Sozialstaat/Wohlfahrtsregime I Tod oder Neuerfindung des

Werbung
Sozialstaat/Wohlfahrtsregime I
Tod oder Neuerfindung des
Sozialen?
Frühlingssemester 2013
Maurizio Coppola,
MA Sozialwissenschaften
14.05.2013
1
Struktur der heutigen Vorlesung
1. Warum über das «Soziale» sprechen?
2. Die Krise des Sozialstaates
3. These der «Neuerfindung des Sozialen»
(Lessenich 2009)
4. Gruppendiskussion
5. Gouvernementalität der Gegenwart: Tod des
Sozialen? (Rose 2000)
6. Ausblick
2
Das «Soziale» in den
Sozialwissenschaften
• Die Sozialwissenschaften beschäftigen sich mit
den Verhältnissen zwischen den Menschen,
nicht mit den Menschen an und für sich
• Das «Soziale» verweist auf dieses Verhältnis
• Vom Konkreten zum Abstrakten: Abstraktion
notwendig, um das Ganze zu erfassen
3
Krise des Sozialstaates
• Finanzkrise des Sozialstaates: Missverhältnis
zwischen Mitteln und Aufgaben des
Sozialstaates;
• Legitimationskrise des Sozialstaates:
Missverhältnis zwischen der traditionellen
Sozialpolitik und den vorherrschenden
gesellschaftspolitischen Grundsätzen und
sozialen Bedürfnissen.
4
Das «Soziale»
• Definition des «Sozialen»
– «politische Anerkennung und Durchsetzung einer
Verantwortung ‘der Gesellschaft’ für das Wohlergehen
‘ihrer’ Individuen.» (Lessenich 2009:29)
• Wo ist der Ort des Sozialen? Wo wird Sozialität
hergestellt? Zwei «Extrempositionen»:
 Kollektive gesellschaftliche Verantwortlichkeit für das
Soziale; aus öffentliche Hand in Form des Sozialstaates
entsteht das Soziale und sie muss es bewahren
 Die Verantwortung für das Soziale liegt bei den einzelnen
Gesellschaftsmitgliedern selbst; in den Einzelhandlungen
entsteht das Soziale
5
Erfindung des Sozialen
• Sozialstaatliche Logik entwickelt sich im Zuge
des 19. Jahrhunderts als «soziales Risiko»:
«überindividuell auftretend und daher
kollektiv zu bewältigen» (p. 29)
• Der historische Kompromiss des
«keynesianischen Sozialstaates»: zwischen der
ökonomischen Rationalität der Profitabilität
und der sozialen Rationalität der Partizipation.
6
These der «Krise des Sozialen»
«…der endgültigen Abwendung von seiner im 19.
Jahrhundert eingeleiteten, im Verlauf des 20.
Jahrhunderts etablierten gesellschaftlichen Verortung
und institutionellen Gestaltung. Diese Strukturkrise
wird von der finanzmarktgetriebenen Akutkrise der
Weltwirtschaft (weiter) beschleunigt werden und den
Weg in eine neue Gesellschaftsformation bahnen: in
eine Aktivgesellschaft, welche die Sorge um das Soziale
an die Subjekte verweist und in diese hinein verlagert –
und damit das Soziale wie auch die Subjekte
grundlegend verändert.» (Lessenich 2009:29)
7
Neuerfindung des Sozialen
• Permanente Ausweitung der Staatstätigkeit:
– Wie weit muss der moderne Staat seine politische «Beförderung des
Sozialen» treiben?
– Wie, in welcher Weise, sucht der moderne Staat als Sozialstaat das
Soziale zu befördern?
• These Lessenich (p. 30): «…die ehedem öffentliche Verantwortung für
das Soziale zu privatisieren, oder genauer: jedem und jeder Einzelnen
selbst zuzuweisen, die Sorge um das Soziale jedem einzelnen Selbst in
dessen subjektive Handlungsorientierung und alltägliche
Lebensführungsmuster einzuschreiben.»
