Diff. Krankheitslehre-Borderline SS 2007

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Borderline-Störung
I.Begriff
Der Begriff selbst stammt aus dem Jahre 1884 (von engl. borderland, „Grenzgebiet“,
„Randgebiet“). 1938 wurde der Begriff „Borderline“ von Adolph Stern verwendet, um
einen Typ von PatientInnen zu beschreiben, der mit damaligen psychoanalytischen
Methoden nicht zufriedenstellend behandelt werden konnte. Schon damals wurde für
diese Gruppe von PatientInnen das Charakteristikum herausgearbeitet, dass sich ein
idealisierendes Verhalten sofort in ein feindliches Verhalten verwandelt, sobald die
TherapeutInnen nicht vollständig den Erwartungen entsprachen. Damals war auch die
Rede von einer Dissoziativen Störung, Störung der Realitätsprüfung bzw.
Übertragungspsychose. Da es bei den Symptomen auch Ähnlichkeiten mit schizophrenen
Erkrankungen gibt, wurde auch ein zeitlang der Begriff „ pseudoneurotische
Schizophrenie“ verwendet.
Der Begriff selbst fand erst 1980 im Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer
Störungen (DSM-III)unter der Diagnose „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ Eingang. Und
wiederum erst 1991 wurde die Diagnose unter dem Begriff „Emotional instabile
Persönlichkeitsstörung“ in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgenommen.
II.Ursachen
Mindestens 70 % der Borderline-PatientInnen haben traumatische Erfahrungen in der
(frühen) Kindheit und Jugend aufzuweisen. Meist sind diese traumatischen Erfahrungen
Resultat einer schwer gestörten Beziehung zu den Eltern und Missbrauch (sexuell, zur
eigenen Bedürfnisbefriedigung, Gewalt). Ein ambivalentes Elternhaus spielt hier eine
wichtige Rolle, viele Betroffene berichten über wenig fürsorgliche, wenig emotional
unterstützende Eltern, und/oder diffuse Erziehungsstile oder Überkontrolle. Emotionale
"Verwahrlosung" wie das Nichtversorgen bei Schmerz, Krankheit oder Problemen ist bei
vielen Betroffenen in der Kindheit vorgekommen. Häufig liegt diesen schweren
Vernachlässigungen die Tatsache zugrunde, dass die Eltern selbst krank, (z.B selbst von
Borderline betroffen oder alkohol-/drogenabhängig) und daher überfordert sind.
III.Psychoanalytische Erklärungs-Modelle
Die meisten theoretischen Modelle zur Borderline-Störung haben Psychoanalytiker
entwickelt, welche auch verschiedene psychoanalytische Entwicklungsmodelle vertreten.
1.Borderline-Störung als Folge einer Störung des
Separations-/Individuationsprozesses (Margaret Mahler)
Mahler geht davon aus, dass die psychische Geburt des Menschen und die biologische
zeitlich nicht zusammenfallen. Sie geht davon aus, dass mit der Geburt noch kein
eigenständiges psychisches Wesen auf die Welt kommt. Erst mit dem Herauskommen des
Säuglings aus der symbiotischen Verschmelzung mit der Mutter, der sogenannten
Separation, und der anschließenden Individuation entwickelt das Kind individuelle
Persönlichkeitsmerkmale.
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1.Vier-Phasen-Entwicklungsmodell
Mahler beschreibt 4 Phasen in denen die Entwicklung eines Säuglings verläuft, wobei die
dritte Phase aus 3 Subphasen besteht:
1. Primärer Autismus/Narzissmus
1.-2. Monat
Der Säugling empfindet sich eins mit der Welt. Es besteht eine hohe Reizschranke zur
Außenwelt
2. Symbiose mit der Mutterfigur
ab dem 3. Monat bis 5./6. Monat
Der Säugling verschmilzt mit der Mutter, es gibt keine Differenzierung. Er erlebt sich mit
der Mutter als untrennbare Einheit, glaubt an der Herrschaft und Allmacht der Mutter
teilzuhaben. Das Kind kann noch nicht affektiv zwischen Innen und Außen, Selbst und
Nicht-Selbst unterscheiden. Mahler spricht von einer „halluzinatorisch-illusorischen
omnipotenten“ Fusion mit der Mutter.
Da das Kind die Mutter nicht als getrennte Person wahrnimmt, ist die emotionale
Einfühlung der Mutter zur Entwicklung eines basalen Sicherheitsgefühls und des
Urvertrauens besonders wichtig.
