Die subjektive Sicht von Kindern und Jugendlichen mit

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Die subjektive Sicht von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte auf ihr
Lebensumfeld.
Expertise zum 9. Kinder- und Jugendbericht der Landesregierung Nordrhein-Westfalen
Die Expertise wurde im Auftrag des Ministeriums für Generationen, Familie, Frauen und
Integration (MGFFI) NRW erstellt von der:
Fachhochschule Köln, Institut für interkulturelle Bildung und Entwicklung (INTERKULT)
Prof. Dr. Markus Ottersbach
Dipl. Soz.päd. Solveigh Skaloud
Dipl. Soz.päd. Andreas Deimann
Mai 2009
Inhalt
Einleitung
4
1. Einige Vorbemerkung zur subjektiven Sichtweise und deren Relevanz
8
1.1
Verortung und zeitliche Einordnung der Subjektivität als Produkt der
Individualisierung
8
1.2
Die Ambivalenzen der Individualisierung
10
1.3
Das Zusammenspiel von Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung und
1.4
dessen Auswirkungen auf die Subjektivität
12
Die subjektive Sichtweise als Produkt und Reflexion des Lebensumfelds
15
2. Das Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte
2.1
Die zentralen Aspekte der systemischen Integration von Kindern und Jugendlichen
mit Zuwanderungsgeschichte
2.2
19
Die zentralen Aspekte der sozialen Integration von Kindern und Jugendlichen mit
Zuwanderungsgeschichte
2.3
18
30
Mögliche Ursachen für das prekäre Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen
mit Zuwanderungsgeschichte
39
3. Die subjektive Sichtweise von Kindern und Jugendlichen mit
Zuwanderungsgeschichte auf ihr Lebensumfeld in der Literatur
47
2
4. Empirische Studie zur Erkundung der subjektiven Sichtweise von Kindern und
Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte auf ihr Lebensumfeld
57
4.1
Fragestellung, Forschungsdesign und Sample der empirischen Untersuchung
57
4.2
Ergebnisse der Studie
62
4.2.1
Nachkommen der Arbeitsmigration
63
4.2.2
Spätaussiedler/innen
72
4.2.3
Asylmigration
82
4.2.4
Deutsche ohne Zuwanderungsgeschichte
90
5. Fazit
98
Anhang
102
Literatur
104
3
Einleitung
Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte sind schon längere Zeit Objekte
öffentlicher und speziell auch wissenschaftlicher Diskurse. Lange Zeit hat man sie in beiden
Bereichen jedoch eher als „Problemgruppen“ betrachtet, sei es, dass sie entweder als „kriminell“
oder als „fundamentalistisch orientiert“ gebrandmarkt wurden. Sie waren Teile des allgemeinen
Diskurses über Migrantinnen und Migranten, in dem immer wieder auf die angeblich hohe
Relevanz einer „Parallelgesellschaft“ hingewiesen wurde; mit der subjektiven Sichtweise dieser
Gruppen hat man sich jedoch nur selten ernsthaft auseinandergesetzt.
Seit den wichtigen rechtlichen Reformen, der Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes und
der Novellierung des Zuwanderungsgesetzes, dem öffentlichen Bekenntnis auch konservativer
Kreise, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, und der Bekanntwerdung realer
demographischer Zahlen durch den Mikrozensus im Jahr 2005 hat sich der Diskurs über
Migration und Integration schrittweise und entscheidend gewandelt. Diese Änderung der
Perspektive war enorm wichtig, um Integration zu ermöglichen und sie vor allem gerechter und
effektiver zu gestalten.
Die subjektive Sichtweise des Lebensumfelds von Kindern und Jugendlichen mit
Zuwanderungsgeschichte zu erkunden, ist im Rahmen der gesellschaftlichen Aufgabe der
Integration nochmals besonders bedeutsam, weil damit einerseits der Partizipationsaspekt dieser
Gruppen gestärkt und andererseits die Voraussetzungen für effektives politisches und
pädagogisches Handeln geschaffen werden. Die Expertise will deshalb auch versuchen, den
diesbezüglich bisher vernachlässigten Gruppen der Kinder und Jugendlichen mit
Zuwanderungsgeschichte durch die Präsentation ihrer subjektiven Sichtweise in der
Öffentlichkeit mehr Gehör zu verschaffen.
Ziel der Untersuchung ist es zunächst, die Entwicklung und die Relevanz der subjektiven
Sichtweise zu verdeutlichen (Kapitel 1). Die subjektive Sichtweise ist ein Produkt der Individualisierung, die in zwei Schritten erfolgte: Die erste Phase beginnt mit der Industrialisierung bzw.
der Aufklärung und die zweite Phase startet mit der Entwicklung der Wohlfahrtssysteme in den
westlichen Staaten seit der Nachkriegszeit.
Ein weiteres Ziel ist, das Lebensumfeld der Kinder und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte in Nordrhein-Westfalen darzustellen (Kapitel 2). Dafür wird einerseits die systemische
Integration und andererseits die soziale Integration von Kindern und Jugendlichen mit Zuwande4
rungsgeschichte in Nordrhein-Westfalen beschrieben1. Mit der systemischen Integration ist die
Eingliederung der Menschen in die gesellschaftlichen Funktionssysteme der Bildung, der Arbeit,
der Politik, der Gesundheit und des Wohnens gemeint. Hier steht ergo die gesellschaftliche Partizipation im Mittelpunkt der Betrachtung. Die soziale Integration bezieht sich u.a. auf die kulturellen Werte und Traditionen, die sozialen Bindungen und auf das Rollenverhalten. Sie impliziert
die Entwicklung der Persönlichkeit und der Identität jeder einzelnen Person in unserer Gesellschaft. Beachtet werden muss, dass systemische und soziale Integration nicht linear verlaufen
müssen. Nicht selten gibt es Fälle, in denen die systemische Integration als erfolgreich einzustufen ist, die soziale Integration aber als problematisch bezeichnet werden muss2. Umgekehrt bleibt
eine problematische systemische Integration bei gleichzeitig erfolgreicher sozialer Integration jedoch eher eine Ausnahme. Der Einfluss der systemischen Integration auf die soziale ist weitaus
höher als umgekehrt.
Nach der Klärung der Entwicklung und der Relevanz der subjektiven Sichtweise und der Darstellung der zentralen Aspekte des Lebensumfelds der Kinder und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte in Nordrhein-Westfalen geht es um die Darstellung der aktuellen Literatur zur
Thematik (Kapitel 3). Hier werden wir uns auf Studien konzentrieren, die die subjektive Sichtweise des Lebensumfelds der Kinder und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte mittels qualitativer Methoden versucht haben zu erkunden. Zum Schluss wird es in dieser Expertise um die
Präsentation einer eigenen Studie zur subjektiven Sichtweise des Lebensumfelds von Kindern
und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte gehen (Kapitel 4).
Konkrete Forschungsfragen dieser Studie sind demnach:
•
Welche sind die zentralen Kategorien oder Aspekte des Lebensumfelds von Kindern und
Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte?
•
Wie gehen diese Kinder und Jugendliche mit diesen Aspekten ihrer Lebenssituation um?
Welche Bewältigungsformen haben sie entwickelt? Wie erfolgreich sind sie damit?
1
Die Differenzierung zwischen Systemintegration und sozialer Integration geht auf Habermas (1988) zurück und ist
ein allgemein akzeptiertes Modell der gesellschaftlichen Integration in den Sozialwissenschaften.
2
Zu denken ist hier an Personen, die z.B. über einen hohen Bildungsgrad, einen gesicherten Arbeitsplatz und ein ho-
hes Einkommen verfügen, sich jedoch gleichzeitig an fundamentalistischen Werten und Traditionen orientieren und
ein klassisches Rollenverhalten pflegen. Solche Fälle finden sich im Übrigen in unterschiedlichen Milieus und unabhängig von der Staatsangehörigkeit.
5
•
In welchen Bereichen können Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte in
Nordrhein-Westfalen ihr Leben selbst gestalten bzw. wo sehen sich Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte eher fremdbestimmt, abhängig von Personen oder sozialen Bedingungen?
Auch und gerade Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte erleben in Deutschland
eine individualisierte Jugendphase. Wie alle Kinder und Jugendliche stehen sie zwischen Autonomie und Anpassung
•
im Familiensystem
•
im Erziehungs- und Bildungssystem
•
beim Übergang von der Schule in den Beruf und
•
in sozialen Netzwerken.
Allgemein von vielfältigen Faktoren geprägt (Status der Eltern, Bildung, Gesundheit, Wohnen,
politische Partizipation, Freizeit) kommen bei Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte Aspekte hinzu, die direkt mit der Migration zusammenhängen:
•
unterschiedliche Migrationsmotive und Integrationsverläufe
•
unterschiedliche Aufnahmebedingungen und soziale Erwartungen im Einwanderungsland.
Zweifellos gibt es „die“ Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte nicht als eine homogene soziale Gruppe. Dies hat einmal mehr die aktuelle SINUS-Studie zu Migrant(inn)enMilieus verdeutlicht. Innerhalb der Gruppe der Kinder und Jugendlichen, als deren gemeinsames
Merkmal die Zuwanderungsgeschichte gilt, ist eine große Heterogenität von Lebenslagen und
Lebensstilen zu finden. Um die Nuancen der Zuwanderung angemessen zu berücksichtigen, werden drei Formen der Zuwanderung unterschieden:
•
Arbeitswanderungen und Familiennachzug
•
Zuwanderung von Asylsuchenden
•
Spätaussiedler(innen) und Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS).
Angenommen wird, dass die subjektive Sicht von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte auf ihr Lebensumfeld durch die Form der Zuwanderung objektiv vorstrukturiert ist.
6
Diese Annahme wird mit sechs qualitativen Leitfadeninterviews überprüft, von denen jeweils
zwei einer der drei Zuwanderungsformen entsprechen. Pro Zuwanderungsform wurden ein Mädchen und ein Junge im Alter von 12-25 Jahren interviewt, um auch mögliche Geschlechterdifferenzen aufzunehmen. Um Kulturalisierungen vorzubeugen, wurden zudem noch zwei weitere Interviews mit Kindern und Jugendlichen ohne Zuwanderungsgeschichte durchgeführt.
7
1.
Einige Vorbemerkung zur subjektiven Sichtweise und deren Relevanz
1.1
Verortung und zeitliche Einordnung der Subjektivität als Produkt der Individualisierung
Die hohe Relevanz, die moderne Gesellschaften der subjektiven Perspektive der Menschen zuweisen, ist sowohl historisch bedingt als auch territorial beschränkt.
Mit anderen Worten: Weder im Mittelalter noch in Gesellschaften, in denen ein großer Teil
der Einwohner/innen von Armut betroffen ist, spielt die subjektive Sichtwiese eine wichtige Rolle. Ganz anders in den westlichen Gesellschaften, die in der Tradition der Aufklärung bzw. der
Individualisierung stehen: Säkularisierte und industrialisierte, demokratische Gesellschaften heben immer wieder den Wert des Individuums, des Einzelnen und seiner besonderen, subjektiven
Sichtweise hervor. Insofern kann man behaupten, die subjektive Perspektive ist ein Produkt örtlicher Beschränktheit und zeitlicher Entwicklung, d.h. der westlichen, reflexiv gewordenen Moderne (Beck), deren Kern die Individualisierung darstellt.
Dabei ist der örtliche kaum vom zeitlichen Bezug der Entwicklung der Subjektivität zu trennen: Insbesondere in den hoch industrialisierten Ländern des Westens, in denen die Religion ihren Anspruch absoluter Wahrheit eingebüßt hat, spielt die Individualität eine zentrale Rolle. Zwei
Stränge sind zentral: die Industrialisierung und die Aufklärung. Die Industrialisierung, die sich
zunächst in den westeuropäischen Ländern und später auch in der Neuen Welt ausbreitete, hat die
Vorbedingungen geschaffen, damit Wohlstand zum Leit- und Sinnbild ganzer Gesellschaften in
West- und Mitteleuropa und später in Nordamerika avancieren konnte. Dieser erste, durch die
Begründung einer neuen Produktionsweise eingeleitete Schritt der Individualisierung, geht bekanntermaßen einher mit der Arbeitsteilung bzw. der Trennung von Wohnen und Arbeiten, mit
dem Beginn der bürgerlichen Gesellschaft, der Zunahme ökonomischer und utilitaristischer Beziehungen, der Zerrüttung traditioneller sozialer (Ver-)bindungen, dem Zerfall der Lebensform
des „Ganzen Hauses“ und der dörflichen Gemeinschaften und der Zunahme der Bedeutung des
Individualismus als bürgerliches Ideal, wie es sich z.B. in Form der „Liebesheirat“ oder der
Selbstverwirklichung realisierte. Der zweite, durch die Expansion wohlfahrts- und sozialstaatlicher Modelle in der Nachkriegszeit geprägte Schritt der Individualisierung stellte eine Radikalisierung und Universalisierung des Prozesses der Individualisierung dar und ging einher mit dem
so genannten „Fahrstuhl-Effekt“ (Beck 1986), der für die breite Masse der Bevölkerung ein Mehr
an Einkommen, eine Reduzierung der Arbeitszeit und eine Verlängerung der Lebenszeit bedeute8
te. Die Zunahme des Wohlstands für alle zog einen weiteren Ausbau an Wahlmöglichkeiten nach
sich, nicht nur in Bezug auf Beruf und Arbeit, sondern vor allem bezüglich der Pluralisierung der
Lebensstile und Beziehungsformen. Allerdings implizierte die Zunahme an Wahlmöglichkeiten
für alle gleichzeitig den Zwang zur Wahl (Sartre). Kennzeichen der heutigen Gesellschaft ist
nach Beck (1996) die reflexiv gewordene Moderne, in der die Bedeutung des Individuums und
dessen Konkretisierung als Träger einer eigenen Identität nochmals deutlich zunimmt. Konnte
Identität im Zuge der Nationalstaatsentwicklung und dessen Festigung noch lange Zeit nationalstaatlich als eine kollektive konstruiert und geprägt werden, so entwickelt sie sich im Kontext der
Globalisierung und des Bedeutungsverlusts nationalstaatlicher Befugnisse einerseits und kultureller Traditionen andererseits immer mehr zu einer hochindividuellen, patchworkartigen Identität,
bei der die individuelle Biografie, die Selbstbestimmung und die Eigenverantwortung inzwischen
eine dominante Stellung einnehmen.
Neben der Industrialisierung ist der zweite Strang der Individualisierung die Aufklärung:
Während vor der Aufklärung die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens noch weitestgehend religiös geprägt, sprich gottgegeben war, eröffnete sich für die Menschen im Zuge der
Säkularisierung und noch deutlicher im Zuge des Dominanzverlusts der bürgerlichen Gesellschaft Mitte des 20. Jahrhunderts ein mannigfaltiges Angebot in Bezug auf das Verständnis bzw.
die Erklärung des Lebensursprungs, des Lebenssinns und auch in Bezug auf Werte und moralische Vorstellungen. Komplettiert wird der Bedeutungsverlust der „großen Erzählungen“ (Lyotard) durch den Niedergang des Kommunismus. Damit sind die großen Vorbilder ad acta gelegt,
der Mensch ist fortan dazu verurteilt, sich in seiner Freiheit zu Recht zu finden. Für alles wird er
nun als individueller Entscheidungsträger verantwortlich gemacht, sei es, wenn es um die Wahl
des Lebenspartners/der Lebenspartnerin, um die Bewältigung von Arbeitslosigkeit oder um die
Abtreibung eines behinderten Kindes geht: die Freiheit des Individuums schlägt um in eine
Nichthintergehbarkeit der Verantwortung für sein Handeln.
Auch in der Wissenschaft spiegelt sich inzwischen die Bedeutungszunahme der subjektiven
Sichtweise wider. So wird in der Sozialforschung die individuelle Perspektive immer wieder gerne abgefragt. In quantitativen Studien geht es neben den so genannten „harten“ Daten der ökonomischen, rechtlichen und sozialen Lebenssituation meist auch um die Lebenszufriedenheit der
Menschen. In qualitativen Studien wird per se auf die subjektive Sichtweise großen Wert gelegt.
Hier geht es ja geradezu vor allem um die Erkundung der eigenen, subjektiv gefärbten Perspektive der Befragten.
9
1.2
Die Ambivalenzen der Individualisierung
In der soziologischen Literatur der letzten Jahre fand wohl kaum ein Begriff so viel Aufmerksamkeit wie das Phänomen der Individualisierung. Fast zwangsweise neigt man dazu zu sagen,
dass dies der Grund für seine diffuse Interpretation ist3.
Im Folgenden beziehe ich mich bei der Darstellung des Phänomens der Individualisierung auf
die von Beck (1986, S. 205ff.) aufgenommene und weiterentwickelte These der Individualisierung moderner Gesellschaften. Die Individualisierung bedeutet zunächst nichts anderes als Steigerung von Individualität durch Enttraditionalisierung. Die bis dahin gültigen Kontrollnetze mit
einer klaren und geschlossenen Weltanschauung und funktionierenden Autoritätsverhältnissen
werden zugunsten eines Zuwachses an neuen Optionen, Freiheiten, Wahlmöglichkeiten und
Chancen einer individuellen Lebensgestaltung abgelöst. Zwar gab es bereits in der Renaissance,
in der höfischen Kultur des Mittelalters und im Protestantismus individualisierte Lebensstile. Allerdings nimmt die Individualisierung jetzt eine neue Gestalt und vor allem ein neues Ausmaß an.
Die Lockerung familiärer Bindungen, die Anhebung des Bildungsniveaus und des verfügbaren
Einkommens, eine veränderte Lage der Frauen, die Verrechtlichung von Arbeitsbeziehungen, ein
verändertes Freizeitverhalten, neue Technologien, der Ausbau des Sozialstaats4, veränderte
Wohnverhältnisse, die zunehmende Mobilität und der Bedeutungsverlust der Religiosität sind die
Konturen dieser Veränderungen. Damit verbunden ist eine Aufwertung des Individuums, eine
Subjektzentrierung. Der Enttraditionalisierungsprozess impliziert gleichzeitig eine qualitative
Änderung zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Produktion neuer Beziehungen, Traditio3
Eine aktuelle und immer mehr Beachtung findende eindimensionale Interpretation der Individualisierung findet
sich z. B. in den Schriften Heitmeyers (z.B. 1994, S. 29ff.; 1996, S. 33ff.). In Rekurs auf Beck hebt Heitmeyer lediglich die „Schattenseiten“ der Individualisierung hervor, „halbiert“ und entwertet also das – konstruktivistisch gesehen – „Konzept“ von Individualisierung. Beck (1993, S. 153f.) selbst hat gegen eine Reduzierung der Individualisierung opponiert. Vgl. zu den Implikationen dieses Ansatzes und der Kritik daran Ottersbach/Yildiz 1997.
4
Diese Entwicklung gilt für die Zeit bis zur „Wende“ 1983. Danach ist der Sozialstaat sukzessiv zurückgefahren
worden mit der Konsequenz, dass für ein Drittel der Gesellschaft einzelne Faktoren der Individualisierung wieder
eingeschränkt worden sind. Die „Wahl“ ist durch die systematische Benachteiligung der unteren Einkommensschichten (vor allem der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger(innen) zur Farce geworden. Interessant ist jedoch, dass
diese Entwicklung wiederum neue Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements fördert und bewirkt, wie man es
z.B. in der neuen Arbeitslosenbewegung, die zudem auf europäischer Ebene agiert, sehen kann.
10
nen und Verhaltensmuster beruht nämlich auf Selbstverantwortung und Selbststeuerung bzw. auf
Selbst-Organisation und Selbst-Politik, wie Beck (1997b, S. 184ff.) betont5.
Eingebettet sind diese Veränderungen in eine immer stärker voranschreitende Ausdifferenzierung und Spezialisierung gesellschaftlicher Subsysteme (Luhmann)6, die Zunahme bürokratischer
Verfahren und eine Rationalisierung der zur Verfügung stehenden Zeit. Die individuell ausgestaltete Terminierung des Alltags führt langfristig gesehen zu individuell konstruierten Biographien,
zu so genannten „Bastelmentalitäten“ (vgl. Gross 1985).
Die Individualisierung ist jedoch in zweifacher Hinsicht ein ambivalenter Prozess:
Erstens impliziert er sowohl einen Auf- als auch einen Ablösungsaspekt. Der Auflösungsaspekt
bezieht sich vor allem auf Traditionsbestände, die in modernen Industriegesellschaften einen elementaren Wandel erfahren haben. Unmittelbar damit verbunden ist jedoch ein produktiver Ablösungsaspekt, d.h. es entstehen neue Traditionen, die von nun an Gültigkeit beanspruchen7. Die
Ablösung alter durch neue Formen gesellschaftlicher Integration ist also nur vordergründig ausschließlich eine Bedrohung (vgl. Beck 1997a, S. 32). Im Grunde genommen ist sie auch eine
Chance, denn die neue Vergesellschaftungsform berücksichtigt einen höheren Grad an Individualität, Selbstverantwortung und an Freiwilligkeit, zumindest was den sozialen und kulturellen Bereich anbelangt.
Zweitens ist die Individualisierung eine neue Standardisierung. Die freiwillige Wahl sozialer
Beziehungen und Traditionen hat nämlich einen Pferdefuß, sie basiert auf neuen Standardisierungen wie dem Zwang zur Wahl, zur individuellen Rechtfertigung und zur persönlichen Übernahme
der mit dieser Wahl verbundenen Risiken8. Alle möglichen Krisen des Lebens sind von nun an
5
Im Grunde genommen geht diese Form der Politik bereits auf die Vorstellungen Foucaults von der „Kultur seiner
selber“ (1986, S. 55ff., S. 60) zurück, der sie wiederum bei der griechischen Kultur und bei Nietzsche „angeliehen“
hat.
6
Leisering (1997, S. 144; kursiv i.Orig.) spricht in Bezug auf die Individualisierung treffend von einem „Korrelat
fortgeschrittener funktionaler Differenzierung der Gesellschaft“.
7
Der Modernisierungsprozess führt nach Beck zu einer dreifachen Individualisierung. Zunächst werden die Men-
schen aus historisch vorgegebenen Sozialformen herausgelöst, im Anschluss daran folgt der Verlust traditionaler Sicherheiten. An diesem Punkt endet der Prozess jedoch nicht, sondern er mündet in neue Formen der sozialen Einbindung, in denen neue Traditionen begründet werden. Dieser letzte Abschnitt wird geflissentlich übersehen. Paradigmen wie die allseits beklagte Orientierungslosigkeit sind die Folge solcher Reduktionen.
8
Die Individualisierung der Beziehungsformen wird mittels so genannter „sekundärer Institutionen“ wie der Medien-
, Arbeits- oder Konsumentenmarkt, der Wohlfahrtsstaat und das Rechtssystem konstituiert. Sie steuern das individu-
11
mit einer individuellen Verantwortung behaftet, d.h. Arbeitsplatzverlust, Scheidungen, Verschuldung, Erziehungsprobleme oder gar Obdachlosigkeit; alle diese »Schicksalsschläge« sind einem
individuellen Versagen geschuldet. Deutlich wird hier die Ambivalenz dieses Prozesses: Den
vielfältigen, aber dennoch standardisierten Optionen und Entscheidungsmöglichkeiten wohnen
zahlreiche Risiken inne, die Verlässlichkeit reduzieren9.
1.3
Das Zusammenspiel von Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung und
dessen Auswirkungen auf die Subjektivität
Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung stehen in einem reziproken Verhältnis zueinander, d.h. sie lenken nicht nur das Verhalten der Individuen, sondern sie beeinflussen sich
gegenseitig. Diese Beeinflussung geschieht sowohl in Form der Förderung als auch der Hemmung der jeweiligen gesellschaftlichen Herausforderungen. Die gegenseitige Beeinflussung oder
das Ineinander-Wirken möchte ich im Folgenden exemplarisch an den Entwicklungen gesellschaftlicher Risiken und Chancen in Deutschland seit den 80er Jahren darstellen. Für die 80er
und 90er Jahre sind gleichzeitig ein Rückgang der Individualisierungschancen und eine Zunahme
der Individualisierungsrisiken für ein Drittel der Gesellschaft zu beobachten. Eine neo-liberale
Wirtschaftspolitik, zunehmende Arbeitslosigkeit, Einsparungen bei der Versorgung von Arbeitslosen und zahlreiche politische Entscheidungen zuungunsten der unteren Schichten haben in
Deutschland dazu geführt, dass sich einerseits die Schere zwischen Reichtum und Armut weiter
geöffnet hat und andererseits die aus diesen Einbrüchen resultierenden Lasten immer stärker individualisiert werden. Damit hat der durch die scheinbar unvermeintliche Globalisierung begründete Abbau des Sozialstaats – so könnte man formulieren – zum einen die positiven Auswirkungen der Individualisierung („Fahrstuhleffekt“ etc.) für einen großen Teil der Bevölkerung eingeelle Handeln der Menschen indirekt, d.h. sie stellen einerseits eine breite Palette an Wahlmöglichkeiten zur Verfügung, andererseits erzwingen sie aber auch diese Wahl.
9
Die Diskussion um die Konsequenzen der Individualisierung, deren Ausmaß von der prinzipiellen Skepsis (vgl. die
Kommunitaristen Etzioni, MacIntyre etc., die von der Orientierungslosigkeit als Grund allen Übels sprechen) bis zur
prinzipiellen Verherrlichung (z.B. Clermont/Goebel, die dafür plädieren, die Komplexität zu umarmen bzw. die Ungewissheit lieben zu lernen) reicht, soll hier nicht geführt werden. Vermutlich ist der Anknüpfungspunkt der Orientierungslosigkeit falsch gewählt, da es sich dabei eher um eine Ablenkung von den realen Problemen (neue soziale
und ökonomische Disparitäten, Verweigerung politischer Partizipation von Minderheiten) handelt.
12
schränkt. Zum anderen hat die Individualisierung das aus zunehmender Arbeitslosigkeit und dem
Abbau des Sozialstaats entstandene Elend verschärft, indem die Betroffenen mit ihrer Situation
alleine gelassen werden10. Die damit verbundene Vereinzelung bewirkt zweifellos Apathie, die
einer Mobilisierung hinderlich ist. Sind die sozialen Sicherheitsrechte gefährdet, kann Individualisierung in Atomisierung (vgl. Beck 1997c, S. 393) umschlagen. Die Folge ist, dass Menschen
derart abstürzen, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ihr eigenes Leben zu bewältigen11. Umgekehrt hat die Individualisierung Auswirkungen auf die Globalisierung. Globalisierung geht ja vor
allem von den industrialisierten und hoch individualisierten Ländern aus. Dies bedeutet, dass insbesondere die kulturellen und politischen Errungenschaften der Demokratien exportiert werden.
Zahlreiche zivilgesellschaftliche Vereinigungen tragen dazu bei, dass im Rahmen von so genannten Entwicklungshilfeprojekten die zivilgesellschaftlichen Strukturen des Wohlfahrts- und
Rechtsstaats in anderen Ländern hergestellt, gefördert oder gestärkt werden. Ähnlich ist es mit
dem Verhältnis von Pluralisierung und Globalisierung. Auch die kulturelle Vielfalt wird globalisiert, d. h. die tradierten Muster des Zusammenlebens, der Lebensführung und des Lebensstils
werden auf dem ganzen Erdball in Frage gestellt und neu geordnet. Ob Waren, Lebensmittel,
Wohnen, Kleidung, Freizeit, Dienstleistungen oder gesellschaftliche Risiken, in den von der Globalisierung am stärksten betroffenen Ländern lassen sich immer öfter die gleichen Konsumgewohnheiten und Lebensstile, ähnliche Risiken und Probleme finden und die Vielfalt ist längst zur
globalen Einheit geworden.
Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung bestimmen maßgeblich die Ausgestaltung der Subjektivität in der reflexiven Moderne. Alle diese Faktoren haben ambivalente Effekte
auf die heutige Subjektivität. So sind im Rahmen der Individualisierung auf der einen Seite zahlreiche Traditionen, Riten und Gebräuche „abhanden“ kommen. Zu einer ernst zu nehmenden Gefahr für die Individuen kann diese Enttraditionalisierung durch den Abbau sozialer Sicherheits10
Tatsächlich hat die Globalisierung aber allenfalls dazu beigetragen, dass in Deutschland aufgrund von Firmenzu-
sammenschlüssen und Produktionsverlagerung die so genannten einfachen Arbeitsplätze abgebaut wurden. Insofern
hat sie tatsächlich die Arbeitslosigkeit gefördert und Armut anwachsen lassen. Die staatliche Versorgung der ehedem
schon an den Rand gedrückten Benachteiligten wegen des aus der Globalisierung resultierenden Konkurrenzdrucks
zu reduzieren, ist allerdings eher der Spitzfindigkeit deutscher Arbeitgeberverbände und konservativer Politiker/innen geschuldet.
11
Beck (1997c, S. 393f.) spricht in diesem Zusammenhang von „Grauzonen der Überlagerung von Individualisie-
rung und Atomisierung“. Allerdings schätzt er die Situation in Deutschland noch nicht so ein, dass bereits viele Menschen von einem solchen Absturz bedroht sind.
13
rechte führen. Ab einem gewissen Punkt droht Individualisierung dann tatsächlich in Atomisierung umzuschlagen. Auf der anderen Seite tragen diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
jedoch auch dazu bei, den verloren gegangenen Zusammenhalt aus tradierten Beziehungen zu erneuern. So sind in den letzten Jahren zahlreiche neue Formen des selbst gewählten Zusammenhalts entstanden, vor allem im zivilgesellschaftlichen Bereich (vgl. Ottersbach 2003, S. 158ff.).
Ähnlich ist es mit den Auswirkungen der Pluralisierung: Zum einen fördert die neue Vielfalt
der Themen eine Zersplitterung der Individualität, zum anderen werden mit der Pluralisierung sozialer Beziehungen und Lebensstile neue Entfaltungsmöglichkeiten geschaffen, die neue Anschlussmöglichkeiten für vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten schaffen. Allerdings sind diese
frei gewählten Beziehungsformen und Lebensstile wiederum einer neuen Standardisierung unterworfen, die das Neue schnell reglementiert und zur Routine erstarren lässt. Im Rahmen dieser
Ambivalenz ist auch die Pluralisierung der Öffentlichkeit zu sehen. Die Mannigfaltigkeit der Medienformen und -inhalte bewirkt sowohl eine Steigerung der Möglichkeiten als auch zusätzliche
Risiken. Die Differenzierung zwischen interessanten und wertlosen Informationen fällt immer
schwerer; Routine, Apathie und Vergleichgültigung werden zu einem wesentlichen Schutzmechanismus gegen das Übermaß an Informationen.
Auch die Globalisierung bewirkt Ambivalenzen in Bezug auf die Entwicklung der Individualität. Allerdings verteilen sich Chancen und Risiken hier auf die verschiedenen Sparten der Globalisierung. Während die ökonomische Globalisierung eher zu einer Ausbreitung und Intensivierung sozialer Ungleichheit beiträgt, Atomisierung bewirkt und zivilgesellschaftliche Strukturen
ernsthaft in Gefahr bringt, leistet die kulturelle Globalisierung eher einen positiven Beitrag für
die vielfältige Gestaltung der Subjektivität.
Wichtig ist es jedoch, schon jetzt hervorzuheben, dass das Zusammenspiel von Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung nur einen Möglichkeitsraum (vgl. Scherr 2005, S. 17)
darstellt, im Rahmen dessen sich Subjektivität entfaltet. Zudem ist dieser Möglichkeitsraum –
wie angedeutet – selbst ambivalent und vielfältig, also keineswegs homogen und eindimensional.
Seine Einwirkung ist auch beschränkt, denn Subjektivität entwickelt sich stets im Kontext konkreter Interaktionen und Kommunikationen in zahlreichen sozialen und nur mehr oder weniger
stark institutionalisierten Kontexten. Mit anderen Worten: Peer groups, die Familie, auch die Arbeitsbeziehungen der Menschen beinhalten immer auch ein Repertoire an subjektiven Einwir-
14
kungen, aus deren buntem, widersprüchlichem und mannigfaltigem Zusammenspiel erst die Subjektivität des Anderen entsteht12.
1.4
Die subjektive Sichtweise als Produkt und Reflexion des Lebensumfelds
Die subjektive Sichtweise ist einerseits Produkt oder Resultat und andererseits Reaktion auf die
systemische und soziale Integration. Sie ist das Bindeglied zwischen gesellschaftlicher Prägung
oder Sozialisation und der Reflexion derselben.
Aspekte der systemischen Integration wie z.B. das Recht, das Geld, die Arbeit und das Wissen, und Aspekte der sozialen Integration wie z.B. Werte, Normen, Sitten und Gebräuche und der
Rollen, ermöglichen und helfen uns, unseren Alltag so zu gestalten, wie wir ihn gestalten. Die
subjektive Sichtweise ist der kurze Moment, in dem wir uns etwas bewusst werden, was vorher
unbewusst, sozusagen automatisch und ohne weitere Reflexion verlief. Dies verweist darauf, dass
nach wie vor Werte, Traditionen, Sitten und Gebräuche eine große Rolle bei der Bewältigung unseres Alltags spielen. Ohne diese kulturellen Überlieferungen wären wir gezwungen, jede Handlung zu hinterfragen und zu reflektieren, so dass wir möglicherweise gar nicht mehr dazu kämen,
in dem gewohnten Umfang und auf die uns lieb gewordene Art und Weise zu handeln. Die subjektive Sichtweise ist insofern zunächst ein Störmoment des Alltags, etwas, das in der Lage ist,
unseren Alltagsablauf aus den Fugen oder in eine Krise geraten zu lassen. Allerdings stellt sie
auch ein Instrument dar, den Weg aus der Krise zu finden. Als Element der Reflexivität verhilft
die subjektive Sichtweise uns dazu, einen Moment innezuhalten, um sich den Alltag mit samt
seinen ritualisierten Handlungen zunächst anzueignen und ihn dann zu überdenken, gegebenenfalls unserem Handeln eine veränderte Richtung zu geben oder auch die alte Richtung zu stabilisieren. Die subjektive Sichtweise kann man insofern gleichzeitig als Instrument der Krisenauslösung und der Krisenbewältigung bezeichnen.
Spannende Fragen sind nun, in welchen Momenten die subjektive Sichtweise überhaupt zur
Geltung kommt? Und: Bei wem kommt sie zur Geltung? Taucht sie generell bei allen auf oder
sind einige Menschen sozusagen dafür prädestiniert, sie zu aktivieren?
12
Ließe man diesen Spielraum nicht zu, könnte man nur schwerlich sozialen Wandel erklären. Gäbe es ihn nicht, wä-
ren wir tatsächlich mit der „Wiederkehr des Immergleichen“ (Nietzsche) konfrontiert.
15
In Bezug auf die erste Frage ist sicherlich festzustellen, dass die subjektive Sichtweise vor allem dann aktiviert wird, wenn wir mit Einflüssen seitens der Umwelt konfrontiert sind, die uns
zunächst fremd sind. Das Fremde ist – vorausgesetzt, wir lassen es an uns heran – immer ein Garant für Konfusion und Verwirrung. Es lockt uns heraus, es drängt oder zwingt uns geradezu zu
einer Auseinandersetzung und Überprüfung unserer eigenen Identität bzw. unserer eigenen mehr
oder weniger vorurteilsvollen Perspektiven. Eine solche Konfrontation mit einer fremden Umwelt
kann auch die Situation eines Interviews sein, in dem wir dazu aufgefordert werden, über unseren
Alltag im Allgemeinen oder über bestimmte Probleme oder Situationen in unserem Alltag zu berichten. Wir werden dann dazu gedrängt, Handlungen, die bisher mehr oder weniger automatisch
abliefen, einer Person zu präsentieren und ihr gegenüber diese Handlungen zu legitimieren. Ein
solcher Prozess kann in der Tat auch zu Krisen führen, vor allem dann, wenn wir uns bewusst
werden, dass wir Handlungen nur unzureichend präsentieren oder legitimieren können. Dazu
muss der Interviewer bzw. die Interviewerin nicht mal kritisch sein (passierte ihm/ihr dies, wäre
er/sie sogar ein schlechte/r Interviewer/in); es reicht schon, wenn wir selbst ins Stocken geraten
oder unsicher werden. Ein solches Interview ist insofern immer auch eine Grenzsituation bzw. erfahrung, die es uns ermöglicht, uns über uns selbst bewusst zu werden bzw. unser Handeln zu
reflektieren.