=> Diese sozialpolitische Umorientierung bezeichnet Lessenich
als «zeitgenössische Neuerfindung des Sozialen»
8
Neuerfindung des Sozialen
• Zwei «gesellschaftliche Megatrends» stehen im
Hintergrund des Umbaus des Sozialstaates:
– Eine globale Runde kapitalistischer «Landnahme»
– Ein Prozess der «Beschleunigung» des gesellschaftlichen
Lebens
• Grundtendenzen der sozialpolitischen Entwicklung
des neuen sozialstaatlichen Arrangements:
– «Die ökonomische Verschlankung des Sozialstaates
einerseits, seine strategische Ausrichtung auf die
Mobilisierung des gesellschaftlich verfügbaren
Humankapitals andererseits.»
9
Neuerfindung des Sozialen
• Credo dieses neuen sozialstaatlichen
Arrangements sind:
– Eigenverantwortung
– Sozialverantwortung
«Man könnte diesen Modus der politischen Produktion von
der Gesellschaft bzw. dem Sozialen verpflichteten
Subjekten als neosozial bezeichnen – denn das Soziale wird
nicht etwa ‘abgebaut’ oder liquidiert, sondern vielmehr
umgesteuert und transferiert. Der Ort des Sozialen wird
verlagert: in die Subjekte, in jede und jeden Einzelnen
hinein.» (p. 32)
10
Neuerfindung des Sozialen
• Zwei Elemente sind von systematischer
Bedeutung – das neosoziale Handeln des
Sozialstaates:
– Die Betonung der individuellen Verpflichtung zur
gesellschaftlichen Schadensvermeidung
– Die sozialpolitische Intervention als Verhaltenssteuerung;
es geht um eine institutionelle Anleitung zur individuellen
Verhaltensänderung in der offenkundigen Überzeugung,
dass ein Fehlverhalten vorliegt und dass eben dieses
Fehlverhalten die Quelle gegenwärtiger sozialer Probleme
ist.
11
Das Soziale in der Krise
«Eine ‘Krise’ erlebt das Soziale derzeit im Sinne
eines Prozesses der Standortverlagerung seiner
Produktionsstätte: Die Verantwortung für die
Herstellung des Sozialen verschiebt sich vom
System sozialstaatlicher Institutionen auf die
Subjektivität sozialdienlicher Individuen.» (p. 34)
12
Gruppendiskussion
Diskutieren Sie in 5er-Gruppen folgende Frage (10
Minuten):
Nennen Sie Entwicklungen in der
schweizerischen sozialstaatlichen Praxis, die
auf eine «Neuerfindung des Sozialen»
hinweisen.
Bestimmen Sie eineN SprecherIn, welche die
Ergebnisse Ihrer Diskussion den übrigen Studierenden
kurz darlegt.
13
Der «neosoziale» Sozialstaat
Schweiz
Sozialversicherung
«neosoziale» Logik bzw. Reformen
Alterssicherung
Öffentliche AHV (1. Säule) als Ergänzung zur private
beruflichen Vorsorge (2. Säule)
Krankenversicherung
Private Versicherungen, Selbstbehalte und Franchissen,
späte Einführung des Obligatoriums (1996)
Invalidenversicherung
Eingliederung vor Rente mit der 4. IV-Revision (2004)
Erwerbslosenversicherung
2. Revision 1996: Eingliederung vor Taggeld (Aktivierung)
3. Revision 2003: Senkung Entschädigungsdauer
4. Revision 2012: Koppelung von Beitrag und Leistung //
Erhöhung der Wartezeit für Jugendliche
Sozialhilfe
Revision der SKOS-Richtlinien 2005: Streichung
Grundbedarf II, Leistung/Gegenleistung,
Sozialdisziplinierung, Ergänzender Arbeitsmark
14
Tod des Sozialen?
• Vorstellung und Diskussion des Textes:
Rose, Nikolas (2000). Tod des Sozialen? Eine
Neubestimmung der Grenzen des Regierens. In:
Bröckling, Ulrich/ Krasmann, Susanne/ Lemke,
Thomas (Hg.). Gouvernementalität der Gegenwart.
Studien zur Ökonomisierung des Sozialen.
Frankfurt/M: Suhrkamp Verlag, 72-109.