3. Separation und Individuation
ab dem 6. Monat
Hier gibt es 3 Subphasen :
• Differenzierung
6. bis 9. Monat
Mahler bezeichnet diese Phase auch als „Ausschlüpfen“. Der Säugling bekommt Lust auf
Sinneswahrnehmungen. Die Mutter wird erkannt und von anderen Personen
unterschieden.
Das Kind kann sich schon von der Mutter abstemmen und erweitert so sein Blickfeld.
Dadurch erfährt das Kind seinen Körper getrennt von der Mutter.
• Übungsphase
ca. ab dem 9. Monat
Das Kind lernt aufrecht zu gehen, erfasst die Welt aus einer neuen Perspektive. Das Kind
kann sich selbständig von der Mutter entfernen und auch wieder Nähe herstellen. Das
Kind überschätzt sich, glaubt noch an die Einheit mit der Mutter und fühlt sich noch
allmächtig. Es befindet sich nach Mahler auf dem Höhepunkt der Omnipotenz.
Die kognitive Unreife dieser Phase schützt das Kind allerdings noch vor der Erkenntnis
des Getrenntseins und der Eigenständigkeit.
Das Kind kann in dieser Phase Polaritäten (z.B. gute Mutter und böse Mutter) noch nicht
gleichzeitig wahrnehmen, sondern nur „Entweder/Oder“. Mit Hilfe der Spaltung werden
diese Gefühle voneinander isoliert und sind somit nicht mehr bedrohlich.
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• Wiederannäherung
15. - 24. Monat
Das Kind ist kognitiv so weit entwickelt und beginnt sich mit der Realität des
Getrenntseins von der Bezugsperson auseinander zu setzen. Es entstehen konstante
Vorstellungen von sich selbst und von der Umwelt (von Objekten). Bezugspersonen
bekommen wieder mehr Bedeutung, die Kinder klammern wieder mehr. Die Kinder
brauchen Sicherheit, um sich langsam von den Allmachtsphantasien zu verabschieden
und gleichzeitig durch autonome Bestrebungen ein konstantes Selbst zu entwickeln.
Auch die Polaritäten verschmelzen, das Entweder/Oder löst sich auf und wird zum
Sowohl/Als auch. Bei einer gesunden Entwicklung ist dann das Hilfsmittel der Spaltung
nicht mehr notwendig.
4. Konsolidierung der Individualität
22. - 30 Monat
Das Kind beginnt nun erste emotionale Objektkonstanzen zu entwickeln. Das Kind kann
sich an die Mutter erinnern, auch wenn diese nicht da ist, es hat ein positives Bild
verinnerlicht. In dieser Phase geht es um die Entwicklung der Realitätsprüfung.
Ein wichtiger Schritt in dieser Phase ist das „nein-sagen“. Durch die Abgrenzung von
anderen entwickelt das Kind seine eigene Individualität.
2.Bedeutung für die Theorie der Borderline-Störung
Obwohl das Entwicklungsmodell von Mahler mittlerweile durch die neuesten Erkenntnisse
der Säuglingsforschung überholt ist, hat die Subphase der Wiederannäherung bei
vielen KlinikerInnen, die PatientInnen mit einer Borderline-Störung behandeln, Eingang in
die Theoriebildung gefunden. Mahler misst dieser Phase eine entscheidende Bedeutung
für die weitere Entwicklung und Charakterbildung des Kindes bei.
➔ Wenn das Verhältnis zwischen Ermunterung zur Selbständigkeit und der
Verfügbarkeit der Bezugsperson in dieser Phase nicht ausgewogen ist, kann die
weitere Entwicklung sehr beeinträchtigt werden. Das Kind ist hin- und her gerissen
zwischen Trennungsangst, Sicherheitsstreben und der Angst wieder verschlugen zu
werden – es muss lernen, seine optimale Nähe zur Mutter (Bezugsperson) selbst
zu bestimmen. Gelingt es der Bezugsperson nicht, das Kind in seinem Schwanken
zwischen Autonomiebestrebungen und dem Wunsch nach Verschmelzung
emotional zu unterstützen, so bricht nach Mahler die kindliche Omnipotenz (die
Vorstellung allmächtig zu sein) zu schnell zusammen. Das Kind erlebt es dann als
gefährlich, von der Bezugsperson wegzugehen, es verliert das Gefühl der
Rückendeckung durch die Bezugsperson, ein angstfreies Pendeln zwischen der
Mutter und der Welt der Objekte wird unmöglich.