Bezüglich der zweiten Frage ist sicherlich anzumerken, dass die subjektive Sichtweise prinzipiell bei allen „schlummern“ kann. Nach wie vor handeln viele Menschen sehr ritualisiert, d.h.
sie hinterfragen ihr Handeln nur sehr bedingt. Der Konfrontation mit dem Fremden kann man ja
auch aus dem Weg gehen, wenn man es unbedingt will. Man muss sich auch nicht unbedingt der
Situation eines qualitativen Interviews stellen. Im Rahmen der qualitativen Sozialforschung erlebt
man es – je nach Brisanz des Themas – immer wieder, dass Menschen nicht bereit sind, ein Interview zu geben. Dies gilt es selbstverständlich zu akzeptieren. Schwierig oder sogar unzulässig ist
es zweifellos, die Bereitschaft zur Reflexion an bestimmten individuellen Charaktermerkmalen
fest zu machen. Allerdings gibt es starke Indizien dafür, dass sowohl Bildung als auch ein bereits
geübter Umgang mit dem Fremden die Bereitschaft zur Reflexion fördern.
Die subjektive Sichtweise spielt aber noch in einem anderen Zusammenhang eine wesentliche
Rolle: Sie ist Motor und Auslöser des sozialen Wandels. Gäbe es nur Menschen, die ihren Alltag
streng nach überlieferten Wissensbeständen oder kulturellen Überlieferungen und Traditionen
gestalten würden, sozusagen die Einflüsse der systemischen und der sozialen Integration deckungsgleich in ihrem Alltag realisieren würden, könnte es nicht zum gesellschaftlichen Wandel
16
kommen. In diesem Zusammenhang spielen die sozialen Bewegungen eine zentrale Rolle. Ohne
das zivilgesellschaftliche Engagement der Menschen, das als kulturorientierte Bewegung an der
sozialen Integration und als politisch orientiertes Engagement an der systemischen Integration
ansetzt, gäbe es keine gesellschaftlichen Veränderungen. Mit anderen Worten. Solange es die
subjektive Sichtweise als Moment der Reflexion gibt, kann man sicher sein, dass gesellschaftliche Veränderungen bewirkt werden bzw. sozialer Wandel stattfindet. Allerdings ist nicht garantiert, dass der Wandel stets als menschlicher Fortschritt, als Zivilisationsprozess, erfolgt.
17
2.
Das Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte
Der Stellenwert der subjektiven Perspektive steht und fällt mit den eingangs erwähnten Aspekten
der systemischen und der sozialen Integration. Denn nur die Kenntnis des Lebensumfelds der
Kinder und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte macht auch deren subjektiven Umgang
mit demselben vergleichbar und deshalb spannend. Vor dem Hintergrund einer politischen Steuerung oder eines pädagogischen Einwirkens auf dieses Lebensumfeld sind beide Schritte, d.h. die
Erkundung der gesellschaftlichen Integration und der subjektive Umgang damit unerlässlich. Berücksichtigte man nur das Lebensumfeld und ließe man die subjektive Sichtweise außer Acht, liefe man Gefahr, an den Interessen und Bedürfnissen der Menschen vorbei zu agieren. Konzentrierte man sich umgekehrt nur auf die subjektiven Motive und bezöge man die Lebenssituation der
Kinder und Jugendlichen in politische und pädagogische Konzepte nicht mit ein, bestünde eventuell die Gefahr, sich in rein fiktiven Welten zu bewegen. Erst die Betrachtungen beider Seiten
ermöglicht effektives politisches oder pädagogisches Handeln. Zudem wird dadurch der Partizipationsgedanke gestärkt, was wiederum positive Effekte auf die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte hat.
Um das Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte z.B. in Schule, Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt zu beschreiben, wird meist auf quantitative Daten zurückgegriffen. Gültigkeit und Relevanz der „harten“ Zahlen mussten lange Zeit eingeschränkt
werden. Im Gegensatz zu Politik und Verwaltung kannte die Statistik die Kategorie der Zuwanderinnen und Zuwanderer oder Menschen mit Zuwanderungsgeschichte nicht, sondern differenzierte entlang der Staatsangehörigkeit in Deutsche und Ausländer. Diese Unterscheidung sagte
schon damals wenig über den Sachverhalt der Migration aus, da sich in beiden Gruppen sowohl
Menschen mit als auch ohne Zuwanderungsgeschichte befanden, ohne dass dies ablesbar gewesen wäre. Die Folge war, dass Indikatoren wie Arbeitslosigkeit, berufliche Stellung, Einkommen
etc. vermutlich günstiger ausgefallen wären, wenn sie nicht nur Daten für Ausländer/innen, sondern auch für Eingebürgerte berücksichtigt hätten. Denn es sind in der Regel die sozioökonomisch besser gestellten Zuwanderinnen und Zuwanderer, die einen deutschen Pass erwerben (vgl.
hierzu Salentin/Wilkening 2003), so dass tatsächliche Integrationserfolge von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte nicht dazu führten, dass sich der statistische Abstand zwischen Ausländer(inne)n und Deutschen verringerte. Im Gegenteil, er vergrößerte sich, da die erfolgreichen
18
(eingebürgerten) Zuwanderinnen und Zuwanderer als Deutsche erfasst wurden. Reale Integrationserfolge wurden auf diese Weise statistisch „vernichtet“. Und auf ein weiteres Problem muss
hingewiesen werden: Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler waren im Zuge dieser Erfassung
der „blinde Fleck“ der amtlichen Daten. Wie sich ihre Integration vollzog, ob sie sich verbesserte,
wie hoch ihre Arbeitslosenquote war, wie das Einkommen ausfiel etc. war weitgehend unbekannt, da sie statistisch als Deutsche betrachtet wurden.
Insbesondere nach der Novellierung des neuen Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 und
der Liberalisierung der Einbürgerungspraxis wurde die Schwäche der bisherigen Statistik für alle
offensichtlich (vgl. Santel 2008, S. 2f.). Seit 2005 erfasst das Bundesamt für Statistik mit dem
Mikrozensus deshalb Personen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte13. Zur Gruppe der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte zählen jetzt neben Ausländer(inne)n auch Einwanderinnen
und Einwanderer, die sich haben einbürgern lassen oder im Ausland geboren sind und sofort die
deutsche Staatsangehörigkeit erwerben können, und Menschen, die im Inland geboren wurden
und Eltern mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit haben. Dadurch wird sowohl eine Bestandsaufnahme als auch ein kontinuierliches Monitoring von Migration und Integration deutlich
verbessert.
2.1
Die zentralen Aspekte der systemischen Integration von Kindern und Jugendlichen mit
Zuwanderungsgeschichte
Betrachtet man das Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen, springen sofort Bildung, Ausbildung und ggf. auch die Arbeit als zentrale Aspekte ins Auge. Auch der rechtliche Status, die
gesundheitliche und die Wohnsituation spielen wichtige Rollen bei der Positionierung der Kinder
und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte.
Bildung und Ausbildung gelten aus soziologischer Sicht nicht nur als wesentliche Bestandteile der Lebenslage, sondern auch als die wichtigsten Ressourcen der Veränderung derselben. Dies
gilt insbesondere für Jugendliche und Heranwachsende, da die Bildungs- bzw. Ausbildungsphase
gemeinhin als Vorbereitung und Übergang zum Erwachsensein gewertet wird. Ob diese Phase zu
einem Moratorium wird oder als Transition (vgl. Reinders 2003) bezeichnet werden kann, hängt
13
Das Landesamt für Statistik NRW hat sich dem angeschlossen. Allerdings gibt es nach wie vor keine (bundes-)
einheitliche Definition des Zuwanderungsgeschichtes bzw. der Zuwanderungsgeschichte.
19
maßgeblich davon ab, wie erfolgreich sie absolviert wird bzw. inwiefern die Integration in den
Arbeitsmarkt gelingt. Die im Bildungssystem erworbenen bzw. nicht erworbenen Qualifikationen
sind somit eine entscheidende Voraussetzung für die Positionierung am Arbeitsmarkt. Vor dem
Hintergrund der Bildungsexpansion sind die erworbenen Qualifikationen allerdings nur eine Voraussetzung und kein Garant für eine erfolgreiche Positionierung.
Spätestens seit den PISA-Ergebnissen ist allgemein bekannt, dass zahlreiche Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte das deutsche Bildungssystem nur mit geringem Erfolg
absolvieren. Belegt ist auch, dass meist nicht sie für diese Misere verantwortlich zu machen sind,
sondern vor allem das System selbst. Nachgewiesen ist, dass insbesondere die frühe Selektion bereits nach vier Jahren Grundschule einer angemessenen Förderung dieser Kinder und Jugendlichen nicht gerecht werden kann. Auch die vielmals glorifizierte soziale Mobilität des dreigliedrigen Schulsystems entspricht einem Mythos. Zudem erfolgt die Durchlässigkeit nach wie vor eher
als Ab- denn als Aufstieg.
Betrachtet man die Chancen der Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte auf dem Ausbildungsmarkt, so erkennt man auch hier, dass ihre Chancen im Vergleich zur Gruppe der Jugendlichen ohne Zuwanderungsgeschichte wesentlich schlechter sind.
Insofern kann man zu Recht behaupten, dass Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarktzugang
für Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte häufig institutionalisierte Sackgassen
darstellen (Ottersbach i.E.).
Schulische Bildung ist sowohl eine zentrale ökonomische als auch eine wichtige soziale Ressource. Durch erworbene Bildungsgüter wird maßgeblich über die Positionierung am Arbeitsmarkt
entschieden und mit dem Bildungserwerb erhöhen sich auch das Prestige und die Lebensperspektiven. Bildung beeinflusst nicht nur die Positionierung im Schichtengefüge, sondern die gesamte
Lebenslage (Entfaltung der Persönlichkeit, Entwicklung der Identität, Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben etc.).
Zu sozialer Mobilität tragen Auf- und Abstiegsprozesse bei, die maßgeblich durch schulische
Bildung und durch schulisch vermittelte Qualifikationen beeinflusst werden. Entscheidend sind
dabei zwei Übergänge: von der Grund- in die weiterführende Schule und von der Schule in die
Ausbildung. Über die weitergehende Anschlussfähigkeit der Bildungsabschüsse entscheidet
schließlich die wirtschaftliche Konjunktur bzw. der Arbeitsmarkt.
Um die Situation der Schüler/innen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte in Nordrhein20
Westfalen zu analysieren, ist ein Blick auf die Bildungsexpansion erforderlich. Der zeitliche
Ausgangspunkt der Bildungsexpansion wird häufig auf den so genannten Sputnik-Schock im Jahre 1957 datiert. Die Angst des Westens gegenüber der damaligen Sowjetunion, ihr gegenüber im
Wettlauf um geopolitische Erfolge ins Hintertreffen zu gelangen, führte dazu, dass die Investition
in Bildung expandierte. Sowohl das Schul- als auch das Hochschulsystem wurden ausgebaut, es
drängten mehr Schüler/innen an höher qualifizierende Schulen und mehr Schüler/innen erlangten
auch tatsächlich höher qualifizierte Schulabschlüsse und auch die Zahl der Studierenden schnellte
in die Höhe. Die zunächst durchaus positiv zu bewertende Entwicklung zeitigte jedoch auch paradoxe Effekte (vgl. Geißler 2006, S. 286).
Erstens in Bezug auf die Platzierungsfunktion: Die Tatsache, dass immer mehr Schüler/innen
mittlere und höhere Schulabschlüsse erreichten, führte zu einer Bildungsinflation und somit zu
einer Entwertung der Bildungsabschlüsse. Diese hat wiederum begünstigt, dass die ehemals hinreichenden Bedingungen des Bildungserwerbs bzw. des Erwerbs aussichtsreicher Positionen
durch notwendige Bedingungen ersetzt wurden, die zudem nur den Minimalstandard repräsentieren und noch lange keinen sozialen Aufstieg sichern. D.h.: Ein hohes Bildungsniveau ist seitdem
nur noch eine Voraussetzung, aber keine Garantie mehr für einen qualifizierten und sicheren Arbeitsplatz, und um diesen zu erhalten, wird immer öfter der Nachweis von Zusatzleistungen erforderlich.
Zweitens in Bezug auf die Selektionsfunktion: Die Bildungsexpansion hat die Ausbildungsund Arbeitsmarktchancen für viele verbessert, jedoch die schichtspezifischen Ungleichheiten
nicht beseitigt, sonder eher noch verschärft. D.h.: Trotz oder wegen der Steigerung des Bildungsniveaus haben die Chancen für Angehörige der unteren sozialen Schichten auf akzeptable Jobs
abgenommen.
Letztendlich hat die Bildungsexpansion vielen Angehörigen der Mittelschicht und auch vielen
Frauen zum sozialen Aufstieg verholfen. Allerdings ist auch eine große Gruppe so genannter Bildungsverlierer/innen anzuführen: die Angehörigen der unteren sozialen Schichten, in denen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte überproportional stark vertreten sind. Erste Studien wie die
in den 90er Jahren publizierte IGLU-Studie oder die im Jahr 2000 veröffentlichte PISA-Studie
haben nachgewiesen, dass in Deutschland die Korrelation von sozialer Herkunft und Bildungserwerb am stärksten von allen, an der Studie beteiligten Länder ist, und dass das Ziel der Herstellung von Chancengleichheit durch die Schule sich einmal mehr als Illusion entpuppt hat.
Zu Recht kann deshalb behauptet werden, dass die Schule in Deutschland ihrem staatlichen
21
Auftrag inzwischen nicht mehr gerecht wird und das bestehende Schichtengefüge eher zementiert. Betrachtet man sich die Schulabschlüsse ausländischer Kinder und Jugendlicher bundesweit
zwischen 1983 und 2003 (vgl. Geißler 2006, S. 244, Tabelle 11.5), wird deutlich, dass es in den
ersten zehn Jahren zu einer deutlichen Verbesserung der Schulabschlüsse von Bildungsinländer(inne)n gegenüber den deutschen Schüler(inne)n gekommen ist. In den darauf folgenden zehn
Jahren konnte diese sukzessive Verbesserung jedoch nicht fortgesetzt werden, so dass ausländische Kinder und Jugendliche weiterhin deutlich seltener eine der drei qualifizierten Abschlussformen der Fachoberschulreife, der Fachhochschulreife oder der Hochschulreife erreichen als
deutsche.
Dieser Trend bestätigt sich auch für Nordrhein-Westfalen, wenn man den höchsten und den
niedrigsten Schulabschluss der deutschen und ausländischen Jugendlichen und Heranwachsenden14 vergleicht. Ausländische Schüler/innen haben weiterhin nach der allgemein bildenden
Schule einen entscheidenden Wettbewerbsnachteil in der Konkurrenz um lukrative Ausbildungs-,
Studien- und schließlich Arbeitsplätze:
Deutsche und ausländische Schulabgänger/innen aus Schulen der allgemeinen Ausbildung
1985/86 bis 2006/07 (Angaben in Prozent)
Deutsche Schüler/innen
Ausländische Schüler/innen
ohne Hauptschulabschluss
1985/86 5,1
mit
Hochschulreife
27,5
ohne Hauptschulabschluss
22,9
mit Hochschulreife
5,7
1990/91 5,2
31,5
18,0
8,2
1995/96 4,8
29,4
13,0
11,5
2000/01 6,0
29,1
14,2
13,1
2004/05 6,0
27,8
14,5
10,2
2005/06 5,7
29,1
14,3
10,9
2006/07 5,6
29,2
14,8
10,9
Quelle: Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration NRW 2008, S. 134.
14
Um zeitliche Vergleiche anzustellen, ist es jedoch erforderlich, auf die alten Kategorien zurückzugreifen, da es an-
sonsten zu Verzerrungen kommt.
22
Dank der Ergebnisse des Mikrozensus 2005 sind auch für die Gruppe der Schüler/innen inzwischen genauere Angaben möglich, die eben auch den Unterschied zwischen Personen mit und
ohne Zuwanderungsgeschichte verdeutlichen15. Was die Herkunft bzw. den Zuwanderungsstatus
anbelangt, zeigt die folgende Statistik, dass es immense Differenzen gibt:
Bevölkerung ab 15 Jahre in Nordrhein-Westfalen 2006 nach Zuwanderungsstatus und höchstem
allgemein bildenden Schulabschluss (Angaben in Prozent)
Bevölkerung
insgesamt
Deutsche Schüler/innen
eingebürgerte ohne
Ohne Abschluss
4,9
12,1
2,1
23,4
Ausländische
und
eingebürgerte
Schüler/innen
20,8
Mit HS-
46,6
38,8
48,0
39,0
39,0
Mit FOS
21,9
18,7
22,8
14,7
15,6
Mit (Fach-)
Hochschulreife
26,6
30,3
27,1
22,9
24,6
ZG16
Ausländische
Schüler/innen
Abschluss
Quelle: Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration NRW 2008, S. 130.
Deutlich wird, dass eingebürgerte Schüler/innen durchweg bessere Schulabschlüsse erlangen als
ausländische Schüler/innen. Vor allem bei den beiden Gruppen, die entweder keinen oder den
höchsten Schulabschluss erreichen, ist der Unterschied enorm groß. Bei der zuletzt genannten
Gruppe schneiden die Eingebürgerten sogar besser ab als die Deutschen ohne Zuwanderungsgeschichte. Zudem hat sich im Vergleich der gesamten Population und der Jugendlichen bzw. Heranwachsenden mit Zuwanderungsgeschichte einiges getan: Während jede fünfte Person (20,8%)
15
Einschränkend muss man jedoch anmerken, dass trotz der Zahlen des Mikrozensus bisher nicht alle Bundes- und
Landesministerien und -behörden diese Zahlen verwenden. So benutzt die Bundesagentur für Arbeit nach wie vor
nur die Kategorie „deutsch-ausländisch“. Auch in NRW haben bisher nicht alle Ministerien nachgezogen. In Bezug
auf die Berufbildungsstatistik haben wir die Auskunft erhalten, dass hier ebenfalls nur die alte Kategorie und diese
sogar ohne Altersdifferenzierung verwendet wird.
16
Zuwanderungsgeschichte.
23
mit Zuwanderungsgeschichte noch immer ohne Schulabschluss ist, sind es bei der jungen Generation nur noch 9%. Diese große Differenz gilt auch in Bezug auf das Erlangen der (Fach-) Hochschulreife. Von Interesse sind auch noch die starken Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen
und zwischen den einzelnen Nationalitäten. Bei den meisten Nationalitäten schneiden die Mädchen deutlich besser ab als ihre männlichen Altersgenossen17. Besonders häufig erlangen Albaner/innen und Serb(inn)en keinen Schulabschluss. Hingegen sind Russ(inn)en, Aussiedler/innen
und die Griech(inn)en besonders erfolgreich. Jede/r dritte Russin bzw. Russe erlangt das (Fach-)
Abitur; im Vergleich dazu nur 27,1% der Deutschen ohne Zuwanderungsgeschichte (vgl. ebd., S.
135).
Die Bildungsexpansion hat auch direkte Auswirkungen auf die Ausbildungssituation der
Jugendlichen. Die mit der Bildungsexpansion verbundene Inflation der Bildungsabschlüsse
bedeutet für den Ausbildungsmarkt, dass Jugendliche ohne Schulabschuss oder mit
Hauptschulabschluss kaum noch Chancen auf einen Ausbildungsplatz haben. Während Banken
oder Versicherungen früher Jugendlichen mit Hauptschulabschluss durchaus einen
Ausbildungsplatz angeboten haben, zählt für diese Unternehmen heute nur noch das Abitur als
Eintrittskarte für eine Ausbildung in ihrem Metier.
Hinzu kommt, dass im Wettbewerb um Ausbildungsplätze ausländische Jugendliche mit
denjenigen deutscher Jugendlicher18 um das seit 1995 knapper werdende Lehrstellenangebot
konkurrieren (vgl. im Folgenden Geißler 2006, S. 246). War der Anteil der ausländischen
Auszubildenden unter den berufsschulpflichtigen Jugendlichen zwischen 1980 und 1994 noch
von 19% auf 44% gestiegen, so betrug er 2001 nur noch 38% und im Jahr 2005 nur noch 25%
(vgl. Uhly/Granato 2006). Zwar ist der Anteil der Ausbildungsbeteiligungsquote deutscher
Jugendlicher ebenfalls gesunken, jedoch nur um 11% seit 1994. Damit liegt sie um fast 60%
höher als diejenige, ausländischer Jugendlicher.
Häufig werden restriktive kulturelle, familiäre oder individuell bedingte Einstellungsmuster
gegenüber einer beruflichen Karriere oder schulisches Versagen als Gründe dieser Entwicklung
genannt. Empirische Studien belegen jedoch, dass diese Faktoren nicht für die fatale Entwicklung
herangezogen werden können (vgl. Granato 2006). Bedeutsamer ist in diesem Zusammenhang,
17
Ausnahmen bilden nur die Bosnierinnen und die Griechinnen.
18
Auch die Berufsbildungsstatistik des Statistischen Bundesamtes erfasste bis 2004 nur die Staatsangehörigkeit,
nicht den Zuwanderungsgeschichte.
24
dass eine höhere Qualifikation für Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte nicht gleichbedeutend ist mit einer Zunahme an Chancen auf einen Ausbildungsplatz. Die ansonsten gültige hohe
Korrelation zwischen hoher Qualifikation und hohen Chancen auf einen Ausbildungsplatz gilt für
die Gruppe der Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte nur sehr eingeschränkt. Während 25%
der ausländischen Bewerber/innen mit Hauptschulabschluss nur wenig seltener als deutsche Bewerber/innen (29%) einen Ausbildungsplatz finden, steigt die Differenz bei Realabschlussabsolvent(inn)en bereits deutlich an. Hier erlangen immerhin 47% der deutschen Bewerber/innen einen Ausbildungsplatz, hingegen nur 34% der ausländischen Absolvent(inn)en. Besonders krass
ist der Unterschied dann bei denjenigen, die zudem auch noch eine gute Mathematiknote erreichen: Hier sind es 64% der deutschen und nur 41% der ausländischen Bewerber/innen, die eine
Ausbildung beginnen können (vgl. zu den Zahlen Granato 2006).
An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass die als Gatekeeper fungierenden Personalleiter/innen
in den Ausbildungsfirmen Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte offensichtlich nicht dieselben Chancen einräumen wie Jugendlichen ohne Zuwanderungsgeschichte. Dies bestätigen auch
andere Studien19. Mit anderen Worten: Selbst bei hoher Anstrengung und guten Leistungen bleibt
Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte der soziale Aufstieg systematisch versperrt.
Allgemein bekannt ist, dass Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und insbesondere Ausländer/innen häufig nur eine Anstellung in niedrig qualifizierten Arbeitssegmenten finden und zudem überproportional stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Wenn sie eine Arbeit finden,
dann meistens in körperlich anstrengenden, gefährlichen, gesundheitsschädigenden und schlecht
bezahlten Berufen (vgl. Geißler 2006, S. 242f.).
Dieser Trend gilt auch für die Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen. Die Erwerbsstruktur
junger Menschen zeigt die Verteilung auf einzelne ausgewählte Wirtschaftsbereiche nach dem
Mikronzensus 2005:
19
Vgl. hierzu Imdorf 2008. Der Autor zeigt auf, dass so genannte schulische Defizite keine hinreichende Erklärung
liefern für das schlechte Abschneiden von Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Stattdessen weist er nach, dass Organisationen, die Ausbildungsplätze vergeben, höchst selektiv bei ihrer
Vergabe verfahren, d.h. Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte systematisch vorziehen, indem sie z.B. in der industriellen Welt als „weniger kompetent und damit leistungsfähig“ gelten, in der Marktwelt „ein Kundenrisiko darstellen“ oder in der häuslichen Welt „als potenzielle Störer einer eingespielten sozialen Ordnung wahrgenommen
werden“ (Imdorf 2008, S. 145).
25
Erwerbstätige im Alter von 15 bis 25 Jahren in Nordrhein-Westfalen 2006 nach Zuwanderungsstatus und nach Wirtschaftsbereichen
Insgesamt
(in Tsd.)
insgesamt
814
darunter im Wirtschaftsbereich (in Prozent)
Produzierendes
Handel, Gastge- Sonstige DienstGewerbe
werbe und Verleistungen
kehr
27,6
27,7
42,9
Eingebürgerte
33
23,7
33,5
42,8
Deutsche ohne
Zuwanderungsgeschichte
Ausländer/innen
628
27,3
26,8
43,9
79
27,7
35,3
35,9
Ausländer/innen
und Eingebürgerte
112
26,5
34,8
37,9
Quelle: Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration NRW2008, S. 130.
Weitaus erschreckender als der trotz Arbeit erlangte geringe berufliche und soziale Status der
Menschen mit Zuwanderungsgeschichte ist ihre deutliche Überrepräsentation in der Arbeitslosenstatistik. Bundesweit und auf die gesamte Bevölkerung bezogen war der Anstieg der Arbeitslosigkeit seit 2000 bei der Gruppe der Ausländer/innen deutlich höher und auch die positive konjunkturelle Entwicklung in den letzten Jahren hat in Bezug auf die Gruppe der Menschen ohne
deutschen Pass bisher nur wenige positive Auswirkungen gehabt:
26
Arbeitslosigkeit nach Nationalität in Prozent
Deutsche
Ausländer
1996
13,9
19,5
1998
11,7
20,1
2000
10,2
17,1
2002
10,2
18,8
2004
11,0
20,3
2006
11,0
23,6
2007
9,3
20,3
Quelle: Bundesagentur für Arbeit (BA): Analytikreport der Statistik 04/2008
Der Abstand zwischen Deutschen und Ausländer(inne)n hat sich seit 2000 sukzessive vergrößert.
Lag die Arbeitslosenquote der Ausländer/innen in 1996 „nur“ ca. 40% über derjenigen der Deutschen, so lag sie im Jahr 2007 fast 120% höher! Mit anderen Worten: Gerade in Bezug auf prekäre ökonomische Verhältnisse hat die Differenz zwischen Deutschen und Ausländer(inne)n in den
letzten Jahren bundesweit stark zugenommen.
Auch der rechtliche Status ist eine erhebliche Voraussetzung für die Positionierung Jugendlicher mit Zuwanderungsgeschichte in unserer Gesellschaft. In den vorangegangenen Statistiken ist
bereist deutlich geworden, dass es einen großen Unterschied macht, ob man als Deutscher ohne
Zuwanderungsgeschichte, als Eingebürgerter oder als Ausländer/in das deutsche Schulsystem
durchläuft. Auch die (ehemalige) Staatsangehörigkeit spielt eine Rolle, denn Griech(inn)en, Aussiedler/innen oder Russ(inn)en erzielen durchweg gute schulische Leistungen und Abschlüsse,
teilweise sogar bessere als Deutsche ohne Zuwanderungsgeschichte. Hingegen schneiden
Türk(inn)en oder Italiener/innen weitaus schlechter ab. Begründet werden kann dies teilweise
durch die Dauer des Aufenthalts bzw. damit, dass in der Gastarbeiterphase gezielt bildungsferne
junge Männer von Deutschland angeworben wurden.
Eine Gruppe Ausländer/innen, die statistisch gar nicht erfasst wird, ist die Gruppe der in
Deutschland sich illegal aufhaltenden Flüchtlinge. Deren Größe kann man nur schätzen. Als sicher gilt jedoch, dass diese Gruppe es vor dem Hintergrund eines unsicheren Status besonders
schwer hat, eine erfolgreiche schulische bzw. berufliche Karriere zu absolvieren. Vor dem Hin27
tergrund unsicherer Zahlen kann hier nicht weiterhin auf diese Gruppe eingegangen werden.
Nichtsdestotrotz muss sie Erwähnung finden.
Zuletzt sollte noch auf die Wohnsituation und auf die gesundheitliche Situation von Kindern
und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte hingewiesen werden. Beide Elemente des Lebensumfelds lassen sich – zumindest in diesem Alter – jedoch noch weitestgehend auf den sozialen Status der Eltern zurückführen. Wo Kinder und Jugendliche aufwachsen, bestimmen in der
Regel ihre Eltern, vorausgesetzt, sie können es überhaupt bestimmen, was keine Selbstverständlichkeit ist für die Bevölkerung mit Zuwanderungsgeschichte. Denn vielfach sind die Alternativen aufgrund der ökonomischen Situation der Familien mit Zuwanderungsgeschichte stark eingeschränkt. Viele Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sind deshalb mehr oder weniger gezwungen, dort zu wohnen, wo der Wohnraum preisgünstig ist, d.h. in so genannten marginalisierten Quartieren.
Bekannt ist, dass Menschen mit Zuwanderungsgeschichte einen überproportional hohen
Anteil der Bevölkerung marginalisierter Quartiere stellen. Charakteristika solcher Quartiere sind
vor allem
•
wirtschaftliche Schwäche (geringe Löhne, geringes Bruttosozialprodukt, hohe
Arbeitslosigkeit und hohe Sozialhilfedichte),
•
wenige kulturelle Einrichtungen (keine oder wenige hoch qualifizierende Schulen, wenig
Bibliotheken, aber auch geringe Ärztedichte und wenige oder nicht gepflegte Spielplätze)
•
eine schlechte Infrastruktur (hoher Lärmpegel, keine Grünanlagen), hohe
Bevölkerungsdichte, schlechte Bauweise (dünne Wände, monotone Architektur, keine
Balkone, unzureichende Pflege und Instandsetzung der Räumlichkeiten) und
„angstbesetzte Räume“ (dunkle Hinterhöfe)
•
eine Häufung sozialer Probleme (Drogenhandel, Prostitution, hohe Scheidungs- bzw.
Trennungsrate, Vernachlässigung der Erziehungspflichten, (Klein-) Kriminalität)
•
eine eindimensionale Sozialstruktur (Wegzug der Mittelschicht, hoher Anteil der
Menschen mit Zuwanderungsgeschichte)
•
keine bedeutsamen sozialen Netzwerke seitens der Bewohner/innen (keine Kontakte zu
„relevanten“ Personen bzw. so genannten Gatekeepern)
•
ein schlechtes bzw. negatives Stadtteilimage (vgl. Ottersbach 2008, S. 58f.).
28
Das Leben in solchen Quartieren hängt auch davon ab, um welchen Typ eines marginalisierten
Quartiers es sich handelt. Besonders problematisch ist das Leben meist in Quartieren, die im Zuge der rapiden Bevölkerungszunahme der Großstädte als Maßnahme der Wohnraumbeschaffung
außerhalb der Großstädte und innerhalb der sog. Trabantenstädte entstanden sind. In fast allen
großen bundesdeutschen Städten sind solche Trabantenstädte während der 60er und 70er Jahre
auf der grünen Wiese errichtet worden. Beispiele für diesen Quartierstyp lassen sich in NRW
zahlreiche viele finden: Dortmund-Nordstadt, Essen-Katernberg, Köln-Chorweiler, DuisburgMarxloh oder Düsseldorf-Garath. Die Bevölkerungsdichte ist dort immens hoch, in KölnChorweiler wohnen mehr als 25.000 Menschen, etwa 70 Einwohner/innen pro Hektar20. Bis Ende
der 80er Jahre waren die Wohnungen dort äußerlich verwahrlost, es gab lange Zeit nur wenige
Grünanlagen, kaum kulturelle und soziale Einrichtungen und nur wenige und ausschließlich zentrale Einkaufsmöglichkeiten. Es gibt fast nur Sozialwohnungen, die Entfernungen zur Arbeit und
in die City sind in der Regel weit, jedoch meist gut an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden.
Die Entwicklung dieser sog. Trabantenstädte ist schillernd, d.h. es gab Phasen, in denen das
Wohnen dort als sozialer Abstieg gewertet wurde, und solche, in denen der Wunsch, dort zu
wohnen, bei vielen Bewohner(inne)n durchaus vorhanden war. Maßgeblich begünstigt wurde
dieser Trend durch umfangreiche Sanierungsarbeiten, die in den 90er Jahren in diesen Trabantenstädten vollzogen wurden. Sie verbesserten das Gesamtbild dieser Vororte deutlich. Die Häuser
wurden gestrichen, Balkone installiert, Hinterhöfe erhellt, neue Freizeit- und Kultureinrichtungen
geschaffen, die das Leben in diesen Quartieren deutlich attraktiver machten. Das Lebensumfeld
der Kinder und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte in diesen Quartieren ist von dem ihrer
Altersgenossen ohne Zuwanderungsgeschichte kaum zu unterscheiden. Hier kumulieren die
Nachteile sämtlicher Aspekte der mangelhaften systemischen Integration: hohe Arbeitslosigkeit,
geringer Bildungsgrad, kleine soziale Netzwerke, kaum kulturelle Herausforderungen, prekärer
rechtlicher Status und geringe Möglichkeiten der politischen Partizipation (vgl. Ottersbach 2004,
S. 106f.; Ottersbach 2008, S. 62f.).
Ähnlich verhält es sich mit der gesundheitlichen Situation. Sie basiert zum größten Teil auf der
Ernährung, der Körperhygiene, dem Schlafrhythmus und der körperlichen Aktivität. In frühen
Jahren beeinflussen die Eltern diese Faktoren maßgeblich (vgl. Langness/Leven/Hurrelmann
20
Im Vergleich dazu wohnen in dem eher ländlichen Stadtteil Köln-Fühlingen gerade 4 Menschen pro Hektar.
29
2006, S. 89). Allerdings kommen auch noch weitere Faktoren hinzu, wie z.B. die Wohnlage, die
die Eltern nicht oder kaum beeinflussen können. Bekanntlich ist es ein erheblicher Unterschied,
ob man in der Stadt neben einer Autobahn und einer Fabrik oder auf dem Land neben einem
Wald und einem See aufwächst. Vor dem Hintergrund einer starken Konzentration von Kindern
und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte in marginalisierten Quartieren sind sie erheblich
stärker mit Umweltschadstoffen konfrontiert und gesundheitlichen Risikofaktoren ausgesetzt als
ihre Altersgenossen ohne Zuwanderungsgeschichte. In späteren Jahren nimmt der Einfluss der
Eltern deutlich ab, es wird ein eigener Lebensstil ausgeprägt, der maßgeblich auch über die gesundheitliche Entwicklung entscheidet. Studien wie die Shell-Jugendstudie 2006 (ebd., S. 90ff.)
zeigen auf, dass das gesundheitliche Verhalten stark schichtabhängig ist. Angehörige der Unterschicht achten weniger auf ihre Gesundheit und konsumieren häufiger Alkohol, Tabak und andere Drogen. Da Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte überproportional häufig der
Unterschicht angehörigen, sind sie auch im Jugendalter deutlich stärker mit gesundheitlichen Risiken konfrontiert als Kinder und Jugendliche ohne Zuwanderungsgeschichte
2.2
Die zentralen Aspekte der sozialen Integration von Kindern und Jugendlichen mit
Zuwanderungsgeschichte
Drei Sozialisationsagenturen spielen im Leben der Kinder und Jugendlichen eine zentrale Rolle:
die Familie, die peer group und die sozialen Netzwerke. Alle drei Agenturen spiegeln das soziale
Milieu wider, in dem eine Person aufwächst und im Rahmen dessen die Person sich im Laufe ihrer Biografie bewegt. Vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Mobilität und der Auflösung
bzw. Aufweichung der Grenzen sozialer Milieus in den westlichen Wohlfahrtsgesellschaften ist
ein Wechsel des sozialen Milieus keine Seltenheit mehr. Galt es früher im Rheinland als üblich,
während des gesamten Lebenslaufs z.B. dem bürgerlich-katholischen Milieu anzugehören, so
sind wir heute damit konfrontiert, dass Personen im Laufe ihres Lebens z.B. vom konservativtechnokratischen in das liberal-intellektuelle Milieu wechseln. Der Grund für diese Entwicklung
ist, dass die wesentlichen Bestandteile der sozialen Milieus, die Lebensstile, im Zuge der Konfrontation der Menschen mit unterschiedlichen Lebenswelten und Lebenslagen sich im Verlauf
der individuellen Biografie ändern können. Dies ist nicht generell der Fall, angesichts der Pluralisierung und der schnellen Veränderung der Kulturen jedoch heute – gerade für die Bevölkerung
30
in den Städten – keine Ausnahme mehr.
Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass die Menschen mit Zuwanderungsgeschichte andere Lebensstile entwickeln als die Bevölkerung ohne Zuwanderungsgeschichte. Man nahm deswegen auch an, dass sie eigene soziale Milieus ausbilden, die sich von denjenigen der Menschen
ohne Zuwanderungsgeschichte aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Herkunft unterschieden. Diese Annahmen reichten teils sogar so weit, den Menschen mit Zuwanderungsgeschichte
die Herausbildung so genannter Parallelegesellschaften zu unterstellen.
Neuere Untersuchungen wie die aktuelle SINUS-Studie zu Migrant(inn)en-Milieus21 zeigen
jedoch auf, dass sich die sozialen Milieus der Bevölkerung mit Zuwanderungsgeschichte von denen der Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte kaum unterscheiden. Sinus-Sociovision hat im
Zeitraum 2006 bis 2008 erstmals eine qualitative ethnografische Studie sowie eine Quantifizierung auf repräsentativer Basis zu den Lebensstilen und Lebenswelten der Bevölkerung mit Zuwanderungsgeschichte durchgeführt und insgesamt acht Migrant(inn)en-Milieus typisiert:
-
zwei bürgerliche Milieus, darunter das adaptive bürgerliche Milieu mit 16% der
Bevölkerung mit Zuwanderungsgeschichte, dass sich durch eine pragmatische
moderne Mitte kennzeichnet, die sich nach sozialer Integration und einem harmonischen Leben in gesicherten Verhältnissen sehnt, und das statusorientierte Milieu
mit 12% der Bevölkerung, ein klassisches Aufsteiger-Milieu, das durch Leistung
und Zielstrebigkeit materiellen Wohlstand und soziale Anerkennung erreichen
will,
-
zwei ambitionierte Migrant(inn)en-Milieus, darunter das multikulturelle PerfomerMilieu mit 13% der Bevölkerung, ein junges, leistungsorientiertes Milieu mit bikulturellem Selbstverständnis, das sich mit dem westlichen Lebensstil identifiziert
und nach beruflichem Erfolg und intensivem Leben strebt, und das intellektuellkosmopolitische Milieu, mit dem sich 11% der Menschen identifizieren, ein aufgeklärtes, global denkendes Bildungsmilieu mit einer weltoffenen, multikulturellen Grundhaltung und vielfältigen intellektuellen Interessen,
-
zwei traditionsverwurzelte Migrant(inn)en-Milieus, darunter ein religiös verwurzeltes Milieu mit 7% der Bevölkerung, ein vormodernes, sozial und kulturell isoliertes Milieu, das den patriarchalischen und religiösen Traditionen der Herkunfts-
21
Die Studie ist bisher nur in Ausschnitten veröffentlicht (vgl. hierzu Sinus-Sociovision 2008).
31
region verhaftet ist, und ein traditionelles Arbeitermilieu mit 16% der Bevölkerung, ein traditionelles Blue Collar Milieu der Arbeitsmigrant(inn)en und Spätaussiedler/innen, das nach materieller Sicherheit für sich und seine Kinder trachtet,
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zwei prekäre Migrant(inn)en-Milieus, darunter ein entwurzeltes Milieu mit 9% der
Bevölkerung, ein sozial und kulturell entwurzeltes Milieu, das heimatorientiert ist,
seine Identität sucht und das nach Geld, Ansehen und Konsum strebt, und das hedonistisch- subkulturelle Milieu mit 15% der Menschen, ein Milieu unangepasster
Kinder und Jugendlicher mit defizitärer Identität und Perspektive, das Spaß haben
will und sich den Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft widersetzt.
Vergleicht man diese Milieus mit den bisherigen SINUS-Studien zu Milieus in Deutschland, fällt
sofort auf, dass dieselben Milieus zu finden sind, abgesehen von den noch existierenden Milieus,
die (noch) typisch ostdeutsch sind22.
Die zentralen Ergebnisse dieser neuen SINUS-Studie sind:
-
Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sind keine kulturell homogene Gruppe.
Stattdessen existiert eine vielfältige Milieulandschaft, in der sich insgesamt acht
verschiedene soziale Milieus mit ganz unterschiedlichen Lebensauffassungen und
Lebensweisen identifizieren lassen.
-
Auch bei der Bevölkerung mit Zuwanderungsgeschichte kann man nicht von der
Herkunft auf das soziale Milieu und umgekehrt schließen. Nicht ethnische Herkunft oder soziale Lage sind besonders prägend für die Ausbildung der einzelnen
sozialen Milieus, sondern Wertvorstellungen, Lebensstile und gemeinsame ästhetische Vorlieben. Es existieren gemeinsame lebensweltliche Muster bei Menschen
mit Zuwanderungsgeschichte aus unterschiedlichen Herkunftskulturen. Menschen
mit denselben Lebensstilen und mit unterschiedlicher Zuwanderungsgeschichte
verbindet mehr miteinander als Menschen derselben Herkunftskultur.
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Aspekte wie ethnische Zugehörigkeit, Religiosität und Zuwanderungsgeschichte
beeinflussen zwar die Alltagskultur, sind aber nicht Milieu prägend und langfristig
nicht Identität stiftend. Die Bedeutung der Religiosität wird deutlich überschätzt.
Fundamentalistische Einstellungen lehnen drei Viertel der Menschen mit Zuwan-
22
Dies hängt aber eben mit der DDR-Geschichte und damit zusammen, dass in Ost-Deutschland kaum Menschen mit
Zuwanderungsgeschichte wohnen.
32
derungsgeschichte ab, fast 85% sind der Meinung, Religion sei eine private Angelegenheit.
-
Integrationsdefizite finden sich am ehesten in den bildungsfernen, unteren sozialen
Schichten – auch das unterscheidet die Milieus der Bevölkerung mit Zuwanderungsgeschichte nicht von derjenigen ohne Zuwanderungsgeschichte. Mit anderen
Worten: Erfolgreiche Integration ist maßgeblich bildungsabhängig. Die Urbanität
der Herkunftsregion und das Bildungsniveau korrelieren stark miteinander. Die
meisten Menschen mit Zuwanderungsgeschichte verfügen über einen hohen Bildungsoptimismus, eine hohe Leistungsbereitschaft und einen ausgeprägten Willen
zum sozialen Aufstieg. Strukturelle Barrieren, Informationsdefizite und Fehleinschätzungen sorgen jedoch dafür, dass der Optimismus oftmals nicht eingelöst
werden kann.
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Die überwiegende Mehrheit (85%) sieht im Erlernen der deutschen Sprache den
entscheidenden Integrationsfaktor, für 82% ist Deutsch die übliche Verkehrssprache im Freundes- und Bekanntenkreis. Die geringsten Deutschkenntnisse findet
man in den traditionsverwurzelten Migrant(inn)en-Milieus.
-
Interessant ist zudem noch, dass bei den Menschen mit Zuwanderungsgeschichte
das Spektrum der Grundorientierungen breiter und heterogener ist als bei der Bevölkerung ohne Zuwanderungsgeschichte, d.h. es gibt in Migrant(inn)en-Milieus
sowohl traditionellere als auch modernere Segmente in den sozialen Milieus als in
den Milieus der Bevölkerung ohne Zuwanderungsgeschichte.
Ein wesentliches Fazit ist, dass man im Grunde gar nicht mehr von typischen Migrant(inn)enMilieus sprechen kann, da nicht die ethnische oder kulturelle Herkunft das entscheidende Unterscheidungsmerkmal der Milieus ist, sondern traditionelle versus moderne Einstellungen, die im
Übrigen im selben Ausmaß sowohl bei der Bevölkerung mit Zuwanderungsgeschichte als auch
bei den Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte vorzufinden sind. Was den öffentlichen Diskurs jedoch weiterhin dominiert, ist ein Negativ-Klischee, ein Mythos vom „bäuerlichen, traditionsbewussten Ausländer“, den es im behaupteten Ausmaß nicht (mehr) gibt – und den es wahrscheinlich in diesem Ausmaß auch nie gegeben hat. Nur noch eine marginale Gruppe fühlt sich
diesem Milieu angehörig – und auch darin unterscheidet sie sich nicht von derjenigen der Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte.
33
Zu fragen ist nun noch, welche Rolle spielen die beiden klassischen Sozialisationsagenturen,
die Familie und die peer group einerseits, und die neueren Agenturen, die sozialen Netzwerke
andererseits, bei der konkreten Sozialisation der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte?
Die Familie hatte lange Zeit eine dominante Stellung inne. Sie war Dreh- und Angelpunkt der
primären Sozialisation. Angesichts der Pluralisierung der Lebens- und Beziehungsformen musste
die bürgerliche Familie jedoch einen Bedeutungsverlust hinnehmen. An die Stelle der Normalfamilie (verheiratete Eltern und zwei Kinder) treten immer häufiger Alternativen wie nicht-eheliche
Familien, kinderlose Ehen oder Partnerschaften, Ein-Eltern-Familien, homosexuelle Ehen oder
Partnerschaften oder Patchworkfamilien. Von dieser Entwicklung sind auch Familien mit Zuwanderungsgeschichte – vielleicht etwas zeitversetzt – betroffen. Zwar wird ihnen in der wissenschaftlichen Literatur oft ein stärkerer Zusammenhalt diagnostiziert, dennoch nehmen auch in
diesen Familien die Scheidungen zu, es wird seltener und später geheiratet und auch die Fruchtbarkeitsrate nähert sich derjenigen der Familien ohne Zuwanderungsgeschichte. Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte sind insofern denselben Veränderungsprozessen ausgesetzt. Ob sie sie nun konservativ als Verlust oder progressiv als Chance zur Veränderung interpretieren, sie hier mal dahingestellt.
Der Bedeutungsverlust, den die Familie als primäre Sozialisationsinstanz hinnehmen musste,
bedurfte jedoch einer Kompensation. Diese erfahren Kinder und Jugendliche heute vor allem
durch die Schule, durch die peer group und durch weitere soziale Netzwerke, die im Zeitalter der
Informalisierung auch virtuellen Charakter annehmen können. Damit wird die primäre Sozialisation durch die Familie zwar nicht ersetzt, jedoch in ihrem Bedeutungsumfang und auch in Bezug
auf ihre zeitliche Einflussnahme reduziert. D.h. Kinder werden heute sowohl stärker als auch früher und länger als zuvor durch die Schule, durch peer groups und durch andere soziale Netzwerke
sozialisatorisch geprägt.
Neben den Lebens- und Beziehungsformen hat sich auch die Gestaltung des Zusammenlebens
in den Lebens- und Beziehungsformen gewandelt. Vor dem Hintergrund zunehmender Berufstätigkeit der Frauen musste das geschlechtsspezifische Rollenverhalten im Zusammenleben zur
Disposition gestellt werden. Kinderbetreuung und Arbeiten im Haushalt müssen neu ausgehandelt und verteilt werden. Neuere Studien zeigen auf, dass die Bereitschaft bei Männern, Tätigkeiten im Haushalt und im Rahmen der Kinderbetreuung zu übernehmen, zwar zunimmt, jedoch
nach wie vor nur sehr eingeschränkt ist. Die Bereitschaft, Aufgaben der Kinderbetreuung zu übernehmen, ist dabei höher, als Tätigkeiten im Haushalt durchzuführen. Zudem neigen Männer
34
höherer Bildungsschichten eher dazu als ihre Genossen aus unteren sozialen Schichten. Über das
geschlechtsspezifische Rollenverhalten von Familien mit Zuwanderungsgeschichte liegen kaum
Untersuchungen vor. Im Rahmen der bereits erwähnten SINUS-Studie wurde auch das Rollenverhalten zwischen den Geschlechtern erfasst. Deutlich wurde, dass sich die Zuschreibung von
Aufgaben zwischen den Geschlechtern bei der Bevölkerung mit Zuwanderungsgeschichte nur
unwesentlich von derjenigen der deutschen Bevölkerung23 unterscheidet. Große Unterschiede
findet man jedoch zwischen den einzelnen Milieus: So vertreten die Angehörigen der traditionsverwurzelten Milieus erwartungsgemäß häufiger ein klassisches Rollenverhalten, während die
Vertreter/innen der ambitionierten und bürgerlichen Milieus der Gleichberechtigung viel positiver gegenüberstehen. Auch diese Ergebnisse unterschieden sich nicht von den entsprechenden
Milieus der Bevölkerung ohne Zuwanderungsgeschichte. Einmal mehr zeigt sich hier ganz deutlich, dass das Rollenverhalten allgemein und das geschlechtsspezifische Rollenverhalten im Besonderen milieu- und nicht nationalitäten-, ethnien- oder kulturspezifisch orientiert sind.
Wenn es in Bezug auf die Milieuzugehörigkeit grundsätzlich keine Differenzen zwischen
Kindern und Jugendlichen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte gibt, ist davon auszugehen,
dass auch das Freizeitverhalten und die Aktivitäten innerhalb der peer group keine ethnien- oder
nationalitätenspezifische Unterschiede aufweisen. Langness/Leven/Hurrelmann (2006, S. 77f.)
untermauern diese These, da hauptsächlich geschlechts- und schicht- bzw. bildungsspezifische
Unterschiede im Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen beobachtet wurden. Im Rahmen
der schichtspezifischen Differenzen ist jedoch darauf aufmerksam zu machen, dass Kinder und
Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte in Bezug auf die Wahl ihrer Freizeitaktivitäten
eingeschränkt sind, insbesondere dann, wenn diese mit höheren Kosten verbunden sind. So wird
Kindern und Jugendlichen der Unterschicht beispielsweise der Internetzugang wesentlich seltener
ermöglicht (59% in 2006) als denjenigen der Mittel- und Oberschicht (84% bzw. 94%) (ebd., S.
84). Mit anderen Worten: Die Nutzung von Informations- und Kommunikationsmedien, die im
Zeitalter der Informalisierung eine immer höhere Bedeutung gewinnt, ist nach wie vor ungleich
verteilt. Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte sind überproportional stark
benachteiligt, wenn die Ausübung von Freizeitstilen mit höheren Kosten verbunden ist.
Auch in Bezug auf die Bedeutung der peer-group bzw. der Bereitschaft zur Cliquenbildung
scheint es keine ethnien- oder nationalitätenspezifischen Differenzen zu geben (ebd., S. 83f.).
23
Verglichen wird tatsächlich mit der deutschen Bevölkerung, obwohl zahlreiche Menschen mit Zuwanderungsge-
schichte ja die deutsche Staatsangehörigkeit (wie z.B. Aussiedler/innen oder Eingebürgerte) besitzen.
35
Festgestellt wurden lediglich geringe alters-, geschlechts- und regionale (Ost-West-) Differenzen.
Forschungsstudien haben jedoch gezeigt, dass die sozialen Netzwerke, die für die spätere
berufliche (und somit auch soziale) Karriere wichtig sind, stark schichtspezifisch konstruiert sind
(vgl. Bommes 1996) . Sie sind ein Teil des Milieus, in denen schichtspezifische Ausprägungen
der Lebensstile nach wie vor zu finden sind. Zudem spielen soziale Netzwerke (der Eltern) immer
noch eine erhebliche Rolle in der Schule und im Übergang von der Schule in den Beruf.
Personalentscheider selektieren Auszbildende und Angestellte nicht nur nach den bereits
beschriebenen Kriterien, bei denen Kinder und Jugendliche der Unterschicht und insbesondere
mit Zuwanderungsgeschichte benachteiligt werden. Bekannt ist zudem, dass bei der Vergabe
lukrativer Ausbildungs- und Arbeitsplätze auch die sozialen Netzwerke (der Eltern) bedeutsam
sein können.
Eine wichtige Dimension der sozialen Integration ist die Erfahrung von Diskriminierungen.
Zu unterscheiden ist zwischen struktureller und personaler Diskriminierung. Unter struktureller
Diskriminierung versteht man eine Art institutionalisierter Ungleichbehandlung, wie sie
nachgewiesenermaßen im dreigliedrigen deutschen Schulsystem oder auf dem Wohnungsmarkt
vorkommt. Personale Diskriminierungserfahrungen sind konkreter Art wie z.B. Beleidigungen
oder sogar körperliche Angriffe aus fremdenfeindlichen Motiven. Mehrere Studien (vgl. z.B.
Schneekloth 2006, S. 138f.; Brettfeld/Wetzels 2007, S. 333) zeigen auf, dass die
Diskriminierungserfahrungen von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte in den
letzten Jahren in Deutschland zugenommen haben. Kinder und Jugendliche mit
Zuwanderungsgeschichte sind vermehrt mit zurückweisenden und ausgrenzenden
Verhaltensweisen konfrontiert. Insbesondere Muslime werden häufig pauschal als intolerant und
gewalttätig stigmatisiert. Nicht übertrieben ist es deshalb zu behaupten, dass
Diskriminierungserfahrungen bei Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte zum
Alltag gehören und ihre durchaus hohe Bereitschaft zur Integration vor dem Hintergrund dieser
Erfahrungen auf eine harte Probe gestellt wird.
Wichtige Rollen bei der sozialen Integration spielen auch die religiösen und politischen Einstellungen der Kinder und Jugendlichen.
Religiosität ist ein Aspekt der sozialen Integration, der vor dem Hintergrund der Individualisierung das Leben der Kinder und Jugendlichen in Deutschland immer weniger bestimmt. Gensicke (2006, S. 208ff.) verdeutlicht, dass nur noch die Hälfte der Kinder und Jugendlichen als reli-
36
giös und nur ein Drittel als kirchennah eingestuft werden können24. Zudem fügt der Autor an,
dass die große Masse der Kinder und Jugendlichen sich mit ihren Problemen bei den Kirchen
nicht aufgehoben fühlt. In Bezug auf Religiosität wurden Kinder und Jugendliche mit
Zuwanderungsgeschichte in einigen Studien im Verhältnis zu Kindern und Jugendlichen ohne
Zuwanderungsgeschichte deutliche Abweichungen attestiert25. Auch Gensicke (ebd., S. 220f.) hat
in seiner Untersuchung herausgefunden, dass Kinder und Jugendliche mit
Zuwanderungsgeschichte die „echte“ Religion verkörperen (61% bekennen sich als „religiös“),
Kinder und Jugendliche ohne Zuwanderungsgeschichte höchstens noch eine Art „Religion light“
(mäßige Religiosität, ca. 53% sagen von sich, sie seien „religiös“) ausüben bzw. – vor allem im
Osten – überwiegend ungläubig seien (nur 21% meinen, sie seien „religiös“). Kinder und
Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte, zu denen im Übrigen nicht nur islamisch, sondern zu
einem großen Teil auch katholisch und evangelisch orientierte Migrant(inn)en gehören,
präferieren eine Art „harte“ Religion. Zudem erhalte die Religion für Kinder und Jugendliche mit
Zuwanderungsgeschichte eine besondere Bedeutung bei der sozialkulturellen Integration in ihr
spezifisches Migrantenmilieu. Er schlussfolgert daraus, dass vor dem Hintergrund der Bedeutung
der Religion für die soziale Integration die Gefahr wachse, dass sich die Migrant(inn)en von der
einheimischen Kultur abschotten bzw. isolieren. Dies wird jedoch durch den Befund
konterkariert, dass die Religion für die Wertebildung nur noch sekundär sei, d.h., dass viele
Werte heute inzwischen nicht mehr aus religiösen Traditionen abgeleitet werden, sondern
Produkte säkularisierter Prozesse sind. Er resümiert: „Traditionen, Normen, Gewohnheiten und
Umgangsformen der Familien und Peergroups haben heute für Kinder und Jugendliche zum
großen Teil die wertestützende Funktion der Religion übernommen (…)“ (Gensicke 2006, S.
239). Damit dürfte der Stellenwert der Religion eine reine private Angelegenheit geworden sein
und in Bezug auf die soziale Integration doch nur noch eine untergeordnete Rolle spielen.
Bei den politischen Einstellungen der Kinder und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte
müssen zunächst die Möglichkeiten der politischen Partizipation berücksichtigt werden. Lange
Zeit war es diesen Kindern und Jugendlichen nicht möglich, die Zusammensetzung des
politischen Gemeinwesens mitzubestimmen. Aufgrund der Änderung des
24
Religiosität wird dabei nicht an der Konfessionszugehörigkeit fest gemacht, sondern an der Selbsteinschätzung der
Jugendlichen in Bezug auf Glaubensferne bzw. Glaubensnähe.
25
Vgl. hierzu Heitmeyer/Müller/Schröder 1997, und die Kritiken an dieser Studie z.B. bei Bukow/Ottersbach 1999,
Bozay 2005.
37
Staatsangehörigkeitsrechts hat sich die Situation für Jugendliche inzwischen gewandelt, da sie
fortan (auch) die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und ab dem 17. bzw. 19. Lebensjahr
wählen dürfen. Sie geniessen dann dieselben Rechte wie deutsche Jugendliche ohne
Zuwanderungsgeschichte.
Ein wichtiges Kriterium politischer Einstellungen ist die Haltung zu „Demokratie und
Gesellschaft“. Obwohl Demokratie von den meisten Jugendlichen als wichtiger Wert betrachtet
wird, ist die Zufriedenheit mit der Ausgestaltung der Demokratie, insbesondere mit den
politischen Parteien, seit Jahren eher gering. Die skeptische Haltung ist zudem bei den
Jugendlichen in prekären Lebenslagen deutlich größer als bei denjenigen in einer materiell
abgesicherten Lage (vgl. Schneekloth 2006, S. 110f.). Etwas überraschend ist jedoch, dass
ausländische Jugendliche, die zum großen Teil der Unterschicht angehören, diese Skepsis nicht
aufweisen: Mit 76% ist eine deutliche Mehrheit der ausländischen Jugendlichen in Deutschland
mit der Demokratie alles in allem eher bzw. sehr zufrieden. (…) Die Bedeutung der Demokratie
scheint, unabhängig von deren aktueller sozialer Lage, bei ausländischen Jugendlichen
entsprechend höher bewertet zu werden“ (Schneekloth 2006, S. 111). In einer Untersuchung zu
„Muslimen in Deutschland“, in der es u.a. um Autoritarismus und Demokratiekritik bei jungen
Muslimen und Nicht-Muslimen geht (vgl. hierzu Brettfeld/Wetzels 2007, S. 273f.), wurden – den
Bildungsstand und die Schichtzugehörigkeit berücksichtigend – zwar keine Differenzen, aber
eben auch – wie in früheren Studien (vgl. Heitmeyer/Müller/Schröder 1997) nahegelegt – keine
höheren Werte bei Muslimen festgestellt. Dies gilt im Übrigen auch für religiöse Toleranz bzw.
Intoleranz (vgl. ebd., S. 277) und für die Haltung zu politisch-religiös motivierter, terroristischer
Gewalt (ebd., S. 330).
Dieselben Befunde führt Schneekloth im Übrigen auch für das politische Engagement an.
Auch hier tendieren Kinder und Jugendliche der Unterschicht zu Zurückhaltung, während das
Engagement bei Kindern und Jugendlichen der Mittel- und der Oberschicht deutlich höher ist.
Und auch hier machen ausländische Kinder und Jugendliche eine Ausnahme, obwohl sie
mehrheitlich der Unterschicht angehören. Sie neigen zu einem hohen Engagement, was der Autor
auf die scheinbar homogenen Sozialräume von Migrant(inn)en zurückführt. Den Grund sieht er
darain, „(…), dass insbesondere Migrantinnen und Migranten häufiger in Sozialräumen leben, die
stärker durch die eigene Kultur und Nationalität geprägt sind und in denen neben der Pflege der
Traditionen ganz pragmatische Unterstützungsleistungen untereinander üblich sind.“ Und weiter:
„Dass entsprechende Sozialräume allerdings auch die notwendige Integration in Deutschland
38
erschweren können (Spracherwerb, soziale Kontakte und Kommunikationsverhalten, Erfahrung
im Umgang mit Institutionen etc.), stellt in diesem Fall die Kehrseite der Medaille dar“ (ebd., S.
125). Auch hier werden – wie weiter oben – ohne nähere empirische Kenntnisse einfach
kulturalistische Gründe bemüht, um die Differenz zu erklären.
Hier zeigt sich einmal mehr, dass quantitative Verfahren zwar einen groben Überblick über
Aspekte der sozialen Integration verschaffen können. Um weitergehende Erkenntnisse zu
gewinnen und um vor allem auch die Motive und Gründe für das Handeln der Kinder und
Jugendlichen zu erfahren, ist es unerlässlich, qualitative Verfahren anzuwenden. Die subjektive
Sichtweise kann erst durch ein vertrauensvolles Interview an die Oberfläche gelangen.
2.3
Mögliche Ursachen für das prekäre Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen mit
Zuwanderungsgeschichte
In einer Gesellschaft, in der sich die Individuen primär über ökonomisches und kulturelles Kapital26 definieren, sind die Aspekte der systemischen Integration zentral. Die Aspekte der sozialen
Integration sind nicht unwichtig, jedoch sekundär. Für die Situation der Kinder und Jugendlichen
sind demnach vor allem die soziale Herkunft bzw. der Status der Eltern, die Bildung und der Übergang von der Schule in Ausbildung und Arbeit bedeutsam.
Die Bildungsforschung hat in Bezug auf die Institution der Schule nachgewiesen, dass diese
mittelschichtorientiert ist, d.h. ihre Kriterien der Bewertung der Leistung, aber vor allem der informellen Bildungsinhalte entsprechen denjenigen der Mittelschicht. Kinder der unteren sozialen
Schichten sind dadurch per se benachteiligt, weil sie aufgrund der schichtspezifischen Sozialisation nicht dieselben Voraussetzungen mit in die Schule bringen können wie die Kinder der Mittel- bzw. der Oberschicht.
26
Vgl. Bourdieu 1987. Pierre Bourdieu spricht angesichts der Bedeutung des kulturellen Kapitals auch von kulturel-
ler Kompetenz bzw. von einem spezifischen oder „angemessenen Code“, den man besitzen und anwenden können
muss, um bestimmte kulturelle Spielarten „lesen“ oder verstehen zu können (vgl. Bourdieu 1987, S. 19). Dieser Code
– so könnte man in Bezug auf unsere Thematik sagen – wird Jugendlichen aus den unteren sozialen Schichten und
mit Zuwanderungsgeschichte verwehrt.
39
Die Reproduktion der Schichtzugehörigkeit durch die Schule kann aber nicht als die einzige
Ursache für ungleiche Bildungschancen gelten. Nach wie vor sind Bildungsabschlüsse in modernen Gesellschaften auch eine Folge sozialisatorischer Bedingungen. Schicht-, Geschlechts- und
Regionalzugehörigkeit beeinflussen den Bildungserwerb maßgeblich. Die Prägung, die die Heranwachsenden durch den Status der Familie und auch durch die peer group erfahren, bestimmt
über den Erfolg bzw. den Misserfolg der eigenen Karriere. Die Ergebnisse der schichtspezifischen Sozialisationsforschung legen nahe, dass insbesondere die familiären Sozialisationsprozesse schichtspezifisch geprägte Persönlichkeiten erzeugen. Die berufliche Stellung des Vaters und
der Mutter haben einen enormen Einfluss auf das Bildungsverhalten der Kinder. Schichtspezifische Denk- und Handlungsmuster werden teils intendiert, teilweise auch unbewusst auf die Kinder übertragen. Schon Basil Bernstein (1971, S. 52ff.) hat über die Differenzierung zwischen
restringiertem und elaboriertem Code den Nachweis erbracht, dass die Kommunikation und die
Art und Weise, wie über welche Themen im Elternhaus debattiert wird, den Schulerfolg der Kinder maßgeblich beeinflussen. Satzbau, Wortschatz und -wahl, Abstraktionsvermögen und Ausdrucksfähigkeit der Kinder werden erheblich durch die Kompetenzen und Kenntnisse der Eltern
vermittelt. Zudem werden mit der Schichtzugehörigkeit typische Wertvorstellungen, Gesellschaftsbilder, Erziehungseinstellungen und auch -praktiken vermittelt. Vermutungen tendieren
sogar dahin, dass Unterschichten gegenüber hoch qualifizierenden Bildungsinstitutionen wie
Gymnasien oder Universitäten eine affektive Distanz hätten bzw. über geringere Informationen
und Kenntnisse in Bezug auf mögliche Bildungschancen in besser oder sogar hoch qualifizierten
Berufen verfügen (vgl. Bolder 1987, S. 151f.).
Im Gegensatz zur klassischen Sozialisationsforschung tendiert die neuere soziologische Forschung dazu, sich nicht mehr so sehr mit der Entstehung von Bildungsprozessen zu beschäftigen,
sondern mit den Auswirkungen der Bildung bzw. der Bildungsungleichheit. Nicht mehr die Bildungsungleichheiten an sich, sondern die Frage, wie soziale Ungleichheit über Bildung reproduziert wird, steht nun im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses. In der neueren soziologischen Forschung wird die enge Verbindung von Statuserwerb, Mobilitätsprozessen und Netzwerken hervorgehoben. Soziale Herkunft, Bildungserfolg und erreichter beruflicher Status sind stark
miteinander verflochten. Hohe Bildungsabschlüsse korrelieren mit dem Einstieg in hoch qualifizierte Berufsfelder und hohem sozialen Status. Sie sind entscheidend für die spätere berufliche
Platzierung und für das soziale Ansehen. Als besonders prägnant gilt auch weiterhin die „Weiterleitung“ des Status’ der Eltern, insbesondere des Vaters, auf den der eigenen Kinder. Niedriger
40
Status und enge soziale Netzwerke der Eltern schränken einen angemessenen Informationsfluss
über Bildungsmöglichkeiten ein. Die Folge ist, dass das Spektrum der Bildungs- und Berufswahlprozesse ebenfalls relativ gering ist. Eltern der Unterschicht und insbesondere Eltern mit
Zuwanderungsgeschichte verfügen über wenig Macht bzw. Einfluss. Rechtlich und politisch der
deutschen Bevölkerung nicht gleichgestellt, verfügen sie auch über geringe ökonomische Ressourcen. Hinzu kommen Sprach- und Kommunikationsbarrieren. Die zunehmende Polarisierung
der Quartiere innerhalb der Städte verstärkt zudem die unfreiwillige Bildung isolierter, homogener Netzwerke.
Eine besondere Bedeutung erhalten die zur Verfügung stehenden sozialen Netzwerke nochmals bei der Ausbildungs- bzw. Arbeitsplatzsuche. Untersuchungen haben gezeigt (vgl. Bommes
1996, S. 44), dass die informellen Beziehungen mindestens so ausschlaggebend sind wie die öffentlich proklamierten und in einer Leistungsgesellschaft üblicherweise geforderten Kompetenzen wie Qualifikation, Wissen, hohe Motivation, Flexibilität, Disziplin, hohe Kommunikationsfähigkeit etc. Verwandt- bzw. Bekanntschaftsverhältnisse haben offenbar auch Einfluss auf die
Gestaltung und die Ergebnisse der Versuche, einen Ausbildungs- bzw. einen Arbeitsplatz zu bekommen.
Ungleiche Bildungs- und Ausbildungsbeteiligung sind Pierre Bourdieu (1983) nach als Folge
der endogenen Schichtzugehörigkeit, wie sie sich in der ungleichen Verteilung von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital ausdrückt, und der damit einhergehenden schichtspezifischen Sozialisationsprozesse zu interpretieren. So erschwert z.B. die relativ niedrige Ausstattung der Eltern der unteren sozialen Schichten mit ökonomischem Kapital eine ausreichende Unterstützung der Kinder bei schlechten Schulleistungen. Auch in kultureller Hinsicht sind sie benachteiligt, da sie z.B. in der Familie seltener und später mit den entsprechenden Technologien
konfrontiert werden. Begrenzte Bildungskapazität bzw. -mobilität der Eltern schränken die Unterstützungsmöglichkeiten ebenfalls ein. Die Ausprägung und die Entfaltung eines spezifischen
Lebensstils, der unmittelbar mit der IT verknüpft ist, werden den Jugendlichen erschwert. Zudem
sind die verschiedenen Generationen mit geringerem sozialem Kapital ausgestattet. Ihre informellen Netzwerke sind beschränkt, sie müssen große Hürden nehmen, um intensivere Beziehungen
außerhalb ihrer Schichtzugehörigkeit und außerhalb ihres Wohnortes aufzubauen.
Alle diese Beispiele zeigen, dass es nach wie vor Zugangsbarrieren in Form einer niedrigen
oder geringen Ausstattung mit den drei genannten Kapitalarten sind, die Kindern und Jugendli-
41
chen der unteren sozialen Schichten den Aufstieg zu machtvollen Positionen in unserer Gesellschaft erschweren bzw. diesen sogar ganz verhindern.
Auch die neueren gesellschaftlichen Entwicklungen haben die Bildungs- und Mobilitätsprozesse maßgeblich beeinflusst. Zu nennen sind hier vor allem die Prozesse der Individualisierung
und der Pluralisierung. Individualisierung bezeichnet nach Ulrich Beck (1986) sowohl einen Auflösungs- als auch einen Ablösungsprozess. Bestimmte kulturelle Errungenschaften, Einstellungen
und Werte werden nicht mehr automatisch tradiert. Häufig sind eklatante Brüche zwischen den
Eltern und ihren Kindern in Bezug auf die Religionsausübung, auf elementare Einstellungen oder
in Bezug auf spezifische Werte festzustellen. Auch die Pluralisierung von Lebens- und Beziehungsformen hat den Einfluss der Familie bzw. der Eltern auf die Bildungschancen der Kinder
verändert. Die Kinder von Ein-Eltern-Familien profitieren eventuell nur noch bedingt vom Statuserwerb des Vaters. Auf der anderen Seite kann die Erweiterung der Familie auch völlig neue
Perspektiven eröffnen.
Festgehalten werden muss jedoch, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Individualisierung und der Pluralisierung nicht alle Bevölkerungsgruppen in gleichem Maße betreffen. Der von Beck als „Fahrstuhl-Effekt“ bezeichnete Prozess der Lohnsteigerung bei gleichzeitiger Verringerung der Erwerbsarbeitszeit (vgl. Beck 1986, S. 124) betrifft Jugendliche der unteren
sozialen Schichten heute nur noch sehr bedingt. Sie profitieren weitaus weniger von den Errungenschaften, auch wenn ihre Eltern einen wichtigen Beitrag bzw. entscheidende Voraussetzungen
für diese Entwicklung geleistet haben.
Für die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte, die zu einem großen Teil ebenfalls der unteren sozialen Schichten angehören, haben Mechthild Gomolla und
Frank-Olaf Radtke (2002) nachgewiesen, dass sie sowohl der direkten als auch der indirekten institutionellen Diskriminierung unterworfen sind27. Die Autor(inn)en weisen nach, dass u.a. die
Begrenzung der Bildungsmöglichkeiten auch durch eine überwiegende Zuweisung der Kinder
mit Zuwanderungsgeschichte (nach Abschluss der Primarstufe) in niedrig qualifizierende weiterführende Schulen (Real- und Hauptschulen) erfolgt. Folglich sind auch ihre Schulabschlüsse
niedriger und die Schulabbrecherquote ist immer noch überproportional hoch. Zudem beurteilen
Lehrerinnen und Lehrer Schulleistungen von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsge27
Mit der Bezeichnung der institutionellen Diskriminierung wird das Augenmerk nicht mehr auf die Individuen,
sondern auf die institutionalisierten Strukturen sozialer Prozesse gelegt. Die Ursachen von Diskriminierung werden
dabei im organisatorischen, nicht mehr im individuellen Handeln gesehen.
