ÜBERBLICK GEOPHYSIK Wenn der Funke überspringt Entladungsphänomene über Gewitterwolken liefern auch neue Einsichten in normale Blitze. Ute Ebert Blitze sind zwar alltäglich, aber wie sich diese spektakulären elektrischen Entladungen entwickeln, ist noch immer nicht quantitativ verstanden. In den vergangenen zwei Jahrzehnten erhielt die Gewitterforschung neue Impulse durch die Entdeckung von verschiedenen Entladungsformen oberhalb der Wolkendecke und von terrestrischer Gammastrahlung. All diese Phänomene eröffnen einen neuen Zugang zur Physik des Gewitters, nicht zuletzt, weil sie weniger komplex sind als normale Blitze und sich daher leichter im Experiment oder im Computer simulieren lassen. PhotoDisc, Inc. B litze sind ebenso faszinierende wie furchteinflößende Himmelserscheinungen – zu Recht, denn die Spannungen in einer Gewitterwolke können bis zu 100 Megavolt erreichen, die Blitzströme bis zu 200 Ampere. Dies entspricht einer elektrischen Leistung von 20 Gigawatt. Wie gewaltig das ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die installierte Gesamtleistung aller Kraftwerke in Deutschland bei 120 Gigawatt liegt. Bei einer Stromdauer von einer Zehntelsekunde beträgt die dissipierte Energie eines Blitzes 500 kWh. Diese Energie lässt sich natürlich nicht am Fußpunkt der Entladung abzapfen, sondern erzeugt Blitz und Donner, elektromagnetische Strahlung und chemische Reaktionen über die ganze Höhe der Entladung hinweg. Blitze produzieren auch Stickoxide und Ozon und sind damit eine wichtige Quelle von Treibhausgasen. In jeder Sekunde bombadieren über 40 Blitze unseren Erdball. Die aktivsten Gewittergebiete finden sich über den Kontinenten in den tropischen Gebieten nahe des Äquators. Über Europa blitzt es viel seltener, wie Beobachtungen aus dem Weltraum deutlich zeigen (Abb. 1). Die Daten von einem Satelliten auf niedriger Umlaufbahn sind dabei zwar durchaus repräsentativ, bieten aber kein vollständiges Bild. Daher versucht das „World Wide Lightning Location Network“ von der Erdoberfläche aus, alle hinreichend starken Blitze weltweit zu messen.1) Als Sensoren dienen Stabantennen, mit denen sich durch den Blitzstrom erzeugte, extrem langwellige elektromagnetische Wellen nachweisen lassen. Bei Frequenzen von 8 Hz, 14 Hz etc. (den „Schumann-Resonanzen“) können diese Wellen im atmosphärischen Hohlleiter zwischen Erde und Ionosphäre um den ganzen Erdball laufen. Prinzipiell Wie sich Blitze entwickeln, ist im Detail noch kaum verstanden. genügen drei Sensoren, um Ort und Zeitpunkt eines jeden Blitzes auf der Erde zu bestimmen. Um aber wirklich zufriedenstellende Daten der ganzen Erde zu erhalten, wird das derzeit aus 40 Sensoren bestehende Netzwerk weiter ausgebaut. Denn in den Industrieländern werden die Gewitter zwar gut vermessen, aber nicht über den Ozeanen oder z. B. im Kongo, dem Land mit der weltweit höchsten Blitzaktivität. Blitzentladungen entwickeln sich in drei Phasen. In der ersten Phase baut sich die elektrische Spannung in der Wolke auf. In den Gewitterwolken, die sich mehrere Kilometer hoch auftürmen können, 1) Mehr Infos und aktuelle Bilder der globalen Blitzaktivität finden sich auf http://wwlln.net. K O M PA K T ■ ■ ■ ■ Die Entwicklung von Blitzen lässt sich in drei Phasen einteilen: Ladungstrennung, Wachsen eines „Entladungsbaums“ und elektrischer Kurzschluss. Die Spannungen in Gewitterwolken erreichen zwar rund 100 MV, reichen aber nicht aus, um allein den Blitz auszulösen. Als Auslöser kommen hochenergetische Teilchen der kosmischen Strahlung oder eine Fokussierung der lokalen elektrischen Felder infrage. Die