Mahler hat beobachtet, dass Kinder, deren Bezugspersonen in der WiederannäherungsSubphase mit Aggression und emotionalem Rückzug reagierten, ähnliche
Verhaltensweisen wie Borderline-PatientInnen zeigten. Eine Fixierung in dieser Subphase
äußert sich im Erwachsenenleben in einer unstillbaren Sehnsucht nach einer
Verschmelzung mit der Bezugsperson (Mutter) und gleichzeitig in großer Angst vor dieser
Verschmelzung, da dieser Wunsch mit bedrohlicher Zurückweisung verbunden ist. Als
Schutz vor diesen ambivalenten Gefühlen muss die Spaltung weiterhin aufrecht erhalten
bleiben. Diese Spaltung verhindert die Ausbildung konstanter Vorstellungen von sich
selbst (Identitätsbildung) und von anderen Objekten.
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3.Entwicklungmodell nach Otto Kernberg
Kernberg bezieht sich auf das Modell der frühen Objektbeziehungen (Mahler, Klein). Er
geht davon aus, dass im dritten Lebensjahr die Ich-Grenzen des Kindes so etabliert sind,
dass das Kind nach und nach gute und böse Vorstellungen von sich selbst und von
Objekten zu ganzen Vorstellungen zusammenführen und ins ICH integrieren kann. Der
Abwehrmechanismus der Spaltung kann reiferen Abwehrformen (Verdrängung) weichen.
Kommt es zu einer Ich-Schwäche, dann ist es dem Kind nicht möglich, diese ICHIntegration herzustellen. Es kann in der weiteren Entwicklung nicht auf die Spaltung
verzichten, was zu einer schweren Charakterphatologie führt.
1.Objektbeziehungen und Affekte
Eine wichtige Rolle spielen die Affekte. Diese stellen nämlich nach Kernberg die
Verbindung zwischen Selbstrepräsentanz und Objektrepräsentanz dar und diese Triade
bildet so eine Grundeinheit der psychischen Struktur. Die Affekte werden durch die
Interaktion mit einem menschlichen Objekt zu libidinösen Trieben oder zu aggressiven
Trieben.
➔ Die Affekte, mit denen der Säugling zur Welt kommt, werden der Lust oder der
Unlust zugeordnet. Durch die kognitive Entwicklung kann der Säugling immer
mehr komplexere Affektzustände wahrnehmen.
➔ Die Affekte sind grundsätzliche in eine Beziehung zwischen Vorstellungen von sich
Selbst und Objektvorstellungen eingebettet. (Objektbeziehungseinheiten)
➔ Solche Objektbeziehungseinheiten werden im affektiven Gedächtnis gespeichert
und entwickeln sich im Kontext der Mutter-Kind-Beziehung zu Trieben (lustvolle
Affekte zu Libido, unlustvolle Affekte zu Aggression).
➔ Die Triebe suchen ein Objekt nur um Befriedigung zu erlangen (z.B aggressive
Triebe um es zu zerstören). Triebe werden somit als primäre
Verhaltensmotivation gesehen.
➔ Entwicklung bedeutet Internalisierung von Objektbeziehungseinheiten und in
weiterer Folge Bildung von Abwehrmechanismen gegen diese Einheiten. Diese
Objektbeziehungseinheiten bestimmen die Ich-Struktur und diese wiederum die
Trieborganisation.
➔ Objektbeziehungseinheiten, vor denen sich das Kind schützen muss, werden mit
Hilfe von weniger reifen (primitiven) Abwehrmechanismen abgespalten oder
reiferen Abwehrmechanismen verdrängt.
2.Internalisierungsprozesse von Objektbeziehungen
1. Introjektion
Ist die primitivste Ebene des Internalisierungsprozesses. In die Psyche werden
vollständige Interaktionen mit der Umwelt aufgenommen. Selbst und Objekt kann
in diesem frühen Stadium der Entwicklung noch nicht unterschieden werden.
2. Identifizierung
Setzt die kognitive Fähigkeit des Kindes voraus, in der Interaktion mit der Umwelt
mögliches Rollenverhalten zu erkennen. Es wird das Objekt (die Bezugsperson) als
Vorbild genommen und sich diesem Vorbild entsprechend verhalten. Es wird auch
erkannt, dass sich das Objekt in verschiedenen Situationen anders verhält. Diese
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Identifizierung wird stark von der Phantasie und den Affekten, die die jeweilige
Beziehung begleiten, beeinflusst.
