BLUTVERDÜNNUNG Mehr Freiheit dank kleinem

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© ProLitteris / Niederer Alan / Beobachter; 09.06.2000; Nummer 12; Seite 69
Ratgeber Gesundheit
BLUTVERDÜNNUNG Mehr Freiheit dank kleinem Wunderstift
BLUTVERDÜNNUNG SELBER MESSEN
In Deutschland ist die Methode bereits gang und gäbe: die Selbstkontrolle der
Blutverdünnung. Ein kleines Messgerät machts möglich - immer häufiger auch in der
Schweiz.
VON ALAN NIEDERER
Als mir der Arzt sagte, ich müsse lebenslang Blutverdünner nehmen, dachte ich: ÐNein,
das kommt nicht in Frage.ð» Stephan Müller ist 31 Jahre alt und Lastwagenchauffeur.
Doch jetzt bangt er um seinen Beruf, denn im letzten Herbst passierte es in Spanien
erneut: Notfallmässig musste er ins Spital. Diagnose: Beckenvenenthrombose. Einige
Tage später kam noch eine Lungenembolie dazu. Seither ist Stephan Müller
krankgeschrieben.
Thrombosen - also gefährliche Blutgerinnsel in den Blutgefässen - sind nichts Neues für
Stephan Müller. «Vier oder fünf sind es schon gewesen», erinnert er sich. Die erste hatte
er bereits als Jugendlicher. Obwohl die Ärzte keine behandelbare Ursache finden, ist für
sie der Fall klar: Stephan Müller muss sein Blut lebenslang verdünnen. Sonst besteht die
grosse Gefahr weiterer Thrombosen und Embolien, die auch einmal tödlich verlaufen
können.
Stephan Müller schluckt deshalb jeden Abend eine Tablette. Das Medikament, im
medizinischen Jargon «orales Antikoagulans» genannt, hemmt gewisse Eiweisse in der
Leber, die als Gerinnungsfaktoren wirken: Thrombosen und Embolien sollten deshalb
nicht mehr entstehen.
Schon Nasenbluten ist gefährlich
Die Behandlung ist aber nicht harmlos; sie wird nur bei zwingenden Gründen ein Leben
lang durchgeführt (siehe Kasten). Wer blutverdünnende Medikamente einnimmt, der hat
ein höheres Blutungsrisiko. Schon ein banales Nasenbluten kann gefährlich werden.
Grosse Gefahr besteht nach Stürzen - besonders wenn Alkohol im Spiel ist. Denn
Hochprozentiges führt nicht nur zu Unsicherheit beim Gehen; Alkohol stört auch die
Funktion der Blutplättchen. Regelmässige Kontrollen beim Hausarzt gehören deshalb
zum Alltag von Menschen, die mit einer Blutverdünnung leben müssen. Einige müssen
zweimal pro Woche zum Arzt, andere nur einmal im Monat.
Aus einer Vene am Arm oder aus einem Finger wird Blut entnommen und daraus die
Blutgerinnungszeit gemessen. Diese wird als so genannter «Quick»- oder INR-Wert
angegeben. Je nach Resultat passt der Arzt dann die Dosis des Medikaments an.
Selber messen hat Zukunft
Seit zwei Jahren wird in der Schweiz eine neue Methode angeboten. Ausgewählte
Patienten können die Blutgerinnungszeit selbst bestimmen und danach ihre
Medikamentendosierung anpassen.
Walter Wuillemin, Leiter der Abteilung für Hämatologie am Kantonsspital Luzern, ist einer
der Schweizer Pioniere auf dem Gebiet der Selbstkontrolle. «Auch Menschen mit
lebenslanger Blutverdünnung wollen unabhängig sein», sagt er. «Dafür sind sie bereit,
mehr Selbstverantwortung zu übernehmen.» Ähnlich sieht es auch Stephan Müller:
«Wenn ich zwei Monate quer durch Europa fahre, ist es schwierig, die Blutverdünnung
regelmässig bei einem Arzt oder im Spital messen zu lassen.»
Untersuchungen in mehreren Ländern zeigen, dass die Blutwerte bei selbst
kontrollierenden Patienten eher besser sind als bei jenen, die zur Kontrolle zum Arzt
gehen. Deswegen erleiden die «Selbstmesser» auch weniger Komplikationen, wie etwa
schwere Blutungen. «Die Selbstbestimmung hat langfristig auch einen kostensparenden
Effekt», ist Wuillemin überzeugt. «Die Patienten gehen zwar nicht seltener zum Arzt,
aber die einzelnen Konsultationen sind günstiger.»
