Rechtliche Aspekte der Hygiene Hygiene im OP / 23. Symposium / 9. März 2015 / lic.iur. Marc Elmiger Inhaltsübersicht Ausgangslage Ein Tag im und um den OP Haftpflichtrechtliche Aspekte Strafrechtliche Aspekte Entwicklungen Praxistipps Medizinische Ausganslage ! Gemäss Schätzungen sterben jährlich ca. 2000 Menschen in der Schweiz an Spitalinfektionen. Davon wären 1/3 vermeidbar. (Quelle: Patientensicherheit.ch) ! Gemäss einer Schweizer Studie treten bei durchschnittlich 5,6% der operierten Patienten postoperative Wundinfektionen (SSI) auf. Nach Hochrisikooperationen kann dieser Anteil 15% übersteigen. Extrapoliert auf die Schweiz sind das gesamthaft 33’500 SSI p.a. (Quelle: www.swissnoso.ch) Juristische Ausgangslage Recherche ergibt lediglich zwei (2) vom Bundesgericht behandelte Fälle, die sich näher mit Infektionen befassen… Fragen… •Und wo ist der Rest geblieben? •Warum findet sich praktisch keine juristische Literatur? Juristische Ausgangslage … und die Antworten darauf: •Folgende Punkte müssen kumulativ erfüllt sein, damit es zu einer Haftung kommt: Finanzieller Schaden Widerrechtlichkeit / Vertragsverletzung Kausalzusammenhang •Beweispflichtig dafür ist der Patient Ein Tag im und um den OP Vorbereitung: Aufklärung • Ziel und Zweck: Durch Information des Patienten Herbeiführen einer freien, selbstverantwortlichen Entscheidung, ob er in einen Eingriff einwilligen will (informed consent, consentement éclairée) Haftungsbefreiung: Eine nicht durchgeführte Aufklärung führt zur Rechtswidrigkeit des gesamten Eingriffes (umstritten) Aufklärung: Inhalt § 13 PatG ZH Die behandelnden Personen klären im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit Patientinnen und Patienten rechtzeitig, angemessen und in verständlicher Form über die Vor- und Nachteile sowie die Risiken der medizinischen Behandlung und möglicher Alternativen auf. Sie beantworten Fragen zum Gesundheitszustand und dessen voraussichtlicher Entwicklung § 42 GesG SZ Die Patientin oder der Patient ist situationsgerecht über den Gesundheitszustand, die Behandlungsmöglichkeiten, die damit verbundenen Vor- und Nachteile sowie die Risiken und Kostenfolgen in geeigneter und verständlicher Weise aufzuklären. Zudem: Therapiegerechtes Verhalten des Patienten (Sicherungsaufklärung, Urteil Bger 4C.229/2000) Aufklärung über Risiken • Umstrittener BGE 117 Ib 197 S. 204 Der Arzt kann davon ausgehen, dass er es mit einem verständigen Patienten zu tun hat, der im Rahmen seiner Lebenserfahrung um die allgemein bekannten Gefahren der in Frage stehenden Operation weiss. Nicht aufzuklären hat der Arzt deshalb über Komplikationen, die mit einem grösseren Eingriff regelmässig verbunden sind oder ihm folgen können, wie zum Beispiel Blutungen, Infektionen, Thrombosen oder Embolien. • Prozentaufklärung? Nicht brauchbar. Aufklärung über Risiken • Problem: Ist dem Patienten klar, dass eine Infektion einen potentiell letalen Ausgang haben kann? Würde er dann dem Eingriff immer noch zustimmen? • Aufklärung ist Achillesferse im Medizinalhaftpflichtrecht, Beweis liegt beim Arzt! • Empfehlungen Auch über «Bekanntes» aufklären Leitgedanke: Wie wirkt sich ein spezifisches Risiko auf den konkreten Patienten aus? Eingriff • BGE 118 V 59 Ansteckung einer Operationswunde mit einer Mycobakterie (sehr seltener Keim, der beim Träger nur in Ausnahmefällen Infektionen verursacht): diese postoperative Infektion weist keinen ungewöhnlichen Charakter auf und stellt an sich keinen Unfall dar, weil die Ansteckung durch eine Operationswunde der typische Weg für die Übertragung einer Infektion ist. • Ist das ein Grund zur Freude? Eingriff • … Leider nein • Herausforderung: Wer ist Schuld an der Infektion, Schicksal oder Fehler? • Juristisch retrospektiv mittels direktem Beweis kaum zu klären • Indirekter Weg: Wurden alle Sorgfaltsmassnahmen eingehalten? • Doch: Wie prüft das ein Jurist? Eingriff • … Er recherchiert • z.B. im Rahmenlehrplan dipl. Fachpersonen Operationstechnik HF: «orientiert sich an betrieblichen Leitlinien der Institution» «stellt die Verfügbarkeit und Anwendung der betrieblichen Checklisten, Handlungsschemen und Standards sicher.» Eingriff Ja was jetzt?! Eingriff: Checklisten etc. Stiftung für Patientensicherheit: Pilotprogramm progress! Sichere Chirurgie Eingriff: Checklisten etc. Eingriff: Checklisten etc. Rechtsverbindlichkeit von Guidelines? • Hilfe für die Beurteilung der Fehlerfrage • Bisher kein Urteil, das Guidelines unbesehen als zwingend betrachtet • begründete Abweichungen sind erlaubt Wichtig für die juristische Beurteilung: Hat man sich bei Auftreten von Komplikationen oder anderen Abweichungen vom Normalverlauf an ein medizinisch vertretbares, strukturiertes Vorgehen gehalten? Eingriff: Checklisten etc. • • • • • • • • • • • • • Patientin: Eintritt Spital am Tag X-6 Am Tag X-5 primäre Sectio Tag X : erster Hinweis auf Wundheilungsstörung X + 1: Wundspreizung X + 2: Entlassung der Patientin, Wunde nicht zu, klass. Infektzeichen X + 4: ambulante Kontrolle, Sekret entleert sich X +5-8: Rötung, Schwellung, Überwärmung, Wunde gespült X +9: Beginn blinde Antibiose mit Augmentin X +12: erneute stationäre Aufnahme X +15: operative Wundspreizung X +21: Stop Antibiose X +31: Spitalentlassung, Zustand unverändert, Einsatz VACVerband X + 40: erstmaliger Wundabstrich mit bakteriologischer Prüfung, Start Antibiose mit Targocid, keine Resistenzprüfung vorgenommen, kein Konsilium Eingriff: Checklisten etc. Einhalten eines klaren Schemas bei Auftreten einer Komplikation Zimmerli W, Trampuz A, Ochsner PE, Prosthetic-Joint Infections, N Engl J Med 2004;351:1645-1654 Was auch noch spannend ist… Aus einer finnische Studie: •Arbeiteten die Mitarbeiter im Durchschnitt mehr als 8 Stunden 45 Minuten, dann war das Risiko für die Patienten fast dreimal so hoch, eine Infektion zu erleiden, wie wenn die Mitarbeitenden durchschnittlich weniger als 8 Stunden 45 Minuten arbeiteten. •Ein unausgeglichenes Verhältnis zwischen den persönlichen „Kosten“ und dem „Gewinn“ durch die Arbeit, geringes Vertrauen zwischen den Mitarbeitern auf einer Station, die als ungerecht empfundene Verteilung der Arbeitsbelastung sowie die schlechte Zusammenarbeit zwischen den Leitungskräften einer Station waren jeweils mit einem etwa zweifach erhöhten Risiko für eine Infektion der Patienten verbunden. Virtanen M, Kurvinen T, Terho K et al.: Work hours, work stress, and collaboration among ward staff in relation to risk of hospital-associated infection among patients, Medical Care. 2009;47(3): 310-318 Das Bundesgericht zu Infektionen • Entscheid 1C_47/2011: Infektion nach OSME Tibiakopf: prophylaktische Behandlung mit Antibiotika vor der operativen Metallentfernung sei (trotz explizitem Wunsch des Patienten) medizinisch nicht indiziert gewesen, postoperative Infektion nicht kausal auf Unterlassung Antibiotika-Gabe zurückzuführen. Strafprozess, kein Erfolg Das Bundesgericht zu Infektionen • BGE 120 II 248 Dass bei Injektionen das Risiko einer Infektion besteht, ist allgemein bekannt. Besonders ernst zu nehmen ist die Infektionsgefahr intraartikulären Injektionen, weshalb in diesen Fällen die Regeln der Asepsis peinlich genau zu befolgen sind. Unter diesen Umständen erscheint der Schluss auf einen Fehler des Beklagten bei der Sterilisation als naheliegend. Haftungsprozess, Haftung