3. Ich-Identität
Diese Introjektionen und Identifizierungen werden zerlegt, strukturiert und und mit
Hilfe der Ichs zu einer neuen Einheit verbunden (Synthese).
3.Die Borderline-Störung als spezifische Entwicklungsstörung der
ödipalen Phase
Kernberg ergänzt sein Modell noch durch die „Ödipale Phase“ in der libidinös besetzte
und aggressiv besetzte Selbstvorstellungen zu einem zusammenhängenden Selbstbild
verschmelzen. In dieser Phase entsteht das ÜBERICH als psychische Instanz. Kinder
mit einer späteren Borderline-Störung erleben in der prägenitalen Phase sehr viele
Unlustgefühle und in der Folge sehr viele aggressive Gefühle. Dadurch entwickelt sich
ein ungeheurer Druck und diese Kinder treten die Flucht nach vorne an. Sie holen sich
aufgrund der frustrierten Loslösungsbestrebungen bzw. Symbiosewünsche einen
Dritten in die duale Beziehung. Auf diese dritte Person können nun alle aggressiven
Gefühle und Enttäuschungen projiziert werden. Eine gesunde Lösung des
Ödipuskonflikts wird somit unmöglich.
4.Bedeutung für die Theorie der Borderline-Störung
➔ Kernberg führt die Borderline-Zustände auf die Schwäche der Ich-Struktur zurück.
Es werden Abwehrmechanismen aus früheren Entwicklungsphasen eingesetzt um
widersprüchliche Gefühle und Vorstellungen voneinander getrennt zu halten. Die
Abwehr der Borderline-Persönlichkeit konzentriert sich auf die Spaltung. Diese
Vorgangsweise führt zu einer Fragmentierung der Selbst- und
Objektrepräsentanzen und somit des Ichs. Es entsteht ein diffuses Selbstgefühl.
➔ Dadurch, dass es in der Entwicklung nicht zur Ablösung der Spaltung durch die
Verdrängung kommt, kann die dreiteilige Sturuktur des ES-ICH-Über-ICH nicht
entwickelt werden. Durch die entstandene ICH-Schwäche können Triebspannungen
nicht adäquat gehandhabt werden. Ganz normale Konflikte zwischen Trieben,
Über-ICH und der Umwelt können nicht intrapsychisch abgehandelt werden,
sondern sie werden zu realen Konflikten auf der Beziehungsebene.
➔ Da durch die primitiven Abwehrstrategien Selbst- und Objektrepräsentanzen nicht
klar auseinander gehalten werden können, sind psychotische Episoden möglich.
Die Realitätsprüfung bleibt allerdings erhalten, obwohl durch die Verleugnung,
Projektion, Spaltung und projektive Identifizierung die Umgebung sehr verzerrt
wahrgenommen wird und das Identitätsgefühl sehr geschwächt ist.
4.Diagnostische Verdachtsmomente bei Borderline-Störung
1.Psychische Multimorbidität
➔ Schwere Angstzustände, diffuse Angst, meist chronifiziert. Ähnelt der neurotischen
generalisierten Angststörung.
➔ Verschiedenste Erscheinungsformen von neurotischen Symptomen, die den Alltag
sehr beeinträchtigen wie multiple Phobien, schwere ichsynton gewordene
Zwangssymptome, bizarre Konversionssymptome.
➔ Polymorph perverse Tendenzen in den Sexualpraktiken.
➔ Klassische präpsychotische Persönlichkeitsstruktur: paranoide, schizoide,
zyklothyme Persönlichkeiten.
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➔ Impulsives Verhalten.
➔ Süchte jeglicher Art.
➔ Persönlichkeitsstörungen (Charakterstörungen): infantile Persönlichkeiten, häufig
narzisstische Persönlichkeiten, antisoziale Persönlichkeit.
Liegen mehrere dieser Verdachtsmomente vor, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass
die manifeste Symptomatik auf einer Borderline-Struktur aufgebaut ist.
2.Identitätsdiffusion
Diese beruht auf mangelhaft integrierten Selbst- und Objektrepräsentanzen und zeigt
sich folgendermaßen:
➔ widersprüchliche Selbstwahrnehmung und widersprüchliche Wahrnehmung von
wichtigen Bezugspersonen
➔ grob auffällige Widersprüchlichkeiten im Sozialverhalten
➔ Nichtvorhandensein eines subjektiven Identitätsgefühls
➔ chronisches Gefühl der inneren Leere.