Fokussierung lässt sich in Laborexperimenten und Simulationen untersuchen. Dies liefert auch Erkenntnisse über neu entdeckte Entladungsphänomene oberhalb der Gewitterwolken. © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 1617-9437/09/1212-39 Physik Journal 8 (2009) Nr. 12 39 Prof. Dr. Ute Ebert, Centrum Wiskunde & Informatica (CWI), Science Park 123, 1098 XG Amsterdam, Niederlande NASA/MSFC/OTD ÜBERBLICK 1 2 3 4 herrschen enorme Turbulenzen, die Wassertropfen, Eis- und Graupelteilchen wild umherwirbeln und ständig zusammenstoßen lassen. Dabei übertragen sich elektrische Ladungen. Man geht davon aus, dass die schwereren Teilchen vor allem eine negative Ladung annehmen, die leichteren dagegen eine positive. Die Schwerkraft trennt die Ladungen so, dass sich im einfachsten Fall der untere Wolkenrand negativ und der obere Rand positiv aufladen. Auch komplexere Schichtungen kommen vor, und Scherströmungen können die Schichten horizontal auseinander ziehen. Allerdings fehlt zu diesem qualitativen Bild eine zufriedenstellende quantitative Theorie, die erklärt, wie die Spannungen in der Wolke 100 Megavolt erreichen können. In der zweiten Phase wächst ein elektrisch leitender, oft stark verzweigter „Entladungsbaum“ durch die Luft. Die Baumstrukturen der elektrischen Ströme im Innern der Wolke, die natürlich von außen nicht zu sehen sind, ließen sich vor kurzem durch genaue Messungen der elektromagnetischen Felder am Boden bestimmen [1]. 5 >5 >10 >15 >25 >50 >100 >150 Abb. 1 Die weltweite Verteilung von Blitzen im Jahr 1999 lässt deutlich die starke Gewitteraktivität in den äquatornäheren Gebieten erkennen. In der dritten Phase verbindet der Entladungsbaum die Wolke mit der Erde und löst einen elektrischen Kurzschluss aus, mit starken Strömen und starker Ohmscher Aufheizung. Diese dritte Phase ist leicht zu verstehen: Das heiße Plasma erzeugt den sichtbaren Blitz. Starke Ströme fließen durch einen bestehenden Plasmakanal, der sich dadurch weiter aufheizt und expandiert. Diese plötzliche Expansion des heißen Kanals erzeugt den Donner. Die zweite Phase – der Aufbau der Entladungskanäle und des „Entladungsbaumes“ – wird jetzt gründlich untersucht. Der vorliegende Artikel konzentriert sich daher im Wesentlichen auf die wachsenden Entladungsbäume, die aus Streamern als „Pionieren“ und nachfolgenden heißen Leadern bestehen. Wie sich gezeigt hat, treten Streamer nicht nur in normalen Gewittern auf, sondern auch in riesigen Entladungen hoch über der Wolkendecke. Einige Anzeichen deuten darauf hin, dass diese Entladungen auch die terrestrische Gammastrahlung produzieren. Der zündende Funke b c d e f V. Ratushnaya a Abb. 2 Simulation einer Streamer-Entladung in Luft zwischen zwei ebenen Elektroden: In die obere positive Elektrode ist eine Spitze eingesetzt, von der aus der Streamer startet. Zu sehen ist das Gasvolumen (ab der Elektrodenspitze) mit elektrischen Äquipotentiallinien und 40 die Elektronendichte des Streamers (a). Die Ausschnittsvergrößerungen zeigen die Dichte der Elektronen ne (b), der positiven Ionen n+ (c), die Raumladung n+ – ne (d) und die elektrische Feldstärke |E|, einmal ohne (e) und einmal mit überlagerten Äquipotentiallinien (f ). Physik Journal 8 (2009) Nr. 12 Ob es sich um den Funken einer Zündkerze im Automotor handelt, im Argon einer HochdruckGasentladungslampe oder um Blitze auf Erde, Venus oder Jupiter – der Mechanismus ist grundsätzlich derselbe. Ein hinreichend starkes Feld und eine Anfangsionisierung sind nötig, um die Entladung zu starten. Bei normalem Druck und Temperatur lässt sich Luft erst ionisieren, wenn das