42
schichte schlechter als diejenigen der Kinder und Jugendlichen ohne Zuwanderungsgeschichte.
Die überproportional hohen Sonderschuleinweisungen von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte sind ebenfalls als ein Zeichen einer institutionellen Diskriminierung zu
werten (vgl. Bommes/Radtke 1993, S. 483-497).
Eine weitere Form der institutionellen Diskriminierung könnte in Bezug auf die Einstellungspraxis der Unternehmen behauptet werden. Zweifellos gibt es auch hier Diskriminierungsformen,
wenn Unternehmen aufgrund der Befürchtung, dass Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte
einen negativen Eindruck auf Kund(inn)en machen könnten, Jugendliche ohne Zuwanderungsgeschichte bevorzugen. Da die IT-Branche jedoch großen Wert auf ihre globale Orientierung legt
und offen für die hohe Bedeutung interkulturelle Kompetenzen eintritt, kann berechtigterweise
höchstens ein geringes Diskriminierungspotenzial seitens der Unternehmerinnen und Unternehmer vermutet werden.
Eine weitere Hypothese betrifft die Bedeutung interkultureller Kompetenzen wie Mehrsprachigkeit, Empathie, hohe kulturelle Mobilität etc. Solche Kompetenzen werden sowohl vom
Schul- als auch vom Ausbildungssystem bisher zu wenig be- und geachtet. Gerade im IT-Sektor
sind solche Kompetenzen jedoch ein enormer Vorteil. Von der Branche werden interkulturelle
Kompetenzen häufig auch gefordert. Die Bedeutung der Mehrsprachigkeit, vor allem auch die
Kenntnis von Minderheitensprachen, ist im IT-Bereich besonders hoch. Wichtige Bestandteile
eines kompetenten Umgangs mit Kund(inn)en sind auch soziale und kommunikative Kompetenzen. Dazu gehört angesichts einer zunehmenden Pluralisierung der Lebenswelten auch die
Kenntnis der sehr differenzierten Lebensstile inklusive ihrer spezifischen Konsumorientierungen.
Interkulturelle Kompetenzen können dazu beitragen, die Kontaktsituationen mit der Kundschaft
aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, eigene und fremde Deutungsmuster zu reflektieren
und die Kommunikation konstruktiver und konfliktfreier zu gestalten.
Allerdings unterliegt auch diese Branche denselben informellen Mechanismen der Inklusion
bzw. der Exklusion, mit denen Jugendliche und junge Erwachsene mit Zuwanderungsgeschichte
benachteiligt werden, so dass diese Kompetenzen bei Auswahlverfahren nur bedingt ins Gewicht
fallen.
Die Vermutung, dass schichtspezifische Selektionsmechanismen, indirekte institutionelle Diskriminierung und die fehlende Anerkennung interkultureller Kompetenzen ein einseitiges Bildungsverhalten der Kinder und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte bewirken und diese
43
daher sich in ihrer Berufswahl überwiegend an sog. „einfachen“ Berufen orientieren, entspricht
einem deduktiven Automatismus, der empirisch nur bedingt haltbar ist. Denn trotz dieser strukturellen, institutionellen und kommunikativen Benachteiligungs- bzw. Diskriminierungsformen gelingt es Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte immer wieder, die Leiter des Erfolgs empor zu klettern. Quantitative Erhebungen wie z.B. der Mikrozensus reichen deshalb nicht
aus, um die für das Verstehen der Unterrepräsentation erforderlichen Aspekte des Migrationskontextes, der Migrationsbiografie und der konkreten Bildungsentscheidungen der Bevölkerung mit
Zuwanderungsgeschichte zu ermitteln bzw. zu rekonstruieren. Dies kann nur mit qualitativen Methoden geschehen. Qualitative Methoden haben den Vorteil, dass soziale Prozesse wie der Berufswahlprozess, die Entwicklung sozialer Bindungen oder das Rollenverhalten detailliert rekonstruiert werden können, zweifellos nicht ohne ein gewisses Potenzial an Konstruktion. Biografien
werden mittels qualitativer Forschungsmethoden in der Tat rekonstruiert, d.h. es entsteht eine
subjektive, gefärbte, von bestimmten äußeren Umständen abhängige „Erfindung der eigenen
Biografie“. Abgesehen davon, dass auch mit quantitativen Methoden die Ziele der Authentizität
und der Repräsentation nicht automatisch erreicht werden können, bieten qualitative Methoden
den Vorteil, dass die Betroffenen, über die in der Regel immer nur berichtet und gesprochen wird
oder auch Geschichten konstruiert werden, an dieser Stelle selbst zu Wort kommen können. Der
biographischen Methode kommt damit noch eine ganz besondere Bedeutung zu: Ganz im Sinne
der modernen Ethnographie geht es darum, „den Anderen“ die Möglichkeit zu geben, „(...) ihre
Diskurse im eigenen zum Sprechen zu bringen“ (Fuchs/Berg 1993, S. 93). Die Wissenschaft hat
dementsprechend vor allem die Aufgabe, Räume zu öffnen, in denen sich „die Anderen“ selbst
zur Geltung bringen können, um der Gefahr vorzubeugen, „(...) nicht mehr nur über und vor allem nicht mehr für die Anderen sprechen zu wollen (...)“ (Fuchs/Berg 1993, S. 72). Einer durch
die gängigen klassischen und modernen Theorien der sozialen Ungleichheit immer wieder erneuerten Inszenierung der Repräsentation „der Anderen“ könnte damit eine angemessene Perspektive
entgegengesetzt werden.
Ein weiterer Vorteil dieser Methode ist der während der Rekonstruktion der eigenen Biografie
einsetzende Reflexionsprozess, der es den Interviewpartner(inne)n ermöglicht, teils bereits beendete, teils sich noch im Prozess befindende Entwicklungen und Ereignisse zu reflektieren und
ggf. neu zu bewerten.
Bei der Evaluation des „biographischen Materials“ muss es darum gehen, bei den Interviewpartner(inne)n sowohl die traditionalen als auch die innovativen sozialen Bestandteile der indivi44
duellen Bewältigungsformen sozialer Ereignisse (vgl. Apitzsch 1996, S. 145f.) herauszukristallisieren. Aus der dialektischen Vorgehensweise einer – im Sinne von Fritz Schütze – phänomenologisch orientierten Rekonstruktion sozialer Prozesse und des Erkennens teils offener, teils latenter Potenziale der Reflexion und der Transformation der eigenen Situation der Interviewpartner/innen kann dann ein passgenaues Maßnahmenbündel entwickelt werden. Diese Maßnahmen
können schließlich eine Verbesserung der Situation der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte
auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt und eventuell auch eine Erhöhung des Anteils der Kinder und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte in hoch qualifizierten Berufsfeldern bewirken.
Neben den im Rahmen der Bildungs- und der Migrationsforschung eruierten allgemeinen Gründen ermöglichen biographische Interviews sehr detaillierte Einblicke in die Lebenslagen und welten der jungen Erwachsenen mit Zuwanderungsgeschichte. Die Gruppe der Interviewpartner/innen unterscheidet sich nicht nur durch die einzelnen Migrationskontexte bzw. die verschiedenen Migrationsgründe24. Auch die weitere Sozialisation bzw. die konkrete Behandlung im
Aufnahmeland ist von entscheidender Bedeutung bei der Entwicklung diverser Karrieremuster.
Biografieentwicklungen oder Karrieren werden heute maßgeblich durch den Umgang mit Risiken geprägt. Diese können sowohl äußerlicher als auch innerlicher Art sein. Tritt ein Risiko von
außen auf, ist es nur so lange als objektiv zu bewerten, bis der, zwar strukturell geprägte, jedoch
individuell entschiedene und vollzogene Umgang mit dem Risiko beginnt. Unsicherheitserfahrungen, wie z.B. die Nicht-Anerkennung eines im Herkunftsland erworbenen Zertifikats durch
das Aufnahmeland, können auf sehr verschiedene Art und Weise bewältigt werden. Die eine Person wirft z.B. das Handtuch und kehrt wieder in ihr Herkunftsland zurück, eine andere Person
mag diese Unsicherheitserfahrung als Herausforderung interpretieren und versucht, den Abschluss im Aufnahmeland nachzuholen oder ggf. auch für dessen nachträgliche Anerkennung zu
kämpfen. In beiden Fällen geht es jedoch darum, auf irgendeine Art und Weise (wieder) biographische Sicherheit zu erlangen. Dafür bedient man sich so genannter Sicherheitskonstruktionen,
mit denen deutend bzw. Sinn gebend versucht wird, die Unsicherheitserfahrung zu bearbeiten.
Die Wahl der Sinngebung bzw. des Deutungsmusters beeinflusst maßgeblich den Umgang mit
dem Risiko und somit auch die Auswahl des Handwerkzeugs, mit dem man versucht, das Risiko
abzustellen, es zu umgehen oder zu kompensieren.
45
Im Rahmen eines Forschungsprojekts28 konnten in Interviews mit Auszubildenden mit Zuwanderungsgeschichte eine ganze Reihe solcher Unsicherheitserfahrungen erkundigt, jedoch eine
nur sehr geringe Anzahl an Sicherheitskonstruktionen in den Biografieverläufen offenbart werden. Die Auszubildenden waren einerseits mit allgemeinen, andererseits aber auch mit branchenspezifischen Unsicherheiterfahrungen konfrontiert. Zudem gab es auch einige Erfahrungen, die
nur die zugewanderte Bevölkerung machen kann bzw. die bei der Vergleichsgruppe der Auszubildenden ohne Zuwanderungsgeschichte nicht auftreten. Das Verhältnis von Unsicherheitserfahrungen und Sicherheitskonstruktionen entscheidet schließlich über die Art und Weise der individuellen beruflichen Karriere. (vgl. hierzu ausführlicher Deimann/Ottersbach 2005; Deimann/ Ottersbach 2007).
Gezeigt wurde, dass Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte in der zweiten
und auch noch in der dritten Generation der soziale Aufstieg in unserer Gesellschaft systematisch
erschwert wird. Sie werden in allen zentralen gesellschaftlichen Bereichen, d.h. im Bildungs-,
Ausbildungs- und auch im Arbeitsmarktsystem, häufig in institutionalisierte Sackgassen geleitet.
Gerade das Bildungssystem, dessen Aufgabe es ist, Aufstiege zu ermöglichen und für Chancengleichheit zu sorgen, offenbart sich als völlig dysfunktional. Insbesondere das dreigliedrige
Schulsystem selektiert viel zu früh und gestattet kaum soziale Aufstiege. Stattdessen begünstigt
es die Festigung des sozialen Status der Angehörigen der unteren sozialen Schichten. Die im
Rahmen der Jugendhilfe, der Jugendsozialarbeit oder auch der Schulsozialarbeit angebotenen Unterstützungsleistungen sollen dieses Manko kompensieren. Eine eigens initiierte interkulturelle
Pädagogik soll Pädagog(inn)en in die Lage versetzen, auf die Belange von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte mit besonderer Sensibilität zu reagieren. Zielgruppenspezifische Maßnahmen haben jedoch häufig den negativen Effekt, dass sie die zu unterstützende Gruppe stigmatisieren. Ob die „positive Diskriminierung“ tatsächlich als eine effektive Kompensation
der sozialen Ungleichheit bzw. der Defizite der Selektion bewertet werden kann, ist umstritten
und kann im Rahmen dieser Expertise als Problem nur angerissen werden.
28
Vgl. hierzu das im Rahmen des EQUAL-Programms und im Auftrag des ehemaligen Landeszentrums für Zuwan-
derung durchgeführte Projekt „OpenIT – Öffnung der IT-Berufe für Migrantinnen und Migranten“. Das von uns wissenschaftlich begleitete Projekt sah seinen Auftrag darin, – neben Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern und jüdischen Kontingentflüchtlingen – vor allem die Zielgruppe der zweiten und dritten Generation der Einwanderinnen
und Einwanderer näher an hoch qualifizierte Berufe des IT-Sektors heranzuführen (vgl. hierzu Deimann/Ottersbach
2005).
46
3.
Die subjektive Sichtweise von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte auf ihr Lebensumfeld in der Literatur
Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte rücken immer mehr in den Fokus des öffentlichen Interesses. Bei der Recherche der aktuellen Literatur zur Thematik wird jedoch deutlich, dass sie immer noch häufig nur als Problem präsentiert werden und dass der wissenschaftliche Blick weniger die subjektive Sichtweise auf ihr Lebensumfeld berücksichtigt, sondern in
Form von Expertenwissen (von Lehrer(inne)n, Sozialarbeiter(inne)n etc.) dargeboten wird. Autor(inn)en, die jedoch die subjektive Sichtweise von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte erforschen, tun dies wiederum hauptsächlich aus Interesse an ganz bestimmten
Aspekten des Lebensumfelds, z.B. im Zusammenhang mit Bildung, sozialer Ungleichheit, Armut, Religion usw. oder auch als Kombination bzw. gegenseitige Beeinflussung verschiedener
Aspekte des Lebensumfelds. Eine Forschung, die die subjektive Sichtweise von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte auf ihr Lebensumfeld als Gesamtheit von systemischer
und sozialer Integration mittels qualitativer Methoden untersucht, ist nicht bekannt. Eine Ausnahme bildet die 15. Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2006, in der rund 2500 Jugendliche aus
Deutschland, sowohl ohne als auch mit Migrationshintergrund hinsichtlich ihrer (politischen)
Einstellungen, individuellen Hoffnungen und Werte befragt wurden. Im qualitativen Teil dieser
Studie wurden 25 Leitfadengespräche inhaltsanalytisch ausgewertet. Darüber hinaus werden 20
Jugendliche in Porträts vorgestellt, von denen wiederum vier eine Zuwanderungsgeschichte aufweisen können.
Im Folgenden werden aktuelle Studien, die die subjektive Perspektive der Kinder und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte auf ihr Lebensumfeld mittels qualitativer Methoden erforschen, aus analytischen Gründen nach bedeutsamen Aspekten des Lebensumfelds dieser Kinder
und Jugendlichen vorgestellt. Diese Studien verdeutlichen auch eine gewisse Rangordnung der
verschiedenen Aspekte. Dem Alter entsprechend dominieren Aspekte wie Bildung, Ausbildung,
Berufsperspektive, Familie und die peer group. Darin unterschieden sich Kinder und Jugendliche
mit Zuwanderungsgeschichte nicht von denjenigen ohne Zuwanderungsgeschichte. An zusätzlichen, herkunftsspezifischen Aspekten werden „lediglich“ institutionelle und persönliche Diskriminierungserfahrungen im Alltag erwähnt. Allerdings sind diese negativen Erfahrungen vielfach
prägend für die Einstellungen der Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte in Bezug
auf ihre Identitätsentwicklung, ihr Zugehörigkeitsgefühl und die Integration.
47
Bildung und Ausbildung
Bildung und Ausbildung haben einen sehr hohen Stellenwert im Alltag der Kinder und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte. In der erwähnten Shell-Jugendstudie äußern die Jugendlichen, dass sie bemüht sind, gute Schulabschlüsse zu erreichen, um später genug Geld zu verdienen und einen Ausbildungsplatz zu bekommen. So schätzt z.B. ein Jugendlicher seine Chancen
als Realschüler eher schlecht ein, so dass er einen Wechsel aufs Gymnasium anstrebt. Die Einschätzungen zur Schule reichen von keinen oder geringen Probleme in der Schule weder hinsichtlich der Leistungen noch im sozialen Umgang bis hin zu erheblichen schulischen Problemen, die
durch geringe Unterstützung seitens der Lehrer und durch mangelnden Kontakt zu den Mitschülern flankiert werden.
Vera King (2006) hat in 60 qualitativen Interviews Familienbeziehungen und Bildungsbiographien erfragt. Sie stellt dabei heraus, dass Bildungsaufstieg z.B. damit verknüpft sein kann, im
Kontext der elterlichen Erwartungen einen eigenen Weg finden zu müssen, und dass ein solcher
elterlicher Auftrag von den Kindern als besonders bedrängend erlebt wird, wenn er in der Elterngeneration vor dem Hintergrund von Missachtungs- oder Ausgrenzungserfahrungen formuliert
wurde oder wenn die Kinder mit ihrem sozialen Aufstieg das Leid und die Mühen der Eltern zu
kompensieren versuchen. Gerade hinsichtlich der in der Adoleszenz anstehenden Entwicklungsaufgaben können Widersprüche entstehen, wenn beispielsweise Bildungsanstrengungen hauptsächlich als Anpassung an elterliche Wünsche erlebt werden. Diesbezüglich untersuchte King die
Verschränkung von adoleszenten Entwicklungen und Bildungsverläufen und trifft dabei auf zwei
Konstellationen. Zum einen gibt es Jugendliche, die die elterliche Bildungsaspiration übernehmen und denen es nicht gelingt, sich vom Erwartungsdruck der Eltern zu lösen. Dies kann man
jedoch bei Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund beobachten. Durch Erfahrungen der
Diskriminierung, der Kinder aus Migrantenfamilien öfter und in stärkerem Maße ausgesetzt sind,
kann dieser Prozess jedoch verstärkt werden und dazu führen, dass sich die Betroffenen trotz Bildungsaufstieg nicht in etablierten und anerkannten Positionen verorten, sondern die Nähe zu den
‚Gescheiterten’ und Außenseitern beibehalten. Zum anderen gibt es Jugendliche, denen Erfahrungen, die sie im Bildungssystem machen, bei der Erarbeitung innerer und äußerer Freiräume in
der Adoleszenz hilfreich sein können, was wiederum dazu führt, dass die Veränderung im Verhältnis zur Herkunftsfamilie die Motivation und das Interesse im schulischen Bereich verstärken
48
kann. Da sich Kinder aus bildungsfernen und/oder Migrantenfamilien per se gesteigerten Transformationsanforderungen gegenüber sehen, können sich in dem Maße, wie die gesteigerten Anforderungen bewältigt werden, die persönlichen Kompetenzen und biografischen Ressourcen erweitern. Diese beiden Konstellationen machen deutlich, dass soziale Anerkennung auf der einen
Seite und gesellschaftliche Missachtung, Ausgrenzung oder Diskriminierung, wie sie gerade
Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte erfahren, auf der anderen Seite Auswirkungen auf adoleszente und familiale Entwicklungen haben können: „Die Mechanismen des Einund Ausschlusses in die Bildungssituationen sind auf verschiedene Weise mit daran beteiligt, ob
und wie Transformationsanforderungen der Adoleszenz zur Überforderung werden“ (King 2006,
S. 43).
Auch Andreas Pott (2006) unterstützt diese Aussage. Er untersucht mittels qualitativer Interviews den Bildungsaufstieg von Mädchen der zweiten türkischen Migrationsgeneration und stellt
heraus, dass sie neben den Anforderungen einer höheren Bildungskarriere mit zusätzlichen
Schwierigkeiten konfrontiert werden, die mit der allmählichen Entfernung von ihrem Herkunftsmilieu zusammenhängen. So fühlt sich z.B. eine junge Frau sehr in der Familie verortet und trifft
ihre Entscheidungen mit großem Respekt und Rücksichtnahme gegenüber den Einstellungen und
Meinungen der Eltern. Da die Eltern nicht wünschen, dass sie als Frau alleine wohnt, wird der
Studienort in der Nähe des Elternhauses gewählt, damit sie weiterhin zu Hause wohnen kann. Eine andere junge Frau begreift ihre Bildungskarriere als Modernisierung und persönliche Emanzipation. Dies hat auch Einfluss auf die Wahl ihres Berufes. Sie möchte ihre Erfahrungen und erworbenen Kompetenzen als Pädagogin weitergeben.
Erika Schulze (2007) zeigt anhand biografischer Beispiele, mit welchen konkreten Folgen und
Barrieren Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte im Schulalltag aufgrund stereotyper Vorstellungen und defizitorientierter Perspektiven des öffentlichen Diskurses konfrontiert sind.
Die interviewten Jugendlichen haben von ihren Eltern einen deutlichen Bildungsauftrag erhalten,
wobei das große Bildungsinteresse der Eltern an die eigenen Erfahrungen in der Migration geknüpft ist. Die sich daraus ergebende Unterstützung zeigt sich in der Befürwortung des Bildungsaufstiegs und in emotionaler Stärkung, fällt aber in Abhängigkeit von ökonomischen und sozialen
Ressourcen sowie der familiären Situation sehr verschieden aus. Während die einen große Unterstützung erhalten, wird von den anderen eine enorme Eigenständigkeit abverlangt. In ihren Beispielen zeigt Schulze, wie Bildungsprozesse bzw. -aufstiege von privaten und verwandtschaftlichen Netzwerken flankiert und unterstützt werden. „Häufig als ‚Integrationshemmnis’ wahrge49
nommen, bilden diese Netzwerke einen wichtigen Faktor im individuellen Bildungsweg (…)“
(Schulze 2007, S. 225). So werden die entsprechenden Unterstützer nicht nur als Mittler und
Nachhilfe, sondern auch als Vorbild wahrgenommen, denen eine große Bedeutung zugeschrieben
wird. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der von den Interviewten genannt wird, ist die Zusammensetzung der Schülerschaft und deren Auswirkung auf das Lernklima und den Schulalltag allochthoner Jugendlicher. Der Anpassungs- und Selektionsdruck, der auf die Schüler/innen sowohl durch die Lehrer/innen als auch durch die Mitschüler/innen ausgeübt wird, wird als sehr
massiv erlebt. Sogar die selbstverständliche Mitgliedschaft zur Institution Schule wird dabei angezweifelt. Hingegen lassen eine heterogene Zusammensetzung der Schülerschaft z.B. auf einer
weiterführenden Schule die Erfahrungen als ‚Abweichender’ und ‚Fremder’ in den Hintergrund
treten.
Berufliche Perspektiven
In der Shell-Jugendstudie wird seitens der interviewten Jugendlichen zum einen der Wunsch nach
einer Arbeit, die ausfüllend ist und die Grundlage für ein materiell sorgenfreies Leben ist, geäußert. Es werden aber auch Sorgen hinsichtlich des Arbeitsmarktes und der internationalen Konkurrenz geäußert. Ein Jugendlicher sieht z.B. gute Entfaltungs- und Wahlmöglichkeiten im Vergleich zu seinem Herkunftsland Jordanien, trotzdem fühlt er sich durch die pessimistische Sichtweise von anderen verunsichert.
Deimann/Ottersbach (2005) zeigen in ihrer bereits erwähnten Studie auf, dass das berufliche
Arrangement junger Menschen mit Zuwanderungsgeschichte im Gegensatz zu einheimischen
deutschen Jugendlichen von „zahlreichen und sehr vielfältigen Unsicherheitserfahrungen und von
eher wenigen Sicherheitskonstruktionen“ (2005, S. 45) begleitet wird. Ihre Interviews zeigen auf,
dass Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte über „weniger soziale Kontakte zu Verantwortlichen in Unternehmen und über deutlich geringeres ökonomisches Kapital“ (ebd.) verfügen. Allerdings gibt es auch Abweichungen. So bewegen sich politische Flüchtlinge (z.B. aus dem Iran),
deren ökonomische Situation bereits in ihrem Herkunftsland als gut zu bezeichnen war, im Aufnahmeland unabhängiger und erfolgreicher. „Die Kapitalien migrieren mit ihnen, ohne an Wert
einzubüßen. (...) Lediglich die im Herkunftsland erworbenen sozialen Kontakte verlieren im Aufnahmeland in der Regel an Bedeutung, es sei denn, es handelt sich um Anschlussmigration mit
Bezugspersonen im Einwanderungsland“ (ebd.). Die Interviews dieser Studie verdeutlichen zu50
dem, dass der Migrationskontext weiterhin eine wichtige Rolle bei der Positionierung im Aufnahmeland spielen kann. Junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sind in hoch qualifizierten Berufen nach wie vor deutlich unterrepräsentiert. Befragte Neuzuwanderer (anerkannte Asylbewerber, Spätaussiedler, Familienangehörige) entwickeln z.B. in Bezug auf die Ausbildung in
IT-Berufen nur ein „schwaches berufliches Arrangement“, das häufig sogar von sozialem Abstieg
begleitet wird. Anders ist es bei den Befragten aus zugewanderten Familien: Diese Jugendlichen
entwickeln – vor dem Hintergrund des relativ niedrigen Status ihrer Eltern – eher ein starkes berufliches Arrangement. Ihre Eltern sind als Gastarbeiter eingereist, waren in unteren Arbeitssegmenten beschäftigt, so dass deren Kinder ihre Karriere als sozialen Aufstieg interpretieren können. Dieser gelingt jedoch nur einer Minderheit der zweiten oder dritten Generation. Hingegen
entspricht die Einmündung der befragten einheimischen jungen Deutschen in die Ausbildung eines IT-Berufs eher einem selbstverständlichen beruflichen Arrangement. Der soziale Aufstieg ist
hier öfter realisierbar bzw. er wird gar nicht als soziale Mobilität aufgefasst, weil ihre Eltern vergleichbar auf dem Arbeitsmarkt positioniert waren oder sind.
Wohnen
Schulze und Spindler (2006) haben in Gesprächen mit Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte deren Lebenssituation in marginalisierten Quartieren rekonstruiert. Sie stellen heraus, dass die
Straße – mit all ihren positiven und negativen Seiten – für die Jugendlichen Normalität und Alltag bedeutet. Allerdings müssen sie sich mit der Stigmatisierung ihres Quartiers und der damit
verbundenen Problematisierung der eigenen Person auseinander setzen. Im Umgang damit werden unterschiedliche Strategien der Jugendlichen deutlich. Die einen versuchen, dem Stigma ein
positives Bild entgegen zu setzen, kämpfen um Anerkennung und verteidigen ihre Umwelt oder
nutzen sogar das Stigma zur strategischen Vorteilnahme, während andere zur Übernahme der
problematisierenden Sicht tendieren, indem sie die Nachbarschaft oder andere Jugendcliquen für
das Übel verantwortlich machen.
Politische Partizipation
In der Shell-Studie spielen bezüglich der politischen Partizipation der Kinder und Jugendlichen
mit Zuwanderungsgeschichte die ganz persönlichen Erfahrungen eine große Rolle. So ist z.B. eine Jugendliche im Jugendgemeinderat engagiert und findet es wichtig, sich aktiv gegen Miss51
stände zu wehren, gerade auf Grund ihrer eigenen Erfahrung mit Rassismus. Ein anderer Jugendlicher teilt diese Meinung und findet es gut, jung wählen zu dürfen, um verantwortlicher zu urteilen. Eine Jugendliche findet sich im Gegensatz dazu noch zu jung und möchte sich später erst gesellschaftlich engagieren. Ein Jugendlicher meint, die Jugend würde zu sehr unter Leistungsdruck
stehen und dass es viele gibt, die keine Ziele haben, was seiner Meinung durch Probleme innerhalb der Gesellschaft (Arbeitslosigkeit) und in den Familien (fehlendes Geld) begründet ist.
Intergration
Schramkowski (2007) beklagt in ihrer Arbeit, dass der Diskurs über Integration als fortdauernde
Aufgabe der gesamten Gesellschaft fast ausschließlich aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft dargestellt wird. Sie lässt junge Erwachsene mit Zuwanderungsgeschichte zu Wort kommen, die ihrem ganz eigenen Verständnis und Erleben zum Thema Integration Ausdruck geben.
In ihren Aussagen werden die alltagsrassistischen Zuschreibungen und Ausgrenzungen, denen sie
in den verschiedensten Lebenskontexten ausgesetzt sind, deutlich. Ohne Berücksichtigung ihrer
individuellen Orientierungen und Lebenslagen werden sie von der Mehrheitsgesellschaft nicht als
gleichberechtigte Gesellschaftsmitglieder anerkannt, sondern auf ihr ‚Anderssein’ bzw. ‚Fremdsein’ reduziert. Die Erfahrungen von Zuschreibung und Ethnisierung können dazu führen, dass
die Befragten Integration als negativ konnotierten Terminus wahrnehmen. „Für mich aber hat
dieses Integrationswort seinen Wert verloren und es ist jetzt ein negatives Wort, weil durch das
Wort Integration werden […] diese Ausgrenzungen gemacht. Du bist das, und du bist das.“
(2007, S. 154). Und nicht nur das, der alltäglich erfahrene Rassismus kann dazu führen, dass
durch deutliche Abgrenzung und Rückzug der Betroffenen von der Mehrheitsgesellschaft das genaue Gegenteil von Integration erreicht wird.
Jugendkultur, die Bedeutung der peergroup und Freizeit
Ganz selbstverständlich wird auch in der Shell-Studie die hohe Bedeutung der Freunde für Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte erwähnt. Einem Jugendlichen ist Musik sehr
wichtig, sowohl als Konsument als auch als Praktizierender, weil sie zu seiner Persönlichkeitsentwicklung beigetragen hat. Er verbindet damit Kultur, die auch durch seinen Kleidungsstil zum
Ausdruck kommt.
52
Lübcke (2007) geht in ihrer Arbeit davon aus, dass „sich in den Jugendkulturen junger Muslime die Vielfalt westlicher Jugendkulturen ebenso widerspiegelt, wie in den Jugendbiografien
und sozialen Gruppenstrukturen Jugendlicher aus muslimischen Milieus.“ Sie untersucht dabei
die Verortung junger Muslime einerseits innerhalb der westlichen Jugendkulturen und anderseits
innerhalb muslimischer und ethnischer Jugendkulturen. Sie stellt vor dem Hintergrund des umfangreichen empirischen Materials von 80 narrativen Interviews und vier Gruppendiskussionen
heraus, dass sich junge Muslime in Deutschland mit der Ausnahme des HipHop nur wenig den
einzelnen Jugendszenen zuordnen lassen. Dabei sind die Charakteristika der muslimischen Jugendkulturen, ähnlich der „westlich-angelsächsischen Jugendkulturen, [von] Abgrenzung gegenüber antiquierten kulturellen wie gesellschaftlichen Leitbildern und Rollenzuweisungen“ (ebd., S.
313) geprägt. „Wie in den individualisierten westlichen Jugendkulturen werden auch in muslimischen Szenen eigene identitätsrelevante Stile und ästhetische Ausdrucksformen im Kontext pluraler kommerzieller Freizeitwelten generiert, die nicht nur der Integration in die Gleichaltrigengruppen, sondern auch der Entwicklung persönlicher Autonomie und – ansatzweise – sexueller
Orientierung dienen.“ Innerhalb dieser Szenen ist es aber auch möglich, sich mit den Beziehungen zur Mehrheitsgesellschaft und mit den Werten und Traditionen der Eltern- und Großelterngenerationen auseinander zusetzen. Lübcke macht aber auch deutlich, dass es kaum Forschungsmaterial gibt, das die Vielfalt der Ausdrucksformen junger Migrant(inn)en hinsichtlich ihrer biografischen Relevanz auf Dimensionen und Gestalten spezifischer Generationenkonflikte untersucht.
Familie
In der Shell-Studie äußern alle Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte, dass ihnen ihre Familie
als Basis und Rückhalt für ihr gesamtes Handeln sehr wichtig ist. Es werden für die Jugend normale Ablöseschwierigkeiten benannt, wie z.B. von einer Mutter, die Probleme mit der zunehmenden Selbständigkeit ihres Sohnes hat. Aber auch spezifische Problematiken, wie z.B. der
kontrollierende Bruder oder die Ferne von Familienangehörigen im Herkunftsland spielen eine
Rolle.
53
Werte und Religion
In der Shell-Studie (2006) werden Selbstbewusstsein, Sicherheit, Spaß haben und der Einsatz für
persönliche Ziele als wichtige Werte der Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte genannt. Es
wird von einer Jugendlichen auch als große Freiheit empfunden, in der Schule und im Beruf
Kopftuch tragen zu können, obwohl sie selber keines trägt.
Der Blick auf die Wichtigkeit der Religion ist gemäß der Ergebnisse der befragten Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte in der Shell-Studie (2006) sehr verschieden. Grundwerte werden als wichtig erachtet, müssen aber nicht zwangsläufig auch Einfluss auf die Lebensweise haben.
Nökel (2007) hat eine Studie veröffentlicht, die 18 narrativ-biografische Interviews mit Frauen zwischen 18 und 25 Jahren beinhaltet, die sich als praktizierende und moderne Muslime definieren. Sie kommt zu dem Schluss, dass „innerhalb der zweiten Immigrantengeneration aus muslimischen Ländern eine spezifische Gruppe im Sinne einer ‚sozialen Fraktion’ entstanden ist, die
dem Islam einen großen Wert als ethisches und moralisches Ordnungswerk beimisst“ (2007, S.
137). Es wurde auch deutlich, dass sich junge Muslime eine bessere religiöse Erziehung bzw.
Aufklärung über ihre Religion durch Eltern, muslimische Organisationen oder die staatlichen
Schulen wünschen. Außerdem stellt Nökel heraus, „dass eine intensive religiöse Orientierung am
Islam aus Sicht der muslimischen Jugendlichen nicht im Gegensatz zu einer zeitgemäßen Lebensführung stehen muss, sondern selbstverständlicher Bestandteil ihrer je individuell entwickelten
Identität sein kann“ (2007, S. 168).
Rollen
In der Shell-Jugendstudie (2006) werden seitens der befragten Jugendlichen durchaus auch Rollenkonflikte aufgezeigt. Eine Jugendliche sieht z.B. junge Leute von den älteren Menschen öfters
ungerecht behandelt, was sie sehr stört. Der Unterschied zwischen Mann und Frau wird beobachtet und thematisiert, jedoch unterschiedlich interpretiert. Ein Mädchen fühlt sich selbst emanzipiert, empfindet jedoch große Ungerechtigkeit, aber sieht die junge Generation auf einem guten
Weg zur Gleichberechtigung. Eine andere Jugendliche fühlt sich, bezüglich des Ausgehens mit
Jungen, durch ihre Familie in der Rolle als Mädchen eingeschränkt und unter Druck gesetzt. Sie
54
wünscht sich eine gleichberechtigte Partnerschaft. Einer meint, dass es Jungen leichter haben und
Mädchen unter stärkerem gesellschaftlichen Druck stehen.
Mertol (2007) untersuchte auf der Basis qualitativer Fallstudien an fünf türkischen Jungen deren Orientierungsmuster in den geschlechtsspezifischen Konzepten der Jugendlichen. So differieren, wie nicht anders zu erwarten, die Männlichkeitsbilder. Sie reichen von eher traditionellen Orientierungen, z.B. der Mann als Ernährer und Oberhaupt der Familie auch mit der Verbindung
von Beruf und größerem beruflichem Erfolg gegenüber der Frau bis hin zu Mustern, die auf
Gleichberechtigung beruhen, auch hinsichtlich der Berufswahl. In der Rolle als Vater und Ehemann in der Familie werden sowohl traditionelle als auch moderne Ansichten geäußert. Bei vier
der fünf befragten Jungen machte Mertol ein eher distanziertes Verhältnis zum Männlichkeitsbild
des Vaters aus. Mit Blick auf Arbeit und Beruf zeigten sich eher egalitär orientierte Berufsbilder
für Mann und Frau, was darauf hinweist, dass die traditionellen geschlechtspezifischen Berufsbilder und Berufsrollen auch hier dem sozialen Wandel unterliegen.