3.Primitives Niveau der Abwehrmechanismen
1. Spaltung
Wird zur Vermeidung von ambivalenten, unangenehmen, sehr bedrohlichen und
schmerzlichen Gefühlen eingesetzt.
Es erfolgt keine endgültige Verdrängung ins Unbewusste, die Inhalte bleiben vorbewusst
und können so viel leichter durch Stimulierung ins Bewusstsein gelangen. Es werden
große Anstrengungen unternommen, diese Inhalte und die dazu gehörigen Gefühle
abzuwehren. Andere können als nur gut oder nur böse wahrgenommen werden. Die
Einstellung anderen gegenüber kann sehr rasch von einem Extrem ins andere
umschlagen.
2. Idealisierung
ist ein normaler und notwendiger Entwicklungsschritt. Dadurch werden Idealinstanzen
gebildet (brauchen wir um Vorbilder, Zukunftsvisionen etc.) haben zu können.
Primitive Idealisierung: Es besteht kein wirkliches Interesse an den Menschen, sondern
Menschen werden in der Phantasie in omnipotenten Objekte verwandelt. Diese
idealisierten Menschen haben die Funktion vor der bösen Umwelt zu schützen.
Die bösen Anteile werden von diesen idealen Objekten abgespalten und auf die Umwelt
projiziert.
Idealisierung und Projektion sind untrennbar miteinander verbunden. Dies ermöglicht die
Weiterführung der Spaltung in gut und böse. Bekommt das Ideal einen Riss, kann die
Person nur mehr vom Sockel gestürzt und durch Entwertung "vernichtet" werden.
3. Projektion und projektive Identifizierung
Unangenehme Gefühle und Wünsche werden im Anderen lokalisiert - Projektion
Identifiziert sich nun die Person mit dem Objekt, auf welches die Gefühle projiziert
wurden, dann kommt es zur projektiven Identifikation.
Diese hat sehr viel mit frühen Introjekten zu tun (z.B. einem Kind wurde immer gesagt ,
dass es ein Versager ist - kann dieses Gefühl als Erwachsener nicht aushalten - projiziert
es auf ein Gegenüber - glaubt, das Gegenüber hält ihn für einen Versager - identifiziert
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sich mit dem Gegenüber - reagiert entweder mit verstärkten Schuldgefühlen oder mit
Aggression um sich zu verteidigen).
Projektive Identifizierung spielt bei der Aggression eine besonders wichtige Rolle.
Borderline-Persönlichkeiten empfinden Aggression als sehr intensiv.
Identifizieren sie sich mit dem Gegenüber, so steigert sich die Furcht vor der projizierten
Aggression. Es muss ein Angriff gestartet werden, um sich zu verteidigen (Identifizierung
mit dem Angreifer).
4. Omnipotenzgefühl, Größenideen
Es entsteht eine Aufwertung des Selbst, dadurch werden Abhängigkeitsgefühle,
welche ansonsten ständig vorhanden sind, aufgehoben. Objekte, zu denen eine
Abhängigkeit besteht, können fallen gelassen und entwertet werden. Bei BorderlinePersönlichkeiten kommt es häufig zu Beziehungsabbrüchen, meist gibt es im
Hintergrund aber bereits ein neues Objekt zu dem übergangslos eine pathologische
Symbiose aufgebaut wird.
Diese Größenideen und Omnipotenzgefühle sind die narzisstische Komponente bei der
Borderline-Störung.
IV.Gestalttherapeutisches Modell
nach Achim Votsmeier
1.Modell des konkreten und abstrakten Modus
A. Votsmeier geht im Gegensatz zur analytischen Theorie davon aus, dass es sich nicht
um eine pathologische Störung durch eine Fixierung in einer bestimmten
Entwicklungsphase handelt, sondern um ein kognitives Defizit und einen Mangel an
Selbstunterstützung.
Er bezieht sich dabei auf ein Modell von Kurt Goldstein (entwickelte einige der
grundlegendsten Theorien zur Gestalttherapie).
Der geht davon aus, das für unser Handeln und unseren Kontakt zur Welt zwei Modi von
größter Bedeutung sind:
1.Konkreter Modus
Das ist die unmittelbare Handlungsebene, der direkte Kontakt zur Welt, alles was im Hier
und Jetzt passiert. Dieser Modus ist sehr an einen Stimulus gebunden, wir überlassen uns
unseren sinnlichen Eindrücken und handeln danach. Der Ablauf ist üblicherweise
reibungslos.
