Inhalt_UM_06-09_Innen 19.05.11 12:00 Seite 48 48 Methodik Blockflöte mit links Gedanken zur Anfertigung einer Linkshänder-Blockflöte Elena Romana Gasenzer Linkshändigkeit ist heute im Allgemeinen gesellschaftlich akzeptiert. Beim Erlernen der meisten Instrumente können Linkshänder jedoch Probleme bekommen und ziehen Umbauten in Betracht. Doch wie sinnvoll sind zum Beispiel Blockflöten für Linkshänder? Das Problem der Linkshändigkeit betrifft bei Weitem nicht nur den Instrumentalunterricht auf der Blockflöte. Beim Erlernen von anderen Instrumenten stehen SchülerIn und Lehrkraft vor dem gleichen Problem. Viele Instrumente bieten bautechnisch die Möglichkeit von Modifikationen zugunsten der Linkshändigkeit. Jochen Blum weist auf den erfolgreichen Lernverlauf einer Violinschülerin hin, die wegen eines fehlenden Kleinfingers der linken Hand die Saiten der Violine mit der rechten Hand griff und mit links den Bogen führte.1 Weil jedoch die Blockflöte als Anfangsinstrument nach wie vor weit verbreitet ist und auch im Klassenverband erlernt wird, soll sie an dieser Stelle exemplarisch für die besonderen Anforderungen der Linkshändigkeit im Instrumentalunterricht stehen. Schätzungsweise jeder zehnte Mensch ist Linkshänder. Verschiedene anthropologische Untersuchungen zeigen, dass dies auch in prähistorischer Zeit so war. Die genaue Häufigkeit ist unbekannt, weil in verschiedenen Untersuchungen auch unterschiedliche Kriterien zugrunde gelegt wurden. Demnach schwankt die Häufigkeit zwischen zehn und 30 Prozent eines Geburtsjahrgangs. Dabei muss betont werden, dass Händigkeit kein absoluter Begriff ist. Manche Menschen sind vollkommen linkshändig, das heißt sie verrichten alle einhändigen Tätigkeiten mit der linken Hand. Andere können eine Reihe von Tätigkeiten wie Hämmern, Fäden einfädeln, Zähneputzen oder Ballwerfen mit beiden Händen verrichten. Die meisten Menschen (bis zu 89 Prozent) benutzen auch für diese Aktivitäten ausschließlich die rechte Hand. Es gibt jedoch auch Menschen, die mit der linken und mit der rechten Hand schreiben können.2 linken Hemisphäre organisiert. Bei den übrigen 30 Prozent der Linkshänder fand man in verschiedenen Studien eine beidseitige Repräsentation der Sprache.4 Hinsichtlich der Sprachrepräsentation sind also Linkshänder kaum von Rechtshändern zu unterscheiden. Klinische Studien an Schlaganfallpatienten zeigen jedoch eine andere Situation: Demnach haben Linkshänder, die durch einen Schlaganfall einen teilweisen oder kompletten Verlust der Sprache erlitten hatten, eine sehr viel bessere Prognose als Rechtshänder.5 Die Erholung geschädigter Funktionen nach einer Hirnverletzung hängt davon ab, inwieweit diese Funktionen von anderen, gesunden Hirnteilen übernommen werden können. Sollte bei Linkshändern die Sprache tatsächlich bilateral repräsentiert sein, so hätte ein Linkshänder diesbezüglich im Fall einer Verletzung eine viel größere „Reserve“ als ein Rechtshänder. Unbestritten ist heute, dass Linkshändigkeit von Eltern und ErzieherInnen akzeptiert werden muss. Noch bis in die 1970er Jahre wurde von vielen Eltern und PädagogInnen die Ansicht vertreten, dass es besser sei, mit der rechten Hand schreiben zu lernen. Daher wurde in Grundschulen oftmals versucht, linkshändige Kinder „umzuschulen“ und sie an das Schreiben mit