihn von allen Seiten
durchdringenden, unangenehmen Feuchtigkeit erwehren kann. Eine Höhle tut
sich vor ihm auf, er schlüpft hinein, ist im Trockenen und beglückwünscht
sich zu seiner Entdeckung. Aber wieder neue Unannehmlichkeiten verleiden
ihm auch diesen Aufenthalt, denn um ihn herum ist es dunkel und die Luft,
die er atmet, ungesund. Er verläßt die Höhle, fest entschlossen, durch seine
Geschicklichkeit der Rücksichtslosigkeit und Unaufmerksamkeit der Natur
abzuhelfen. Der Mensch will sich eine Unterkunft schaffen, die ihn schützt,
ohne ihn unter sich zu begraben. Einige im Wald abgeschlagene Äste sind
das für seine Zwecke geeignete Material. Er wählt die vier stärksten aus, die
er senkrecht, im Quadrat angeordnet, aufstellt. Er verbindet sie mit vier
anderen, die er quer über sie legt. Darüber breitet er von zwei Seiten Äste, die
sich schräg ansteigend in einem Punkte berühren. Diese Art Dach wird mit
Blättern so dicht bedeckt, daß weder Sonne noch Regen eindringen können,
und so hat der Mensch jetzt eine Unterkunft. Allerdings werden ihm in
seinem nach allen Seiten offenen Haus Kälte und Hitze sehr unangenehm; er
wird also den Raum zwischen den Pfeilern ausfüllen und auf diese Weise
geschützt sein.
So geht die einfache Natur zu Werke und die Kunst verdankt ihre
Entstehung der Nachahmung dieses Vorgehens. Diese kleine, rustikale Hütte,
die ich gerade beschrieben habe, war das Modell, von dem alle Herrlichkeit
der Architektur ihren Ausgang nahm. Durch eine Annäherung beim Bauen an
die Einfachheit dieses ursprünglichen Modells werden grundlegende Fehler
vermieden und wird echte Vollkommenheit erreicht. Die senkrecht
aufgestellten Holzstangen ließen in uns die Idee von der Säule entstehen, die
waagrecht auf ihnen ruhenden Teile die vom Gebälk, die schräg gestellten
schließlich, die das Dach bilden, liegen der Entstehung des Giebels zugrunde.
Das ist etwas, worüber sich alle Kunstsachverständigen einig sind. Allein,
man muß hier sehr vorsichtig sein, denn niemals hat ein Prinzip
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Essai sur l’Architecture
weitreichendere Folgen gehabt. Es ist jetzt also leicht, die Teile, die innerhalb
einer
architektonischen
Ordnung
wesentlich
sind,
von
denen
zu
unterscheiden, die nur aus Gründen der praktischen Notwendigkeit eingeführt
oder auf Grund einer Laune (par caprice) hinzugefügt wurden. In den
wesentlichen Teilen liegt alle Schönheit; in den Teilen, die die
Notwendigkeit diktierte, liegen die erlaubten Freiheiten (licences); in den
Teilen, die aus bloßer Laune (caprices) eingeführt wurden, liegen alle Fehler.
Hier sind weitere Erläuterungen nötig, und ich werde versuchen, soviel Licht
wie möglich in die Sache zu bringen.