2.Abstrakter Modus
Das ist die Reflexionsebene; Erfahrungen aus früheren Situationen werden herangezogen,
Eventualitäten werden in Betracht gezogen und abgewogen, Erfahrungen werden
bewertet und eingeordnet etc.
Handeln im "abstrakten Modus" hat immer eine Vorbereitung, ist eingebettet in einen
Hintergrund von Erfahrungen, die Handlung ist schlussfolgernd.
Der "abstrakte Modus" erleichtert die Distanzierung von unmittelbaren Sinneseindrücken
und gibt Handlungsfreiheit.
Beide Modi wirken zusammen wie Figur und Hintergrund-Geschehen - je nach der
Situation tritt einer in den Vordergrund der andere in den Hintergrund bzw. umgekehrt.
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Z.B. Ein Vortragender hat ein Skript vorbereitet und trägt daraus vor - er handelt
"konkret". Im Hintergrund ist jedoch der "Abstrakte Modus", denn er hat seinen Vortrag
vorbereitet. Kommt aus der Zuhörerschaft eine Zwischenfrage, welche er nicht auf
seinem Skript stehen hat, so geht er in den "Abstrakten Modus", denkt über die Frage
nach, der "konkrete Modus" tritt in den Hintergrund und erst mit der Antwort handelt der
Vortragende wieder "konkret".
Unser Verhalten ist überwiegend "konkret", allerdings eingebettet in den Hintergrund des
"abstrakten Modus".
Goldstein geht davon aus, dass das Zusammenwirken dieser beiden Modi zu einer inneren
ZENTRIERUNG führt, diese Zentrierung bestimmt die zukünftige Fähigkeit, sich mit der
Welt auseinander zusetzen.
Die Funktion des "abstrakten Modus" bildet sich um das 1. Lebensjahr, zu diesem
Zeitpunkt lernen wir, Erfahrungen einzuordnen und konkrete Situationen damit in
Verbindung zu bringen.
Z.B. ein 1-jähriges Kind will die Welt erforschen. Es ist neugierig auf andere Menschen,
entfernt sich von der Mutter und geht in die Welt hinein. Ist die Mutter gekränkt und
reagiert mit Ablehnung und emotionalem Rückzug, so kann das Kind diese Erfahrung
nicht einordnen. Es reagiert mit Angst vor Verlassen werden und es empfindet diese
Angst als existenzielle Bedrohung. Das Kind reagiert mit Verwirrung.
Kommt es kontinuierlich zu solchen existenziellen Bedrohungen, so wird dieser "Bereich
der Verwirrung" vom Kind isoliert (analyt. abgespalten).
Wird in Zukunft dieser isolierte "Bereich der Verwirrung" stimuliert, reagiert diese
Person jedes Mal mit Angst, Verwirrung, Erschütterung und existenzieller Bedrohung.
Die oben beschriebene ZENTIERUNG wird herabgesetzt bzw. geht verloren - der
Organismus wird instabil
3.Extrem konkretes Handeln
Hier kann sich die Person nicht von der Unmittelbarkeit lösen und keine Distanz
herstellen. Der "abstrakte Modus" ist nicht abrufbar, die unmittelbaren Sinneseindrücke
sind zu dominant.
Handlungen in extrem konkretem Modus haben meist pathologischen Charakter z.B.
Zwangshandlungen, Zwangsgedanken, paranoides Verhalten, Minipsychosen...
Bei Borderline-Persönlichkeiten ist der "abstrakte Modus" schwer beeinträchtigt und somit
auch das Figur-Hintergrund-Geschehen. Durch die fehlende Zentrierung sind diese
Menschen extrem instabil. Die Folge davon sind andauernde "Katastrophenängste und
"Katastrophenreaktionen".
2.Bereiche der Verwirrung bei Borderline-Persönlichkeiten
•
Autonomiebestrebungen
•
Fähigkeit eigene subjektive Bedürfnisse zu identifizieren und zu befriedigen
•
Fähigkeit eine eigene Meinung und eigene Interessen zu entwickeln
•
Loslösung von Bezugspersonen
•
Fähigkeit, sich ein inneres Bild von sich und anderen machen zu können, welches mit
einem Gefühl von Stimmigkeit verbunden ist
•
als Subjekt in Beziehung mit einem Du zu treten
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3.Fazit
Die funktionellen Grundlagen der Borderline-Störung sind immer gleich.