15
Gouvernementalität der
Gegenwart
• Anknüpfung an Michel Foucaults Begriff der «Regierung»
• Konzept der Gouvernementalität: Regieren («gouverner») und
Denkweise («mentalité»)
• Soziale Beziehungen unter dem Blickwinkel der Menschenführung
analysieren
• Konzentrierung des Untersuchungsinteresses auf die
systematischen Beziehungen zwischen Macht und Subjektivität,
Herrschaftstechniken und «Technologie des Selbst»
• Neoliberale Gouvernemantalität
• Neoliberalismus verstanden als politische Rationalität:
Marktnormen und Selbststeuerung der Individuen strukturieren
und formen das Soziale
• Staat kein eigenständiges Phänomen, sondern Produkt historisch
gewachsener, spezifischer Machtverhältnisse
16
«Gouvernementalität»
• «…Erwägungen, Strategien, Taktiken und
Kunstgriffe, von denen die Behörden
Gebrauch machen, um die Bevölkerung und
einzelne Bevölkerungsgruppen in Form zu
bringen und zu steuern und auf diese Weise
das allgemeine Wohl zu sichern und Übel fern
zu halten…» (Rose 2000:73).
=> Art und Weise, mit der das Verhalten der Menschen
gesteuert wird, verweist auf Machtverhältnisse
17
«Gesellschaft»
• «…Summe der Bindungen und Beziehungen
zwischen Individuen und – ökonomischen,
ethischen sowie politischen – Ereignissen im
Rahmen eines mehr oder weniger
abgegrenzten Territoriums, das von je eigenen
Gesetzen regiert wird.» (Rose 2000:73)
18
Das «Soziale»
• «…’das Soziale’ keine zeitlose Existenzform
menschlicher Sozialität ist. Vielmehr
bezeichnete es innerhalb eines eingegrenzten
geographischen und zeitlichen Feldes die
Bedingungen, unter denen die intellektuellen,
politischen und moralischen Instanzen und
Institutionen der Menschen an bestimmten
Orten und in spezifischen Zusammenhängen
über ihre gemeinsame Erfahrung nachdachten
und auf sie Einfluss nahmen.» (Rose 2000:75)
19
Die Ordnungsfunktion des Staates
• Im Verlauf der ersten Jahrzehnte des 20.
Jahrhunderts erweiterten PolitikerInnen die
Sphäre des Sozialen.
• Politisch-moralische Kritik am Sozialstaat und
Wende im Verlauf der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts: Der Staat soll nicht nur regieren
(Subjekt), sondern auch regiert werden
(Objekt).
20
«Fortgeschritten liberales
Regieren»
• «Kern der Wertvorstellungen dieser neuen
Mentalitäten und Strategien des Regierens,
die ich als ‘fortgeschritten liberal’ bezeichnet
habe, ist ein neues Verständnis zwischen den
Methoden, mit denen andere, und den
Techniken, mit denen das Selbst regiert wird,
ein Verhältnis, das in den neuen
Beziehungsgeflechten wechselseitiger
Verpflichtungen situiert ist, den ‘Communities’
oder Gemeinschaften.» (Rose 2000:78)
21
«Soziales» vs. «Community»
• Charakteristische Merkmale des Wandels vom
«Sozialen» zur «Community»:
– Fragmentierung des Raumes
– Wandel in der Moral
– Rolle der Identifikation
22
Fragmentierung des Raumes
• Fragmentierung eines historisch gewachsenen einheitlichen
Raumes des «Sozialen»
• Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird nun durch eine
Vielzahl von «Gemeinschaften» bestimmt
(Überzeugungsgemeinschaften, Betroffenengruppen etc.)