Verlieren wir nicht unsere kleine, rustikale Hütte aus den Augen. Dort
erkenne ich nur Säulen, einen Fußboden oder ein Gebälk, ein spitzes Dach,
das an den Schmalseiten das bildet, was wir gewöhnlich als Giebel
bezeichnen. Bis jetzt keine Spur eines Gewölbes, noch viel weniger einer
Bogenstellung, keine Sockel, keine Attika, nicht einmal Türen und keine
Fenster. Daraus ziehe ich folgenden Schluß: die wesentlichen Bestandteile,
aus denen sich eine architektonische Ordnung zusammensetzt, sind einzig
und allein Säule, Gebälk und Giebel. Wenn sich jeder dieser drei Teile am
richtigen Platz findet und in der ihm gemäßen Form, gibt es nichts, was man
noch zur Vollkommenheit des Werkes hinzufügen könnte. In Frankreich ist
uns ein sehr schönes, antikes Monument erhalten geblieben, das sich in
Nimes befindet und Maison-Carrée genannt wird. Ob nun Kenner oder nicht,
alle Welt bewundert die Schönheit dieses Bauwerkes. Warum? — weil dort
alles den wahren Prinzipien der Architektur entspricht. Ein langes Viereck,
dreißig Säulen, die ein Gebälk tragen, und ein Dach, das an den Schmalseiten
in je einem Giebel endet, das ist alles, worum es sich handelt. Diese
Zusammenstellung ist von einer Einfachheit und einem Adel, der allen ins
Auge fällt. Der Verfasser des»Examen« ist nicht damit einverstanden, daß
ich auf alle Teile unserer Gebäude die Strenge der rustikalen Hütte anwenden
möchte. Er hätte uns die Gesetze erläutern sollen, die diese Anwendung fehlerhaft machen, denn falls sie, wie ich behaupte und wie es alle
Kunstsachverständigen zu verstehen gaben, solide und begründet ist, dann
wird es unmöglich, die in den folgenden Artikeln aufgestellten Regeln
anzugreifen; denn sie gehen alle zwangsläufig aus diesem einfachen Prinzip
hervor. Wenn man mich widerlegen will, konzentriert sich alles darauf, zu
beweisen, daß entweder das Prinzip falsch ist oder aber falsche
Schlußfolgerungen gezogen wurden. Solange man keines dieser Argumente
als Waffe gegen mich benützen kann, werden alle Schläge ins Leere gehen.
Alle pathetischen Reden, alle Beleidigungen werden völlig vergeblich sein.
Ein scharfsinniger Leser wird immer auf die gleichen Fragen zurückkommen:
ist das Prinzip falsch, ist es die Schlußfolgerung? Der einzige Einwand, den
man gegen die Verbindung vorbringt, die zwischen unseren Bauwerken und
der rustikalen Hütte hergestellt wurde, ist der, daß es uns erlaubt sein müsse,
ein wenig Abstand zu nehmen von dieser groben und formlosen Erfindung.
In Wahrheit nehmen wir in unserer betonten Vorliebe für das Dekor, durch
das wir die Mängel einer so rohen Komposition ersetzen, sehr großen
Abstand davon; das Wesentliche aber muß unbedingt erhalten bleiben, denn
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Essai sur l’Architecture
hier haben wir den Entwurf vor uns, den uns die Natur geschenkt hat. Die
Kunst darf ihre Möglichkeiten nur dafür einsetzen, das Werk zu verschönern,
es abzurunden, ihm seinen ganzen Glanz zu verleihen, ohne dabei an sein
Wesen zu rühren.
Beschäftigen wir uns nun eingehend mit den wesentlichen Teilen, die zu
einer Architekturordnung gehören.
1. KAPITEL, 5. ARTIKEL. ÜBER TÜREN UND FENSTER
Ein Gebäude aus freistehenden Säulen, die ein Gebälk tragen, braucht weder
Fenster noch Türen; so, nach allen Seiten offen, ist es aber unbewohnbar. Die
Notwendigkeit, sich gegen die Unbilden der Witterung zu schützen, und noch
andere, wichtigere Gründe — zwingen uns die Säulenintervalle auszufüllen,
was wiederum Fenster und Türen notwendig macht. Für ihre Form müssen
praktische Gründe ausschlaggebend sein, wobei es von Vorteil wäre, wenn
die Eleganz dazukäme. Die rechteckige Form ist die einfachste und
bequemste, da sich dann die Flügel völlig frei öffnen lassen, ohne daß
Laibungsbögen, die immer etwas Gekünsteltes und Erzwungenes haben,
notwendig werden. Man glaubt Fenstern und Türen mehr Eleganz zu geben,
wenn man sie oben mit einem Rundbogen abschließt. Aber was geschieht
dann? Dieser Rundbogen bildet auf der Wand an beiden Seiten eine
unregelmäßige Figur, nämlich ein rechtwinkeliges Dreieck mit zwei geraden
Seiten und einer gekrümmten Hypotenuse. Diese Art von unregelmäßigen
Gebilden machen in der Architektur immer einen schlechten Eindruck. Sie
sind der Anlaß dafür, merkwürdige Ornamente anzubringen, die nur dazu da
sind, Fehler zu verdecken. Es wäre viel besser, Derartiges zu vermeiden.