der rechten Hand zu gewöhnen. Als Folge fiel auf, dass viele dieser Kinder deutlich schlechtere Leistungen erbrachten. Heute ist bekannt, dass eine solche Umgewöhnung eine totale Neuorganisation der Hirnrinde erfordert, was besonders Kinder während der Wachstumsphase für Jahre in ihrer Entwicklung beeinträchtigen kann. Aus diesem Grund hat die Grundschulpädagogik von dieser Praxis Abstand genommen. WAS IST LINKSHÄNDIGKEIT? LINKSHÄNDER UND KÜNSTLERISCHE TÄTIGKEIT Warum es bei der Entwicklung eines Menschen zu diesem Phänomen kommt, ist ungeklärt. Die Theorien zu Entstehung der Linkshändigkeit reichen von Umweltfaktoren über genetische Dispositionen bis zu anatomischen Anomalien oder hormonellen Ursachen. Einigkeit herrscht darüber, dass das Gehirn des Linkshänders anders organisiert ist.3 Fest steht, dass die linke Hirnhemisphäre bei den meisten Menschen die dominante Hemisphäre ist: Bei über 95 Prozent der Rechtshänder und bei 70 Prozent der Linkshänder sind beide Sprachzentren in der Über Händigkeit und künstlerische Tätigkeit finden seit den 1990er Jahren einige Diskussionen statt. Einige ForscherInnen vertreten die Auffassung, dass die bei Linkshändern stärker ausgeprägte Verteilung der Sprachfunktion herausragende künstlerische Fähigkeiten begünstigen könne.6 Verfechter dieser These weisen gerne auf berühmte Linkshänder wie Leonardo da Vinci, Michelangelo oder Benjamin Franklin hin.7 Eindeutig belegt ist, dass Linkshändigkeit unter mathe- Inhalt_UM_06-09_Innen 19.05.11 12:00 Seite 49 üben&musizieren 3 11 Methodik Die floeten haben gmainlich unde zway locher gleich gegen einander stan/ und die macht man darum gleich gege einander/ dan ettliche pfeiffer die sindt gewonet/ Die recht handt oben und die linck handt unden auff der pfeiffen zu haben/ unnd die selben machen das loch auff der rechte seytten zu mit wags/ Ettliche synde gewonet/ das sye die linck handt obe/ und die recht unden haben/ unnd dye machen dann das loch mit wachs auff der lincken seytten zü/ Also werden die zway locher darum gleich gemacht das sie ey nein iettlichen/ er sey lincks oder rechts gebreülich mogen sey … Sebastian Virdung: Musica getutscht … (1511) matisch Hochbegabten weit häufiger auftritt als gewöhnlich, auch unter Künstlern kommt Linkshändigkeit häufiger vor als in der Gesamtpopulation.8 So gesehen stellt Linkshändigkeit für das musikalische Lernen kein Hindernis dar – und erst recht nicht für das Erlernen der Blockflöte. Dennoch sollte eine Lehrkraft einiges beachten, wenn ein linkshändiger Schüler in den Unterricht kommt. Die meisten AnfängerInnen halten in der ersten Stunde intuitiv die Blockflöte am Rohrende mit der rechten Hand fest und versuchen mit den Fingern der linken Hand die oberen Grifflöcher abzudecken. Dieses Verhalten entspricht vor allem der Gewohnheit des Rechtshänders, mit der rechten Hand kraftaufwändige Haltearbeit zu verrichten. Einige Kinder probieren auch die umgekehrte Variante aus. Dieses umgekehrte Halten der Blockflöte ist jedoch kein Zeichen für eine vorhandene Linkshändigkeit! Auch viele rechtshändige Kinder versuchen zuerst einmal eine bequeme Haltemöglichkeit zu finden. Das ist besonders typisch für AnfängerInnen, die noch nicht in der Schule sind und deshalb bei vielen Tätigkeiten in ihrer Händigkeit noch nicht festgelegt