Piercing und Tattoo Man braucht sich nur auf der Straße umzuschauen: Immer mehr junge und nicht ganz junge Frauen und Männer tragen Körperschmuck in Form von Piercings und Tattoos. Die Mediziner sehen diesen Modetrend mit Sorge. Die gesundheitlichen Risiken, die damit einhergehen, sind offenbar nicht bekannt. Das Problem fängt damit an, dass die Studios, die tätowieren und piercen, nicht immer die Ansprüche an Sterilität erfüllen, die notwendig wären. So werden immer mehr Fälle von Infektionen berichtet. Die Schätzungen liegen zwischen 11 und 24 %. Die Dunkelziffer ist hoch. Die größte Gefahr, die von Piercings und Tattoos ausgeht, ist eine Endokarditis-Erkrankung. Diese Gefahr ist besonders gegeben bei Jugendlichen und Erwachsenen mit angeborenem und erworbenem Herzfehler. Dr. med. Christa Gohlke-Bärwolf, eine Expertin auf diesem Gebiet, hält es für dringend geboten, alle Patienten mit angeborenen oder erworbenen Herzfehlern – gleich ob sie operiert sind oder nicht – darüber aufzuklären, welche Folgen der heute so beliebte Körperschmuck für sie haben kann. Die Endokarditis ist eine entzündliche Erkrankung der Innenwand des Herzens (Endokard), die durch die Besiedlung mit Bakterien oder Pilzen zustan8 dekommt. Der bevorzugte Ort der Entzündung sind die Herzklappen. Die akute Endokarditis kann sich innerhalb weniger Tage entwickeln und schreitet schnell voran. Nicht selten entwickelt sie sich jedoch schleichend über mehrere Wochen, bis es zum Auftreten der Komplikationen kommt (im Einzelnen: Achtung! Endokarditis, in: Herzklappenerkrankungen heute, S. 12 ff). „Vor der Entwicklung von Antibiotika“, sagt Dr. Christa Gohlke-Bärwolf, „war die Endokarditis eine fast immer tödliche Erkrankung. Sie ist heutzutage trotz der großen Fortschritte in der Therapie immer noch eine sehr bedrohliche Krankheit, die mit einer hohen Komplikations- und Sterberate verbunden ist. Obwohl wirksame Medikamente, Antibiotika, zur Verfügung stehen, und selbst eine zerstörte Herzklappe noch durch eine Herzoperation ersetzt werden kann, sterben immer noch 50 Prozent der Patienten, die mit Medikamenten oder chirurgisch behandelt werden, innerhalb von 7 Jahren nach Feststellung einer Endokarditis.“ Dr. Gohlke-Bärwolf weist in diesem Zusammenhang auf einen Fall von Endokarditis hin, der 2006 in der französischen Fachzeitschrift Archives des Maladies du Cœur et des Vaisseaux publiziert worden ist: Emmanuelle, ein 16 Jahre altes Mädchen, wurde mit hohem Fieber (40° C) ins Krankenhaus von Caen eingeliefert. Seit 5 Tagen litt sie unter Schmerzen im rechten Handgelenk und Atemnot. Emmanuelle hatte keinen angeborenen oder erworbenen Herzfehler, aber eine vererbte Faktor-V-Mutation, die das Auftreten von Thromboembolien begünstigt. Auffällig war eine entzündliche Rötung der Haut (Erythem) um den Nabel, in den Emmanuelle sich 3 Monate zuvor ein Piercing hatte machen lassen. Die Blutuntersuchung und die Untersuchung der Gewebsflüssigkeit aus dem Handgelenk zeigten eine Staphylokokkeninfektion. Die Echokardiographie entdeckte an der Trikuspidalklappe eine große Vegetation, d.h. ein mit Bakterien und Entzündungszellen durchsetztes Blutgerinnsel, das die Klappe zerstören kann. Damit stand die Diagnose fest: Endokarditis. Sofort wurde eine intensive intravenöse Antibiotika-Therapie eingeleitet und über 6 Wochen weitergeführt. Anschließend musste Emmanuelle noch 4 Wochen Antibiotika einnehmen. Die Therapie war erfolgreich. Die Vegetation an der Trikuspidalklappe bildete sich zurück, so dass die Klappe gerettet wurde. Emmanuelle konnte gesund entlassen werden. Endokarditis-Erkran- kungen nach Piercings, auch an anderen Körperstellen, treten immer häufiger auf. Der Bericht über Emmanuelle ist bemerkenswert, weil meistens die Endokarditis bei Patienten mit angeborenen oder erworbenen Herzfehlern auftritt – nicht immer mit einem so guten Ausgang wie bei Emmanuelle. Diese Patienten riskieren durch Piercings und Tätowierungen nicht nur ihre Herzklappe, sondern ihr Leben. Deshalb rät Dr. Gohlke-Bärwolf wie andere Experten und die American Heart Association diesen Patienten dringend von Piercings und Tätowierungen ab. Wenn Jugendliche sich von diesen Warnungen nicht abhalten lassen, weil sie unbedingt „normal“, d. h. wie die anderen dem Modetrend folgen wollen, sollten sie wenigstens vor der Prozedur sicherstellen, dass das Piercing in einem ärztlich überwachten Institut durchgeführt wird, in dem die Sterilitätsanforderungen gewährleistet sind. Zusätzlich sollten Patienten mit hohem Risiko vorbeugend Antibiotika einnehmen, wie es z. B. bei zahnärztlichen Eingriffen gehandhabt wird. Gelegentlich werden Endokarditis-Erkrankungen auch bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen beobachtet, die keinen Herzfehler haben. Deshalb sollte, wenn nach einem Piercing ein andauernd hohes Fieber auftritt, eine Untersuchung auf Endokarditis erfolgen. (ot.) 9