Unterschiedlich sind die Inhalte der Borderline-Phänomene. Es kommt darauf an, in
welcher Entwicklungsstufe der "Bereich der Verwirrung" entstanden ist, die Inhalte
entsprechen den damaligen kognitiven Möglichkeiten.
V.Merkmale einer Borderline-Störung nach DSM IV
Von einer Borderline-Persönlichkeitsstörung spricht man, wenn mindestens 5 der
folgenden Merkmale vorhanden sind (die Informationen sind eine Zusammenfassung der
Kriterien aus dem amerikanischen psychiatrischen Diagnoseschema DSM IV, dem zweiten
gebräuchlichen Diagnosesystem im deutschsprachigen Raum neben dem ICD-10):
1.Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes
Verlassenwerden zu vermeiden
Menschen mit BPS haben häufig große Angst davor, von Bezugspersonen oder Freunden
verlassen zu werden. Diese Angst kann schon durch kleine Anlässe ausgelöst werden
(z.B. Zuspätkommen einer Freundin). Neben der Angst kann auch unangemessene Wut in
solchen Situationen vorherrschen. Die betroffene Person hat möglicherweise einen
heftigen Wutausbruch, wenn ein Freund für ein Treffen momentan keine Zeit hat. Das
drohende Verlassenwerden kann neben starken Gefühlsschwankungen auch zu einer
deutlichen Veränderung des Selbstbildes führen. Ganz plötzlich sieht sich die Betroffene
als "schlecht" oder "böse".
Entsprechend große Schwierigkeiten haben Betroffene mit dem Alleinsein. Sie können es
allein kaum aushalten und brauchen ständig jemanden um sich. Ihr verzweifeltes
Bemühen, nicht verlassen zu werden, führt schließlich manchmal auch zu sehr
dramatischen Hilferufen an die Umwelt (Selbstverletzungen, Suiziddrohungen oder sogar
Suizidversuche).
2.Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen,
das durch einen Wechsel zwischen Extremen der Idealisierung und
Entwertung gekennzeichnet ist
Personen mit BPS haben, wie erwähnt, häufig wechselhafte, aber intensive Beziehungen.
Nahe Bezugspersonen wie Lebenspartner, Eltern oder Kinder werden einmal nur im
positivsten Licht gesehen (d.h. idealisiert), kurze Zeit (oft nur Minuten oder Stunden)
später kann durch einen kleinen Anlass die Stimmung völlig umschlagen und die Person
wird als bösartig, vernachlässigend, grausam oder aggressiv erlebt (d.h. entwertet).
Entsprechend häufig ergeben sich heftige Konflikte und Auseinandersetzungen (siehe
unten)
Auch bei neuen Beziehungen kann sich dieses Muster zeigen. Bereits nach einzelnen
Kontakten wird die neue Bekanntschaft als wunderbar erlebt, möglicherweise werden
bereits beim ersten Kontakt intime Einzelheiten anvertraut und die Person wird als ideal
wahrgenommen. Treten dann die ersten unvermeidlichen Enttäuschungen auf, schlägt die
Sichtweise der Person ins Gegenteil um.
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3.Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des
Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung
Immer wieder erleben Borderline-PatientInnen einen starken Wandel ihrer Sichtweise zur
eigenen Person. Die meisten Menschen haben in der Regel ein relativ beständiges
Selbstbild über Jahre (z.B. Ich bin ein hilfsbereiter Familien-Mensch, manchmal etwas
jähzornig, arbeite gern, halte das Geld zusammen, möchte eine Fremdsprache lernen,
liebe Musik, tue mich etwas schwer mit dem Genießen etc. etc.). Bei Menschen mit BPS
lässt sich jedoch häufig eine starke Instabilität, ein starker Wandel in diesem Bild von sich
selbst finden. Sie sind sich in ihren Zielen zwar momentan sicher, verfolgen jedoch ein
Ziel, geben es am nächsten Tag wieder auf, um es am übernächsten wieder
aufzunehmen, häufig jedoch aus voller Überzeugung. Borderline-PatientInnen fühlen sich
an einem Tag als wertvolle und liebenswerte Menschen mit guten Eigenschaften, am
nächsten Tag als der letzte Mensch, der es nicht verdient hat, sich wohl zu fühlen, weil er
abgrundtief schlecht und sündhaft ist. Diese Instabilität zeigt sich auch in den vertretenen
Wertvorstellungen und sogar hinsichtlich der sexuellen Orientierung (Heterosexualität vs.