elektrische Feld den Durchbruchswert 32 000 V/cm übersteigt und vorhandene Elektronen lokal so stark beschleunigt, dass diese bei der Kollision mit neutralen Molekülen weitere Elektronen freisetzen können. In dieser Kettenreaktion wächst der Ionisierungsgrad stark an. Die größten Felder, die im Innern einer Gewitterwolke mit aufsteigenden Ballons gemessen wurden, betragen aber nur ein Zehntel des lokalen Durchbruchswertes. Die Frage nach dem Auslöser von Blitzen wurde daher in der Wissenschaft und in den Me- © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim ÜBERBLICK a b 800 1500 1400 z in μm 1300 1200 1100 1000 100 0 y in μm –100 100 0 –100 in μm x –200 200 750 700 650 600 z 550 500 450 400 350 –100 x 0 dien zu einem großen physikalischen Problem erklärt. Es wurde argumentiert, dass als Auslöser für Blitze nur die hochenergetische kosmische Strahlung infrage käme, die schon in niedrigeren elektrischen Feldern Lawinen von relativistischen Elektronen erzeugen kann [2–4]. Allerdings zeigt eine simple Überlegung, dass dieser Schluss sicher nicht zwingend ist. Ein Wolkenpotential von 100 Megavolt auf 10 km Höhe klingt zwar beeindruckend, erzeugt aber nur ein mittleres Feld von 100 V/cm zwischen Wolke und Erde. Damit beträgt es sogar nur 1/300 des Durchbruchswertes. Trotzdem überbrückt der Blitz dieses Gebiet. Und er tut es in gezackten Schritten mit Zwischenpausen (den so genannten stepped leaders), denen eine relativistische Elektronenlawine sicher nicht folgen wird. Dass ein „Blitzbaum“ durch ein solches Gebiet wachsen kann, lässt sich mit einer lokalen Feldverstärkung an der Spitze des elektrisch leitenden und wachsenden Entladungskanals erklären. In elektrischen Feldern, die im Mittel unter dem Durchbruchswert liegen, so wie in einer Gewitterwolke, können z. B. spitze Elektroden, Wassertropfen oder stark ionisierte Gebiete das Feld so fokussieren, dass das lokale Feld den Durchbruchswert übersteigt. Dann kann sich ein Streamer entwickeln (Abb. 2). Der leitende Streamer-Kanal ist von einer dünnen Raumladungsschicht umgeben. Diese Schicht schirmt das Innere elektrisch weitgehend ab und verstärkt das elektrische Feld vor der wachsenden Spitze. Dadurch übersteigt 100 50 0 y –50 Abb. 3 In der Simulation lässt sich zeigen, wie zwei Streamer miteinander wechselwirken. Zwei nach unten laufende Streamer stoßen sich elektrisch ab (a), aber sie können die elektrostatische Abstoßung auch überwinden durch nichtlokale Photoionisation und miteinander verschmelzen (b). (a) zeigt ein Niveau gleicher Elektronendichte ne und (b) zeigt ein Niveau gleicher Raumladungsdichte n+ – ne (rot) und das lokal verfeinerte numerische Gitter (grün) [5]. das Feld dort die kritischen 32 kV/cm, sodass der Kanal weiter wachsen kann. Um numerisch zu berechnen, wie sich das dünne Raumladungsgebiet bewegt, ist es nötig, das numerische Gitter lokal zu verfeinern. Die Methode wurde erst für einzelne radial symmetrische Streamer entwickelt; dabei rechnet man nur in zwei räumlichen Koordinaten (r, z). Da Streamer aber elektrisch miteinander wechselwirken können, sind zehn Streamer nicht einfach gleich der Summe von zehn einzelnen Streamern. Wechselwirkende Streamer erfordern vollständig dreidimensionale Gitterverfeinerung. Damit konnten Alejandro Luque und Willem Hundsdorfer jetzt zum ersten Mal numerisch die Wechselwirkung zweier Streamer untersuchen [5] (Abb. 3). Auch das Studium einer periodischen Anordnung gleicher Streamer liefert Informationen über ihre Wechselwirkung [6]. Entladungen im Experiment Im Labor entstehen meistens viele Streamer gleichzeitig. Verzweigte