Öffnungen in der Form von Rundbögen müssen den Triumphbögen
vorbehalten bleiben, wo sie üblicherweise verwendet werden. An allen
anderen Orten wirken sie deplaziert. Heutzutage hat man eine Leidenschaft
für Rundbogenfenster; ich zweifle, daß man davon welche an den gelungenen
Bauwerken der Antike findet. Sie sind aber noch erträglicher als Fenster, die
sich nach oben in einem stark ausgeprägten Korbbogen wölben. Diese heute
weitverbreiteten Fenster haben alle Nachteile des Rundbogens, sind aber
durch ihre großen Unregelmäßigkeiten in der Form noch weiter vom
Natürlichen entfernt. Der Verfasser des »Examen« tritt entschieden für den
Gebrauch von Rundbogenfenstern ein und spendet den Laibungsbögen
höchstes Lob. Ich verkenne durchaus nicht den Nutzen einer so schönen
Erfindung, deren Linienführung fein und gekonnt ist, aber muß man dieses
Können an dieser Stelle verwenden? Wenn Laibungsbögen unbedingt erforderlich sind, ist es sehr gut, sie zu verwenden; sie aber ohne Notwendigkeit
im Überfluß zu gebrauchen, heißt auf schulmeisterliche Art Gelehrsamkeit
zur Schau stellen. Dieses Zurschaustellen gefällt aber nur denen, deren
Wissen nicht sehr tief geht. Fenster mit gerader Rahmung sind natürlicher als
Rundbogenfenster, es wäre vergebens, wollte man mir das bestreiten. Der
Vorschlag — dem man nur allzu oft gefolgt ist — die unregelmäßigen
Formen, die auf beiden Seiten der Rundbogenfenster entstehen, durch
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Essai sur l’Architecture
Figuren auf den Archivolten zu verdecken, bestätigt nur die Notwendigkeit,
diese Art von Fenstern zu verwerfen. Sie stellen einen Mißbrauch dar, der zu
einem noch größeren Mißbrauch führt.
Die Fenster müssen sich immer unter dem Gebälk befinden, bringt man
sie oberhalb des Kranzgesimses an, sind sie nur noch Dachluken. Es ist
bedauerlich, daß in fast allen unseren modernen Kirchen das Licht nur durch
diese in die Wölbung eingelassenen Dachluken einfällt.
Fenster, die auf einer Reihe liegen, müssen immer die gleiche Form
haben, und es ist unverständlich, worauf sich die bizarre Idee einiger
Architekten gründet, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, sie zu variieren.
Da Fenster und Türen nur zufällige Bestandteile der Komposition einer
Architekturordnung sind, dürfen sie niemals auf deren wesentliche Teile
übergreifen. Wer immer den Architrav der großen Seitenpavillons des
Tuilerienpalastes verunstaltet hat, um den Fenstern mehr Höhe zu geben,
verstand nichts von seinem Beruf. Unglücklicherweise hat M. Perrault bei
seiner herrlichen Louvrekolonnade wiederum unüberlegt gehandelt, als er im
Untergeschoß ein großes Portal errichtete, dessen Rundbogen in den
darüberliegenden, die Säulen tragenden Sockel einschneidet.