Zusammenfassung
Es zeigt sich, dass die in Angriff genommene Fragestellung ein sehr komplexes Thema beinhaltet
und dass das Lebensumfeld von Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte weit mehr ist als die
Summe der es ausmachenden Teile. In allen vorab vorgestellten Arbeiten wurde also jeweils nur
ein kleiner Teil beleuchtet und es wurde deutlich, dass es unmöglich ist, von ‚der’ Sichtweise von
Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte zu sprechen, sondern dass hier die jeweils individuellen und biografischen Zusammenhänge eine große Rolle spielen, wie die Jugendlichen ihr Lebensumfeld in ihren gegenwärtigen und ganz spezifischen Lebenskontexten wahrnehmen. Offensichtlich wird jedoch, dass dabei weniger die Zuwanderungsgeschichte eine Rolle spielt als die
Frage, von welchen sozialen, familiären, gesellschaftlichen und ökonomischen Umständen die
Lebenswelt des Jugendlichen geprägt wird. Damit ist ein dringender Perspektivenwechsel verbunden, der weniger die Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte in den Blick nimmt, sondern
die Bedingungen der Aufnahmegesellschaften, die das Lebensumfeld der Jugendlichen prägen.
Wie wichtig der Perspektivenwechsel ist, wird bei Bukow/Jünschke/Spindler/Tekin (2003) deutlich. Hier wird der Frage nachgegangen, inwiefern Wechselwirkungen von Ethnisierung und
Kriminalisierung, verbunden mit der gesellschaftlichen Vorstellung von „Ausländerkriminalität“,
eine Rolle für die Inhaftierung von Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte spielen. Dabei
55
werden die Kriminalitätskarrieren von verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Vor diesem Hintergrund wurden männliche Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte aus Köln, die straffällig
geworden und inhaftiert waren, interviewt. Im Zuge der detaillierten Beschäftigung mit der Lebenssituation der inhaftierten allochthonen Jugendlichen wurde deutlich, dass diese in sehr spezifischen Situationen leben, die im Wesentlichen von der Lage als Migrant/in bestimmt ist. Dabei
stellte sich heraus, dass weniger die Zuwanderungsgeschichte eine Rolle spielt, sondern dass ihre
Lage dadurch geprägt war, „dass sie zunächst einmal als „Ausländer“ und dementsprechend wie
selbstverständlich gesellschaftlich, politisch, sozial, kulturell und ökonomisch deutlich anders
und zwar unvergleichlich ungünstiger als die einheimischen Gleichaltrigen platziert sind“ (2003,
S. 293). Nur unter Berücksichtigung dieser Perspektive kann man erkennen, wie „ohne Rekurs
auf deren [die Jugendlichen mit Migrationshintergrund] spezifische Lebenslage generell ethnisiert und gegebenenfalls auch kriminalisiert wird“ (2003, S. 34), was schließlich im öffentlichen
Diskurs in Bezeichnungen wie „Ausländerkriminalität“ seinen Ausdruck findet. Auf Grundlage
der in dieser Studie bezüglich ihres Lebensumfeldes gemachten Betrachtungen der Jugendlichen
mit Zuwanderungsgeschichte ist es eben nicht möglich, Aussagen über spezielle Probleme der
Zuwanderungsgeschichte dingfest zu machen. Es ist eher zu beobachten, dass diese „Zuwanderungsgeschichten“ mit der ganz speziellen Biografie des einzelnen in Zusammenhang stehen und
daher keine generalisierenden Aussagen getroffen werden können.
56
4.
Empirische Studie zur Erkundung der subjektiven Sichtweise von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte auf ihr Lebensumfeld
Die vorliegende Expertise hat einleitend die Entwicklung und Relevanz der subjektiven Sichtweise verdeutlicht und auf die ambivalenten Folgen des individuellen Zwangs zur Wahl hingewiesen. Mit der Unterscheidung zwischen systemischer und sozialer Integration wurde anschließend
ein soziologischer Blick auf das Lebensumfeld der Kinder und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte gerichtet und mit quantitativen Daten belegt. Schließlich sind aus der Literatur bekannte Ergebnisse von Studien vorgestellt worden, die ihrerseits die subjektive Sichtweise von
Kindern und Jugendlichen auf ihr Lebensumfeld mittels qualitativer Methoden erkundet haben.
Auf dieser Basis wurde eine kleine empirische Untersuchung geplant und durchgeführt, die ebenfalls mit qualitativen Methoden einen Beitrag zur Rekonstruktion der subjektiven Sicht von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte auf ihr Lebensumfeld leisten möchte. In diesem Kapitel wird die Fragestellung, das Forschungsdesign und Sample beschrieben. Anschließend werden die Ergebnisse vorgestellt.
4.1
Fragestellung, Forschungsdesign und Sample der empirischen Untersuchung
Für eine Erkundung der subjektiven Sichtweise des Lebensumfelds von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte in Nordrhein-Westfalen ist von Interesse, wie diese Kinder
und Jugendliche mit den zentralen Aspekten ihrer Lebenssituation umgehen, welche Bewältigungsformen sie entwickelt haben und wie erfolgreich sie mit diesen Bewältigungsformen sind.
Zu erkunden ist auch, wie sich die dargestellten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen institutionell in Bezug auf Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte realisieren. Denn auch
und gerade Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte erleben in Deutschland eine individualisierte Jugendphase. Wie alle Kinder und Jugendliche befinden sie sich zwischen Autonomie und Anpassung in den sie begleitenden institutionellen Kontexten des Familiensystems,
des Erziehungs- und Bildungssystems, des Übergangs von der Schule in den Beruf und in sozialen Netzwerken.
Während sie auf der einen Seite mit denselben gesellschaftlichen Zusammenhängen und institutionellen Faktoren wie Status der Eltern, Bildung, Gesundheit, Wohnen, politische Partizipati57
on, Freizeit etc. konfrontiert sind wie ihre Altersgenossen ohne Zuwanderungsgeschichte, kommen bei zugewanderten Kindern und Jugendlichen jedoch Aspekte hinzu, die direkt mit Migration zusammenhängen. Zu nennen sind hier z.B. die individuell unterschiedlichen Migrationsmotive und Integrationsverläufe und die unterschiedlichen Aufnahmebedingungen der einzelnen
Gruppen mit Zuwanderungsgeschichte und die damit verbundenen verschiedenen sozialen Erwartungen der autochthonen Bevölkerung im Einwanderungsland.
Amtliche Statistiken beinhalten in der Regel die so genannten „harten“ Daten zur systemischen Integration der Menschen, d.h. sie spiegeln z.B. die Erwerbsquote, die Arbeitslosigkeit, das
Einkommen, die Wohnsituation, die gesundheitliche Lage oder die Bildungssituation verschiedener Bevölkerungsgruppen wider. Dank des seit 2005 differenzierten Mikrozensus verfügen viele
Ämter inzwischen nicht mehr nur über die entsprechenden Daten von Deutschen und Ausländer(inne)n, sondern auch über diejenigen von Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte.
Was den zweiten Teil des Lebensumfelds, die so genannte soziale Integration, angeht, sieht es
mit den amtlichen Statistiken weitaus schlechter aus. Das hängt damit zusammen, dass diese Daten nur sehr schwierig zu generieren sind. Soziale Bindungen, Werte, Normen und Traditionen
oder das Rollenverhalten sind nicht statistisch erfassbar - oder zumindest nicht in einer für den
Zweck der politischen oder pädagogischen Verwertung zufrieden stellenden Art und Weise. Zwar
gibt es durchaus auch quantitative Untersuchungen zu Werten, Normen und Einstellungsmustern
verschiedener Bevölkerungsgruppen; diese bleiben jedoch notgedrungen sehr oberflächlich. Um
Fragebögen zweckmäßig auszuwerten, können eben nur bestimmte Raster abgefragt werden, die
meist nur einen ersten Eindruck von der Situation vermitteln können. Will man tiefer in die Gefilde der sozialen Integration und der subjektiven Sichtweise vordringen, muss man mit qualitativen Methoden agieren, deren Einsatz jedoch weitaus aufwändiger ist.
Aufgrund der relativ kurzen Zeit, die für die Erfassung der Daten zur Verfügung steht, bietet
sich lediglich eine Querschnittsstudie an. Längsschnittdaten stehen in Bezug auf die systemische
Integration in ausreichendem Maße zur Verfügung. Längsschnittdaten, die Auskunft geben über
das Rollenverhalten oder die subjektive Sichtweise der Kinder und Jugendlichen auf ihr Lebensumfeld, gibt es nicht. Sie können im Rahmen dieser Studie auch nicht zur Verfügung gestellt
werden. Stattdessen muss man sich mit Daten einer Querschnittsstudie zufrieden geben, die allerdings durchaus schon eine starke Aussagekraft haben können.
Als Methoden bieten sich weiterhin die Beobachtung oder face-to-face-Interviews an. Eine
teilnehmende Beobachtung in Form einer ethnografischen Feldanalyse durchzuführen, wäre in
58
Bezug auf die soziale Integration und die subjektive Sichtweise von Kindern und Jugendlichen
mit Zuwanderungsgeschichte besonders spannend – jedoch auch sehr aufwändig. Man müsste
dann tage- oder sogar wochenlang den Alltag der Menschen als Begleiter/in beobachten, sich Notizen machen und anschließend die Beobachtungen im Team auswerten. Stattdessen bieten sich
Möglichkeiten der verbalen Kommunikation an, die deutlich weniger Zeit in Anspruch nehmen,
jedoch auch die bekannten Nachteile haben. Verbale Kommunikation basiert immer auf den Erwartungen des Gegenüber, d.h. die Mitteilungen sind oft auf den Interviewer bzw. die Interviewerin abgestimmt und Art und Umfang der Aussagen hängen sehr stark vom Vertrauen zwischen
den Kommunizierenden ab.
Soll die subjektive Sichtweise der Menschen auf ihr Lebensumfeld erfragt werden, kommen
häufig biografische Interviews zum Einsatz. Gemeinsam ist allen qualitativen Forschungsverfahren die Absicht, den Sinn individueller Erfahrungen und Deutungen zu rekonstruieren. Anhand
der Interpretation von Einzelfällen wird deren Beispielhaftigkeit für eine größere Anzahl von Fällen in vergleichbarer Lage herausgearbeitet. Konkret bedeutete dies, dass Interviews als offene,
so genannte narrative Interviews angelegt worden sind. Im Kontext der hier vorliegenden Fragestellung wurde jedoch ein spezifischer Fokus auf institutionelle Kontexte gelegt, die im Jugendalter zu biographischen Statuspassagen werden: Familie, Erziehung und Bildung, Übergang Schule-Beruf.
Allerdings konnte, das wurde in den ersten Gesprächen schnell deutlich, auf einen Leitfaden
nicht verzichtet werden. Zwar widerspricht das „Frage-Antwort-Schema“ eines Leitfadens der
Absicht, dem Subjekt einen größtmöglichen Freiraum für eigene Gestaltung und eigene Sinn- und
Deutungsstrukturen zu lassen. Es durfte aber auch nicht ignoriert werden, dass die Jugendlichen,
vor allem die Jungen, von der bloßen Aufforderung, über sich selbst zu erzählen, teilweise überfordert waren. Schließlich wurden mit einem Leitfaden einzelne Aspekte in das Zentrum gestellt,
die sich im laufenden Forschungsprozess als relevant erwiesen hatten. Neben den biographischen
Passagen Familie, Erziehung und Bildung, Übergang Schule-Beruf wurden soziale Netzwerke
und ein Vergleich zwischen zugewanderten und nicht-zugewanderten Jugendlichen explizit angesprochen. (vgl. Anhang 1: Leitfaden). Zu diesen Themenfeldern ist die Erhebung schließlich mit
fokussierten Interviews (vgl. Merton/Kandall 1979) durchgeführt worden, die sich durch die Fokussierung auf einen spezifischen Gegenstand bei gleichzeitiger Offenheit des Interviews auszeichnen. So sollte noch eine Offenheit gewährleistet werden, die es den Befragten ermöglicht,
neue, nicht antizipierte Gesichtspunkte in das Interview einzubringen.
59
Die folgende Abbildung veranschaulicht das Sample der Untersuchung. Alle Namen wurden zur
Wahrung der Anonymität geändert.
Nachkommen der Arbeitsmigration
Spätaussiedler/-innen
Flüchtlinge/Asylsuchende
Deutsche ohne Zuwanderungsgeschichte
Jungen
Karim,
17 Jahre,
2. Generation,
Marokko
Deutscher
Egon,
16 Jahre,
mit 11 Jahren zugewandert,
Kasachstan
Deutscher
Amir,
16 Jahre,
mit 5 Jahren zugewandert,
Kurde aus Irak
Iraker
Tim,
20 Jahre,
mit 19 Jahren von Berlin
nach Köln gezogen
Mädchen
Elizabeta,
18 Jahre,
3. Generation,
eh. Jugoslawien
Deutsche
Marta,
17 Jahre,
mit 12 Jahren zugewandert,
Kasachstan
Deutsche
Aicha,
17 Jahre,
mit 6 Jahren zugewandert,
Kurdin aus Irak
Deutsche
Claudia,
25 Jahre,
nach Umzügen innerhalb Nordrhein-Westfalens zurück in ihrer
Heimatstadt Aachen
Zweifellos gibt es „die“ Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte nicht als eine homogene soziale Gruppe. Dies hat einmal mehr die aktuelle SINUS-Studie zu Milieus der Migrantinnen und Migranten verdeutlicht. Innerhalb der Gruppe der Kinder und Jugendlichen, als deren
gemeinsames Merkmal die Zuwanderungsgeschichte gelten kann, ist eine große Heterogenität
von Lebenslagen und Lebensstilen zu erwarten. Um die verschiedenen Hintergründe der Zuwanderung angemessen zu berücksichtigen, werden drei Formen der Zuwanderung unterschieden:
•
Arbeitsmigration
•
Spätaussiedler/innen
•
Asylmigration
Mit qualitativen Methoden erreicht man keine Repräsentativität, was im Übrigen auch nicht das
Ziel qualitativer Methoden sein kann. Allerdings kann man durchaus die Vielfalt eines Samples
berücksichtigen. Dies wollen wir im Rahmen dieser Untersuchung auch tun, d.h. die unterschiedlichen Migrationsgruppen, ihr unterschiedlicher rechtlicher Status und damit verbunden die unterschiedlichen Möglichkeiten der Entfaltung im Aufnahmeland auf der einen Seite und die man60
nigfaltigen Erwartungshaltungen seitens der autochthonen Bevölkerung auf der anderen Seite sollen bei der Auswahl des Samples eine Rolle spielen.
Angenommen wurde, dass die subjektive Sicht von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte auf ihr Lebensumfeld durch die Form der Zuwanderung objektiv vorstrukturiert
ist. Diese Annahme wurde in der Auswertung der Leitfadeninterviews überprüft. Pro Gruppe
wurden ein Mädchen und ein Junge im Alter zwischen 15 und 25 Jahren interviewt, um auch
mögliche Geschlechterdifferenzen aufzunehmen. Interviews mit Kindern wurden nicht geführt,
weil von ihnen keine Reflexion über ihr Lebensumfeld erwartet werden kann. Um Kulturalisierungen vorzubeugen, wurden zudem noch zwei Interviews mit Jugendlichen ohne Zuwanderungsgeschichte durchgeführt.
Alle Interviews wurden in zwei sozialstrukturell verschiedenen Kölner Stadtteilen geführt.
Der Zugang zum Feld wurde über Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe hergestellt. Dazu
kamen im „Schneeballverfahren“ Bekannte nach dem Zufallsprinzip. Die Schwächen dieses Vorgehens sind klar: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Teilnehmenden über die Interviews wechselseitig informieren und damit ihre Aussagen beeinflussen. Und eine Vergleichbarkeit des Lebensumfeldes darf zwischen Bekannten sogar erwartet werden (vgl. Przybarski/
Wohlrab-Sahr 2008, 180). Dennoch ist das Verfahren hilfreich für eine erste Erschließung des
Feldes, auch wenn eine bewusste Suche nach möglichst heterogenen Milieus ein sinnvoller
nächster Untersuchungsschritt wäre.
Im Forschungsfeld wurde schon die einfache theoriegeleitete Bestimmung des Samples (Zuwanderungsform/Geschlecht) als Zumutung empfunden. Denn Jugendliche unterscheiden sich
selbst nicht danach, ob sie Spätaussiedler/innen, Nachkommen der Arbeitsmigrant(inn)en oder
Flüchtlinge sind. Auch für die „Türöffner“ der Kinder- und Jugendhilfe waren diese Kategorien
irrelevant. Teilweise war das Interesse der Jugendlichen so groß, dass mehrere Interviews mit Jugendlichen einer Kategorie geführt wurden. Die Interviewsituation selbst wurde durch einen separaten Raum und Getränke möglichst angenehm gestaltet. Alle Interviews wurden aufgezeichnet
und später vollständig transkribiert. Zusätzlich wurden Postskripte zu jedem Interview erstellt,
die den Eindruck des Interviewers in der Erhebungssituation dokumentieren. In die Darstellung
der Ergebnisse sind acht Interviews aufgenommen worden. Von den zwölf erhobenen Erzählungen wurden vier in der Auswertungsphase zurückgestellt. Die Doppelungen haben sich dabei als
günstig erwiesen, denn manche Gespräche sind so oberflächlich und einsilbig geblieben, dass eine sinnvolle Interpretation nicht möglich war. Wieder waren es die Jungen, deren anfängliches
61
Interesse bei persönlichen Fragen stark nachließ und in einsilbigen Antworten mündete. Anhand
der transkribierten Interviewtexte wurden für die Auswertung Kategorien gebildet, d.h. Textsequenzen wurden Themenfeldern zugeordnet, die in Zusammenhang mit den leitenden Forschungsfragen stehen (vgl. Witzel 2000). Dabei waren die Kategorien durch den Leitfaden vorstrukturiert:
•
Familie
•
Erziehung und Bildung
•
Übergang Schule - Beruf
•
Soziale Netzwerke/Bezug zur Politik29 und
•
Vergleich zwischen Jugendlichen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte.
Zu jedem Themenfeld werden im Folgenden typische Aussagen in Form selektiver Plausibilisierung dargestellt (vgl. Flick 1995, 167ff). Prägnante Abschnitte aus dem Forschungsmaterial werden zitiert und anschließend im Kontext der Studie interpretiert.
4.2
Ergebnisse der Studie
Die Ergebnisse der Studie werden entsprechend der Untersuchungsgruppen in vier Unterkapiteln
dargestellt. Einleitend wird jeweils die Zuwanderungsgeschichte der verschiedenen Migrantengruppen kurz skizziert. Anschließend werden die im Rahmen der Expertise befragten Jugendlichen vorgestellt. Entsprechend der Kategorien des Leitfadens werden danach die Aussagen der
Jugendlichen zu den Themenfelder wiedergegeben. Dabei bleiben die Kommentare der Autoren
zur Erläuterung möglichst nah an den Daten. Erst im abschließenden Fazit werden die Aussagen
der Jugendlichen im Kontext theoretischer Vorannahmen interpretiert.
29
In dieser Studie wird diesbezüglich von einem engen Politikverständnis ausgegangen, d.h. es geht um den Bezug
der Kinder und Jugendlichen zur „großen“ Politik, zum repräsentativen politischen System. Ein weites Politikverständnis würde hingegen das gesamte zivilgesellschaftliche Engagement der Kinder und Jugendlichen beinhalten, also auch eine Mitgliedschaft in Vereinen, Verbänden und sonstigen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen (Kirche,
Greenpeace, Attac etc.) (vgl. zur Differenzierung des zivilgesellschaftlichen Engagements auch Ottersbach 2003, S.
28f.).
62
4.2.1 Nachkommen der Arbeitsmigration
Mitte der 1950er Jahre traf die bundesdeutsche Politik im Konsens mit den Tarifpartnern die Entscheidung, ausländische Arbeitskräfte für gering qualifizierte Tätigkeiten im industriellen Bereich anzuwerben. Alle Beteiligten, auch die Migrantinnen und Migranten selbst, gingen vom
temporären Charakter der Zuwanderung aus. Gesucht und ins Land geholt wurden „Personen, für
die es auch Arbeit gab: überwiegend schlecht bezahlte, wenig prestigeträchtige und unangenehme
Arbeit, für die sich Bundesdeutsche kaum interessierten“ (Münz/Seifert 1997, S. 37). Da nach
wenigen Jahren eine Rückkehr in die Herkunftsländer erfolgen sollte und an dieser Zielsetzung
auch noch festgehalten wurde, als sich bereits deutliche Niederlassungstendenzen zeigten, kam
erst spät die Forderung nach einer begleitenden Integrationspolitik auf. Diese Faktoren, die gezielte Anwerbung für gering qualifizierte und bezahlte Arbeitsplätze in der Industrie, die Ausrichtung der Zuwanderung auf einen zeitlich befristeten Aufenthalt und der langjährige Verzicht auf
aktive Integrationspolitik, haben soziale Folgen bis in die Gegenwart. Die so einmal festgelegte,
weitgehend homogene Beschäftigtenstruktur ging notwendig mit deutlich verminderten Chancen
auf eine spätere berufliche Aufwärtsmobilität einher. Aufgewachsen im Arbeitermilieu, wurde
auch für die nachkommenden Generationen eine Arbeiterkarriere wahrscheinlich. 1973, in Folge
der sog. Ölkrise und einer sich abzeichnenden Rezession, wurde ein Anwerbestopp beschlossen,
der noch heute Gültigkeit hat. Dadurch wurde das Pendeln zwischen Herkunfts- und Einwanderungsland erschwert und ein Anreiz zur Aufenthaltsverfestigung und Familienzusammenführung
geschaffen.
Im Rahmen der Expertise wurde ein Interview mit der 18jährigen Elizabeta geführt, die zurzeit die 12. Jahrgangsstufe eines Kölner Gymnasiums besucht. Sie ist in Köln geboren und deutsche Staatsangehörige. Ihre Großeltern sind als „Gastarbeiter“ aus dem früheren Jugoslawien angeworben worden, ihre Eltern im Kindesalter zugewandert. Das zweite Interview in dieser Gruppe wurde mit Karim geführt. Er ist 17 Jahre alt, wie Elizabeta in Köln geboren und besucht die
10. Klasse einer Hauptschule, Typ B, also mit dem Ziel Fachoberschulreife. Sein Vater ist als
„Gastarbeiter“ aus Marokko zugewandert. Karim gehört also zur zweiten Generation im Einwanderungsland, seine Großeltern leben in Marokko.
Die Antworten auf die einleitend offen gestellte Frage, was aktuell für die Jugendlichen wichtig ist, machen deutlich, dass zurzeit der Schulabschluss für beide im Vordergrund steht. Die
63
Aussage von Elizabeta zeigt, dass sie nach Unterrichtsausfall in Folge eines Unfalls im Sportunterricht unter Leistungsdruck steht, dem sie sich selbstbewusst stellt:
„Momentan liegt mein Schwerpunkt so auf Schule. Ist ja klar. Halt Abitur, so in einem
Jahr und dafür muss ich auch viel tun. Ich habe ein halbes Jahr gefehlt, weil ich einen
Kreuzbandriss hatte und dadurch nicht wirklich zur Schule gehen konnte. So muss ich einiges wieder nachholen. Aber sieht eigentlich im Moment noch gut aus, dass ich das so alles schaffe. Momentan ist alles wieder gut mit meinem Knie und so. Ich wurde halt operiert. Das halt alles lange gedauert, Reha und so, deshalb habe ich so viel verpasst, in der
Schule und so. (…) Ich hab ja jetzt mein Zeugnis bekommen und dafür, dass ich da die
ganze Zeit gefehlt habe, ist das echt noch gut. Also, ich hab keine Defizite oder so. Ich
denk auch, dass ich die Zulassung fürs Abitur gut erreichen kann und das dann auch gut
schaffe.“
Im Vergleich zu der gewissenhaften Haltung von Elizabeta, demonstrierte Karim in der Interviewsituation eine typisch männliche Coolness, mit der er auch dem Schulabschluss entgegen
sieht und betont andere Interessen, die ihm vielleicht sogar wichtiger sind:
„Mir geht es gut. Auf jeden Fall. Probleme habe ich eigentlich nicht so viele. Halt nur mit
der Schule ein bisschen, muss man sehen. Muss man alles unterbringen mit der Schule,
Freizeit, Freunde, Familie. Besonders gut in meinem Leben ist meine Fitness. Ich fühle
mich fitt. Ja, ich trainiere ein bisschen. Im Jugendzentrum. Fußball spiele ich auch. Das ist
mir wichtig.“
Die Vereinbarkeit von Schule und persönlichen Leidenschaften ist aber auch für Elizabeta eine
alltägliche Herausforderung:
„Ich bin halt auf dem Musikzweig und da ist das so, dass man Wahlpflichtfächer hat, wie
Chor oder Band und so. Man muss da auch Instrumente spielen, also ich habe momentan
Klavier- und Gesangsunterricht. Ich hatte auch zwei Jahre Querflötenunterricht. Also ich
bin da immer schon so im musischen Bereich gewesen. Dann mache ich momentan so eine studienvorbereitende Ausbildung, weil ich das später auch mal studieren möchte. Da
bekomme ich auch noch so Musiktheorieunterricht. Und es ist so, dass ich dadurch den
Klavierunterricht auch bezahlt bekomme. Man musste da so ein Vorspielen machen. Und
dadurch, dass ich bei „Jugend musiziert“ mitgemacht hatte und beim Bundeswettbewerb
den zweiten Platz gemacht hab, bin ich da so automatisch rein gekommen. Ich will das
später auch studieren, Gesang. Klavier, wenn nur als Nebenfach. Das muss ich nehmen,
wenn ich Gesang studiere. Also, Operngesang. Ich würde gerne später an die Oper gehen.“
Während Karim seine körperliche „Fitness“ wichtig ist, ist für Elizabeta Musik, genauer „Operngesang“, eine Leidenschaft. Karims sportliche Ambitionen sind auf seine Freizeit beschränkt; Elizabeta hat ihre Neigung dagegen in der Schule ausgebildet und verbindet damit auch einen konkreten Berufswunsch. Dabei belegt ihr großer Erfolg im renommierten Wettbewerb „Jugend musiziert“, dass ihre Absicht durchaus realistisch ist.
64
Familie
Das familiäre Lebensumfeld der beiden Jugendlichen könnte kaum unterschiedlicher sein. Elizabeta lebt in einem Mehrgenerationenhaushalt:
„Ich lebe mit meinen Großeltern zusammen und meinen Eltern und meiner Schwester. Meine
Schwester ist 16 Jahre alt, jünger als ich. Aber ich versteh mich relativ gut mit der. Wir haben
auch den gleichen Freundeskreis und unternehmen auch viel. Meine Tante und meinen Onkel
würde ich auch noch zur Familie zählen. Die leben zwar nicht hier. Aber wir haben ziemlich
viel Kontakt. Sonst habe ich noch eine ziemlich große Familie. Aber da kennt man jetzt auch
nicht jeden.“
Mit dem letzen Satz deutet Elizabeta an, dass ihre Familie Teil einer Großfamilie ist, die für sie
aber keine große Rolle spielt. Karim wohnt allein mit seinem Vater zusammen:
„Also, ich hab zwei Geschwister, eine ältere Schwester, einen jüngeren Bruder. Meine
Mutter, meinen Vater. Aber wir leben geschieden. Ich lebe mit meinem Vater. Meine Geschwister leben mit meiner Mutter. Das ist jetzt so neun Jahre vielleicht. Klappt. Muss
klappen. Mein Vater ist 1a Koch. Die besten Köche der Welt sind ja Männer. Ich muss
spülen.“
Dem Klischee, fixer Geschlechterrollen in Migranten-Milieus, entspricht Karims Aussage ganz
und gar nicht. Er hat sich nach der Scheidung seiner Eltern, vor neun Jahren war er im achten Lebensjahr, mit seinem alleinerziehenden Vater arrangiert und muss auch im Haushalt mitarbeiten.
Trotz der vollkommen unterschiedlichen Familiensituation sind beide Jugendlichen in ihrer Wertung der Bedeutung von Familie einig bis in den Wortlaut. Elizabeta antwortet etwas ausführlicher:
„Ich würde mal sagen: alles. Ich versteh mich halt ziemlich gut mit meiner Familie. Natürlich gibt das da immer mal wieder Schwierigkeiten oder dass man da Differenzen hat.
Aber meine Familie unterstützt mich auf jeden Fall, in allen Sachen, die ich so hab. Auf
jeden Fall. Jetzt auch in Musik. Die sind extra, jetzt als ich den Bundeswettbewerb hatte,
überall hin mitgefahren und haben sich das angeguckt. Das motiviert natürlich noch mehr,
auch gut zu sein und das zu schaffen. Die geben eigentlich immer wieder so Stärke.“
Karim bringt seine Einschätzung auf den Punkt:
„Meine Familie ist alles. Alles was ich habe. Das wichtigste. Der Rückhalt. Auf jeden
Fall. Mein Vater.“
Festzustellen ist, dass die eigene Familie für beide „alles“ bedeutet, also die zentrale Größe ihres
jugendlichen Lebensumfeldes darstellt. Familie wird, unabhängig von ihrer konkreten Gestalt, als
Ressource individueller Entwicklung erlebt, als „Stärke“ (Elizabeta) oder „Rückhalt“ (Karim) für
65
die Interaktion außerhalb der Familie. Das bedeutet freilich nicht, dass die Jugendlichen ihr Familienleben rein harmonisch erleben. Die im Jugendalter fällige Lösung von den Eltern ist auch für
sie „manchmal schwierig“, erklärt Elizabeta:
„Wenn man das vergleicht mit der Kindheit, da ist man in einem viel engeren Bezug zur Familie. Ist total klar, dass man jetzt mehr mit Freunden macht. Aber trotzdem würde ich sagen,
dass ich noch ein gutes Verhältnis zu meiner Familie hab. Meine Mutter lässt eher weniger
los, das ist manchmal schwierig.“
Karim erklärt seine Situation kurz und klar:
„Hat sich nichts verändert. Ich werde immer noch wie ein Baby behandelt.“
Zu einem Konflikt hat diese Situation aber bei beiden nicht geführt. Karim erklärt:
„Falls wir uns streiten, dann legt es sich wieder ganz schnell. Auf jeden Fall.“
Und auch Elizabeta erklärt ihr defensives Konfliktverhalten:
„Wir versuchen das so zu regeln, dass man normal miteinander reden kann. Ich weiß
nicht, bei mir ist das so, wenn ich mich sagen wir mit meiner Mutter streite, dass ich dann
eher zurück gehe und warte, bis sich die Situation aufgeklärt hat, und man wieder normal
miteinander reden kann und auch darüber reden kann. Ich bin nicht derjenige, der die ganze Zeit mit streiten muss und laut werden muss oder so.“
Mit Blick auf ihr zukünftiges Familienleben zeigt sich ein Unterschied zwischen beiden. Während Elizabeta sich sicher ist, „(…) auf jeden Fall (…) auszuziehen“, macht Karim seine Auszugspläne abhängig von einer Partnerin: „Wenn ich heirate, lebe ich ja mit meiner Frau. Wenn
nicht, dann lebe ich noch bei meinen Eltern, eigentlich. So habe ich mir das vorgestellt.“
Erziehung und Bildung
Beide Jugendlichen haben einen Kindergarten vor der Schule besucht und diese Zeit in glücklicher Erinnerung. Für Karim war es offensichtlich wichtig zu betonen, dass seine Bildungslaufbahn „ganz normal“ verlaufen ist. Die folgende Aussage lässt darauf schließen, dass er mit der
pädagogischen Zuschreibung „Problemkind“ vertraut ist und diese für sich nicht gelten lassen
will:
„Das war eigentlich eine ganz coole Zeit. Ich bin ja hier geboren. Ich war hier auf dem
Kindergarten. Ganz normales Kind. Ganz normaler Kindergarten. Ganz normales Kindergartenkind.“
66
Die Aussage von Elizabeta geht in eine ganz andere Richtung und verbindet eine dauerhafte
Freundschaft mit der Kindergartenzeit:
„Ich war auch mit meiner besten Freundin im Kindergarten. Daher kenne ich die auch.
Wir hatten schon so die ganze Laufbahn, sage ich jetzt mal so, miteinander zu tun. Kindergarten hat Spaß gemacht.“
Spaß bringt Karim nicht mit der Beschreibung seiner weiteren Schullaufbahn in Verbindung.
Vielmehr scheint die Schule für ihn ein notwendiges Übel zu sein, das es möglichst unbeschadet
zu überstehen gilt:
„Auch immer ganz normal. Hab eigentlich immer ganz souverän die Stufen bestanden, die
Klassen. Und sonst halt die ganz normalen Probleme, ab und zu mal die Hausaufgaben
nicht, Pausenprobleme mit anderen Schülern und so mal, immer dasselbe. Aber da muss
man durch. Sind ja nur 6 Stunden am Tag, sieben oder acht. Augen zu und durch. Und
dann hat man den Tag erledigt. Ein bisschen lernen abends, dann hat man das geregelt.“
Für Elizabeta hat das Lebensumfeld Schule eine ganz andere Bedeutung:
„Ich war in der 1. und 2. in der Feldstraße. In der Erinnerung hatte ich ziemlich viel Spaß
da, ich kann mich halt so an viele Spiele erinnern. Dann bin ich auf die Montessori-Schule
gewechselt, weil meine Lehrerin ins Ausland gegangen ist und dann nicht klar war - ziemlich viel die Lehrer gewechselt und so. Da bin ich dann auf die Montessori-Schule gegangen, wo meine Schwester auch war. Und da bin ich eigentlich gut klar gekommen, weil
die Lernart auch anders war. Man macht halt viel so selbständiges Arbeiten. Ich würde
auch sagen, was ich da mitgenommen habe, dass ich das auch heute noch gebrauchen
kann. Das war mir in den Jahren gar nicht bewusst, aber dadurch, dass man sich das alles
selber bei gebracht hat, immer Hilfen vom Lehrer, aber man hat da dieses selbständige
Arbeiten, dass man da gelernt hat, wie man lernen kann. Ich weiß von Mitschülern, dass
das schwierig sein kann in Bereichen, wo ich super klar kam. Da hab ich auch Blockflötenunterricht genommen und bin dadurch in diese musikalische Schiene gekommen. Dann
bin ich auf ´s Gymnasium gekommen, hab die Aufnahmeprüfung für Musik auch gemacht, mit Blockflöte dann und bin auch genommen worden. Seitdem bin ich halt auf der
Schule. Klar, auch meine beste Freundin ist da auf der Schule. Aber wir sind auch nicht in
einer Klasse, weil ich diesen Musikzweig da gekommen bin. Also im fünften Schuljahr
hatte ich schon ein bisschen Probleme, weil das ja eine ganz andere Schulform war. Ich
war es nicht so gewöhnt, Noten und so zu bekommen und auch Klausuren zu schreiben
und der ganze Druck, der dann auf einem lastet. Da hatte ich schon anfangs ziemliche
Schwierigkeiten. Aber das hat sich natürlich mittlerweile geändert und ist auch gar nicht
mehr so.“
In dieser Passage wird deutlich, dass sich Elizabeta auf dem Gymnasium dem Lebensumfeld
Schule ganz anders stellt als Karim auf der Hauptschule. Einen Schulwechsel im Grundschulalter, nicht selten Anlass für Entwicklungsschwierigkeiten, hat sie gut überstanden. Mehr noch, sie
hat nach eigener Einschätzung von dem Wechsel auf eine Montessori-Schule profitiert. Schließ67
lich hat sie dort nicht nur „selbständiges Arbeiten“ gelernt, sondern ist auch auf die „musikalische
Schiene“ gekommen. Die hat ihr dann auch den Zugang zu einem renommierten Gymnasium eröffnet, dessen Musikzweig sie besucht. Trotz oder gerade wegen ihres Schulerfolgs benennt sie
auch an dieser Stelle den „Druck“, der von ihr schon aus aktuellem Anlass (Folge eines Sportunfalls) ins Feld geführt worden ist. Sie hat diesem Leistungsdruck standgehalten, hat sich daran
gewöhnt und leidet auch nicht (mehr) darunter. Karims Äußerung, zuvor zitiert, „Augen zu und
durch“, lässt dagegen auf einen alltäglichen Überlebenskampf in der Schule schließen, bei dem
der Druck nicht auf dem Anspruch, schulischen Leistungsanforderungen gerecht zu werden, basiert. Es scheint, als ob ihm die bloße Anwesenheitspflicht bedrückt, die Hausaufgaben Zeit kosten, die er lieber anders nutzen würde, „Pausenprobleme mit anderen Schülern“ für ihn eine größere Bedeutung bekommen können als der Unterricht. In einer anderen Gesprächssequenz macht
Karim deutlich, dass er aber durchaus einen Sinn in seiner Schulzeit sieht:
„Überhaupt, generell so, für meine Allgemeinbildung. So dass man sich auch draußen mit den
Leuten unterhalten kann und nicht nur rum steht und nichts versteht. Deshalb ist die Schule
eigentlich was Ideales.“
Übergang von der Schule in den Beruf
Elizabeta und Karim stehen vor ihrem Schulabschluss und haben konkrete Vorstellungen von ihrem Übergang in den Beruf entwickelt. Elizabeta weiß, was sie will:
„Ich möchte Gesang studieren. (…). Es kommt bei Gesang auch sehr auf den Lehrer an. Ich
bin halt im Moment auf Lehrersuche. Die Harmonie zwischen Lehrer und Schüler muss bei
Gesang halt auch stimmen, damit man auch weiter kommt. Weil es oft so ist, dass man auf
einer Wellenlänge sein muss, um zu verstehen, was der Lehrer möchte. Bei Gesang ist es ja
schon immer abstrakt, schwierig zu beschreiben. Was ich viel kenne, sind Sänger. Da habe
ich auch einen Meisterkurs mitgemacht und da habe ich natürlich voll viele Sänger in meinem
Alter kennen gelernt. Aber Gesangslehrer kenne ich eher weniger. Ich kenn halt meine Lehrerin und die hat mir auch ein paar Professoren empfohlen, wo ich vorsingen soll und gucken,
ob das klappt.“
Im Gesprächsverlauf wird deutlich, dass sich Elizabeta langfristig auf ein Gesangsstudium vorbereitet hat. Sie hat sich schon im Grundschulalter der Musik zugewendet, ein darauf spezialisiertes
Gymnasium besucht, ist in einem Wettbewerb platziert worden, hat einen „Meisterkurs mitgemacht“, bekommt Klavierunterricht und übt täglich mit großer Intensität. Da ist die Studienwahl
nur konsequent. So langfristig hat sich Karims Berufswunsch nicht entwickelt, ist aber dennoch
sehr konkret:
68
„Ich möchte eine Ausbildung machen. Als Zerspanungsmechaniker. Versuchen eine Stelle zu
kriegen und meine Ausbildung da zu machen. Das ist ein interessanter Beruf. Ich hab mich
mal mit einer Freundin und einem Freund darüber unterhalten. Die Freundin macht das. Ist
auch gut bezahlt und deswegen könnte ich mir vorstellen, mein Leben lang da zu arbeiten.“
Der gewünschte Ausbildungsgang in der Metallverarbeitung ist mit Karims anvisiertem Schulabschluss durchaus zugänglich, seine subjektiven Vorstellungen sind also keineswegs unrealistisch.