Streamer-Bäume in normaler Luft können jetzt mit Nanosekunden-Auflösung fotografiert werden (Abb. 4). Mit zunehmender Spannung nimmt ihre Dicke und Geschwindigkeit rasch zu. Das ist auch theoretisch einigermaßen verstanden. Die höchste Spannung in diesen Experimenten betrug 80 kV [7], während die Spannungen in Gewitterwolken 100 MV erreichen können. Darum ist zu erwarten, dass die DIE PHYSIK ALISCHE ÄHNLICHKEIT VON STREAMER- UND SPRITE-ENTLADUNGEN Die laufenden Spitzen der StreamerEntladungen (Abb. 2 – 4) verhalten sich physikalisch ähnlich, wenn sich die Gasdichte verändert. Der Prozess wird nämlich bestimmt durch die Stöße einer niedrigen Konzentration von Elektronen mit den zahlreichen neutralen Molekülen im Gas. Wenn die Elektronenenergie beim Stoß höher ist als die Ionisierungsenergie des Moleküls, kann ein neues Elektron-Ion-Paar entstehen. Die Wahrscheinlichkeit hierfür wird durch das Produkt von freier Weglänge L des Elektrons und lokalem elektrischen Feld E bestimmt. Die freie Weglänge L ist umgekehrt proportional zur Gasdichte n. Deshalb beschleunigt dasselbe E/n die Elektronen auf dieselbe Geschwindigkeit v und führt zu denselben Ionisierungsraten, auch wenn sich die Dichte n verändert. Alle Längen- und Zeitskalen skalieren daher wie 1/n, die elektrischen Felder wie n. Die elektrischen Spannungen als Produkt von Feld mal Länge verändern sich daher nicht mit n. Weil die Luftdichte in 80 km Höhe 105-mal geringer als auf Meereshöhe ist, fallen auch alle Längen- und Zeitskalen 105-mal größer aus. Deshalb entspricht ein Zentimeter einer Streamer-Entladung auf Meereshöhe (Abb. 4) einem Kilometer in einer Sprite-Entladung in 80 km Höhe (Abb. 6), wenn sie durch dieselbe elektrische Spannung angetrieben werden. Dies ließ sich jetzt auch experimentell sehr gut bestätigen [9]. Eine Dimensionsanalyse unter Einschluss der Poisson-Gleichung für das elektrische Feld zeigt, dass der Ionisierungsgrad zur Gasdichte n proportional ist. Die Ohmsche Erwärmung pro Gasmolekül im Streamer-Kanal skaliert mit n2. Streamer in dichteren Medien heizen sich demnach stärker auf. © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Physik Journal 8 (2009) Nr. 12 41 ÜBERBLICK Abb. 4 Die Streamer-Entladungen starten von einer Nadelelektrode oben in der Mitte jedes Bildes und laufen über 4 cm Abstand in normaler Umgebungsluft zu einer Plattenelektrode unten [7]. Die Bilder mit einer Belichtungszeit von nur 2 ns (rechts) zeigen, dass nicht der ganze Entladungskanal glimmt, sondern nur seine wachsenden Spitzen. Die länger belichteten Bilder (links) zeigen daher die Spuren, welche die Spitzen der Entladungskanäle während der Belichtung zurückgelegt haben. Ein Vergleich der oberen und der unteren Reihe lässt erkennen, dass die Streamer sechsmal dicker und 15-mal schneller werden, wenn die Spannung um weniger als einen Faktor zwei zunimmt. Die dünnsten Streamer haben einen Durchmesser von 200 Mikrometern und eine Geschwindigkeit von 105 m/s.2) 30 kV 54 kV 300 ns 2) Dreidimensionale Rekonstruktionen solcher Entladungen sind in [8] zu finden. Belichtungszeit 2 ns elektrischen Felder an den Spitzen von GewitterStreamern viel höher ausfallen, denn sie sind durch Spannung und Streamer-Dicke bestimmt. Ein Streamer-Baum (oder eine Streamer-Corona) allein kann allerdings nicht direkt zum Kurzschluss zwischen Wolke und Erde und damit zum sichtbaren Blitz führen. Zurzeit wird meist angenommen, dass die Ströme in Streamern so schwach sind, dass die Luft kalt bleibt und daher nach weniger als einer Mikrosekunde in ihren nichtleitenden Gleichgewichtszustand zurückkehrt. Für