Bis jetzt habe ich alle notwendigen Teile einer Säulenordnung behandelt,
ohne daß mir auf meinem Weg Nischen begegnet wären. In der Tat, was ist
eigentlich eine Nische? Wozu dient sie? Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß
es nicht. Ich glaube nicht, daß sich gesunder Menschenverstand an den
Anblick einer Statue gewöhnen kann, die in einer in die Mauer geschnittenen
Fenstervertiefung steht. Meine Abneigung gegen Nischen ist unüberwindlich,
und solange man mir nicht Grund und Notwendigkeit dafür gezeigt hat,
werde ich alle, die mir begegnen, vom Tisch fegen. Einzig auf einem Sockel
wirkt eine Statue natürlich und elegant. Warum sie in eine Mauervertiefung
stecken und damit alle Konturen auslöschen? Hier hat der Verfasser des
»Examen« die erheiterndsten Ausbrüche. Er fragt mich, wohin denn meine
Reisen geführt hätten, da mir nirgends auf meinem Weg Nischen begegnet
seien. Wie konnte er denn diesen Ausdruck mißverstehen? Stellt er sich
wirklich vor, daß ich nicht alle Arten von Nischen gesehen habe, die man im
Überfluß an allen Bauwerken angebracht hat? Ja, das ist tatsächlich seine
Interpretation meiner Gedanken — und er glaubt, mich zu verstehen! Worauf
er, um mich in Verlegenheit zu bringen, sofort eine Menge Beispiele anführt
und mich fragt, wo ich denn meine Augen hätte. Ich kann ihm versichern,
daß ich sie weit auf habe. Der Weg, auf dem mir keine Nischen begegnet
sind, ist derjenige, der von den Prinzipien zu den daraus zu ziehenden
Schlußfolgerungen führte.
Ich habe gelesen und wiedergelesen, was er zu Gunsten der Nischen
vorbringt, aber ich weiß immer noch nicht, worauf sich ihre Verwendung
vernünftigerweise gründen könnte.
Ich wünschte sehr, man würde mir die Bedeutung der großen Konsolen
erklären, die für gewöhnlich den oberen Teil unserer Kirchenfassaden
flankieren. Vergebens versucht man sie damit zu rechtfertigen, daß man sie
als Übergang bezeichnet, der dazu dient, das untere Stockwerk mit dem
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Essai sur l’Architecture
oberen in angenehmer Weise zu verbinden: diese Konsolen stehen nur an
Stelle von Strebepfeilern und Strebebögen, eine unangenehme Sache, die zu
sehr nach Mühseligkeit und Anstrengung aussieht, um sie den Blicken
auszusetzen. Könnte man alle Strebepfeiler da, wo sie notwendig sind,
weglassen, würde man der Architektur einen bemerkenswerten Dienst
erweisen.
Ich fühle, wie gefährlich es ist, sich gegen überkommene Gewohnheiten
zu wenden. Vielleicht verwünschen mich unsere Künstler dafür, daß ich ihre
Machtstellung erschüttere, die ihnen Freiheiten erlaubt, welche ich
verdamme. Aber ich bitte sie, die Prinzipien, von denen die wahre
Vollkommenheit ihrer Kunst abhängt, nicht vorgefaßten Ideen oder der
Faulheit zu opfern. Zweifellos wird es ihnen schwer fallen, ihren Irrtum
zuzugeben; aber wenn man — wie sie — dabei ist, etwas gut zu machen,
dient ein solches Eingeständnis dazu, auch wenn es die Eigenliebe ein wenig
verletzt, den Wettstreit zu fördern. Es handelt sich hier nicht darum, sklavisch Gewohnheiten zu folgen oder blindlings nach der üblichen Routine zu
handeln, es geht darum, nachzuprüfen, ob meine Ideen richtig sind, ob
zwischen ihnen und den von allen anerkannten Prinzipien nicht eine
zwangsläufige
Verbindung
besteht. Ich
habe
diese
Prinzipien
mit
Genauigkeit dargelegt, ich habe mich bemüht, aus ihnen die notwendigen
Schlüsse zu ziehen, die ich dann als Regeln aufgestellt habe. Ich habe die aus
echter Notwendigkeit entstandenen Ausnahmen keineswegs ausgeschlossen;
ich habe sie als Freiheiten (licences) zugelassen, von denen man Gebrauch
machen kann, vorausgesetzt man geht dabei maßvoll und klug vor. Ich habe
unerschrocken alles als Fehler bezeichnet, was in keinerlei Beziehung zu den
Prinzipien steht und im übrigen durch keinerlei Notwendigkeit gerechtfertigt
ist. Das ist meine Methode; falls sie schlecht ist und man das beweisen kann,
werde ich es mir zur Pflicht machen, sie zu verbessern.
