8 Statistische Physik Die Welt, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, besteht aus makroskopischen Objekten, also Systemen, die groß sind verglichen mit atomaren Dimensionen und deshalb aus einer sehr großen Anzahl von Atomen bestehen. Wenn wir nun, ausgehend von Atomen mit einem Elektron über Atome mit vielen Elektronen zur Beschreibung von Systemen aus vielen Atomen übergehen, erwarten wir eine zunehmende Komplexität; es wird immer schwieriger, die beobachteten Eigenschaften korrekt zu beschreiben. Klassisch konnten wir das Verhalten eines beliebigen makroskopischen Systems im Prinzip durch die Lösung der Bewegungsgleichung jedes enthaltenen Teilchens vorhersagen, vorausgesetzt, die Bewegungszustände aller Teilchen waren zu einem bestimmten Zeitpunkt bekannt. Die offensichtlichen Probleme einer solchen Herangehensweise werden jedoch bald unüberwindlich. Man stelle sich nur vor, welche Schwierigkeiten sich ergeben, wenn man die gemessenen Eigenschaften eines Liters eines beliebigen Gases durch die gleichzeitige Lösung der Bewegungsgleichungen aller 1022 Moleküle des Systems reproduzieren will! Glücklicherweise können wir die Werte meßbarer Eigenschaften makroskopischer Systeme vorhersagen, ohne die Bewegung jedes einzelnen Teilchens verfolgen zu müssen. Diese bemerkenswerte Vereinfachung wird dadurch ermöglicht, daß wir allgemeine physikalische Prinzipien, wie die Erhaltung von Energie und Impuls, auf große Ensembles von Teilchen unter Vernachlässigung der einzelnen Bewegungen anwenden und das wahrscheinliche Verhalten des Systems mit statistischen Argumenten vorhersagen können. Anschließend machen wir uns die Beziehung zwischen dem berechneten wahrscheinlichen Verhalten und den beobachteten Eigenschaften des Systems zunutze. Dieser erfolgreiche, sogenannte mikroskopische Ansatz zur Erklärung des Verhaltens großer Systeme wird statistische Mechanik genannt. Sie kann nur angewendet werden, wenn das System eine hinreichend große Zahl von Teilchen enthält, damit die gewöhnliche statistische Theorie gilt.1 In diesem Kapitel wollen wir untersuchen, wie man mit Hilfe dieses statistischen Ansatzes vorhersagen kann, in welcher Weise sich eine bestimmte Energiemenge höchstwahrscheinlich auf die Teilchen eines Systems verteilt. Im Grundkurs Physik ist Ihnen sicherlich die kinetische Gastheorie begegnet, der erste erfolgreiche mikroskopische Ansatz dieser Art. Wir werden sehen, wie die Teilchen eines isolierten Systems im thermischen Gleichgewicht Energie austauschen können, was unter anderem ein Grund dafür ist, daß die Energie eines bestimmten Teilchens manchmal größer und manchmal kleiner als der durchschnittliche Wert des Systems ist. Klassisch erfordert die statistische Theorie, daß alle Energiewerte, die von einem Teilchen im Laufe der Zeit angenommen werden (beziehungsweise alle Energiewerte, die von den Teilchen des Systems zu einem bestimmten Zeitpunkt angenommen werden), durch eine spezifische Wahrscheinlichkeitsverteilung gegeben sind – die Boltzmann-Verteilung. Wie wir sehen werden, erfordert die quantenmechanische Betrachtungsweise eine Modifikation der klassischen 1 Die statistische Herangehensweise kann auch als Näherung für Systeme benutzt werden, deren Teilchenzahl nicht besonders groß ist. Beispielsweise werden wir in Kapitel 11 kurz ein statistisches Modell des Atomkerns diskutieren, eines Systems, dessen Teilchenzahl sich in der Größenordnung von 100 bewegt. 402 8 Statistische Physik Verfahren. So gelangen wir zur Fermi-Dirac-Verteilung für Teilchen mit antisymmetrischen Wellenfunktionen wie Elektronen und zur Bose-Einstein-Verteilung für Teilchen mit symmetrischen Wellenfunktionen wie Heliumatome. Schließlich werden wir die Verteilungen auf verschiedene physikalische Systeme anwenden und unsere Voraussagen mit den experimentellen Beobachtungen vergleichen. Dies führt uns zum Verständnis wichtiger Phänomene wie der Suprafluidität und der spezifischen Wärme von Festkörpern. 