Gewitter-Streamer mit ihren hohen Spannungen braucht das jedoch nicht so zu sein. Der Streamer-Baum bahnt aber den Weg für den „Leader-Kanal“, der sich durch seine stark gebündelten elektrischen Ströme ohmsch aufheizt, und der durch seine größere elektrische Leitfähigkeit das elektrische Potential von der Wolke zur Erde transportieren kann. Für den gesamten Streamer-Leader-Baum gibt es derzeit immerhin phänomenologische Modelle. Neue Filme mit 66 000 Bildern pro Sekunde (z. B. von Geoff McHarg von der US Air Force Academy) zeigen allerdings einen tastenden, stochastischen Prozess, den diese Modelle nicht beschreiben: Die Entladung kann sich offenbar auch aus einem schon geschaffenen Kanal wieder zurückziehen und anderswo weiterwachsen. Hier besteht noch sehr viel Forschungsbedarf. Nicht zuletzt bestimmt der Streamer-Leader-Prozess, wo ein Blitz in die Erde, ein Gebäude, eine Windmühle oder ein Flugzeug einschlägt. Über den Wolken Unsere Atmosphäre liegt im Grunde zwischen zwei ebenen Elektroden, die untere ist die Erde, die obere die durch Sonnen- und kosmische Strahlung stark io42 Physik Journal 8 (2009) Nr. 12 nisierte Ionosphäre, die nachts auf 80 bis 90 km Höhe beginnt. Die Luftdichte nimmt mit der Höhe exponentiell ab, mit einem Faktor 10 über eine Höhendifferenz von 16,6 km. Daher nimmt die freie Weglänge von freien Elektronen mit der Höhe zu, und effektive Stoßionisierung tritt schon bei niedrigeren elektrischen Feldern auf (Infokasten). Der spätere Nobelpreisträger Charles Wilson schlug deshalb schon 1925 vor, dass wegen des viel niedrigeren Durchbruchsfeldes Entladungen auch in der dünnen Luft hoch über Gewitterwolken entstehen könnten. Es dauerte aber bis 1990, bis sie in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben wurden. Im Laufe der 90er-Jahre konnten Forscher einen ganzen Zoo der sog. „Transient Luminous Events“ (TLE) oberhalb der Gewitterwolken entdecken (Abb. 5). Um keine beschreibende Terminologie einzuführen, die sich später als falsch herausstellen könnte, wählten die Entdecker Namen von Wesen aus Shakespeares Sommernachtstraum: Sprites (Riesenblitze, die aus der Ionosphäre nach unten schießen), Elves (expandierende Ringe an der Unterkante der Ionosphäre), Jets (Blitze, die aus der Wolke nach oben schießen), später Gnomes und Pixies (kleinere Entladungen über der Wolke). 2002 kamen schließlich noch die Gigantic Jets hinzu (Jets, die in einen Sprite übergehen und die Wolke mit der Ionosphäre elektrisch verbinden), und es wurde deutlich, dass man bei den horizontal ausgedehnten Erscheinungen an der Unterkante der Ionosphäre zwischen Elves und Halos unterscheiden muss. Insgesamt sind Sprites (Abb. 6) und Elves die häufigsten TLE. Zur Erklärung von Sprites wurden zwei Mechanismen vorgeschlagen: Der erste nimmt an, dass es sich um Lawinen von hochenergetischen relativistischen Elektronen aus dem Kosmos handelt, die in den elektrischen Feldern des Gewitters beschleunigt werden und Lawinen bilden. Der zweite Mechanismus identi- © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim ÜBERBLICK a b t = 1,66 ms g c t = 2,06 ms h t = 3,66 ms Ionosphäre Troll Gigantic Jet 50 Tendrils Stratosphäre Blue Jet Pixies Troposphäre 0 100 Ausdehnung in km Abb. 5 Mittlerweile ist es gelungen, eine große Vielfalt von Entladungsphänomenen über den eigentlichen Gewitterwolken zu beobachten. Erdoberfläche und Ionosphäre lassen sich dabei näherungs- 200 D. D. Sentmann/Univ. of Alaska in Fairbanks Sprite Mesosphäre weise als Äquipotentialflächen betrachten. Unter der Gewitterwolke sind normale Blitze zu sehen, die positive (rechts) oder negative (links) elektrische Ladung von der Wolke zur Erde transportieren. jetzt begonnen, Formen und Spektren von möglichen Sprite-Entladungen z. B. auf Venus und Jupiter im Labor zu untersuchen. Gammablitze und Gewitter Die Entdeckung irdischer Gammastrahlungspulse aus der Erdatmosphäre im Jahr 1994 verdanken wir einem schlecht ausgerichteten Satelliten, der eigentlich kosmische Gammastrahlung messen sollte. Dank Beobachtungen vom Boden, von Flugzeugen, Ballons und Satelliten ist inzwischen klar, dass täglich mehr als 50 terrestrische Gammastrahlungspulse auftreten. Dabei können einzelne Gammaquanten Energien von bis t = 2,26 ms e t = 2,46 ms j t = 6,26 ms Elve Halo d i t = 4,66 ms 100 Höhe in km fiziert Sprites mit klassischen Streamer-Entladungen. Inzwischen haben Beobachtungen von Sprites und Streamern mit einer sehr guten Auflösung in Raum und Zeit ihre physikalische Ähnlichkeit quantitativ bestätigt. Bei Streamern im Labor sind bei hinreichend kurzer Belichtungszeit nur die wachsenden Spitzen der leitenden Kanäle zu erkennen und nicht die ganzen Kanäle (Abb. 4). Dasselbe Phänomen ließ sich inzwischen auch bei Sprite-Entladungen beobachten [11]. Im Gegensatz zu Blitzen zwischen Wolke und Erde besteht die zweite Phase einer Sprite-Entladung nur aus Streamern ohne Leader-Kanal, die dritte Phase des elektrischen Kurzschlusses fehlt völlig. Dadurch ist der Sprite viel einfacher zu verstehen als der Blitz. Der Sprite bleibt in der Streamer-Phase stecken, weil infolge der Ähnlichkeitsgesetze der Ionisierungsgrad und damit die Ohmsche Erwärmung bei geringerer Luftdichte viel geringer ist (Infokasten). Die Ähnlichkeit von Streamern und Sprites bietet große Chancen für die Zusammenarbeit zwischen Plasmaphysik und Geophysik. In der Atmosphäre beobachtete Sprite-Phänomene (Abb. 6 a-i) ließen sich inzwischen mit einem realistischen Höhenprofil für Luft- und Elektronendichte in unseren Simulationen nachvollziehen (Abb. 6 j-l) [12]. Sie reproduzieren z. B. das Entstehen der Sprite-Halo und des ersten dicken Sprite-Kanals, der nach unten schießt (wie in Abb. 6c). In den Beobachtungen ist während der Zeitschritte 3,06 und 3,66 ms (Abb. 6 f-g) zu erkennen, dass Entladungskanäle aus dem rechten Baum beinah senkrecht auf Kanäle aus dem mittleren Baum zulaufen und dort scheinbar enden. Ein ähnliches Verhalten haben wir jetzt in stereografischen Aufnahmen von Streamern gesehen. Dreidimensionale Rekonstruktionen von Sander Nijdam bestätigen, dass sich die Kanäle wirklich anziehen und nicht hintereinander vorbei laufen [8]. Aufgrund dieser guten Übereinstimmung zwischen Sprites und Streamern in irdischer Luft haben wir f t = 2,66 ms k t = 2,75 Abb. 6 Ein Film mit 5000 Bildern pro Sekunde zeigt eindrucksvoll, wie sich ein Halo (a-c) und die darauf folgende Sprite-Entladung (d-i) über einer Gewitterwolke entwickeln [10]. Die Lichtemission eines Halo und eines beginnenden Sprites lässt sich jetzt auch simulieren (j-l) [12]. Die Bilder zeigen Höhen von 40 bis 85 km, die Simulationen den Ausschnitt von 55 bis 85 km. t = 3,06 ms l t = 3,50 © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim t = 4,42 Physik Journal 8 (2009) Nr. 12 43 NASA/GSC ÜBERBLICK Abb. 7 Diese Beobachtungen des Satelliten RHESSI zeigen terrestrische Gammastrahlung (weiße Kreuze) [13]. Die Verteilung stimmt recht gut mit der Häufigkeit der Blitze überein (vgl. Abb. 1). zu 35 MeV erreichen [13]. Die Verteilung dieser Pulse deutet darauf hin, dass sie sicher mit Gewittern zusammenhängen und häufig einige Minuten vor Blitzentladungen auftreten [14] (Abb. 7). Bei der