Interessant ist, dass er auch hier als emanzipierter Mann spricht, der die Anregung, sich für einen
metallverarbeitenden Beruf zu interessieren, von einer Freundin hat, die in diesem Beruf tätig ist.
Auffällig ist die langfristige Perspektive des Jugendlichen, die Vorstellung, er können sein „Leben lang“ dort arbeiten und sein Motiv „gut bezahlt“, das auch in realistischem Verhältnis zu seinen Möglichkeiten nach der Schule steht.
Auf die Frage, ob es Vorbilder für die Jugendlichen gebe, beziehen sich beide auf Menschen
in ihrem Lebensumfeld. Karim nennt einen Sozialpädagogen, den er aus dem Jugendzentrum
kennt:
„Vorbilder habe ich viele. Es gibt so einige, aber keine Berühmten halt. Die man draußen hier
sieht. Ich kenn hier so einen Sozialpädagogen, der studiert Sport und Pädagogik und arbeitet
hier bei unserem Jugendzentrum. Der ist sportlich, cool und locker drauf, ist auch diplomatisch. Und das finde ich echt cool, dass man so cool sein kann und trotzdem so diplomatisch
und was erreicht, das finde ich cool.“
Coolness ist Karim offenbar wichtig, die er mit Sportlichkeit und Diplomatie verbindet. Diplomatisch zu sein bedeutet wohl, Konflikte konstruktiv mit Worten lösen zu können. Auch Elizabeta nennt keine Stars der Opernszene als Vorbilder:
„Im Moment ist mein Vorbild meine Lehrerin. Weil die hat mich schon so weit gebracht. Ich
finde, die macht das total gut. Natürlich, wenn ich jetzt weiter will, an die Oper… die hat jetzt
nichts mit der Oper zu tun, da ist die kein Vorbild, aber im Moment strebe ich das an.“
Die Vorbildfunktion für Elizabeta hat ihre Lehrerin in mehrjähriger Zusammenarbeit gewonnen,
in der sie sich als Mentorin für die talentierte Sängerin engagiert hat. Elizabeta ist ihr in Dankbarkeit verbunden und sieht doch mit dem Ende der Schulzeit die Notwendigkeit, sich an neuen
Vorbildern zu orientieren, die mit der Oper zu tun haben.
Karim kann sich vorstellen, seine berufliche Mobilität durch ein Auto zu vergrößern. Umziehen
möchte er aus Verbundenheit zu seiner Familie eher nicht:
„Ja, nicht unbedingt. Eher nicht. Der Kontakt zu meiner Familie ist mir schon wichtig.
Kommt drauf an wo. Umziehen heißt ja 100 Kilometer oder was. Wenn ich ein Auto hätte
könnte ich ja jeden morgen hinfahren. Aber ohne nicht.“
69
Elizabeta hatte bereits eine konkrete Gelegenheit, ihre Heimatstadt zu verlassen, der sie jedoch
nicht nachgekommen ist, weil für sie als Großstadtbewohnerin ein Gang in die Provinz abschreckend wirkt.
„Ich hatte mal überlegt, nach Detmold zu gehen, weil die Schule da einen wirklich guten Ruf
hat und ich da den Meisterkurs gemacht hab. Aber ich kann mir nicht wirklich vorstellen, da
zu leben, weil das so ein totales Kaff ist. Und ich bin halt so gewohnt, Großstadtleben. So
nach Düsseldorf zu gehen, kann ich mir schon eher vorstellen.“
Soziale Netzwerke
Zum Lebensumfeld der Jugendlichen gehören auch soziale Beziehungen außerhalb der Familie.
Elizabeta hat einen festen Freundeskreis aus ihrer Schule und Nachbarschaft, mit dem sie ihre
Freizeit regelmäßig gestaltet.
„Mein bester Freund noch und ein anderer Freund aus unserer Stufe. Es ist so, dass wir
uns eigentlich jedes Wochenende treffen mit ziemlich vielen Leuten aus unserer Stufe,
machen halt was zusammen. Ein Freund von mir hat seinen Keller so eingerichtet, dass
wir da ziemlich viel Zeit verbringen können. Und wir gehen abends auch teilweise weg, in
die Kneipe, Disco. Und wenn schönes Wetter ist, sind wir auch im Volksgarten, oft. Und
sonst habe ich auch noch eine Freundin, die mit meiner Schwester voll lange befreundet
ist, so von Geburt an, weil die halt auch in unserer Nachbarschaft gewohnt hat. Die Eltern
haben sich getrennt und die wohnt halt jetzt bei ihrer Mutter, aber trotzdem ist die voll oft
hier, so jedes zweite Wochenende.“
Auch für Karim sind Nachbarschaft, „die Straße“ und Schule die sozialen Orte, um Freundschaften zu knüpfen und zu pflegen.
„Meine Freunde. Wenn man so nachdenkt, wie man die kennen gelernt hat, kann man sich
so richtig nicht erinnern. Halt hier von der Straße. Man sieht sich, man kennt sich, man
spricht die anderen an, spielt Fußball zusammen, so bildet sich halt eine Freundschaft.
Wenn man sich das nächste mal wieder sieht, begrüßt man sich, irgendwann verabredet
man sich. In der Schule, wenn man in ein Klasse kommt, muss man klar kommen. Irgendwie klappt das ja.“
In einem Verein, einer Gemeinde oder sonst wo ist Elizabeta nicht aktiv. Ihre Freizeit ist durch
Musik voll und ganz erfüllt. Anders Karim, der im Feizeitangebot des Jugendzentrums ehrenamtlich mitarbeitet. Politik spielt im Lebensumfeld beider Jugendlichen keine Rolle. Elizabeta geht
zwar bei Gelegenheit mal zu einer Demonstration gegen Rechtsextremismus, mit ihrem Alltag
hat das aber wenig zu tun. Auch Karim ist politisch nicht aktiv, betont aber, dass ihm die Möglichkeit, seine Meinung frei zu äußern, wichtig ist:
70
„Natürlich, wir sind ja hier eine Demokratie. Kann jeder machen und sagen, was er denkt.
Kann man seine Meinung schon äußern.“
Vergleich zwischen Jugendlichen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte
Mit Absicht wurde das Themenfeld Migration und Integration erst zum Abschluss der Interviews
angesprochen. Und tatsächlich war es Elizabeta und Karim wichtig, sich selbst als „ganz normale“ Jugendliche zu beschreiben. Elizabeta versteht sich als Deutsche, die „kulturelle Unterschiede“ aus ihrer Familie kennt, die für ihr Lebensumfeld an sich kein Problem darstellen. Erst die
Markierung einer Differenz erzeugt das Problem:
„Ich fühl mich schon so ziemlich Deutsch, weil ich auch hier geboren bin. Vom Migrationshintergrund ist immer ein bisschen schwierig zu sagen. Ich mein halt so, klar bekomme ich schon noch eine andere Kultur mit, so von meinen Großeltern, die auch hier wohnen, die auch Geschichten erzählen über früher, über Jugoslawien. Wir gehören ja auch so
den Roma und Sinti an. Da es schon, sage ich mal in Anführungszeichen kulturelle Unterschiede gibt, was so Feste und so was angeht, dass die auch andere Feiertage haben, so
was halt in der Richtung. Aber ich würde mich jetzt nicht als anders oder so bezeichnen.
In der Schule und so ist so was eigentlich gar kein Problem.
Allerdings ist Elizabeta durchaus damit vertraut, dass ethnische Unterschiede in sozialen Beziehungen zum Problem werden können. Sie hat erfahren, dass es eine an äußeren Erscheinungsmerkmalen orientierte Definition des Deutschen gibt, die sie für überholt und rassistisch hält:
„Ich weiß so, wegen meiner Schwester, die hatte halt schon Schwierigkeiten, besonders
wegen Roma und Sinti. Die konnte das da nicht so einfach sagen, weil ihre Klassenkammeraden schon ein bisschen rassistisches Denken, sage ich jetzt mal so, hatten, also ziemlich viele Vorurteile ihr gegenüber. Die hat sich da jetzt nicht geoutet, sag ich mal so. Aber bei mir in der Klasse war es halt gar nicht so. Die wussten das von Anfang an. Da kam
jetzt auch irgendwie gar nichts, dass das anders ist. Klar hat man so nachgefragt, wie das
denn ist oder wie man halt so lebt. Aber dann war das relativ schnell klar, dass es da eigentlich gar keine großen Unterschiede gibt. Ja, sonst so allgemein. Ich weiß nicht, ob
man das so sagen kann, aber ich mach halt schon öfters die Erfahrung, dass ich nicht so
als wirklich deutsch angesehen werde, weil ich oft als Spanierin oder Italienerin oder was
weiß ich gehalten werde, aufgrund meiner Haarfarbe oder so. Irgendwie finde ich das
schon ein bisschen traurig. Ich meine es leben so viele verschiedene Nationalitäten in
Deutschland, die man eigentlich schon als deutsch bezeichnen kann. Weil es gibt jetzt so
keine arisch Deutschen mehr. Aber es gibt halt trotzdem immer noch dieses rassistische
Denken. Das finde ich schon traurig. Ich hoffe mal, dass sich das ändert.“
Karim geht in seiner Anspruchnahme von Normalität soweit, dass er zunächst gar keine Unterschiede anerkennt und sich implizit von bloß behaupteter Diskriminierung abgrenzt:
71
„Es gibt für mich keine Vorteile oder Nachteile. Also Nachteile gibt es definitiv nicht.
Zwar behauptet man so was, aber das gibt es nicht, wenn du hier geboren bist und zum
Kindergarten gegangen bist, mit hier russischen, deutschen, polnischen Kindern.“
Als Unterschied lässt Karim dann aber doch den Spracherwerb gelten, bei dem es dann aber doch
vom individuellen Willen der Zugewanderten abhängt, ihren Nachteil zu kompensieren:
„Es ist ein bisschen schwieriger, weil diese Sprache. Wenn man aus einer deutschen Familie kommt, spricht man zu Hause Deutsch. Man beherrscht die deutsche Sprache zwar
besser. Aber man kann das auch mit Familien machen, die mit Migrationshintergrund, also die aus dem Ausland eingewandert sind. Man ist ja jeden Tag in der Schule, tagtäglich,
man ist draußen, man guckt fernsehen. Also ich denke, wenn einer will, dann schafft der
es. Auf jeden Fall.“
Elizabeta sieht in der Zuwanderungsgeschichte ihrer Familie auch eine Ressource für ihre persönliche Bildung:
Dadurch ist die Toleranz, dass man viel anderes kennen lernt. Ich sag mal, meine Großeltern sind zum Beispiel auch muslimisch. Dadurch bekommt man auch eine andere Religion noch mit. Aber halt positiv. Ich denk mal, deshalb habe ich auch so ein aufgeschlossenes Denken.“
4.2.2 Spätaussiedler/innen
Spätaussiedler/innen sind Deutsche und ihre Familienangehörigen, die aus Polen und Rumänien,
seit 1990 vor allem aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion zugewandert sind. Ihre Vorfahren
waren vor Generationen ausgewandert, 1763 zuerst „angeworben“ von der russischen Zarin Katharina II., die selbst aus Preußen stammte. Auch hier waren wirtschaftliche Motive ausschlaggebend. Deutsche Bauern sollten die Erträge der Landwirtschaft steigern und brachliegende Flächen
nutzbar machen. Viele pflegten ihre deutsche Muttersprache und Herkunftskultur im Einwanderungsland und litten unter Diskriminierung. Um nach den Völkerwanderungen in Folge des II.
Weltkrieges in die Bundesrepublik Deutschland zurück zu kehren, mussten Aussiedler ihre
„deutsche Volkszugehörigkeit“ nachweisen. Bis zum Ende des Kalten Krieges 1989 sah sich die
Bundesrepublik zu einer großzügigen Aufnahmepraxis und bevorzugten Integration der Rückwanderer verpflichtet. Seit 1996 müssen Spätaussiedler/innen auch schon im Herkunftsland ausreichende mündliche Deutschkenntnisse nachweisen. Insgesamt sind nach dem Ende des Kalten
Krieges drei Millionen Spätaussiedler/innen nach Deutschland gekommen. Sie sind neben den
türkischstämmigen Migrantinnen und Migranten die größte Zuwanderergruppe.
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Im Rahmen der Expertise wurde ein Interview mit der 17jährigen Marta geführt, die 2002 im
Alter von zwölf Jahren als Spätaussiedlerin aus Kasachstan eingewandert ist. Sie besucht zurzeit
die 10. Klasse einer Hauptschule (Typ B) mit dem Ziel Fachoberschulreife und lebt mit ihren Eltern, einer älteren Schwester und einem Zwillingsbruder zusammen in Köln. Das zweite Interview in dieser Gruppe wurde mit dem 16jährigen Egon geführt. Auch er ist als Spätaussiedler im
schulpflichtigen Alter, im elften Lebensjahr, aus Kasachstan eingewandert. Er besucht die gleiche
Hauptschule wie Marta und zweifelt aktuell an seinen Chancen, dort die Fachoberschulreife zu
erwerben. Er lebt mit seinen Großeltern in Köln.
Familie
Egon erklärt sein familiäres Lebensumfeld:
„Ja, ich wohne eigentlich mit mein Opa und Oma, weil meine Eltern geschieden sind.
Und meine Mutter ist in Kasachstan geblieben und mein Vater ist direkt hier mit anderer
Familie, geheiratet und hat eigene Kinder und so weiter. Aber der lebt hier und meine
Mutter in Kasachstan. Ich wohne seit ich zwei bin bei meinen Großeltern, weil meine
Mutter nicht mehr auf mich aufpassen wollte und so weiter. Ich bin also mit meinem Vater und seinen Eltern hier nach Deutschland gezogen. Und meine Mutter ist in Kasachstan
geblieben, weil sie keine Deutsche ist. Mein Vater wohnt auch hier in der Straße, den seh
ich auch. (…) Also meine Großeltern bedeuten mir mehr als meine Eltern. Weil die mich
schon seit ich zwei bin erziehen.“
Obwohl Egons Eltern schon lange vor seiner Migration nach Deutschland geschieden waren, hat
diese doch die Trennung von der Mutter vergrößert. Neben der Scheidung begründet Egon den
Verbleib der Mutter in Kasachstan damit, dass sie keine Deutsche sei und der Vater in Deutschland eine neue Familie gegründet habe. Egon ist nicht Teil dieser „anderen“ Familie, hat aber
Kontakt zum Vater, der jedoch die elterliche Sorge für den Sohn seinen Eltern überlässt. Martas
Familie ist dagegen von der Erwerbstätigkeit der Eltern geprägt:
„Meine Familie bedeutet für mich alles. Ich liebe die. (…) Ich bin auch älter geworden.
Und Vertrauen ist mehr in der Familie, so halt. Wird immer auch gefragt: Wie geht’s?
Wie war heute der Tag? Also ein bisschen näher gekommen als früher. Früher hatten meine Eltern nicht so viel Zeit für uns. Die mussten arbeiten. Also jetzt auch müssen die arbeiten, aber die haben viel mehr Zeit jetzt für uns auch abends. Früher waren die, also waren müde und, also sehr müde, Hausaufgaben kontrolliert und schlafen gegangen. Früher
war meine Mutter Bäcker. Jetzt arbeitet sie in einem Sportcenter. Da räumt die auf. Früher
musste die zweimal, hat die so den ganzen Tag gearbeitet. Und jetzt acht Stunden.“
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Dass ihre Mutter durch ein neues berufliches Arrangement mehr Zeit für die Familie hat, findet
Marta offenbar positiv. Ihre Äußerung macht aber auch deutlich, dass sie durchaus Verständnis
dafür hatte, dass ihre Eltern vorher wenig Zeit für sie und ihre Geschwister hatten und ihre elterliche Sorge alltäglich auf die Kontrolle der Hausaufgaben beschränken mussten. Egon betont dagegen seinen eigenen Willen. Er entzieht sich einer Hausaufgabenkontrolle durch seine Großeltern und betont, dass sie für ihn nicht die gleiche Autorität wie seine Eltern besitzen.
„Ich bin älter geworden. Manchmal mache ich was ich will. Dann höre ich gar nicht auf
meine Großeltern. Zum Beispiel nach draußen gehen und so weiter. Die mir sagen, du
musst Hausaufgaben machen, aber manchmal mache ich das nicht. Die ziehen mich auch
nicht. Meine Eltern hätten das gemacht. Aber nicht Großeltern. Mein Opa kann gar kein
Deutsch. Meine Oma teilweise. Zu Hause sprechen wir russisch. Ich helfe denen fast jeden Tag. Einkaufen, putzen, übersetzen auch. Papiere zum Beispiel, Arbeitsamt zum Beispiel.“
Die Autorität der Großeltern hat in Egons Augen offenbar auch dadurch abgenommen, dass er im
Einwanderungsland schneller und besser Deutsch gelernt hat. So kommt ihm eine wichtige Rolle
in der Familie zu, wo er nicht nur im Haushalt hilft, sondern auch übersetzt. Mit der Kontrolle der
Hausaufgaben ist auch die der Freizeit verbunden. Während Egon auch nicht auf seine Großeltern
hört, wenn sie vorschreiben wollen, wann er nach draußen geht, hat Marta kein Problem ihren
Ausgang den zu erklären:
„Hausaufgaben, klar auf jeden Fall und dann kann ich mir überlegen, was ich machen
will. Ich hab auch viel Zeit, Freizeit und so. Ich muss nur bescheid sagen mit wem, wohin
und wann ich zurück komme, dann darf ich auch.“
Für Egon kann sein eigensinniges Agieren durchaus zu Konflikten mit und zwischen den Großeltern führen.
„Manchmal ist das besser, wenn ich mich gar nicht einmische. Weil mein Opa sehr streng
ist. Wenn ich mich einmische, gibt es noch mehr Streit. Manchmal misch ich mich da ein,
aber allgemein macht meine Oma das allein. Manchmal wegen mir. Wegen der Schule,
lernen und so weiter. Manchmal bin ich faul. Eigentlich bin ich ständig faul. Weil ich was
anderes machen will, entweder fernsehen oder PC oder draußen spielen und so weiter.“
Offenbar weiß Egon, dass seine „Faulheit“ nicht ganz richtig ist und sein Großvater ihn auch
manchmal zu recht kritisiert. Doch einerseits kann er sich auf die Parteilichkeit der Großmutter
verlassen. Andererseits ist sein Wille, die Zeit außerhalb der Schule frei zu gestalten, größer als
die Bereitschaft, schulischen Pflichten nachzukommen. Marta sagt im Interview gar nicht, worüber sie sich mit ihrer Familie streitet, betont aber, dass sie wie ihre Familie durchaus konfliktfähig ist.
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„Wir reden darüber. Okay, manchmal wird schon geschrieen und so. Aber wir versuchen
schon, uns gegenseitig ausreden zu lassen. Manchmal geht’s nicht mehr, also manchmal
müssen wir auseinander gehen. Aber manchmal geht’s schon so richtig ab, dass jeder in
sein Zimmer geht und fertig. Und so halt. Aber danach geht es wieder. Nicht immer so
schlimm, finde ich. Also jeder kann was sagen, was ihm nicht passt und das finde ich
auch gut, dass jeder seine Meinung sagt.“
Auf die Frage, wie sich ihr Familienleben zukünftig entwickelt, antwortet Marta mit Blick auf einen eigenen Haushalt:
„Ja, also ich stell mir das gut vor. Eltern besuchen, denen auch helfen, zum Markt mit denen fahren oder so. Oder wenn die zu mir kommen. Oder ich rufe Mama an, wie wird das
gekocht? Gegenseitig helfen und so, finde ich gut.“
Egon hat noch gar keine Vorstellung davon, wie er in Zukunft zu seiner Familie steht. Zwar erkennt er die Autorität der Großeltern nicht an, weiß aber dennoch zu schätzen, dass er nicht allein
lebt.
„Keine Ahnung. Ich will bei meinen Großeltern leben. Das ist auch so besser. Wenn ich
alleine wohne, muss ich mich selber erziehen, selber einkaufen und so weiter.“
Erziehung und Bildung
Beide Jugendlichen haben einen Kindergarten in Kasachstan besucht. Während Egon sagt, dass
er sich an diese Zeit nicht erinnern kann, erzählt Marta eine Anekdote, in der sie sich selbst über
ihre dominante Rolle im sozialen Gefüge amüsiert:
„Ja, in Kasachstan habe ich den besucht, meinen Kindergarten. Wir sind früh morgens gekommen und dann haben wir gespielt. Dann wurde uns was vorgelesen. Also im Kindergarten mussten wir schon lesen lernen. Und wir haben auch was gegessen, also Mittagessen da und dann schlafen. Und vor dem Schlafen hat unsere Erzieherin noch was vorgelesen, eine kleine Geschichte halt und dann mussten wir schlafen. Danach wachen wir auf,
dann ist Abendessen und dann wurden wir von unseren Eltern wieder abgeholt. Viel mitspielen und man muss immer sein Bett aufräumen und viel auf Sauberkeit achten. Ich
kann mich schon erinnern. Mit meinem Zwillingsbruder habe ich mich da immer geschlagen. Wir haben uns immer das Spielzeug abgenommen. Wenn mir was nicht passte, dann
direkt abnehmen. Das ging auch nicht immer bei mir. Weil es wurde gesagt, nein, das geht
nicht, musst du fragen und so. Kann ich mich gut erinnern, an mein Bett. Jeder wollte auf
diesem Bett schlafen. Als ich nicht da war, war jeder froh. Meine Erzieherin wohnt jetzt
auch hier in Deutschland. Wir haben uns vor kurzem getroffen. Die hat mir auch erzählt,
wie ich da war und so und meinte auch, jeder wollte auf deinem Bett schlafen. Das war so
ein ganz kleines Bett. Und wenn du gehört hast, da hat jemand geschlafen, wenn du nicht
da warst, dann ging’s richtig los.“
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Martas Erinnerungen an ihre Schullaufbahn sind mit ihrer Migrationserfahrung und der daraus
folgenden Notwendigkeit, verschiedene Sprachen zu erlernen, verknüpft. Auch beengte Wohnverhältnisse sind ihr in Erinnerung geblieben. Vor der Auswanderung nach Deutschland ist Martas Familie wegen der Arbeitssuche des Vaters von Kasachstan nach Russland gezogen, in Russland von einem Dorf in eine Stadt, aus Russland wieder zurück nach Kasachstan. Wie bei Egon
ist ein Elternteil nicht deutscher Abstammung.
„Kasachstan erste Klasse zweite Klasse, danach bin ich nach Russland umgezogen. Da
musste ich die zweite Klasse wiederholen. Weil in Kasachstan wird das anders gemacht
als in Russland. In Kasachstan musste ich auch die kasachische Sprache lernen, was
schwer war, das ist genauso wie türkische Sprache, ein bisschen was anders aber ansonsten das gleiche. In Kasachstan haben wir in einem Dorf gewohnt. Ich bin auch da geboren.
Dann sind wir nach Russland in ein größeres Dorf, das war richtig groß, dann bin ich da
zur Schule gegangen und dann sind wir in die Stadt umgezogen. Dann war ich da bis dritte Klasse. Mein Vater hat da gearbeitet und hat uns mitgenommen nach Russland zum
Wohnen da. Wir hatten da ein Grundstück, aber wir mussten dafür bezahlen. Auf diesem
Grundstück konnten wir auch so Kartoffeln wachsen lassen oder Karotten und so. Da
mussten wir ausziehen, weil der Besitzer brauchte das Haus. Danach sind wir in die Stadt
umgezogen, in eine Wohnung, da mussten wir mit zwei Familien wohnen. Also das war
eine große Wohnung mit fünf Zimmern. Da waren zwei Familien, die haben zwei Zimmer
gemietet. In einem Zimmer haben mein Bruder, meine Schwester und ich gewohnt. Das
war auch nicht so groß, drei Betten und ein Schrank und ein kleiner Platz zum Spielen.
Und im Wohnzimmer haben meine Eltern geschlafen. Dann waren wir da ein Jahr glaube
ich. Und dann ist meine Oma aus Kasachstan auch nach Russland gekommen. Meine
Oma, die ist Deutsche. Und die hat gesagt, ja wir haben dieses Visum bekommen. Wir
müssen jetzt Papiere machen und so und dafür müssen wir nach Kasachstan wieder ausziehen. Mein Vater hatte schon damit ein Problem. Der wollte nicht so halt, der ist nur
wegen uns gekommen. Das war die Mutter von meiner Mutter. Meine Oma wollte unbedingt nach Deutschland, weil hier wohnen alle ihre Verwandten, Bekannte, Geschwister
und so von meiner Mutter Seite. Von meiner Vater Seite die wohnen in Kasachstan. Mein
Vater wollte seine Eltern nicht verlassen und so. Aber er hat nachgedacht, warum soll er
seine Familie verlassen? Lieber zusammen, dann kann er ja besuchen kommen. Danach
sind wir nach Kasachstan umgezogen in Einzimmerwohnung. Das war noch schlimmer.
Sechs Leute in einem Zimmer, also Küche und ein Wohnzimmer, da haben wir alle geschlafen. Manchmal sind wir auch zu Nachbarn gegangen zum Übernachten. Das war
schon sehr schwer, kein Platz, was kann man machen. Das war meine beste Zeit in Kasachstan. Ich hab verschiedene Freunde gehabt. Wir haben immer gespielt. Winter war die
beste Zeit da. Aber das Problem war, wir mussten schon Deutsch lernen. Meine Mutter
hatte so Hefte bestellt. Nach der Schule mussten wir die Hausaufgaben machen plus eine
Seite von diesem Buch auswendig lernen und dann Mutter erzählen, danach durften wir
erst raus. Ich dachte mir immer so, ja, nein, ich will nicht. Wir haben trotzdem gelernt,
aber immer wieder vergessen. Weil wir mussten noch kasachische Sprache lernen, Russisch, Deutsch und so. Zu viel für mich war das. Nach einem Jahr sind wir dann wieder
nach Russland gefahren und von Russland nach Deutschland geflogen. Am 3. Mai 2002
sind wir nach Deutschland gekommen, kann ich mir gut merken. Dann waren wir zwei
Tage in Friedland. Und danach ungefähr einen Monat in Unna-Massen. Da bin ich auch
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zur Schule gegangen. Da habe ich auch Deutsch gelernt. Aber da ging es auch schneller.
Weil alle reden Deutsch. Und in Kasachstan war das so, jeder redet russisch, da konnte
ich mir das nie merken. Das war viel schwieriger. (…) Am 5. Juni sind wir nach Köln
umgezogen. Seitdem wohnen wir hier. Ich war da elf und ich konnte das nicht so gut realisieren, dass ich jetzt auf einmal in einem anderen Land bin. Ich konnte schon verstehen,
ja jetzt bin ich hier in Deutschland und alle meine Verwandten sind hier, meine Uroma.
Ich kannte die gar nicht. Ja Fotos hatte ich gesehen, aber wenn man so ins Gesicht guckt
sehen die schon ein bisschen anders aus. Wir haben hier erst in so einem Wohnheim erst
gewohnt, da waren wieder fünf russische Familien und wir haben halt russisch gesprochen. Man hat mir schon erklärt, wir bleiben da, aber ich habe das nicht so gesehen. War
schon schwer. Ich hab das nicht so realisiert, für immer hier, aber hier komme ich auch
gut klar.“
Martas ausführlicher Schilderung zeigt, wie sehr sich die Schullaufbahn von Jugendlichen mit
Zuwanderungsgeschichte, die selbst im schulpflichtigen Alter eingewandert sind, von der einheimisch deutscher Jugendlicher unterscheidet. Marta hat sich bei geringen familiären Ressourcen mehrfach auf neue schulische Anforderungen einstellen müssen. Ihren Ausführungen ist zu
entnehmen, dass ihr manches zwar „schwer“ gefallen ist. Sie blickt aber durchaus selbstbewusst
zurück. Ausgerechnet die Phase der am stärksten beengten Wohnverhältnisse erscheint ihr im
Nachhinein als ihre „beste Zeit in Kasachstan“. Und Marta beschreibt die mehrfache Notwendigkeit, neu anzufangen, nicht als Überforderung, sondern betont auch an anderer Stelle:
„Es macht schon Spaß, was Neues zu lernen.“
Auch Egon ist als Seiteneinsteiger in die deutsche Schule gekommen und beschreibt den Spracherwerb als das größte Problem dabei:
„Bis zur vierten Klasse bin ich in Kasachstan zur Schule gegangen. Nicht ganz die vierte
Klasse, da waren noch zwanzig Tage übrig. Danach bin ich hier in Deutschland in die
Fünfte gegangen. Fünfte, sechste war Vorbereitungsklasse, da habe ich Deutsch gelernt,
aber nicht allzu perfekt. Danach bin ich in die Regelklasse gegangen, siebte, achte, neunte. Danach bin ich in 10 Klasse. In der Hauptschule gibt es doch 10 Typ b, Realschulabschluss. Dann bin ich in 10 Typ b übergegangen, weil ich gute Noten hatte. Und jetzt sieht
das glaube ich bei mir nicht gut aus wegen Sprachproblemen. Sprachlicher Ausdruck und
so weiter. Jetzt kriegen wir doppelt so viele Hausaufgaben auf sind doppelt so lang angestrengt. Ist schwieriger geworden. Der Druck. Man muss ständig zu Hause sitzen und lernen und so weiter. Aber ich mache das nicht immer.“
Seine Schilderung geht schnell in die Gegenwart, die ihn beschäftigt. Wie Elizabeta und Karim
empfindet Egon, dass die Schule „Druck“ auf ihn ausübt. Für ihn ist das der Leistungsdruck, der
im zehnten Schuljahr an der Hauptschule mit dem Ziel Fachoberschulreife einsetzt. Aber Egon ist
offenbar nicht bereit, diesem Druck stand zu halten. Zur Erklärung der aktuellen Schwierigkeiten
in der Schule kommen jetzt neben der vorher von ihm eingeräumten „Faulheit“ „Sprachproble77
me“ zur Geltung. Die hat Egon von Anfang an und ergänzt die Ausführungen von Marta, denen
zu entnehmen war, dass die Anforderung, verschiedene Sprachen gleichzeitig zu sprechen, von
ihr als Zumutung empfunden wurde, mit Hinweis auf die Umgangssprache zwischen Jugendlichen in Deutschland und Kritik an einer separaten Vorbereitungsklasse.
„In der Vorbereitungsklasse waren viele Russen, habe ich nur noch ständig Russisch geredet, aber kein Deutsch. Hätte ich lieber eine Klasse runtergesetzt. Hätte ich nicht in die
fünfte gegangen, sondern in die vierte, wäre das besser, hätte ich mehr Deutsch gelernt.
Ich musste eigentlich mehr Deutsch sprechen. Aber ich unterhalte mich jeden Tag auch
auf Russisch. In der Schule auch mit russischen Freunden, draußen auch. Als ich Praktikum gemacht habe, habe ich nur Deutsch geredet. Danach bin ich nach Hause gekommen
und hatte ein bisschen Schwierigkeiten, russisch zu reden. Ich rede lieber russisch als
deutsch, weil die mich verstehen. So kann ich mich besser ausdrücken.“
Egon weiß, dass seine Umgangssprache über den Spracherwerb entscheidet. An dieser Stelle
wird deutlich, dass er seine Deutschkenntnisse nur verbessern kann, wenn er regelmäßig Deutsch
spricht. Er hat aber die Erfahrung gemacht, dass seine Russischkenntnisse darunter leiden. Das
möchte Egon nicht, denn Russisch ist ihm wichtig, um richtig verstanden zu werden, um auch die
Zwischentöne ausdrücken zu können. Nicht nur in der Familie spricht er russisch, auch mit
Freunden in der Schule und in der Freizeit. Und doch deutet Egon ein Bedauern darüber an, dass
er nicht gezwungen war, in der Schule mehr Deutsch zu sprechen. Jetzt ist es für ihn zu spät, seine Deutschkenntnisse entsprechend der gewachsenen schulischen Anforderungen zu verbessern:
„Lieber mache ich einen guten Hauptschulabschluss als einen schlechten Realschulabschluss. Ich sehe einen Elternsprechtag auf mich zu kommen. Sind ja nur noch 10 Wochen und Osterferien dazwischen.“
Übergang von der Schule in den Beruf
Marta hat im zehnten Schuljahr eine konkrete Vorstellung von ihrem Übergang in den Beruf:
„Ich habe mich schon bei einem Berufskolleg angemeldet. Erzieherin möchte ich gerne
werden. Das wäre mein Wunschberuf. Ich mag das sehr mit Kindern und so. Auch wenn
das nicht klappt, mache ich auf jeden Fall Fachabitur. Entweder mit der Ausbildung oder
so für Soziales.“
Sie hat sich gleichzeitig für eine Erzieherausbildung und für einen Platz an einer Fachoberschule
beworben und möchte in jedem Fall ihre Fachhochschulreife machen. Diese Möglichkeit zieht
Egon nicht mehr in Betracht. Ohne den Realschulabschluss fehlt ihm auch die Voraussetzung dazu. Stattdessen bewirbt sich Egon um eine Ausbildungsstelle im Handwerk:
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„Eine Ausbildung. Wenn das nicht klappt, gehe ich in ein Berufskolleg. Bei Ausbildung
habe ich schon sieben Bewerbungen geschickt. Nur drei Zusagen zum Einstellungstest
bekommen, sonst nur Absagen. Zwei Einstellungstests habe ich geschrieben. Und noch
gar nichts bekommen. Als Tischler. Wenn das nicht klappt, Berufskolleg. Da habe ich
auch einen Einstellungstest gemacht. Die meinten, Sie werden von uns noch was hören.