»Daraus folgt«, so wird man mir sagen, »daß unsere größten Architekten
die gröbsten Fehler begangen haben; daß es keinen gibt, der nicht
gewohnheitsmäßig von der Strenge ihrer Regeln abgewichen wäre, und wenn
man Ihnen glaubt, wäre das, was wir als Meisterwerke bewundern, voller
Fehler«. Ich muß zugeben, daß dies ein schwerwiegender Einwand ist. Niemand verspürt weniger Lust als ich, das Ansehen der Meister der Kunst
herabzusetzen. Ich schätze ihr Talent, ich respektiere ihr Andenken, ich
bringe ihnen die aufrichtigste Verehrung entgegen. Aber es wäre alles in
allem ein blindes Vorurteil, zu glauben, daß alles, was sie gemacht haben, gut
ist, nur weil sie es gemacht haben. Indem ich annehme, daß sie Fehler begangen haben könnten — und tatsächlich haben sie Fehler begangen — , so
zeige ich damit ja nur, daß sie Menschen waren. Was werden die Folgen sein,
wenn die Strenge der von mir dargelegten Regeln Anlaß gibt, ihre besten
Werke zu kritisieren? Wir werden sie übertreffen, die Kunst wird sich noch
mehr vervollkommnen, wir werden ihre Schönheiten nachahmen und ihre
Fehler vermeiden. Regeln, die dieses Unterscheidungsvermögen erleichtern,
sind viel zu nützlich, um verworfen zu werden.
Man wird mir vielleicht noch entgegenhalten, daß ich die Architektur auf
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Essai sur l’Architecture
ein Minimum reduziere, da ich mit Ausnahme von Säulen, Gebälk, Giebel,
Türen und Fenstern alles übrige mehr oder weniger ausschließe. Wahr ist,
daß ich die Architektur von vielem Überflüssigem befreie, daß ich eine
Menge Firlefanz, der ihren gewöhnlichsten Schmuck ausmacht, aus ihr
entferne, daß ich ihr nur ihre Natürlichkeit und ihre Einfachheit lasse. Aber
man soll sich nur nicht täuschen: dem Architekten nehme ich nichts weg,
weder was seine Arbeit, noch was seine Quellen betrifft. Ich zwinge ihn nur
dazu, immer auf einfache und natürliche Weise vorzugehen, niemals etwas
darzubieten, was deutlich nach Kunst und Zwang aussieht. Diejenigen, die
tatsächlich Architekten sind, werden mir zustimmen, daß ich, statt ihre Arbeit
zu verringern, sie zu tiefgehenden Studien und außergewöhnlicher Präzision
zwinge. Darüber hinaus stelle ich dem Architekten sehr große Hilfsmittel zur
Verfügung. Wenn er über Genie und leichte Kenntnisse der Geometrie
verfügt, wird er mit dem wenigen, das ich ihm zur Hand gebe, dem
Geheimnis auf die Spur kommen, wie man Pläne unendlich abwandelt, und
er wird durch den Abwechslungsreichtum der Formen das zurückgewinnen,
was er an Überflüssigem, das ich ihm wegnahm, verliert. Seit vielen
Jahrhunderten benützt man schon die sieben Noten der Tonleiter auf immer
wieder neue Art und ist noch weit davon entfernt, alle Möglichkeiten erschöpft zu haben. Ich behaupte das gleiche von den wesentlichen Teilen, aus
denen sich die Komposition einer Architekturordnung zusammensetzt. Ihre
Zahl ist gering, und man kann sie ad infinitum kombinieren, ohne etwas
hinzuzufügen. Das Genie zeigt sich im Erfassen dieser verschiedenen
Möglichkeiten, einer Quelle angenehmer Vielfalt. Nur wem das Genie fehlt,
der klammert sich an das Unwesentliche, nur wer nicht genügend Geist
besitzt, um sein Werk einfach zu gestalten, überlädt es!