bejaht Dokumentation: Aspekte • Medizinisch: gibt Auskunft über Sachverhalt dient der Therapiesicherung für zukünftige Behandlungen massgebend • Juristisch: dient der Beweissicherung ist Beweismittel (für Arzt und Patient) im Prozess, ist Grundlage für allfälliger Gutachter Dokumentation: Inhalt Inhalt aus Sicht Bundesgericht: Urteil 4C.378/1999: •Die KG darf keine Lücke aufweisen und muss so abgefasst sein, dass über die wirklichen Geschehnisse informiert wird und Irreführungen oder Missverständnisse vermieden werden. •Nicht zu protokollieren ist Selbstverständliches Dokumentation: Wer, was? • Ärzte: Operation bzw. Anästhesie inkl. spezielle Vorkommnisse und Zwischenfälle • Fachperson Operationstechnik ist für eine lückenlose Dokumentation ihrer/seiner Handlungen in Bezug auf die Patientin bzw. den Patienten verantwortlich. Sie/er stellt die Verfügbarkeit und Anwendung der betrieblichen Checklisten, Handlungsschemen und Standards sicher. Wählt entsprechend der operativen Eingriffe die geeignete Dokumentation und stellt deren Vollständigkeit sicher. Führt die Patientendokumentation gemäss betrieblichen Vorgaben sorgfältig und vollständig. Dokumentation: jur. Bedeutung • • Beweislast für einen Fehler liegt beim Patienten. Der Beweis der Aufklärung liegt beim Arzt Beide stützen sich auf dieselbe Dokumentation! Dokumentation: jur. Bedeutung • Hohe Beweiskraft als Beweismittel: • Vermutung 1: Was protokolliert wurde, stimmt und wurde auch so durchgeführt Vermutung 2: Was nicht protokolliert wurde, wurde auch nicht durchgeführt Bger Entscheid 4C.378/1999: Führt die mangelhafte oder gar fehlende Dokumentation zu Beweisschwierigkeiten für den Patient, werden ihm Beweiserleichterungen bis zur Umkehr der Beweislast gewährt Rechtsfolgen einer Infektion • Finanzielle Haftung • Strafrechtliche Verantwortlichkeit • Aufsichtsrechtliche Konsequenzen: Entzug Betriebsgenehmigung (Organisation), bzw. Entzug Berufsbewilligung (Person) • Personalrechtliche Konsequenzen: Interne Massnahmen wie Verweis, Kündigung Haftpflichtrechtliche Verantwortung • Folgende Punkte müssen kumulativ erfüllt sein, damit es zu einer Haftung kommt: Schaden Widerrechtlichkeit / Vertragsverletzung Kausalzusammenhang • Beweispflichtig dafür ist der Patient • Kausalität kaum beweisbar Strafrechtliche Verantwortung? • Der grösste Teil der Patienten will nur finanzielle Wiedergutmachung • Nicht einmal 5% der strittigen Fälle werden vor Gerichten behandelt • Strafprozesse nur ganz selten (1%), primär bei Todesfällen oder bei Blockaden des zivilrechtlichen Weges. Hauptgründe: Fehlende oder mangelhafte Akten -> Staat als Sachverhaltsermittler Verwehrung Akteneinsicht Fehlende Einsicht bei Spital/Arzt oder Versicherung Verjährungsproblematik Rechtliche Entwicklungen Beweislasterleichterungen zu Gunsten des Patienten •Dokumentationsmängel Bundesgerichtsurteil vom 23.11.04 (4C.378/1999) •Organisationsmängel ? Bundesgerichtsurteil vom 6.2.2006 (4P.244/2005): Der Spitalträger haftet für den Schaden (tödlicher Fenstersturz eines Patienten in einem postoperativen Durchgangssyndrom), weil es unterlassen wurde, eine Sitznachtwache zu stellen. Was ist mit Organisationsmängeln im OP? Rechtliche Entwicklungen • Was sind die Auswirkungen von offen gelegten Qualitätsdaten, z.B. Wundinfektmessungen durch SwissNOSO? • In D: Haftung für „schlechte Organisation“ durchaus realistisch. In der CH? Es bleibt spannend… Praxistipps • Korrekt Aufklären • Checklisten, Guidelines, Standards anwenden • Bei aufgetauchten Problemen: rasch und konsequent handeln, Unterstützung holen • Sauber Dokumentieren Besten Dank für die Aufmerksamkeit!