sind. In der Regel ist es für die Beherrschung der Blockflöte relativ unbedeutend, ob der Spieler Links- oder Rechtshänder ist. Jedoch könnte der Linkshänder sogar einen Vorteil für sich verbuchen, weil mit den Fingern der linken Hand bei den meisten Stücken viel mehr Bewegungen pro Zeiteinheit durchgeführt werden und der linke Daumen bei der Teilabdeckung des Daumenlochs ein Höchstmaß an Präzisionsarbeit verrichten muss. Dennoch ist zu beobachten, dass viele Linkshänder im Anfangsunterricht immer wieder versuchen, die Flöte „andersherum“ zu halten. In diesem Fall sollte man den Schüler genau beobachten und beide Möglichkeiten ausprobieren. Fühlt sich der Schüler mit der linkshändigen Haltung wohler oder setzt er den vermittelten Lernstoff sogar besser um, sollte die spezielle Anfertigung einer „Linkshänder-Blockflöte“ in Betracht gezogen werden. LINKSHÄNDER-BLOCKFLÖTE Die notwendigen Umbaumaßnahmen sind gar nicht mal so aufwändig. Der Flötenbauer muss hierfür nur ein Unterstück bzw. bei einer dreiteiligen Flöte ein Fußstück aus der Produktion herausnehmen und die Doppellöcher spiegelverkehrt bohren. Das Griffloch für den linken kleinen Finger rückt dabei auf die linke Seite. Diese Maßnahme wird jeder Blockflötenhersteller durchführen können. SchülerInnen, Lehrkräfte und Eltern sollten sich jedoch darüber im Klaren sein, dass das Spielen einer Linkshänder-Flöte im weiteren künstlerischen Leben auch Probleme mit sich bringen kann, denn ein Umlernen auf die herkömmliche Spielhaltung wird nicht mehr möglich sein. Der größte Nachteil ist, dass jede neue Blockflöte als Spezialanfertigung bestellt werden muss. Der „Links-Spieler“ wird größte Schwierigkeiten haben, im Musikalienhandel ein fertiges Instrument aus einer Serienproduktion zu kaufen. Auch das Ausprobieren von Flöten auf Ausstellungen gestaltet sich schwierig. Auf besondere Probleme stößt der Links-Spieler, wenn der mögliche Einsatz von Klappen für die tieferen Töne oder das Anbringen zusätzlicher Klappen notwendig wird, denn in diesem Fall müsste auch die Klappenmechanik spiegelverkehrt angefertigt werden, was mit erheblichen zusätzlichen Kosten verbunden ist. Problematisch kann auch die Teilnahme an Ensemblekursen werden, wenn ein Links-Spieler im Ensemble auf einem Leihinstrument spielt. Besonders die tiefen Flöten werden für die Teilnahme an Ensembles oder Flötenorchestern oft leihweise gespielt, da die meisten SpielerInnen nicht über solche Instrumente verfügen. Auf Ablehnung kann der Links-Spieler auch stoßen, wenn er eine Aufnahmeprüfung an einer Hochschule in Betracht zieht oder an einem Wettbewerb teilnehmen möchte. Hier ist es leider immer noch oft so, dass eine Spielweise, die als unnormal angesehen wird, ein Grund für eine Ablehnung oder schlechtere Bewertung ist. Historisch gesehen ist eine Linkshänder-Blockflöte nichts Neues. In Sebastian Virdungs Musica getutscht und außgezogen (1511) ist ein Holzschnitt zu sehen, der beide Handpositionen zeigt. Die abgebildete Renaissance-Flöte in Alt- oder Tenorlage zeigt auf beiden Seiten des Rohrs Löcher für die tiefen Töne. Je nach Handhabung wird das nicht benötigte Loch mit Wachs verschlossen. Erst Hotteterre schrieb 1707 in seinen Principes de la flûte traversière, dass die linke Hand nach oben zu nehmen sei. Für die künstlerische