Wenn ich nicht bestanden habe, komme ich auf Warteliste, aber wenn schon, laden die
mich zu einem Vorstellungsgespräch ein. Also zwei Jahre – wie heißt das – also Metalltechnik, was Handwerkliches. Mit Handwerk kann ich besser umgehen als zu reden. (…)
Ja eigentlich schon mit Holz. Ich weiß nicht wie ich darauf gekommen bin. Das letzte
Praktikum war ein Einzelhandelskaufmann, hat mir nicht gefallen.“
Egons Vorstellungen sind weniger bestimmt und zuversichtlich als die von Marta. Er hat schon
mehrere Bewerbungen geschrieben und auch an Einstellungstests teilgenommen. Auch Egon sichert seinen Bewerbungsprozess durch die Alternative Berufskolleg ab, hat aber kaum eine Vorstellung von dem Bildungsgang, der dort zu absolvieren wäre. Immerhin hat er im Praktikum gelernt, dass er keine kaufmännische Tätigkeit ausüben möchte. Eine positive Verbindung zum
Handwerk – zur Tischlerei oder Metallverarbeitung – benennt Egon nicht. Seine Äußerung lässt
eher darauf schließen, dass er keine Alternative sieht. Während Egon sagt, dass er keine Vorbilder habe, bezieht sich Marta in ihrer Antwort auf ihr Praktikum in einer Kindertagesstätte, dass
auch ihre Berufswahl positiv verstärkt hat:
„Ich hab Praktikum gemacht und meine Betreuerin hat mir vieles beigebracht. Die hat
mich auch machen lassen mit den Kindern, so in einen Streit rein gehen und die Kinder
erklären lassen, was passiert ist, selber entscheiden. Einen Nachmittag gestalten mit Kindern und so. Wenn ich Fachabi habe, werde ich mich auf jeden Fall bei der bewerben.
Von der kann man auch vieles lernen.“
Auch auf die Frage nach der beruflichen Mobilität fallen die Antworten der beiden Jugendlichen
unterschiedlich aus. Während Egon fast entsetzt zurück fragt
„Wie umziehen? Lieber nicht“,
kann Marta, deren Schullaufbahn ja durch viele Ortswechsel geprägt war, in einem möglichen
Umzug den Reiz des Neuen entdecken:
Ja, auf jeden Fall. Also, wenn ich eine Ausbildung in einer Stadt bekomme, auf jeden Fall.
Man braucht viel Geduld um eine Ausbildungsstelle zu finden. Andere Stadt kennen lernen, was Neues sehen, mal da und da wohnen finde ich schon gut. Meine Familie wäre
richtig froh. Ich hab immer so viel Fragen. Nein ich glaube nicht, dass die ein Problem
hätten. Wir würden uns besuchen.
79
Soziale Netzwerke
Marta erzählt von einer Freundin, die wie sie aus Russland kommt und mit der sie ihren Alltag
teilt:
„Ja, meine beste Freundin. Wir kennen uns schon seit 3 ½ Jahren. Wir haben uns bei einer
Konfirmation kennen gelernt. Die ist halt auch Russin. Wenn wir miteinander reden, verstehen wir uns auch sehr gut. Weil wir haben auch gleiche Probleme. Wir sehen uns jeden
Tag. Wir akzeptieren uns gegenseitig. Wenn ich eine andere Meinung habe als sie, dann
versuchen wir das so zu erklären, dass sie meine Meinung versteht und ich ihre Meinung
verstehe. Dann sage ich so, ich versteh deine Meinung, aber ich habe eine andere Meinung. Manchmal sind wir auch gleicher Meinung. Das finde ich auch gut. Jeder Mensch
soll zu seiner Meinung stehen.“
Auffällig ist, dass Marta, wie in ihrer Familie, an ihrer Freundschaft, die Fähigkeit zu streiten,
schätzt. Egon scheint gelangweilt von dem, was er mit Freunden macht, und verbringt seine Freizeit offenbar lieber allein mit elektronischer Unterhaltung.
„Ja Freunde geht, aber meine Familie ist wichtiger. Fast jeden Tag immer das gleiche.
Fußballspielen, spazieren gehen. Aber die meiste Zeit verbringe ich zu Hause am PC,
chatten und so. Auch fernsehen, russisch und deutsch. Eigentlich mehr russisch.“
Marta ist auch in einer Kirchengemeinde aktiv und wirkt dort und im Jugendzentrum in Mädchengruppen mit.
„Ich besuche eine Mädchengruppe, evangelische Gemeinde. Da habe ich auch vieles gelernt, da habe ich eine Jugendleiterkarte gemacht, also Juleika Grundkurs. Und da habe
ich auch früher eine Kindergruppe geleitet. Das kann ich jetzt auch alleine machen. Das
finde ich gut. Gute Erfahrung auf jeden Fall. Nachhilfe bekomme ich, Mathe und Englisch. Und im Jugendzentrum mache ich auch mit in der Mädchengruppe.“
Egon hatte wohl einmal die Absicht, in einen Sportverein zu gehen, drückt aber auch dazu den
Trotz aus, der auch in früher zitierten Passagen anklingt:
„Wollte ich eigentlich. Fußball oder Basketball. Aber habe ich nicht.“
Mit Politik können beide nicht viel anfangen. Marta denkt an Politik, die in Nachrichten vorkommt und sagt:
„Politik das ist zu kompliziert für mich. Ich weiß nicht. Ich höre gerne so Nachrichten, da
denke ich, was reden die da. Ich hab auch Politik in der Schule gehabt. Das ist nichts für
mich.“
Auch Egon bringt Nachrichten mit Politik in Verbindung und distanziert sich davon:
„Ich hasse Politik. Ich interessiere mich auch gar nicht. Aber Nachrichten muss man
schon gucken. Tue ich aber gar nicht.“
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Vergleich zwischen Jugendlichen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte
Marta sieht in ihrer Zuwanderungsgeschichte und der erlebten Armut einen Vorteil für ihre persönliche Entwicklung:
„Die Leute, die hier geboren sind, wenn die in den Urlaub fahren, lernen die auch andere
Kulturen. Aber nicht immer. Die liegen am Stand und bräunen sich und keine Ahnung.
Aber da ich in Kasachstan geboren bin und noch in Russland war und hier in Deutschland
kenne ich mehrere Kulturen. Ich hab mehr Lebenserfahrungen. Vielleicht haben die auch
verschiedene Erfahrungen. Aber ich denke schon, ich hab schon das und dies erlebt. Wir
waren nicht immer in super Ferien, sondern meine Eltern mussten hart arbeiten, damit wir
was zu essen hatten. Sogar ich habe da gearbeitet am Wochenende. Dann habe ich mir Eis
gekauft, meinem Bruder Eis gekauft, meiner Schwester Eis gekauft. Ich denke schon, dass
das Leben hier in Deutschland sicherer ist. Da kann man sehr schnell auf der Straße landen. Das keiner dir hilft. Und hier wird schon öfters geholfen. (…) Ja, ich hab viele Erfahrungen gesammelt – wie das in Kasachstan war, in einem Dorf und in Russland in einer
Stadt und danach hier in Deutschland in einer großen Stadt – das war schön, das zu sehen.
Ich danke Gott, dass ich das erlebt habe. Ich hab viel vom Leben gesehen und ich werde
noch mehr sehen.“
Trotz dieser großen Zuversicht, gibt es auch für Marta Momente, in denen sie sich wünscht, ihr
Leben wäre anders verlaufen. Auslöser ist die Erfahrung, dass sie sich im Deutschen nicht so gut
ausdrücken kann wie Jugendliche, die hier geboren sind.
„Wenn ich mich mit deutschen Leuten unterhalte, die verstehen mich nicht immer richtig,
was ich meine. Ich kann ja auch nicht perfekt Deutsch und so. Manchmal bereue ich richtig, warum bin ich nicht in Deutschland geboren, dann könnte ich auch viel mehr Deutsch,
dann hätte ich das richtig erklären können.“
Auch Egon hebt hervor, dass es einen Unterschied zwischen ihm und denen gibt, die in Deutschland geboren wurden:
„Die schon hier geboren sind, da ist das ihr Heimatland, also vorteilhaft. Und mein Vaterland ist doch jetzt Kasachstan, nicht Deutschland. Eigentlich bin ich schon in Deutschland
zu Hause, aber Kasachstan will ich auch mal besuchen fahren. Zuerst hatte ich ja Heimweh, wollte ich immer nach Kasachstan. Aber nach einigen Zeiten ging das schon.“
Er sieht, dass es Konflikte zwischen Jugendgruppen verschiedener Herkunft gibt und ist offenbar
müde, sich daran zu beteiligen:
„Türken, Kurden, Russen und so weiter alle sitzen in einer Ecke. Jedes mal in der Schule
wird jemand blöd angemacht und geschlagen und so weiter. Jedes mal verteidigen und so
weiter.“
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Egon, der zur Gruppe der russischen Jugendlichen gehört, hebt auch noch einmal den für ihn damit verbunden Nachteil hervor:
„Wenn ich mit russischen Freunden mich unterhalte, ist das eigentlich Nachteil, weil ich
kein Deutsch lerne.“
Schließlich vergleicht Egon sein Leben in Deutschland mit dem in Kasachstan und betont Menschenrechte, Freiheit und seinen relativen Wohlstand als Vorteile Deutschlands:
„In Deutschland ist es ganz anders als in Kasachstan. In Kasachstan gibt es ganz andere
Gesetze und so weiter. In Deutschland gibt es viele Menschenrechte, also Freiheit, jeder
darf sagen, was er will. In Kasachstan, glaube ich, ist das anders. Wir sind eigentlich nach
Deutschland umgezogen, weil wir in Kasachstan nicht so gut lebten, also fast arm waren.
In Deutschland kann ich mir fast alles leisten.“
Auch Marta weiß Demokratie und kulturelle Vielfalt als Vorteile ihres neuen Lebensumfeldes zu
schätzen:
„Ich finde es sehr schön, dass Deutschland ein demokratisches Land ist. Das viele verschiedene Kulturen hier sind. Man kann vieles lernen hier. Das ist in Russland nicht so.
Da wird man halt – da glaubst du an einen.“
4.2.3 Asylmigration
Die kleinste Gruppe der Zugewanderten im Land sind Asylsuchende und Flüchtlinge. Auch für
sie hat sich die Situation in Deutschland seit den 1990er Jahren grundlegend verändert. Nach der
Einschränkung des früher generösen Grundrechts auf Asyl im sog. "Asylkompromiss", ist die
Neuzuwanderung klar und nachhaltig zurückgegangen - von fast 440.000 Erstanträgen im Jahr
1992 auf 21.029 Anträge im Jahr 2006 (BAMF 2007). Von den 430.000 Asylsuchenden, die
2005 im Ausländerzentralregister erfasst waren, hatten ein Drittel Asyl gefunden - 20 % im Sinne
des Grundgesetzes, 13 % im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Sie sind anderen Zugewanderten weitestgehend gleichgestellt und erhalten nach drei Jahren Aufenthalt eine Niederlassungserlaubnis, wenn das Schutzbedürfnis fortbesteht. Jeder sechste hielt sich während des laufenden Asylverfahrens in Deutschland auf, das oft mehr als zwei Jahre dauert und in der Regel
ohne Anerkennung abgeschlossen wird. Die übrige Hälfte der Asylsuchenden war bereits rechtskräftig abgelehnt, musste aber geduldet werden, weil ein akutes Abschiebungshindernis festgestellt wurde (vgl. Deimann 2007).
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Im Rahmen der Expertise wurde ein Interview mit der 17jährigen Aicha geführt, die 1998 im
Alter von sechs Jahren mit ihrer kurdischen Familie aus dem Irak nach Deutschland geflohen ist.
Sie besucht zurzeit die 10. Klasse einer Hauptschule (Typ B) mit dem Ziel Fachoberschulreife.
Aicha lebt mit einer älteren und einer jüngeren Schwester, einem „kleinen“ Bruder und ihren Eltern zusammen in Köln. Das zweite Interview in dieser Gruppe wurde mit Amir geführt. Auch er
ist als Kurde mit seiner Familie aus dem Irak geflohen und im fünften Lebensjahr nach Nordrhein-Westfalen gekommen. Amir lebt mit einer älteren Schwester, zwei jüngeren Brüdern und
seinen Eltern in Köln und besucht die 10. Klasse einer Hauptschule.
Familie
Auf die Frage, welche Bedeutung seine Familie für ihn habe, antwortet Amir entschieden:
„Was heißt meine Familie? Liebe. Stolz. Alles.“
Die Antwort von Aicha bringt auch starke Gefühle für ihre Familie zum Ausdruck:
„Meine Familie bedeutet erst mal eine ganz normale Familie: Wir lieben uns. Wir hassen
uns. Ja.“
Aufschlussreich zum Verständnis ihres familiären Lebensumfeldes ist Aichas Antwort auf die
Frage, ob sich ihr Verhältnis zur Familie in den letzen Jahren geändert habe:
„Ja, die sind strenger mit mir geworden, als ich erwachsener werde. Ich bekomme mehr
Grenzen jetzt. Ja, mehr als früher. Bei deutschen Familien ist das ja nicht so. Dann ist man
freier da. Rausgehen jetzt zum Beispiel. Ich darf jetzt halt nicht so oft raus. Halt solche
Sachen. Nach der Schule direkt nach Haus. Keine Partys. Keine Jungs. So was geht nicht
bei uns. Ich rauche nicht. Ich trinke nicht. Mit Freundin kann ich schon raus gehen. Darf
nicht so spät sein. Sieben, acht Uhr. Als Kind durfte ich schon bis neun raus gehen. Durfte
ich Spielen, Spielplatz und so. Mit 14 ist das nicht mehr so. Meine Eltern sind sich da einig. Mein Vater ist etwas strenger als meine Mutter. Mein Vater hat auch um meine Mutter Angst. Bei meiner älteren Schwester sind die etwas lockerer, weil deren Freundeskreis
sind auch unsere Landsleute. Eltern und so kennen sich alle. Deshalb darf die auch mal 11
Uhr nachts nach Hause kommen mit denen. Weil meine Eltern wissen, dass die mit denen
ist. Aber wenn ich jetzt mal mit einer Freundin gehe und die kennen sich nicht, dann muss
ich sehr früh zu Hause sein.“
Während sich in den anderen Interviews die Erwartung bestätigt hat, dass Jugendliche mit zunehmenden Alter an persönlicher Freiheit gewinnen, wenn auch teilweise im Konflikt mit ihren
Eltern, ist Aichas Situation genau umgekehrt. Ihre Eltern sind strenger geworden, als sie in die
Pubertät gekommen ist. Sie muss früher zu Hause sein, keine Partys, keine Jungs, nicht rauchen,
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nicht trinken, Freundschaften sollten nach Ansicht der Eltern am besten mit ihnen bekannten
Kurden bestehen. Aichas Aussage lässt darauf schließen, dass sie die Angst ihrer Eltern durchaus
nachvollziehen kann, aber unter ihrem Misstrauen und strengen Verboten leidet. Amir sieht dagegen für sich keine Veränderungen mit zunehmendem Jugendalter:
„Nein. Kann man nicht so sagen. Alles bleibt eigentlich wie es ist.“
Seine Antwort zur Frage nach familiären Konflikten macht aber deutlich, dass auch in seiner Familie ein eher autoritärer Erziehungsstil herrscht. Allerdings war Amir in der Interviewsituation
nicht zu einer Erzählung zu stimulieren, so dass der Interviewer Nachfragen gestellt hat:
Amir: „Es gibt ja nicht öfters Streit. Aber wenn sich meine Eltern streiten, versöhnen die
sich auch wieder. Sagen wir so einen Tag.“
Nachfrage: „Ich meine ganz alltäglichen Streit, der überall vorkommt über Taschengeld
zum Beispiel oder wie lange du weg warst.“
Amir: „Dann wird eigentlich so Hausarrest zwei Wochen – wird sofort geklärt.“
Amir kennt auch Situationen, in denen seine Eltern kontrollieren wollen, wie lange er ausgeht.
Allerdings hat er offenbar die Möglichkeit, sich darüber hinweg zu setzen:
Amir: „Also, da ich weiß, was ich sage, denke ich mal das was ich sage richtig ist.“
Nachfrage: „Und das wird von Deinen Eltern auch anerkannt?“
Amir: „Natürlich gibt es, ja das ist nicht richtig, eher so. Geh nicht so lange raus. Es kann
dir was passieren. Aber ich sag dann immer, ich pass schon auf, auf mich. Dann sagen die,
die jetzt im Gefängnis sitzen, haben das auch immer gesagt. Dann kommen Probleme auf
die zu.“
Mit Blick auf die zukünftige Entwicklung seines Familienlebens sagt Amir:
„Ja, wenn ich erwachsen bin, werd ich hoffentlich eine eigene Wohnung haben. Mein eigenes Geld haben. Familie ab und zu besuchen. Die kommen auch zu mir. Ich weiß nicht,
dann hab ich ja mein eigenes Leben, meine eigene Familie.“
Dass Amir in Zukunft sein eigenes Leben, seine eigene Familie haben möchte, kann bedeuten,
dass sein Leben und seine Familie jetzt nicht ihm gehören, vielmehr im Besitz seines Vaters sind.
Aicha erzählt, dass es in ihrer Familie zwar öfter zu Konflikten kommt, wenn sie gegen das Ausgehverbot aufbegehrt, aber am Ende muss sie gehorchen:
„Wir streiten uns immer eigentlich. Ja, wir streiten uns, dann gehen wir uns aus dem Weg,
dann ist auch wieder gut. Manchmal reden wir auch. Aber selten. Und das hilft auch nicht
weiter. Kommt es nur zu mehr Streit. Öfters will ich mit Freunden halt was machen und
das geht dann halt nicht. Und ich muss dann auf die hören. Dann muss ich zu Hause bleiben.“
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Aicha kann sich vorstellen, dass sich ihre Freiheiten, wie die der Schwester, mit Erreichen der
Volljährigkeit vergrößern:
„Das geht die nächsten Jahre so weiter. Ich glaub bis ich 18 bin, dann werde ich ein bisschen erwachsener behandelt. Aber sonst bleibt das gleich. Meine Schwester ist auch 18,
die darf schon ein bisschen mehr machen. Ich weiß, dass ich nichts Schlimmes mache,
muss aber trotzdem zu Hause bleiben.“
Erziehung und Bildung
Amir und Aicha haben beide in Deutschland schon die Grundschule besucht und sind nach einem
Scheitern an der Realschule an eine Hauptschule gekommen. Was sich Egon in einem oben zitierten Interview als bessere Alternative zu einer Vorbereitungsklasse aus zugewanderten Seiteneinsteiger/-innen vorstellen konnte, die Wiederholung einer Jahrgangsstufe in der Regelklasse,
hat Aicha erlebt:
„Ich bin direkt in die erste Klasse gekommen. Ja, dann musste ich da wiederholen, weil
ich konnte die Sprache nicht. In der ersten Klasse komm ich einfach rein und dann fangen
die an zu lernen und ich hab ja nichts verstanden. Muss ich wiederholen. Ohne extra
Deutschunterricht. Und dann komm ich in die Realschule. Ich kam mit Englisch und Mathe nicht klar. Ich konnte nicht. Ich weiß nicht. Ich wollte einfach nicht. Dann war auf der
Hauptschule besser. Jetzt bin ich in die 10b gekommen und kann einen Realschulabschluss machen.“
Auch Amir war nicht in einer Vorbereitungsklasse, musste aber keine Klasse wiederholen, trotz
eines Umzuges innerhalb der Stadt während seiner Grundschulzeit.
„Zuerst war ich erste zweite Klasse in Mechenich auf einer Grundschule. Dann sind wir
umgezogen. Dritte, vierte hier eine Grundschule. Dann war ich fünfte, sechste Klasse auf
einer Realschule. Und dann haben sich meine Noten verschlechtert. Dann war ich siebte,
achte auf der Haupt. Eigentlich so hin und her. Auf der Hauptschule die meiste Zeit.“
Aicha ist aktuell mit ihrem persönlichen Lebensumfeld in der Schule ganz zufrieden. Sie erklärt:
„Mein Lehrer und meine Mitschüler, die sind eine besondere Schule. Mein Klassenlehrer
ist ein intelligenter Mann. Der ist echt, der kann immer jemandem weiter helfen. Wenn
man Probleme hat, kann man direkt zu dem gehen. Mitschüler auch nett und so. Unsere
Schule ist sehr, wie nennt man das, eine kleine Schule, wie eine Grundschule, hat nicht
viel anzubieten, aber man kennt sich.“
Allerdings bringt Aicha auch eine Unzufriedenheit mit ihrer Lebenssituation zum Ausdruck, die
auch mit der Schulroutine zusammen hängt:
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„Ich fühle gar nicht. Ich denke nur, dass dasselbe passiert wie immer. Ich steh auf, mache
mich fertig und gehe in die Schule. Wie immer. Ich komme in die Klasse. Mathe,
Deutsch, Englisch. Wie immer. Eigentlich ist mein Leben langweilig. Dann komm ich
nach Hause. Oder ich komm ins Jugendzentrum. Dann geh ich nach Hause schlafen.“
Amir erklärt, dass er nach dem Wechsel von der Realschule zur Hauptschule keinen Leistungsdruck mehr empfindet:
„Die Hauptschule ist sehr, also nicht sehr einfach, aber ist sehr einfacher als die Realschule. Auf der Realschule war schon zu spät. Dann war ich noch drei vier Wochen krank und
da habe ich einige Arbeiten verpasst und dann ging’s nicht mehr.“
Übergang von der Schule in den Beruf
Amir hat noch recht zufällig anmutende Vorstellungen von seinem Übergang von der Schule in
den Beruf. Auch er fährt die Strategie, sich gleichzeitig um eine weiterführende Schule und eine
Ausbildungsstelle zu bewerben:
„Im Moment melde ich mich schon mal an Schulen an. Damit das parat schon mal steht,
falls ich keine Ausbildung finde. So weiterführende Schule für meinen Realabschluss.
Aber bewerben tue ich mich auch für Ausbildungsstellen. Einzelhandel. Fachkraft für Lagerlogistik und so. Ja, so was. Ich war zum Beispiel einmal Poko, dann hab ich gesehen,
wie man im Lager so was abholt und so. Sah in Ordnung aus, dachte ich.“
Er hat zwar Hilfe bei seiner beruflichen Orientierung erfahren, kann aber mehr mit individueller
Unterstützung bei der Bewerbung anfangen als mit dem Angebot der Arbeitsagentur:
„Im Biz30 zum Beispiel wird man öfters eingeladen. Aber da, so die geben dir ganz viele
Adressen, so, so. Das habe ich nicht so wahrgenommen, ehrlich. Da ist eine Berufslehrerin. Die fragt immer, was machst du dann? Die hilft dir Bewerbungsschreiben.“
Vorbilder hat Amir nicht. Interessant ist, wie er Erfolg definiert:
„Mir fällt jetzt keiner ein. Es gibt viele Erfolgreiche. Erfolgreich ist gesund zu sein, genug
Geld, vielleicht auch ein bisschen mehr Geld in der Tasche zu haben als man braucht.“
Gesundheit, die im Jugendalter für viele selbstverständlich ist, ist für ihn, neben Geld, ein Erfolgsfaktor. Amir kann sich nicht vorstellen, für eine Ausbildung umzuziehen:
„Also, dann würde mein Job und meine Wohnung wo anders sein. Nee, ich glaub. Also,
wenn es keine andere Chance gibt schon. Aber ich würd mich auch da, wo es im Umkreis
30
Berufsinformationszentrum der Bundesagentur für Arbeit.
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Köln ist zum Beispiel. Man kann sich nicht vorstellen woanders. Ist nicht so schön. Dann
muss man die Gegend und die Leute.“
Aicha hat noch gar keine Vorstellung von ihrem Übergang in den Beruf. Aktuell hat sie sich an
zwei Fachoberschulen verschiedener Fachrichtung beworben:
„Ich hab keinen Plan. Gar nichts. Ich hab mich da ja beworben, die eine ist Richtung Soziales, die andere ist in wirtschaftliche Richtung. Aber ich weiß noch nicht.“
Für Aicha ist klar, dass ihre Ungewissheit nicht an mangelnder Unterstützung durch die Schule
liegt:
„Die helfen mir auch. Das liegt an mir, dass ich nicht weiß. Ich bin unsicher. Immer.
Mm, nee. Ich suche immer noch, aber keinen gefunden.“
Anders als Amir kann sich Aicha durchaus vorstellen, für eine Ausbildung umzuziehen, hält die
Vorstellung aber aufgrund der Einstellung ihrer Eltern für unrealistisch:
„Weg von meinen Eltern? Geht nicht. Ich kann mir das schon vorstellen, aber meine Eltern nicht. Das wird nichts.“
Soziale Netzwerke
Aicha hat eine beste Freundin und hatte auch einen Freund, von dem die Eltern nichts wissen:
„Meine beste Freundin und mein Freund. Mein Ex-Freund eigentlich. Meine beste Freundin, die ist an meinem Nebenplatz. Mit meinem Ex-Freund war ich ein Jahr und acht Monate zusammen. Habe ich Schluss gemacht. Mit meinem Freund, das wissen meine Eltern
nicht. Meinen Freund habe ich wegen meiner Freundin kennen gelernt und meine Freundin in der Schule. Wir gehen ins Kino, reden was, in den Park, wir reden.“
Ihre Partnerschaft ist nicht etwa am Elternhaus gescheitert, vielmehr am Verhalten des Freundes,
dass dem ihrer Eltern gleich kam:
„Mein Freund hat mir auch so, wie meine Eltern ähnlich, Sachen verboten: geh nicht dahin. Zieh das nicht an. Ganz genau so. Der hat seine Grenzen nicht mehr gesehen. Der hat
mit mir nicht mehr normal geredet. Dann hat er angefangen zu beleidigen wegen Kleinigkeiten, wenn dem was nicht gefallen hat. Schlimme Beleidigungen. Der war auch so ein
stolzer Ausländer. Der meinte auch immer Ehre, Ehre und so.“
Aicha besucht das örtliche Jugendzentrum. Daneben hat sie „gar nichts“ an sozialen Zusammenhängen, in denen sie ihre Freizeit gestaltet. Von Politik hat sie nach eigenen Worten „keine Ah87
nung“. Auch Amir trifft seinen Freundeskreis ausschließlich in der Schule und im Jugendzentrum:
„Außerhalb meiner Familie sind meine Freunde und Freundinnen und die engsten sind
mir schon wichtig. Durch Schule. Wir hängen meistens im Jugendzentrum ab. Dann haben wir da gemeinsam Spaß. Internet, Playstation, fernsehen, wir kochen, da gibt es auch
Fitness im Jugendzentrum, machen wir auch.“
Vergleich zwischen Jugendlichen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte
Amir sieht Erziehung, Familie und Sprache als Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte an:
„Erziehung und Familie ist eigentlich nur anders. Sonst, wir gehen alle gleich zur Schule.
Draußen hängen wir alle zusammen ab. Ich habe auch deutsche Freunde. Und die Sprache, in meiner Familie wird kurdisch gesprochen.“
Er sieht weniger in seiner Zuwanderungsgeschichte einen persönlichen Vorteil als in seiner Einwanderung nach Deutschland. Dass Amir dir kurdische Sprache spricht und Besuche zwischen
Verwandten aus verschiedenen westlichen Ländern möglich sind, findet er auch gut.
„Die Vorteile sind für mich, dass ich halt dreiviertel meines Lebens schon hier wohne,
könnte man sagen ungefähr. Und ich find `s hier einfach besser. Ich könnt mir nicht vorstellen, jetzt im Irak mein Leben weiter zu machen. Ich bin alles gewohnt hier in Deutschland. Ich war nie wieder da. Kurdisch kann ich. Da sind mehrere Verwandte in Amerika,
Norwegen, London, Dänemark. Im Irak die meisten und hier in Deutschland sind auch
schon viele – 40, 50. In Norwegen war ich vor zwei Jahren. Nächste Woche besuchen die
uns.“
Dass Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte in Deutschland Nachteile haben könnten, sieht
Amir nicht:
„Nachteile eigentlich nicht. Nee, ehrlich nicht.“
Ihm ist es vielmehr wichtig, abschließend noch einmal seine Verbundenheit mit dem Stadtviertel
zu demonstrieren, in dem er lebt. Amir blickt aus dem Fenster eines Plattenbaus auf die öffentliche Grünanlage, die sicher die Lebensqualität im „sozialen Brennpunkt“ steigern sollte:
„Das ist jetzt kein schönes Bild. Ist ja nur der Wald. Ich kann `s mir nicht vorstellen hier
weg zu gehen. Überhaupt Straße so, Gebäude, meine Nachbarn. Seit acht Jahren wohne
ich schon hier. Schon ne Weile. Sind alle sehr nett, die Leute. Sehr in Ordnung.“
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Aicha konkretisiert das, was auch Amir mit unterschiedlicher Erziehung gemeint ha,t für ihre Lebenswelt als Mädchen in einer kurdischen Familie:
„Zwei verschiedene Welten denke ich. Die dürfen halt viel mehr Sachen. Die dürfen Sachen, die ich nicht mal denken darf. Die Erziehung ist anders. Bei uns viel strenger. Die
Erziehung ist ganz anders. Die dürfen viel mehr als wir. Klamotten, Rausgehen, Freund
und so. Das dürfen wir alles nicht. Kurze Sachen anziehen, meine ich mit Klamotten. Es
ist mir auch nicht so wichtig. Für manche andere Mädchen schon. Es gibt halt Unterschiede, wenn ich mich sehe und deutsche Mädchen. Ich darf halt nicht bei einer Freundin
schlafen. Die dürfen auch bei Freunden schlafen, also männlichen, die meisten. Es gibt
auch Deutsche, die das nicht dürfen. Vorteile bei den Deutschen, dass die offener sein
können. Die sind auch viel zivilisierter. Wenn man auch die Länder anguckt. Bei uns sind
die noch, sagen wir mal, hängen geblieben noch ein bisschen. Eine Sängerin sagen wir
mal, die zieht was Kurzes an, alle sagen, das ist eine Hure und so. Aber hier ziehen die
Mädchen das an, sogar auf der Straße, ist normal. Das ist ein Vorteil hier. Dort sind die
echt hängen geblieben meistens. Ich finde auch, wenn man hier ist, dann sollte man sich
echt hinein integrieren. Und nicht immer so denken, Ehre und so. Denken aber leider voll
viele so.“
Und auch Unterschiede, die es für kurdische Mädchen und Frauen im Lebensumfeld Familie gibt,
macht Aicha am Beispiel Heirat konkret:
„Wenn ein Mann um meine Hand anhalten kommt - meine Eltern suchen keinen Mann
aus – aber wenn ein Mann kommt – ich könnte mich auch verlieben und sagen, komm um
meine Hand anhalten. Und wenn dieser Mann meinen Eltern gefällt, können die ja sagen
oder nein sagen. Meine Eltern sagen immer: Ist kein Problem, Hauptsache er ist ein guter
Moslem, er hat gute Eltern und man redet gut über den und ja er hat Geld, gute Job und
so, er kann dich ernähren.
Religiös sind diese kulturellen Unterschiede in Aichas Familie nicht begründet:
„Ich muss kein Kopftuch oder so tragen. Meine Eltern gehen nicht in die Moschee. Weil
hier die meisten sind für Türken und so. Das will mein Vater nicht. Wir beten zu Hause.
Meine Mutter trägt auch kein Kopftuch.“
Positiv empfindet sie ihre Identifikation mit dem kurdischen Volk und ihre Kenntnis der kurdischen Sprache, doch auch ihre Aussage dazu verbindet sie mit Kritik am restriktiven Erziehungsstil:
„Vorteile? Ich bin auch stolz, eine Kurdin zu sein. Aber voll streng, könnte lockerer sein.
Ja, ich kann kurdisch, das ist der Vorteil.“
Die Interviewsituation hat bei Aicha offenbar einen Reflexionsprozess ausgelöst, dem sie sich
zuvor nicht in dieser Form gestellt hatte. Zum Abschluss sagt sie:
„Mein Leben, da fehlt was. Da fehlt irgendwas. Mein Leben ist langweilig. Ich steh auf,
ich weiß gar nicht wofür ich aufstehe.“
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Möglicherweise hat das Interview Aicha in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt. Hier zeigt sich,
dass die Interviewsituation auch einen reflexiven Umgang mit dem Alltag auslösen kann.
4.2.4 Deutsche ohne Zuwanderungsgeschichte
Im Rahmen der Expertise wurde ein Interview mit dem 20jährigen Tim geführt, der im letzen
Jahr mit seinem geschiedenen Vater aus Berlin nach Köln gezogen ist. Er hat eine Hauptschule
ohne Abschluss verlassen und ist seither erwerbslos. Das zweite Interview in dieser Gruppe wurde mit der 25jährigen Claudia geführt. Sie ist nach einer bewegten Schul- und Ausbildungsbiographie Studentin der Sozialen Arbeit und lebt nach Umzügen innerhalb Nordrhein-Westfalens
wieder in ihrer Heimatstadt Aachen.