Man könnte mir schließlich noch entgegenhalten, daß mehrere meiner
Regeln in der Theorie zwar ausgezeichnet seien, sich aber in der Praxis nicht
verwirklichen ließen. Beispielsweise, einfache Säulen bildeten eine zu
schwache Stütze für ein Bauwerk, und ein gerade verlaufender Architrav sei
nicht stabil genug. Ich habe schon Beispiele angeführt, die dieses Argument
vollkommen zunichte machen. Was einmal gemacht wurde, kann wieder
gemacht werden. Man studiere nur die Louvrekolonnade und die Traveen der
Schloßkapelle von Versailles, und die Unmöglichkeit wird sich in nichts
auflösen. Warum übrigens behauptet man, Säulen seien zu schwache
Stützen? Sind sie weniger stark als Pilaster? Verbindet man die Vorstellung
von Stärke eher mit der eckigen als mit der runden Form? Die Proportionen
der Säulen werden vom Prinzip der Stabilität bestimmt; sofern sie genau
senkrecht stehen, werden sie ohne Anstrengung alles tragen, was sie tragen
sollen.
Warum
behaupten,
gerade
verlaufende
Architrave
seien
einsturzgefährdet? Sie sind es, wenn man die Säulenabstände entgegen den
Regeln zu groß macht, und sie sind es, wenn man, wiederum gegen die
Regeln, sie mit dem Gewicht einer massiven Mauer belastet. Wenn aber die
Säulenabstände korrekt sind, wenn sich über dem Architrav nur das befindet,
was dort sein soll: nämlich höchstens Fries und Gesims und ein leichtes
Balustradengeländer, dann ist jede Furcht unbegründet. Die glatte Mauer ist
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Essai sur l’Architecture
Ursache der übermäßigen Belastung, und die glatte Mauer beraubt auch die
Architektur ihrer ganzen Grazie. Je weniger sie in Erscheinung tritt, desto
gelungener ist das Bauwerk, und wenn sie unsichtbar bleibt, ist das Bauwerk
vollkommen.
Der Kritiker, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, aller Welt zu
beweisen, daß dieses Kapitel nur aus Irrtümern zusammengesetzt ist, nur aus
falschen Schlußfolgerungen, aus greifbaren Absurditäten und Schnitzern auf
Schülerniveau, wendet sich hier mit der für ihn charakteristischen
Zurückhaltung gegen die blinde Arroganz, die mich die Folgen der Freiheit
fürchten ließ, mit der ich die unseren Architekten lieb gewordenen
Gewohnheiten verurteilte. In ihrem Namen teilt er mir höflich mit, daß mein
Werk, das nur ihre Verachtung verdient, ihnen völlig gleichgültig ist. Ohne
diese so präzise und klare Erklärung hätte mich seine Art zu schreiben
eigentlich das Gegenteil vermuten lassen. Er wiederholt mehrere hundert
Mal, daß meine Ideen nichts an der herkömmlichen Praxis ändern werden,
daß ich mich meiner schändlichen Verirrungen schämen sollte und daß ich
lernen müßte, vernünftiger und bescheidener zu werden. Niemals habe ich
behauptet, daß allein meine Meinung den Architekten als Gesetz dienen
müsse. Ich habe nicht einmal je gehofft, daß viele unter ihnen in der Lage
seien, sich mit den von mir vorgeschlagenen Methoden auseinanderzusetzen.
Aber ich bitte sie nun meinerseits, nicht zu verlangen, daß man ihren
Entscheidungen blindlings zustimmt. Daß sie frei sind zu handeln, wie sie es
von jeher gewöhnt sind, solange die Öffentlichkeit damit zufrieden ist, das
gestehe ich ihnen von ganzem Herzen zu. Sie haben aber weder das Recht,
uns das Denken zu verbieten, noch im harten Ton von denen zu sprechen, die
nicht so entgegenkommend sind, zu glauben, daß nur Architekten über
Architektur sprechen können. Die Künste können auch Nichtkünstlern zu
echtem Dank verpflichtet sein, und jeder ist berechtigt, Methoden zu ihrer
Perfektion vorzuschlagen.