• Frage der Integration der «Gemeinschaften» in ein grösseres
Kollektiv (Nation, Gesellschaft)
 Konflikte um konkurrierende und einander ausschliessende
«Rechte» und «Wertvorstellungen» zwischen den
Gemeinschaften
Beispiel: gewaltsame Auseinandersetzungen um die Homo-Ehe
in Frankreich im April 2013
23
Wandel in der Moral
• Auflösung der moralischen Vorstellungen, die das Individuum
immer im Zusammenhang zum Kollektiv gedacht hat
• Individuum selbst wird zum «moralischen Subjekt»
• Neuregulierung seiner Pflichten und Eigenverantwortung: Der
Einzelne tritt als autonomer Akteur auf
 Kombination von Eigen- und Sozialverantwortung mit
«dysfunktionalen Folgen» (Frustration, Resignation, Devianz)
Beispiele: Leitsatz des «Gürtel enger schnallen» in der
Sozialpolitik inmitten einer Überflussgesellschaft oder
Individualisierung der Schuld im Kontext struktureller
Arbeitslosigkeit
24
Rolle der Identifikation
• Das «Soziale» war immer auch ein «Projekt der politischen
Identifikation»: Schulbildung, öffentlicher Wohnungsbau,
Sozialversicherungen -> Zielvorstellung des Bürgers als soziales
Wesen, das sich vor allem als Glied einer einheitlichen Gesellschaft
verstand
• «Jede Aussage zur ‘Community’ bezieht sich auf etwas, das bereits
existiert und das zugleich eine Forderung an uns stellt: unser
gemeinsames Schicksal als Schwule, als farbige Frauen, als
Mitglieder einer ethnischen Gruppe…als Behinderte.» (p. 85)
 Durch die Sichtbarmachung und Hervorhebung von dem, was
bereits vorher existiert, werden neue Konfliktlinien produziert.
Beispiel: Debatte um die spezielle Unterbringung von sogenannten
«renitenten» Asylsuchenden in geschlossenen Asylzentren
25
Techniken des Regierens
• Strategien der neuen Technik des Regierens
durch «Community»:
– Aktivierung des eigenverantwortlichen Handelns
(p. 85/86)
– Neue Vorsorgerhetorik (p. 97)
26
Neue Formen der Subjektivität
«…diejenigen, die regiert werden, mittlerweile mehr und mehr
ihr Selbstverständnis und ihr Verhältnis zu sich selbst
artikulieren. Natürlich geht es dabei nicht um die Frage einer
Ablösung des ‘Sozialen’ durch ‘Community’: Die räumliche und
territoriale Organisierung des politischen Denkens verläuft nicht
in solch linearen Sequenzen. Gleichwohl lässt der Einfluss des
‘Sozialen’ auf unsere politische Vorstellungswelt nach. Zwar
wurde das Soziale seit seiner Entstehung als eine Sphäre des
Versagens und der Versäumnisse gesehen, die Lösung für diese
Versäumnisse werden inzwischen allerdings nicht mehr
zwangsläufig als eine Neuauflage des Sozialen begriffen.» (p.
105/106)
27
«Community» und Sozialstaat
«In dieser neuen Konstellation kommt dem
‘Sozialversicherungssystem’ nicht mehr die Rolle eines
zentralen Bestandteils einer umfassenden Rationalität
sozialer Solidarität zu, vielmehr gelten die Steuern, die
für die Zwecke des Allgemeinwohls entrichtet werden,
als jener Minimalaufwand, den rechtschaffene Bürger
und die ‘Communities’, denen sie angehören,
aufzubringen bereit sind, um sich gegen Risiken
abzusichern, die ihre Wahrnehmung nach in gewissen
Problembereichen nunmehr massiert auftreten.» (p.
99)
28
Fazit
• Das Soziale habe versagt. Wir erleben heute keine
«Neuerfindung des Sozialen», sondern eine
Verschiebung zugunsten anderer Konzepte von
«Gesellschaftlichkeit».
• «Community» als «kulturelle Dominante», «ein
Konzept, die es ermöglicht, die Präsenz und die
Koexistenz eines Spektrums ganz verschiedener,
jedoch einer bestimmten Dominanz untergeordneter
Elemente zu erfassen.» (Frederic Jameson)
29
Literatur
• Foucault, Michel (2004). Geschichte der Gouvernementalität II. Die
Geburt der Biopolitik. Frankfurt/M: Suhrkamp Verlag.
• Ganssmann, Heiner (2000). Politische Ökonomie des Sozialstaates.
Münster: Westfälisches Dampfboot.
• Lessenich, Stephan (2008). Die Neuerfindung des Sozialen. Der
Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld: Transcript Verlag.
• Pelizzari, Alessandro (2001). Die Ökonomisierung des Politischen.
Konstanz: UVK.
• Rose, Nikolas (2000). Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der
Grenzen des Regierens. In: Bröckling, Ulrich/ Krasmann, Susanne/
Lemke, Thomas (Hg.). Gouvernementalität der Gegenwart. Studien
zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt/M: Suhrkamp Verlag,
72-109.
30
Herunterladen