Familie
Tims Familie kommt aus Köln. Er selbst ist dort geboren, doch schon als Kleinkind mit seinen
Eltern und seiner Schwester nach Berlin gezogen. So ist der jüngste Umzug mit seinem Vater,
nach der Trennung der Eltern, eine Rückkehr. Für Tim eine Rückkehr zu einer Familie, die er nur
von Besuchen kennt:
„Vater, meine Schwester, meine Muter, Tanten, Onkel, Oma, Opa, da gibt es noch sehr
viele. Die sind alle hier, außer meiner Mutter und meine Schwester. Damals, als meine
Schwester und ich geboren sind, da sind wir nach Berlin gezogen. Und ich jetzt mit meinem Vater zurück. Vorher war ich immer mal zu Besuch hier. Aber gewohnt ist was anderes.“
Die Entscheidung für einen Neuanfang in Köln ging von der beruflichen Mobilität seines Vaters
aus. Tim ist nach einer Übergangszeit, in der er allein in dessen Berliner Wohnung lebte, seinem
Vater ins Rheinland nachgezogen:
„Als wir noch in Berlin gewohnt haben, da wollte ich ausziehen. Da hatte ich meine
Freundin in Berlin. Und war noch chaotisch, ein bisschen. Ja. Mein Vater hat dann einen
Job in Holland angenommen. Ist dann nach Köln gezogen. Und immer arbeiten und wieder zurück und wieder nach Berlin. Ich hab dann halt seine Wohnung gehabt, weil die haben getrennt gelebt, aber waren noch zusammen. Ich hab die Wohnung übernommen von
meinem Vater. Hab dann da allein gewohnt, ein Jahr lang. Meine Schwester ist mit meiner
Mutter in eine andere Wohnung gezogen. Und dann kam mein Vater und meinte: Willst
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du nicht mit nach Köln? Fangen wir von vorne an? Du hast hier keine Schule. Und Verwandte helfen uns da auch. Und dann sind wir halt hierher gezogen.“
Auch Claudias Eltern leben getrennt. Allerdings schon so lange, dass sich Claudia nicht an ihren
Vater erinnern kann. Für sie besteht ihre Familie aus ihrer Mutter, einem Bruder und einer
Schwester:
„Meine Mutter ganz klar. Und meine Schwester, die wohnt in Berlin und mein Bruder, der
wohnt in Düsseldorf. (…) Mein Vater wohnt nicht mehr in Aachen, wo der wohnt ist auch
nicht bekannt, ich kenne ihn leider auch nicht, meine Eltern haben sich sehr früh getrennt,
als ich noch sehr klein war und ich habe keine Erinnerung an ihn. Ich bin ohne Vater ganz
gut groß geworden.“
Zwischen Claudia und ihren Geschwistern besteht eine enge Bindung, gestärkt durch ihren Zusammenhalt in einer Zeit, als ihre Mutter pflegebedürftig war:
„Besonders meine Geschwister bedeuten sehr viel für mich. Meine Mutter war eine Zeit
sehr krank und die haben mich mit durch die Schule getragen, also haben so ein bisschen
– die Mutterrolle übernommen ist jetzt Quatsch, aber wir haben schon einen sehr engen
Zusammenhalt und haben schon versucht, das zusammen irgendwie hinzukriegen, diese
Krankheitsphase meiner Mutter. Das hat schon zusammen geschweißt, also wir haben ein
sehr gutes Verhältnis.“
Für Tim ist klar:
„Familie bedeutet für jeden viel. Familie ist das Wichtigste an sich.“
Er erklärt, dass sich sein Verhältnis zur Familie nach einer schwierigen Jugendphase verbessert
hat:
„Ich war ein Raufbold und ein bisschen chaotisch immer. Deshalb habe ich auch keinen
Schulabschluss. Das ist halt alles wieder halbwegs glatt durchgekommen.“
Auch Claudia blickt zurück auf eine Jugendphase, in der sie sich von ihrer Familie abgegrenzt
hatte. Heute fühlt sie sich für die nicht vollständig genesene Mutter verantwortlich:
„Als ich noch jünger war, war ich, glaube ich, eine Zeit sehr schwierig und habe mich von
meiner Familie abgekapselt. Aber jetzt sehe ich meine Mutter regelmäßig und helfe ihr im
Alltag. Es hat sich schon so eine Fürsorge entwickelt, was nicht war, als ich kleiner war.“
Claudia glaubt, ihrer Mutter keine Konflikte mehr zumuten zu können. Mit ihren Geschwistern
kann sie aber durchaus streiten:
„Wir haben tatsächlich sehr wenig Streit, mit meiner Mutter eigentlich gar nicht. Mit meinen Geschwistern schaffen wir das, in Gesprächen zu lösen. Als wir jünger waren, haben
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wir uns gekloppt deswegen, aber heute nicht mehr. Wir können reden, da gibt es keine
körperlichen Auseinandersetzungen mehr und keine verbalen Attacken oder Übergriffe.
Meiner Mutter kann ich keinen Streit zumuten. Da kommt es nicht zu Streit, weil wir
nicht über Themen reden, die zu Streit führen könnten. Ich geh einfach zweimal die Woche hin und mach den Einkauf.“
Für Tim beschränkt sich die familiäre Auseinandersetzung jetzt auf das alltägliche Zusammenleben mit seinem Vater, der ihm gleichberechtigt gegenüber steht:
„Ich wohne mit meinem Vater zusammen in einer Zweizimmerwohnung. Ja, kleine Streits
kommen immer wieder. Aber nichts Großes. Manchmal hat er Recht, manchmal hab ich
Recht. Je nachdem. Vielleicht mal schlecht gelaunt, eigentlich kein Streit. Gleichberechtigt sind wir.“
Tim erwartet, dass sich an seiner familiären Situation so schnell nichts ändert, kann sich aber vorstellen, danach allein zu wohnen.
„Die Schulzeit will ich auf jeden Fall noch bei meinem Vater wohnen. Wenn `s Abi wird,
dauert das sowieso noch etwas länger. Ausbildung, dann so langsam in Richtung eigene
Wohnung. Aber auch nicht wegen Konflikten oder so. Sondern einfach, man muss ja auf
eigene Beine kommen.“
Claudia sieht, dass sich der Gesundheitszustand ihrer Mutter in Zukunft weiter verschlechtern
kann und erwartet mehr Unterstützung von ihren Geschwistern:
„Zu meiner Familie, die ich habe, würde ich mir wünschen, wenn meine Mutter noch
mehr abhängig von Pflege wird, dass sich meine Geschwister auch einbringen könnten,
noch mehr einbringen könnten.
Sie hat aber auch die Gründung einer eigenen Familie im Blick und möchte mit ihrem Partner
Wege finden, Beruf und Kindererziehung zu vereinbaren:
„Ich möchte natürlich die klassische Familie, dass ich einen tollen Mann kennen lerne und
nette zwei Kinder habe. Und wir irgendwie Arbeit und Haushalt beide stemmen und man
sich beruflich und familiär verwirklichen kann. Also mein Ziel ist nicht nur zu Hause zu
bleiben. Aber mein Ziel ist auch nicht nur Karriere zu machen. Ich muss da so einen
Mann finden, mit dem ich so eine Mittelschiene fahren kann.“
92
Erziehung und Bildung
Claudia und Tim waren vor der Schule nicht im Kindergarten. Claudia hat das bedauert:
„Nein. Ich als einzige aus der Familie nicht. Meine Mutter wollte mich irgendwie nicht
gehen lassen. Meine Geschwister schon, da war ich immer sehr neidisch drauf, aber ich
habe keinen Kindergarten besucht.“
Beide Jugendlichen blicken selbstkritisch auf ihre Schullaufbahn zurück. Tim beschreibt sein
Scheitern an einer Hauptschule:
„Das war eine schwierige Zeit. Das war noch in Berlin. Ich bin halt auf die Hauptschule
gekommen. Ich war halt nicht so gut im letzen Jahr in der Grundschule. Wurde ich dann
auf die Hauptschule geschickt. Da ging `s dann irgendwie. Ich hab mich hängen lassen.
Ich war faul. Wollte nicht mehr. Hab einfach nicht mehr aufgepasst. Bin dann irgendwann
gar nicht mehr zur Schule gegangen. Jetzt bereue ich natürlich. Ja, dann wurde ich von der
Schule geschmissen. Und dann war ich natürlich zu alt. Hatte meine zehn Jahre voll. Das
war einfach nur Faulheit. Und Dummheit. Hätte ich fertig gemacht, müsste ich jetzt nicht
die Schule nachholen, wär` jetzt mit der Ausbildung fertig, bald, und hätte mehr Erfolg.“
Während Tim eine Hauptschule verlassen musste und noch vier Jahre später ohne Schulabschluss
da steht, ist Claudia von einer Gesamtschule verwiesen worden, konnte aber danach eine Hauptschule abschließen:
„Ich wurde mit sieben eingeschult. Nach der Grundschule bin ich auf eine Gesamtschule
gekommen, hatte aber, als ich in der 7. Klasse war eine schwierige Phase, in der ich ungern zur Schule gegangen bin und auch so ein bisschen rebelliert habe. Ich hatte so eine
Clique, mit der ich immer draußen rum hing, da war ich wirklich schwierig und musste
dann auch die Schule verlassen. Dann bin ich auf die Hauptschule gekommen, wo ich
auch nicht hingehen wollte. Ich hab dann da aber irgendwie meinen Abschluss bekommen, aber klar, mit wenig Einsatz.“
Im Nachhinein fallen die subjektiven Erklärungen für den Schulverweis unterschiedlich aus.
Claudia blickt selbstbewusst zurück auf eine Phase jugendlicher Rebellion:
„Man wollte immer von mir, dass ich auf der Gesamtschule mein Abitur mache und dass
ich studiere und ich hab einfach gegen alles – was man von mir wollte, da habe ich immer
das Gegenteil gemacht. Ich kann auch gar nicht so genau sagen warum. Sehr, sehr aufmüpfig, hab´s dann erst recht nicht gemacht, aus Protest einfach nicht.“
Ein Grund dafür ist, dass Claudia ihr Leben schnell wieder in den Griff bekommen hat, Tim aber
ohne Schulabschluss erneut in einer Qualifizierungsmaßnahme gescheitert ist und schließlich arbeitslos wurde. Tim kann seinem unangepassten Verhalten keinen Sinn geben und urteilt mit
„Faulheit“ und „Dummheit“ hart über sich. Er erzählt:
93
„Es war halt die Sache. Dieses Aufstehen morgens mochte ich nicht. Dann immer zur
Schule. Kalt. Die Leute waren nett. Die Lehrer waren eigentlich auch nett. Das habe ich
mir halt verscherzt mit denen. Und es ist halt gemütlicher als arbeiten, wie ich nachher
gemerkt habe. Dann habe ich einen Schulkurs, das heißt vom Jugendamt so ne Maßnahme
für eben schwer Vermittelbare, die eben keinen Schulabschluss machen. Die können dann
eben nach machen, müssen aber gleichzeitig arbeiten. War ich in so einer Maßnahme halt.
Aber das war dann gar nichts für mich. Weil die vier Tage in der Woche Arbeit, einen Tag
Schule und das halt drei Jahre lang, bis ich meinen Hauptschulabschluss hab. Und da hatte
ich keine Lust drauf. Weil ich halt nur den Hauptschulabschluss machen wollte und nicht
nebenbei noch arbeiten jeden Tag. Ich wollte eigentlich nur meine Schule nachmachen.
Man hätte auch eine Tischlerausbildung bekommen. Aber das ist gar nicht mein Ding.
Mehr so Computer, Büro, so ne Richtung. Ja und dann hat mir auch nicht gefallen. Hab
ich gefragt, ob es noch eine andere Möglichkeit gibt. Ja, andere Möglichkeit gab`s nicht.
Nur mit Werkstätten, das gleiche eigentlich. Dann habe ich das abgebrochen, drei vier
Monate. Da war ich 17. Dann war ich ziemlich lange arbeitslos. Ich glaube zwei Jahre habe ich nichts gemacht. Jeden Monat habe ich Bewerbung geschrieben, dann halt Ausbildung, Friseur, bei der Stadtreinigung - wo man halt nicht hohe Ansprüche braucht. Aber
immer abgelehnt. Im Nachhinein ist auch klar warum. Schlechtes Zeugnis, bin halt nie da
gewesen. So einen will ja keiner haben.“
Aber auch für Claudia hatte ihr Schulverweis einen Preis:
„Ich hab auch viele Freunde zurück gelassen. Die meisten haben nicht so übertrieben wie
ich. Die haben Sachen angestellt oder sind zur Schule gegangen, aber sind im Rahmen
geblieben. Ich hab in der Zeit ein bisschen zu Extremen geneigt, glaube ich. Da hatte ich
auch meine ersten Erfahrungen mit Alkohol, habe das erste Mal irgendwie gekifft und ja.“
Obwohl Claudia klar ihre individuelle Verantwortung für diese Phase sieht, kann sie doch auch
Kritik an der Schule üben, deren plötzliche Konsequenz ihr früher hätte deutlich gemacht werden
können:
„Ich finde Gesamtschule ist eigentlich ein ganz gutes Konzept und ich hatte auch ganz gute Lehrer. Was für mich nicht so gut war, es war sehr offen, da wurde noch mal drüber geredet und ich habe erst sehr spät die Konsequenz gespürt mit dem Schulverweis. Auf der
Gesamtschule wird halt gerne diskutiert und ich habe das nicht ernst genommen. Das war
für mich nicht so, nicht so gut. Wäre ich mal für eine kurze Zeit von der Schule verwiesen
worden, beurlaubt worden, das hätte vielleicht gereicht, um mich wach zu rütteln. Aber
diese ganzen Gespräche mit den Lehrern, wo keine Konsequenz folgt, also für mich in der
Zeit, kommt ja immer auf den Menschen an, war es keine Hilfe.“
Übergang von der Schule in den Beruf
Der von Claudia mit geringem Einsatz erreichte Hauptschulabschluss hat ausgereicht, um eine
Ausbildung als Zahnarzthelferin zu machen, die sie auch dazu animiert hat, ihr Abitur nachzuholen und schließlich einen Studiengang zu wählen, der ihren Fähigkeiten mehr entspricht:
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„Ich hab dann eine Ausbildung angefangen, weil, ich hatte überhaupt keine Lust mehr auf
Schule, das ging mir alles auf die Nerven. Ich wollte arbeiten und mein Geld verdienen.
Ich hab dann eine Ausbildung als Zahnarzthelferin angefangen, hab die auch beendet, lief
zwischendurch auch ganz gut. Ich hab zwischenzeitlich dann auch meine Quali für das
Abi nachgeholt, während der Ausbildung und hab mich eigentlich schon im ersten Lehrjahr entschlossen, dass ich mein Abi nachhole, weil mir das nicht genug war. Also ich hatte schon nach dem ersten Lehrjahr das Gefühl, das nicht mehr so viel kommt, das ich
nicht mehr viel lerne. Das ist auch nicht ein Beruf, der mir liegt. Das sind eher so Handlangertätigkeiten. Ich arbeite lieber selbständig. Dann habe ich mein Abitur auf einem
Kolleg nachgeholt, direkt im Anschluss und hab immer nebenbei gejobbt und habe danach
angefangen zu studieren. Es war mir klar, dass mir das liegt, der soziale Bereich. Ich hab
schon vor dem Studium in der OT gearbeitet und kann ganz gut mit Menschen umgehen,
finde da ganz gut Bezug, hab ganz gut Kontakt und deswegen habe ich für das Studium
der Sozialen Arbeit entschlossen. Über einen Umweg. Aber ich glaub, das musste auch
sein, sonst hätte ich das nicht so zu würdigen gewusst.“
An einer anderen Stelle betont Claudia noch einmal, dass sie ihren Weg für sich gehen musste
und das erst konnte, nachdem die Erwartungshaltung ihrer Familie nachgelassen hatte:
„Und als die mich alle in Ruhe gelassen haben, sich schon damit abgefunden hatten, dass
ich Zahnarzthelferin werde, da hatte ich für mich die Ruhe darüber nachzudenken, dass
ich für mich einen anderen Weg gehe.“
Tims Vorstellungen von seinem Übergang in den Beruf sind noch unbestimmt. Er hat die Absicht, seinen Schulabschluss nachzuholen, und auch eine Möglichkeit dazu in Köln gefunden:
„Zurzeit habe ich keine Arbeit, keine Schule und meinen Abschluss habe ich auch noch
nicht. Allerdings habe ich meinen festen Schulplatz. Im Februar fange ich den an. Dann
möchte ich – das ist eine Abendschule. Dann werde ich meinen Real erstmal nach machen. Abi möchte ich vielleicht versuchen. Kommt eben drauf an.“
Was danach kommt ist für Tim noch ungewiss:
„Am liebsten wäre mir natürlich was, was mit meinem Hobby in Verbindung geht. Beziehungsweise Computer, Musik, technisch, Audio. Aber mir würde auch Spaß machen,
Verkäufer also. Einzelhandelskaufmann könnte auch was sein. Aber da bin ich noch offen. Ich will mich erst mal auf die Schule voll konzentrieren. Mehr gar nicht denken. Und
wenn ich dann das letzte Jahr angehe, dann werde ich mir Gedanken machen, was ich genau will, was ich mir jetzt für die nächsten zwanzig Jahre vorstellen und dann durchziehen.“
Vorbilder hat Tim nicht, aber große Ambitionen:
„Ne, Vorbilder habe ich nicht. Keine Ahnung. Ich will einfach nur mein Hobby zum Beruf machen. Musik halt.“
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Soziale Netzwerke
Tim hat in Köln noch keine neuen Freundschaften aufbauen können, hat aber noch Kontakt zu
Freunden aus seiner Schulzeit in Berlin.
„Ja, die Freunde in Berlin. Das sind noch ziemlich viele. Die bleiben auch Freunde. Die
kommen mich auch besuchen. Halt selten, wegen Arbeit und so. Ist klar. Aus der Grundschule noch, aus der Oberschule. Das ist halt so, Freunde, die ich schon zehn Jahre kenne
oder so. Zwei davon sind auch arbeitslos. Die aber nicht so denken wie ich. Also die, hocken immer zu Hause. Ich bin derjenige, der zu denen sagt, Jungs wird mal Zeit.“
Soziale Bezugspunkte in Köln hat Tim noch nicht. Er hält sich mehr für einen „Einzelgänger, der
viel Zeit am Computer verbringt.“ Claudia pflegt alltäglich langfristige Beziehungen zu drei
Freundinnen, die sie zu verschiedenen Zeiten ihrer Schullaufbahn kennen gelernt hat.
„Ich hab drei sehr gute Freundinnen, die ich in unterschiedlichen Lebensphasen kennen
gelernt habe, die mir aber alle drei sehr wichtig sind, die eigentlich schon fast meine Familie sind. Wir telefonieren täglich und sehen uns sehr oft. (…) Eine Freundin habe ich
kennen gelernt in der Grundschule schon, in der Grundschulzeit, die hat mit mir im gleichen Stadtteil gewohnt. Die andere in der Gesamtschule dann, die dritte erst, als ich mein
Abitur nachgeholt habe. Aber wir sind trotzdem sehr gut befreundet. Die kennen sich
zwar untereinander, aber haben nichts miteinander zu tun.“
Wichtig sind Claudia auch ihr Partner und ihre Arbeitskollegen. Doch Studium und Job zu vereinbaren, verlangt von ihr ein Zeitmanagement, das die Beziehungen einschränkt:
„Dann gibt es auch diese Bekannten, mit denen man ab und zu mal rausgeht, aber die zählen nicht zum Netzwerk. Mein Partner ist für mich ein bisschen Familie geworden. Und
ich hab nette Arbeitskollegen, mit denen ich auch was mache. Beschränkt sich aber auf
Leute, mit denen man echt gern was macht. Nicht mehr wie früher in Cliquen rumhängen,
die Zeit, die fehlt. Die Zeit, die man übrig hat, will man dann auch mit Menschen verbringen, die einem wirklich wichtig sind. Dadurch schränkt sich das immer mehr ein.“
Vergleich zwischen Jugendlichen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte
Tim weiß davon, dass Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sein können.
„Kommt halt auf die Leute an, die außerhalb stehen, nicht in der Familie und so. Zum
Beispiel die Arbeitgeber. Es gibt solche, die wollen keine Ausländer haben. Das habe ich
oft erlebt in Berlin.“
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Mehr hat Tim zu diesem Thema nicht zu sagen. Claudia hat die Erfahrung gemacht, dass Zugewanderte auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert werden und nimmt auch an, dass mangelnde
Deutschkenntnisse in der Schule zum Problem werden:
„Ich hab `s sehr viel leichter. Also es fängt an bei Wohnungssuche. Da hilft ein deutscher
Name ungemein, habe ich festgestellt. Wir haben mal so einen Test gemacht. Also meine
Freundin hat einen ausländischen Nachnamen. Und da war die Wohnung schon weg am
Telefon. Wenn ich angerufen habe, konnte man sich die noch angucken. Also man merkt
wirklich, dass viele Vorbehalte gegenüber Menschen haben, die keine deutschen Pass haben, mit Sprachproblemen. Auch in der Schule. Die sind ja nicht alle doof. Die haben einfach Probleme mit der Sprache. Und das zieht so einen Rattenschwanz hinter sich her,
finde ich. Es kostet sehr viel Mühe und Anstrengung da raus zu kommen. Die müssen sich
sehr viel mehr Mühe geben, um das gleiche zu erreichen, glaube ich.“
Ihrer Einschätzung nach haben die Haar- und Hautfarbe in der Wahrnehmung der sozialen Umwelt große Bedeutung, was sie völlig unangemessen findet:
„Menschen, die einfach nur schwarze Haare haben, sind ja fast schon akzeptiert. Aber
wenn man dann noch eine dunkle Haut hat, ist es ja noch schlimmer. Gerade diese äußeren Faktoren spielen, was ich mitbekomme, eine total große Rolle, was eigentlich in einem freien oder demokratischen Land wie Deutschland schade ist.“
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5. Fazit
Die empirische Erkundung der subjektiven Sichtweise von Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte mit qualitativen Methoden konnte und wollte keine repräsentativen Ergebnisse liefern.
Vielmehr sollte sich die Befragung auf die Lebenswelt der Jugendlichen und ihre subjektive
Sichtweise einlassen, ohne Beschränkungen theoretischer Vorannahmen. So sind die Ergebnisse
dieses explorativen Vorgehens selbst noch hypothetisch, mit Einzelfällen begründete Annahmen
zur subjektiven Sicht von Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte auf ihr Lebensumfeld.
Angenommen wurde, dass die subjektive Perspektive der Jugendlichen durch die Form ihrer
Zuwanderung objektiv vorstrukturiert ist. Diese Annahme hat sich in der Auswertung der Leitfadeninterviews nur partiell bestätigt. Auffällig ist zwar, dass sich die Aufenthaltsdauer der befragten Jugendlichen in den drei Gruppen unterscheidet: Beide Nachkommen der Arbeitsmigrant(inn)en wurden in Deutschland geboren, die befragten Jugendlichen, die als Asylsuchende nach Nordrhein-Westfalen gekommen sind, leben bereits seit ihrem fünften bzw. sechsten Lebensjahr hier. Später, im Alter von elf bzw. zwölf Jahren, sind die befragten Jugendlichen zugewandert, die zu den Spätaussiedler/innen gehören. Die Befragten zeigen aber, wie einheimisch
deutsche Jugendliche, individuell verschiedene Perspektiven auf ihr Lebensumfeld, die sich nicht
primär auf die Form ihrer Zuwanderung zurückführen lassen. Tatsächlich sind ja auch die rechtlichen Rahmenbedingungen für Aufenthalt und Arbeitsmarktzugang aller interviewten Jugendlichen gleich. Bis auf Amir verfügen alle über die deutsche Staatsangehörigkeit und auch Amir
kann und will sich einbürgern lassen, wenn er seinen irakischen Pass vorlegen kann. Signifikante
Unterschiede wären sicher festzustellen gewesen, wenn etwa geduldete Flüchtlinge oder Neuzugewanderte befragt worden wären. Hier wird vielmehr deutlich, dass auch Asylmigration zu einem dauerhaften Aufenthalt, zu Integration und Einbürgerung führen kann.
Die Befragung hat die Ergebnisse sowohl der erwähnten quantitativ als auch der qualitativ orientierten Studien weitestgehend bestätigt: Familie, Erziehung und Bildung, der Übergang von
der Schule in den Beruf sowie soziale Netzwerke, also Freundschaften bzw. Peergroups sind
zentrale Felder des Lebensumfeldes von Kindern und Jugendlichen sowohl mit als auch ohne
Zuwanderungsgeschichte. Die Aussagen der Jugendlichen verdeutlichen exemplarisch, wie sie
sich in jedem dieser Felder zwischen Autonomie und Anpassung bewegen und ganz unterschiedliche Bewältigungsformen entwickelt haben.
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Alle befragten Jugendlichen haben – ähnlich wie die Befragten in der Shell-Studie (2006) –
eine hohe emotionale Bindung an ihre Familie beschrieben. Konflikte bleiben nicht aus, wo die
Erwartungen der Eltern den Interessen der Jugendlichen widersprechen. Elizabeta räumt z.B.
Schwierigkeiten bei der ihrem Alter entsprechenden Lösung von der Mutter ein und reagiert nach
eigenen Angaben im Streitfall mit Rückzug. Karim sieht sich vom Vater noch „wie ein Baby behandelt“, demonstriert aber Gelassenheit, vielleicht weil ihm das gar nicht missfällt. Egon kennt
Konflikte um seinen Schulerfolg und seine Freizeitgestaltung, überlässt die Kontroverse mehr
oder weniger seinen (Groß-)Eltern, denn der autoritären Haltung des Einen steht die Fürsorge der
Anderen gegenüber. Marta weiß lebendig ausgetragene Konflikte in ihrer Familie offenbar zu
schätzen und mit Leidenschaft auszutragen. Aicha versteht, dass ihre Eltern sie aus Angst mit
zahlreichen Verboten einschränken und übt sich meist in Gehorsam, hat aber auch schon die Strategien erprobt, eine Freundschaft zu verheimlichen. Ihre Erzählung macht darauf aufmerksam,
dass es junge Mädchen im Einwanderungsland gibt, die den kulturell begründeten Erziehungsstil
der Eltern als Einschränkung ihrer individuellen Freiheit erleben und darunter leiden. Aicha tröstet sich in der Hoffnung auf mehr persönliche Freiheit, wenn sie volljährig wird. Amir demonstriert Coolness und Gleichgültigkeit gegenüber harten Strafen. Claudia vermeidet Konflikte, weil
sie davon ausgeht, dass sie ihrer Mutter keinen Streit zumuten kann. Tim blickt schließlich zurück auf sein Scheitern in der Schule und beim Übergang von der Schule in den Beruf und distanziert sich davon mit Schuldzuweisungen an sich selbst und großen Ambitionen für die Zukunft. Hier zeigt sich, dass die Familie ein Konflikt- und Reibungsfeld ist, in dem Kinder und Jugendliche mit und ohne Zuwanderungsgeschichte sehr individuell agieren, d.h. mal autonomieorientiert, mal angepasst und mal mit Rückzugstendenzen.
Im Lebensumfeld Schule erleben die Jugendlichen einen dreifachen Anpassungsdruck. Die
bloße Anwesenheitspflicht kann in der subjektiven Sicht der Jugendlichen als Einschränkung ihrer Selbstbestimmung wahrgenommen werden. Egon, Claudia und Tim haben sich dem entzogen,
ihre regelmäßige Teilnahme am Unterricht mehrfach verweigert und das mit „Faulheit“,
„Dummheit“ oder „Rebellion“ begründet. Hier zeigt sich sehr deutlich, wie auch schon Jugendliche im Zuge der Individualisierung die eigene Verantwortung für sozialisatorische Einflüsse
übernehmen. So werden Schulprobleme – ähnlich wie Arbeitslosigkeit – individualisiert. Die
daraus resultierenden Folgeprobleme sind den Jugendlichen mehr oder weniger klar, doch in ihren Augen können sie phasen- oder situationsbezogen nicht anders handeln, ohne genau zu wissen, warum. Die zweite Form des schulischen Anpassungsdrucks ist der Leistungsdruck. In der
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Erzählung von Elizabeta wird anschaulich, dass ihr der Leistungsdruck beim Übergang in die Sekundarstufe noch fremd gewesen ist. Mit der Zeit und mit Erfolgen, die sie hatte und hat, konnte
sie sich aber den Leistungsanspruch ihrer Schule zu Eigen machen und in ihr Selbstverständnis
integrieren. Das ist bei Egon ganz anders, der einen Leistungsdruck erst mit Blick auf die zentrale
Abschlussprüfung der Fachoberschulreife an seiner Hauptschule empfindet und sich diesem zu
entziehen weiß, weil er sein Scheitern antizipiert. An seiner Erzählung wird deutlich, was auch
die Aussagen von Marta, Aicha und Amir zeigen: das Erlernen der deutschen Sprache ist für Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte, insbesondere für die, die selbst erst im schulpflichtigen
Alter einwandern, das zentrale Integrationsproblem. Eine erfolgreiche Lösung für dieses Problem
hat die Schulorganisation in Nordrhein-Westfalen bisher nicht gefunden. In der subjektiven Sicht
der Jugendlichen ist weder eine separate Eingangsklasse für Seiteneinsteiger/innen erfolgreich,
wenn, wie bei Egon, die Jugendlichen gleicher Herkunft in den separaten Gruppen umgangssprachlich ihre Herkunftssprache sprechen. Und auch die Alternative, die sofortige Aufnahme in
eine Regelklasse, muss zu einem Fehlstart führen, wenn das Kind wie Aicha einfach dazu
kommt, zusieht und nichts versteht. Schließlich haben die Interviewten einen Anpassungsdruck
im Klassen- oder Stufenverband, in der sozialen Gruppe der Schülerinnen und Schüler erfahren.
Der kann, wie bei Karim, in der subjektiven Sicht der Jugendlichen zum Hauptmerkmal des schulischen Lebensumfeldes werden.
Aus Sicht der Jugendlichen üben auch die notwendigen Entscheidungen im Wettbewerb um
Ausbildungs- und Schul- und Studienplätze Druck aus. Manche Jugendlichen haben konkrete
Vorstellungen von ihrem Übergang in den Beruf geäußert, wie Karim, der über Freundeskreise
auf ein konkretes Berufsbild gekommen ist, oder Elizabeta, deren Schullaufbahn und Freizeitaktivitäten auf ein bestimmtes Berufsbild hinauslaufen. Andere haben wie Amir noch recht zufällig
anmutende Vorstellungen von ihrer beruflichen Zukunft oder auch gar keine wie Aicha. Selbstverständlich scheint, dass Jugendliche auf die unsichere Marktlage reagieren, indem sie sich zur
Sicherheit zeitgleich um einen Schulplatz an einem Berufskolleg bewerben. Dabei haben sie vielleicht auch nur diffuse Vorstellungen von Inhalten und Zielen dieses Bildungsgangs. Die berufliche Mobilität war bei allen befragten Jugendlichen, bis auf Marta, durch ihre enge Bindung an
die Familie und den vertrauten Sozialraum sehr eingeschränkt. Allochthone Jugendliche sind
aufgrund ihrer Zuwanderungsgeschichte (der Eltern) keineswegs mobiler als einheimische Deutsche. Wer Vorbilder benannt hat, hat sich an konkreten Personen, zumeist Pädagog(inn)en oder
Familienangehörigen, orientiert.
100
Nachbarschaft, „die Straße“ und Schule sind in der Lebenswelt Jugendlicher die sozialen Orte, um Freundschaften zu knüpfen und zu pflegen. Dabei können die Freundeskreise primär oder
sogar ausschließlich aus der eigenen Herkunftsgruppe kommen, wie bei Aicha oder auch explizit
Herkunftsgrenzen überschreiten, wie bei Amir. Es kommt auch vor, dass Jugendliche wie Tim
bevorzugen, ihre Freizeit lieber allein mit elektronischer Unterhaltung zu verbringen. Wenige der
befragten Jugendlichen waren wie Marta und Karim in einem Verein, einer Gemeinde oder sonst
wo organisiert. Alle gingen von einem engen Politikbegriff aus, wobei Politik das ist, was in
Nachrichten vorkommt. Damit konnte keiner der befragten Jugendlichen etwas anfangen. Gerade
Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte haben in diesem Zusammenhang aber darauf verwiesen, dass sie die Möglichkeit, ihre Meinung frei zu äußern, sehr schätzen, auch wenn sie davon
bisher nur wenig Gebrauch gemacht haben. Damit wird auch die in der Shell-Studie (2006) erwähnte, überwiegende Akzeptanz der demokratischen Grundwerte seitens der Jugendlichen mit
Zuwanderungsgeschichte betätigt.
Für alle befragten Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte gilt, dass sie um die Zuschreibung als „Problemgruppe“ im politischen und pädagogischen Kontext wissen und bemüht sind,
diese Zumutung zurückzuweisen und als „normale“ Jugendliche wahrgenommen zu werden. Ihre
Aussagen lassen auf eine hohe Identifikation mit dem Einwanderungsland Deutschland schließen
und zeigen keine Anzeichen für eine bewusste Abgrenzung in eine „Parallelgesellschaft“. Konfrontationen zwischen Jugendgruppen verschiedener Herkunft sind ihnen genauso vertraut wie
Solidarität zwischen Jugendlichen mit vergleichbarer Zuwanderungsgeschichte. Alle Jugendlichen beschreiben verschiedene Erziehungsstile in zugewanderten und einheimisch deutschen
Familien und halten dabei die einheimisch deutschen Familien tendenziell für liberaler. Der Erwerb der deutschen Sprache stellt für Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte die größte
Schwierigkeit dar. Selbst bei fortgeschrittenen Deutschkenntnissen empfinden sie einen Mangel
im Vergleich zu „Native Speakern“. Dabei wird der Umstand, dass sie in ihren Familien und
Peergroups zumeist die Herkunftssprache sprechen, ambivalent beurteilt. Denn einerseits wissen
sie die Vertrautheit mit der Sprache zu schätzen. Andererseits ist ihnen durchaus bewusst, dass
sie ihre Deutschkenntnisse dadurch nicht verbessern.
101
Anhang 1:
„Die subjektive Sicht von Kindern und Jugendlichen
mit Zuwanderungsgeschichte auf ihr Lebensumfeld.“
Expertise zum 9. Kinder- und Jugendbericht der Landesregierung
Nordrhein-Westfalen
Interviewleitfaden
Einleitende Worte: Vorstellung und Verwendung der Daten
1. Eröffnungsfragen
• Am Anfang möchte ich dich bitten, deine aktuelle Lebenssituation kurz zu beschreiben…
• Was ist im Moment besonders wichtig für dich?
• Gibt es ein akutes Problem, das du lösen musst?
• Gibt etwas, das dir im Alltag besondere Freude macht?
1.
•
•
•
•
•
Familie
Wer gehört zu deiner Familie?
Was bedeutet deine Familie für dich?
Hat sich dein Verhältnis zu deiner Familie in den letzen Jahren verändert?
Wenn es einmal Streit gibt, wie wird das dann gelöst?
• Welche Bedeutung hat deine Meinung in so einem Fall?
Wie stellst du dir das Verhältnis zu deiner Familie vor, wenn du erwachsen wirst?
3. Erziehung und Bildung
• Hast du früher, als du ein Kind gewesen bist, einen Kindergarten besucht?
§ Wenn ja, welche Erinnerung hast du an deine Kindergartenzeit?
• Wie fühlst du dich, wen du morgens zur Schule (oder) zur Arbeit gehst?
• Gibt es etwas, dass du richtig gut findest an der Schule (oder) deiner Arbeit?
• Und umgekehrt: Gibt es etwas, dass du ganz schlecht findest an der Schule / deiner Arbeit?
• Wie würdest du deine bisherige Schullaufbahn beschreiben?
4. Übergang von der Schule in den Beruf
• Weißt du heute schon, was du nach der Schule machen möchtest? (oder) Weißt du noch,
wie du dich nach der Schule für deine Arbeit entschieden hast?
• Fühlst du dich durch die Schule gut vorbereitet auf deine Berufswahl? (oder) Hast du dich
durch die Schule gut auf deine Berufswahl vorbereitet gefühlt?
• Gibt es ein Vorbild für dich? Einen Menschen der beruflich macht, was du dir für dich
auch vorstellen kannst?
102
•
Kannst du dir vorstellen für deine Ausbildung umzuziehen?
5.
•
•
•
•
•
Soziale Netzwerke
Gibt es Menschen außerhalb deiner Familie, die dir wichtig sind?
Wie hast du die kennen gelernt?
Was machst du gemeinsam mit deinen Freunden/Freundinnen?
Hat dein Freundeskreis Einfluss darauf, wie du die Dinge siehst?
Bist du in einem Verein, einer Gemeinde, einem Jugendhaus oder sonst wo regelmäßig
aktiv?
Hast du das Gefühl, dich politisch einbringen zu wollen und zu können?
•
6. Vergleich Zuwanderung/Einheimisch
• Wenn du deine Lebenssituation mit der von einheimisch deutschen (oder) zugewanderten
Jugendlichen vergleichst:
o Hat es Vorteile für dich, dass deine Familie (nicht) in Deutschland eingewandert
ist?
o Hat es Nachteile für dich, dass deine Familie (nicht) in Deutschland eingewandert
ist?
7. Abschlussfrage
• Gibt es etwas, das für deine Sicht auf dein Leben noch wichtig ist?
• Möchtest du etwas ergänzen oder noch erzählen?
Personendaten:
Alter
Geschlecht
Zuwanderungsgeschichte
Schule/Beruf
103
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