5. KAPITEL, 3. ARTIKEL. ÜBER DIE DEKORATION DER GEBÄUDE
Ist der Grundriß einer Stadt gut entworfen, dann ist damit das Wichtigste und
Schwierigste getan. Übrig bleibt noch, Regeln für die äußere Dekoration der
Gebäude aufzustellen. Wenn man eine schön gebaute Stadt haben will, darf
man die Fassadengestaltung der Privathäuser keinesfalls den Launen ihrer
Besitzer überlassen. Alle Teile, die zur Straße hin liegen, müssen gesetzlich
festgelegten Vorschriften entsprechen, die einem Plan folgen, den man für
die ganze Straße entworfen hat. Nicht nur muß genau der Platz bestimmt
werden, an dem gebaut werden darf, sondern auch der Stil, in dem gebaut
wird, muß vorgeschrieben sein.
Die Höhe der Häuser muß zur Breite der Straße im richtigen Verhältnis
stehen. Nichts wirkt so unharmonisch wie die ungenügende Höhe der Häuser
in Städten mit sehr breiten Straßen. So schön diese Gebäude auch sein
mögen, durch den niederen und gedrückten Eindruck, den sie machen,
verlieren sie alles Ansehnliche und wirken nicht einmal mehr angenehm.
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Essai sur l’Architecture
Was die Häuserfassaden anbetrifft, so sind hier Regelmäßigkeit und viel
Mannigfaltigkeit notwendig. Die Häuser langer Straßen, bei deren Bau man
sich ganz genau an ein symmetrisches Schema gehalten hat und die dadurch
wie ein einziges, zusammenhängendes Gebäude wirken, bieten einen
ausgesprochen langweiligen Anblick. Zu große Einförmigkeit ist der
schwerste Fehler überhaupt. Es ist also unbedingt notwendig, an den
Fassaden der Häuser ein und derselben Straße diese häßliche Einförmigkeit
zu vermeiden. Um eine Straße schön zu gestalten, dürfen nur die Fassaden
gleich sein, die miteinander verbunden sind oder parallel zueinander stehen.
In jedem Straßenabschnitt, der nicht von einer Querstraße unterbrochen wird,
muß das gleiche stilistische Modell verwendet werden, das im nächsten
Abschnitt nicht wieder das gleiche sein darf. Die Kunst, Entwürfe
verschiedenartig zu gestalten, hängt ab von der Mannigfaltigkeit der Form
der Gebäude, von der Anzahl der verwendeten Ornamente und von ihrer
unterschiedlichen
Zusammenstellung.
Mit
diesen
drei
schier
unerschöpflichen Möglichkeiten kann man es selbst in der größten Stadt
vermeiden, zweimal die gleiche Fassade zu bauen.
Es wäre ein großer Fehler, alles gleich auszuschmücken und zu verzieren,
auch wenn der Entwurf unterschiedlich ist. Die Schönheit eines Gemäldes
liegt in der Abstufung des Lichtes, das unmerklich vom Dunklen ins Helle
führt, in der sanften Farbenharmonie, die sich durchaus mit scharfen
Kontrasten verträgt und eher noch an Reiz gewinnt, wenn zwischen komplementären Farben andere auftauchen, die deren Zusammenklang stören und
als Dissonanzen wirken. Wollen wir also unsere Straßen mit sehr viel
Geschmack dekorieren? Dann müssen wir mit Ornamenten sparsam umgehen
und sollten viel Einfaches, etwas Schlichtheit, vermischt mit Eleganz und
Pracht, verwenden. Im Normalfall sollte man vom Schlichten zum Einfachen
übergehen, vom Einfachen zum Eleganten, vom Eleganten zum Prachtvollen;
gelegentlich sollte man allerdings ganz plötzlich durch Gegensätze, die so
gewagt sind, daß sie die Blicke auf sich ziehen und großen Eindruck machen,
von einem Extrem ins andere fallen. Lassen wir von Zeit zu Zeit die
Symmetrie beiseite und versuchen wir es mit dem Bizarren und Ungewöhnlichen; mischen wir auf angenehme Weise, ohne uns dabei jemals vom
Wahren und Natürlichen zu entfernen, das Weiche mit dem Harten, das Zarte
mit dem Kantigen, das Noble mit dem Rustikalen. Mir scheint, daß es auf
diese Weise möglich ist, den verschiedenen Gebäuden einer Stadt die schöne
Mannigfaltigkeit und eindrucksvolle Harmonie zu geben, die den Charme der
Dekoration ausmachen.