Gestaltung oder emotionale Ausdrucksstärke ist es nicht wichtig, ob ein Spieler eine herkömmliche Flöte oder eine 49 Inhalt_UM_06-09_Innen 19.05.11 12:00 Seite 50 50 Spezialanfertigung spielt. Die technische Perfektion kann auf einer Linkshänder-Flöte genauso gut ausgebildet werden. Im Gegenteil: Wenn die Linkshändigkeit bei einem Menschen so stark ausgeprägt ist, dass er das Bedürfnis hat, auf eine Spezialanfertigung zurückzugreifen, wird er damit sicher mehr Erfolg haben, als wenn der Lehrer versucht, ihn in eine Position zu zwingen, die von der Allgemeinheit als richtiger angesehen wird. Bei der Frage, ob ein Linkshänder-Instrument sinnvoll ist, sollten alle Beteiligten die Vor-und Nachteile genau abwägen. Letztlich sollte die Entscheidung davon abhängen, welche Möglichkeit zu Körper und Persönlichkeit am besten passt. Dabei sollte auch mitberücksichtigt werden, welche Möglichkeit mehr Erfolg verspricht. Auf jeden Fall muss eine Haltung vermieden werden, die zu Verkrampfungen in Armen, Händen und Fingern führt. Hat sich ein Schüler eine verkrampfte Spielweise erst einmal angewöhnt, ist es schwer, ihm diese wieder abzugewöhnen; Lernfortschritte werden sich dann auch nicht einstellen. LinkshänderInnen verkrampfen schnell, wenn sie gezwungen sind ein Werkzeug zu benutzen, das eigentlich für die rechte Hand entwickelte wurde wie beispielsweise eine Schere. Aus dieser Sicht ist die Anfertigung einer Linkshänder-Flöte auf jeden Fall sinnvoll. Aus meiner Unterrichtspraxis würde ich folgende Vorgehensweise empfehlen: Stellt sich bei einem Anfänger diese Frage, wäre es ratsam, zunächst eine preiswerte Schulflöte zu kaufen und auf der linken Seite für den untersten Ton ein zusätzliches Loch bohren zu lassen. Das nicht benötigte Loch kann mit Wachs oder Knetgummi verschlossen werden. Lehrkraft und SchülerIn sollten sich einige Wochen Zeit für eine Orientierungsphase lassen und beim Lernen der ersten Töne beide Haltungen gründlich ausprobieren. Dabei kann auch die Fingertechnik beim Spiel von Gabelgriffen getestet oder bestimmte Griffabfolgen können probiert werden. Letztlich sollte man sich dann für ein Linkshänder-Instrument entscheiden, wenn dies für den Spieler oder die Spielerin ein gesünderes, angenehmeres und damit erfolgreicheres Lernen bedeutet. 1 vgl. Jochen Blum: Medizinische Probleme bei Musikern, Stuttgart 1995, S. 58 ff. 2 vgl. Brian Kolb/Ian Q. Whishaw: Neuropsychologie, Heidelberg 1993, S. 184 ff. 3 vgl. Manfred Spitzer: Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, Stuttgart 2003, S. 194 ff. 4 vgl. Peter Berlit: Basiswissen Neurologie, Heidelberg 52007, S. 342. 5 vgl. Alexander Romanovich Luria: Traumatic Aphasia. Its Syndromes, Psychology and Treatment, Den Haag 1970. 6 Christine Plahl/Hedwig Koch-Temming: Musiktherapie mit Kindern. Grundlagen – Methoden – Praxisfelder, Bern 2005, S. 355. 7 vgl. Sally P. Springer/Georg Deutsch: Linkes/ Rechtes Gehirn, Heidelberg 41998, S. 115. 8 vgl. ebd., S. 101 ff. Dr. rer. med. Elena Romana Gasenzer studierte Blockflöte, Musikwissenschaft und Medizin und ist als Dozentin für Musik und Medizin an verschiedenen Instituten und Universitäten tätig. Sie ist künstlerische Leiterin der TripleClassic Music School in Kronberg und Autorin zahlreicher Bücher und wissenschaftlicher Publikationen.