Deutschland nimmt in diesem Bereich eine Vorreiterrolle ein. Seit den achtziger Jahren
sind dort bereits 50000 Menschen entsprechend geschult worden. In der Schweiz sind
es erst hundert. Doch die Nachfrage steigt. «In zehn Jahren», schätzt Walter Wuillemin,
«werden es wohl mehrere tausend sein.» Die Schulung der Patienten dauert einen Tag
und findet an verschiedenen Orten in der ganzen Schweiz statt.
Die Teilnehmer müssen viel Theorie lernen: Warum gerinnt das Blut? Wie wirken
blutverdünnende Medikamente? Welche anderen Dinge haben Einfluss? Daneben wird
aber auch ganz Praktisches vermittelt. Die Patienten lernen, dem eigenen Finger Blut zu
entnehmen und die Messung mit einem kleinen portablen Gerät durchzuführen.
«Das Gerinnungsmessgerät ist so einfach zu bedienen wie ein Videorecorder», sagt
Wuillemin, «aber auch da können Fehler passieren.» Deshalb ist für ihn eine seriöse
Schulung wichtig. Am Schluss erhalten die Patienten ein Zertifikat. Langfristig soll damit
erreicht werden, dass die Krankenkassen - wie in Deutschland - die Kosten für das
Gerinnungsmessgerät übernehmen. «Zurzeit ist das noch nicht geregelt», sagt
Wuillemin. Drei Viertel der Kassen bezahlen aber schon heute mindestens einen Teil der
Kosten.
Seit Stephan Müller die Schulung in Luzern besucht hat und seine Blutverdünnung
selber misst, ist er wieder zuversichtlich. Er hat inzwischen sogar mit Rauchen aufgehört.
Sein Ziel: «Ich will möglichst schnell wieder auf Achse sein.» n
Bild: Der Patient kontrolliert sich selbst: Gerinnungsmessgerät FOTO: EMANUEL
AMMON/AURA
¬ In Frage kommen Patienten, die lebenslang gerinnungshemmende Medikamente
einnehmen müssen. Die Gründe sind meistens eine künstliche Herzklappe, wiederholte
Thrombosen und Embolien oder Herzrhythmusstörungen.
¬ Die Methode eignet sich für selbstständige, aktive Menschen, die Eigenverantwortung
übernehmen wollen.
¬ Eine Altersbeschränkung gibt es nicht. Bei Kindern können die Eltern geschult werden.
Gleiches gilt für Behinderte.
¬ Das theoretische Wissen und die praktische Anwendung werden in einem eintägigen
Kurs vermittelt. Er findet an verschiedenen Orten in der Schweiz statt.
¬ Nach der Schulung folgt eine «Übungsphase». Während ein bis drei Monaten misst
der Patient einmal pro Woche die Blutverdünnung und protokolliert die Werte in einem
Tagebuch. Beim Hausarzt wird gleichzeitig eine Parallelbestimmung durchgeführt.
¬ Nach Abschluss der Übungsphase kommt der Patient zu einer Kontrolle beim
Schulungsarzt. Neben der Parallelmessung durch das Labor werden Erfahrungen und
Probleme bei der Selbstbestimmung besprochen.
¬ Wer sich für diese Methode interessiert, kontaktiert am besten seinen Hausarzt.
WEITERE INFOS
Adressen
¬ Kantonsspital Luzern, Abteilung für Hämatologie, Sekretariat, 6000 Luzern 16, Telefon
041/205 51 47 (Informationen zur Patientenschulung)
¬ Roche Diagnostics (Schweiz) AG, Patient Care, Industriestrasse 7, 6343 Rotkreuz,
Telefon 041/799 61 61 (Informationen zu Messgerät und Schulung)
Buchtipp
¬ Angelika Bernardo, Carola Halhuber: «Gerinnungs-Selbstkontrolle leicht gemacht.»
Trias, 1999, Fr. 19.50
Internet
¬ www.promoat.org (Internationales Forum für Gerinnungs-Selbstkontrolle, gegründet
von den deutschen Pionieren auf diesem Gebiet)
Korrigenda
Im Artikel «Blutverdünnung: Mehr Freiheit dank kleinem Wunderstift» (Nr. 12) zeigte der
Beobachter nur die halbe Wahrheit: Abgebildet war der Stift, mit dem sich die
Patientinnen und Patienten selber Blut entnehmen können. Die Aufnahme des
kompletten Gerinnungsmessgeräts liefern wir hier nach.
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Hintergrund Übersicht Tip; Medizin; Blut; Pharma; Medikamente Medizin;
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Urheberrechte: ProLitteris / Niederer Alan
Autor(-in):
Alan Niederer
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