Paris ist groß genug, um an seinen Gebäuden alle nur denkbaren
Dekorationen anzubringen. Seine Brücken, Quais, Paläste, Kirchen, seine
großen herrschaftlichen Stadthäuser, seine Krankenhäuser, Klöster und
öffentlichen Gebäude bieten Gelegenheit, die herkömmlichen Hausbauten
immer wieder durch außergewöhnliche Architekturformen zu unterbrechen.
Wenn man diese häßlichen Buden abreißt, welche die meisten unserer
Brücken überfüllen, verengen und entstellen, und sie durch schöne und
große, über die ganze Brückenlänge gehende Kolonnaden ersetzt, wenn man
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Essai sur l’Architecture
das gesamte Flußufer befestigt und zu großen und breiten Quais ausbaut und
entlang dieser Quais die Fassaden ausschmückt, einmal mehr, einmal weniger, mit feinen Abstufungen und Nuancen im Rahmen eines gut
abgestimmten Gesamtplanes, dann wird sich von einem Ende der Seine bis
zum anderen ein Bild bieten, dem nichts auf der Welt auch nur annähernd
gleichkommt. Wenn man dann durch die Straßen wandert, die auf beiden
Seiten des Flusses geschickt und vollkommen geradlinig angelegt wurden,
und nacheinander auf öffentliche Gebäude, herrschaftliche Stadthäuser,
Paläste, Kirchenportale und Plätze trifft, wenn man sich Fassaden von
Privathäusern gegenübersieht, die, immer im Rahmen der Regelmäßigkeit,
das Schlichte, Einfache, Elegante und das Prachtvolle in einer kunstvollen
Mischung und klugen Zusammenstellung zeigen und sich durch ihre
Verschiedenheit gegenseitig noch mehr zur Geltung bringen, wenn man dann
schließlich ab und zu auf Gebäude von bizarrem Plan und merkwürdiger
Form stößt, im malerisch-pittoresken Stil dekoriert, dann zweifle ich sehr,
daß die Augen sich jemals an einem so hinreißenden Schauspiel sattsehen
können. Das auf natürliche Art gewachsene Paris wäre dann nicht nur eine
außerordentlich große Stadt, sondern ein einmaliges Meisterwerk, ein
Wunder, ein zauberhafter Anblick. Ich wünsche mir, daß dieses
Verschönerungsprogramm, dessen Prinzipien ich soeben dargelegt und
dessen Regeln ich kurz umrissen habe, Kennern zu Ohren kommt, die
Geschmack daran finden, Kunstliebhabern bekannt wird, die es unterstützen,
eifrige Bürger findet, die sich dafür einsetzen, und auf mutige Beamte trifft,
die das Projekt aufmerksam studieren und seine Ausführung tatkräftig
vorbereiten. Ich weiß, daß allem Nützlichen der Vorrang gebührt gegenüber
dem, was nur zur Verschönerung dient, aber man kann das Nützliche mit
dem Angenehmen verbinden. Man darf auch nicht vergessen, daß ein Projekt,
das ausländischen Besuchern eine großartige Vorstellung von unserer Nation
vermittelt und einen Anziehungspunkt für viele darstellt, keineswegs ein
nutzloses Projekt ist.
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