Gammastrahlung kommen ähnliche Fragen wie bei Blitzen und Sprites auf. Kann die klassische Gasentladungsphysik die Beobachtungen erklären? Oder müssen energetische Teilchenschauer aus dem Kosmos helfen? Sind die elektrischen Felder in der Gewitterwolke stark genug für eine klassische Entladung? Das hohe elektrische Feld vor der Streamer-Spitze ist eine mögliche Quelle der Gammastrahlungspulse. Dafür spricht, dass sich harte Röntgenstrahlung mit einer Energie von über 200 keV auch von meterlangen Funken erzeugen lässt, die bei Spannungen von 1 MV entstehen. Möglicherweise steht derselbe physikalische Mechanismus dahinter. Vuong Nguyen und Lex van Deursen in Eindhoven haben in ihrer experimentellen Untersuchung von harter Röntgenstrahlung aus langen Funken als erste gezeigt, dass diese Strahlung während der Streamer-Leader-Phase entsteht [15]. Um die harte Strahlung aus Streamern und Leadern theoretisch zu verstehen, gilt es nun, die Elektronen und ihre Energieverteilung an der Streamer-Spitze zu untersuchen. Diese Verteilung befindet sich nämlich extrem fern vom Gleichgewicht und besitzt einen „langen Schwanz“ bei hohen Energien. Elektronen mit hohen Energien sind durch Bremsstrahlung in Luft in der Lage, Röntgen- oder Gammastrahlung zu emittieren. Die Elektronenenergien an der Streamer-Spitze hat Chao Li numerisch untersucht. Ihm ist es gelungen, ein statistisches Monte-Carlo-Modell für einzelne Elektronen an der Streamer-Spitze an eine Dichte-Näherung für die vielen Elektronen im Innern des Streamers zu koppeln. Die ersten Ergebnisse seiner vollständig dreidimensionalen Simulationen zeigen, dass die Feldverstärkung an der Streamer-Spitze ausreicht, um Elektronen über Energien von 200 eV hinaus zu beschleunigen [16]. Bei höheren Elektronenenergien nimmt der Stoßquerschnitt mit den Luftmolekülen gemäß der Bornschen Näherung stark ab [2, 3]. Dann reichen auch geringere Felder aus, um die Elektronen immer weiter zu beschleunigen. In Zusammenarbeit von Theorie und Experiment entwickeln wir das Verständnis von Streamern. Hier konnte ich nur einen kleinen Ausschnitt der vielfältigen Aspekte darstellen. Zu diesen zählen Durchmes44 Physik Journal 8 (2009) Nr. 12 ser und Geschwindigkeit der Streamer, genauso wie ihr Aufspalten und Auslöschen, die Wechselwirkungen untereinander und mit der Strom-Spannungs-Quelle, die Abhängigkeit von Zusammensetzung und Dichte des Gases, die Emission energiereicher Strahlung, chemische Umsetzungen und schließlich das Aufheizen und der Übergang in die Leader-Phase. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse werden sicherlich noch viele spannende Einsichten darüber liefern, wie Sprites und Blitze sich entwickeln. Die vielfältigen technischen Anwendungen lassen sich im Rahmen dieses Artikels nicht behandeln. Doch sie haben einen Investierungsschub durch die niederländische Technologie-Stiftung STW im Rahmen des Programms „Building on Transient Plasmas“ erhalten. Interessenten an Doktoranden- oder Postdoc-Stellen werden hiermit gebeten, sich mit der Autorin oder ihren Eindhovener Kollegen in Verbindung zu setzen. * Mein Dank geht an M. Arrayás, F. Brau, T. Briels, W. Brok, G. Derks, W. Hundsdorfer, G. Kroesen, Chao Li, A. Luque, B. Meulenbroek, C. Montijn, V. Nguyen, S. Nijdam, G. Pemen, V. Ratushnaya, L. Schäfer, Y. Takahashi, S. Tanveer, J. van der Mullen, L. van Deursen, B. van Heesch, E. van Veldhuizen, H. Winands, G. Wormeester und Y. Yair. Literatur [1] W. Rison et al., Geophys. Res. Lett. 26, 3573 (1999) [2] A. V. Gurevich, G. M. Milikh und R. 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