Homosexualität). Der Wandel im Selbstbild tritt häufig im Zusammenhang mit
Enttäuschungen in Beziehungen auf.
4.Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden
Bereichen (außer Selbstverletzungen oder Suiziddrohungen)
Personen mit einer BPS sind also in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen und ihrem
Selbstbild impulsiv und wechselhaft. Aber auch in anderen Bereichen zeigt sich diese
Impulsivität. Besonders problematisch sind Bereiche, die möglicherweise schädlich für das
eigene Wohlbefinden sind. So kommt es häufig vor, dass Betroffene zu viel Alkohol,
Drogen oder Medikamente konsumieren, ein risikoreiches Geschlechtsverhalten zeigen,
rücksichtslos Auto fahren, in Glücksspielen viel riskieren, massive "Fressanfälle" haben
u.v.m.
5.Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder
-drohungen oder Selbstverletzungsverhalten
Borderline-PatientInnen neigen schließlich auch zu wiederholten Suizidversuchen, sie
deuten oder drohen einen Selbstmord an oder verletzen sich selbst durch Ritzen,
Schneiden, Brennen und ähnliche Methoden. Ein vollzogener Selbstmord muss bei ca. 810% der Betroffenen festgestellt werden.
Diese suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen finden wieder häufig im Anschluss
an eine Zurückweisung, einen drohenden Verlust bzw. ein drohendes Verlassenwerden
statt. Sie sind in der Regel auch der Grund, warum Personen in therapeutische
Behandlung kommen. Selbstverletzendes Verhalten wird dabei immer wieder als
entlastend beschrieben, d.h. den Betroffenen geht es anschließend irgendwie besser.
Manchmal finden Selbstverletzungen auch in einem "dissoziativen", d.h. tranceartigen
Zustand statt.
6.Stark wechselhafte Stimmung
Personen, die an BPS leiden, erleben intensive und stark schwankende Gefühle von
Traurigkeit, Angst, Schuld oder Scham. Diese Gefühle sind häufig die Reaktion auf die
Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich und Ausdruck des äußerst negativen
Selbstbildes von Borderline-PatientInnen. Manchmal erleben die Betroffenen auch sehr
positive Gefühle mit großer Stärke (starke Liebe, Freude oder Glück). Diese Episoden
dauern in der Regel einige Stunden, selten einige Tage.
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7.Chronische Gefühle der Leere
Verbunden mit diesen starken negativen Gefühlen leiden Borderline-PatientInnen häufig
stark unter einem chronischen Gefühl der Leere. Sie finden Langeweile unerträglich und
versuchen deshalb vielleicht, sich ständig irgendwie zu beschäftigen.
8.Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, Wut zu
kontrollieren
Vielleicht die auffälligste der "Gefühlsstörungen" ist das häufige Erleben von heftiger und
unangemessener Wut bzw. Schwierigkeiten, diese Wut zu kontrollieren. Dies führt zu
Konflikten, Ärgerausbrüchen und heftigen Streitereien mit Beschimpfungen, die
manchmal bis zu körperlichen Auseinandersetzungen gehen.
9.Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste psychotische
Symptome
Wenn Borderline-PatientInnen durch Konflikte oder andere Faktoren stark belastet sind,
kann es vorkommen, dass sich vorübergehend psychotische Symptome bilden. Darunter
versteht man z.B. paranoide Überzeugungen, oder sehr starke "dissoziative Symptome"
auf. Diese Zustände sind in der Regel von eher kurzer Dauer und gehen wieder zurück,
wenn die Belastung abnimmt (wenn der Partner etwa wieder zurückkommt).
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VI.Literaturverzeichnis
O. Kernberg:
Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus;
Suhrkamp, Frankfurt 1995
S.M. Johnson:
Der narzisstische Persönlichkeitsstil; EHP, Köln 1988
Ch. Rohde-Dachser:
Das Borderline-Syndrom; Verlag H. Huber, Bern 1995
A. Votsmeier:
Gestalttherapie mit Borderline-Patienten;
Gestalttherapie 2/1988
P. Fonagy, M. Target:
Psychoanalyse und die Psychopathologie der
Entwicklung; Klett-Cotta, Stuttgart 2006
E. Etzendorfer, P. Schuster:
Psychoanalytische Strukturdiagnose von BorderlineSyndromen, Wien 1998
Wikipedia:
Borderline-Persönlichkeitsstörung
Amerikanische Psychiatrische Vereinigung:
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
(DSM IV), 2000
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