8.1 Klassische Statistik Mehr im Web Einige Grundvorlesungen in Physik beinhalten eine Diskussion der kinetischen Gastheorie, viele aber nicht. Da die Annahmen, Definitionen und grundlegenden Ergebnisse das Fundament der klassischen Statistik bilden, stellen wir Kinetic Theory: A Brief Review auf der Homepage www.whfreeman.com/physics zur Verfügung. Siehe dort auch die Gleichungen (8.1) bis (8.12) und Abb. 8.1. Die Boltzmann-Verteilung Die statistische Physik beschäftigt sich mit der Verteilung einer gegebenen Energiemenge auf eine große Anzahl von Teilchen. Aus dieser Verteilung können die beobachtbaren Eigenschaften des Systems abgeleitet werden. Boltzmann2 leitete eine Verteilungsfunktion ab, mit deren Hilfe sich vorhersagen läßt, wie viele Teilchen jeden der verfügbaren Energiezustände in einem klassischen, aus einer großen Anzahl identischer Teilchen im thermischen Gleichgewicht bestehenden System einnehmen. Diese Boltzmann-Verteilung f B (E) ist die grundlegende Verteilungsfunktion der klassischen statistischen Physik: E f B (E) = Ae− kT . (8.13) A ist eine Normierungskonstante, deren Wert von den Eigenschaften des betrachteten Systems abhängt, und k ist die Boltzmann-Konstante: k = 1,381 · 10−23 J/K = 8,617 · 10−5 eV/K . Boltzmann wollte mit seiner Ableitung die grundlegenden Eigenschaften einer Verteilungsfunktion für die Geschwindigkeiten von Gasmolekülen im thermischen Gleichgewicht formulieren (diese Funktion war einige Jahre zuvor von Maxwell gefunden worden). Weiterhin wollte Boltzmann zeigen, daß die Geschwindigkeitsverteilung eines Gases, das sich nicht im thermischen Gleichgewicht befindet, mit der Zeit in eine Maxwell-Verteilung übergeht. Die historische Herleitung ist für unsere Diskussion zu kompliziert. In Anhang B3 finden Sie einen recht einfachen numerischen Weg, der eine Näherung der korrekten Verteilung liefert. Wir zeigen dort anhand 2 Ludwig E. Boltzmann (1844–1906), österreichischer Physiker. Seine bahnbrechende statistische Interpretation des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik machte ihn zum Begründer der statistischen Mechanik. Er lieferte eine theoretische Erklärung der experimentellen Beobachtung von Stefan, bei dem er während seines Studiums als Assistent gearbeitet hatte, daß die Intensität der Strahlung mit der vierten Potenz der Temperatur steigt. Boltzmann war Stefans Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Physik in Wien. Er war ein leidenschaflicher Verfechter der Atomtheorie der Materie. Sein Freitod war teilweise wohl durch die Ablehnung seiner Ansichten durch etliche Fachkollegen motiviert. 8.1 Klassische Statistik 403 leicht verständlicher mathematischer Argumente, daß das erhaltene Ergebnis exakt und das einzig mögliche ist. Die Größe e−E/kT wird als Boltzmann-Faktor bezeichnet. Um zu berechnen, wie viele Teilchen die Energie E besitzen, verknüpfen wir Gleichung (8.13) mit Gleichung (B3-1a): n (E) = g (E) f B (E) = Ag (E) e−E/kT . (8.14) Klassisch ist die Energie E eine kontinuierliche Funktion, deshalb ist auch n (E) kontinuierlich (siehe Abb. 8.2). Folglich sind auch g (E) und f B (E) kontinuierliche Funktionen. Das statistische Gewicht (die Entartung) g (E) von Gleichung (8.14) wird als Zustandsdichte bezeichnet: g (E) dE ist gleich der Anzahl von Zuständen mit Energien zwischen E und E + dE. Um die Bedeutung der Boltzmann-Verteilung und des Boltzmann-Faktors zu demonstrieren, besprechen wir zwei Beispiele. Beispiel 8.1: Die barometrische Höhenformel Wir betrachten ein ideales Gas in einem homogenen Gravitationsfeld. (a) Wie hängt die Dichte des Gases von der Höhe über dem Meeresspiegel ab? (b) Angenommen, Luft ist ein ideales Gas mit der Molmasse 28,6. Berechnen Sie die Luftdichte in 1 km Höhe bei T = 300 K. (Die Dichte am Boden beträgt 1,292 kg/m3 bei T = 300 K.) Lösung (a) Wir wählen das Koordinatensystem so, daß die Gravitationskraft entgegengesetzt zur Richtung der z-Achse wirkt, und betrachten eine Gassäule mit der Querschnittsfläche A. Die Energie pro Gasmolekül ist dann E= p2y p2x p2 p2 + + z + mgz = + mgz , 2m 2m 2m 2m 4 n (E ) 3 2 1 0 0 ∆E 2∆E 3∆E 4∆E E 5∆E 6∆E 7∆E 8∆E Abb. 8.2. n (E) in Abhängigkeit von E für die Daten aus Tabelle B3-1. Die durchgezogene Kurve ist die Exponentialfunktion n (E) = Be−E/Ec , wobei die Konstanten B und E c so gewählt wurden, daß eine bestmögliche Anpassung der Kurve an die Datenpunkte erreicht wurde. 404 8 Statistische Physik wobei p2 = p2x + p2y + p2z ist und mgz die potentielle Energie eines Moleküls in der Höhe z. Die Dichte ρ ist proportional zu f B ; da ρ proportional zu N, der Anzahl von Molekülen in einer Volumeneinheit in der Höhe z, ist, ist N proportional zu f B . Mit Gleichung (8.13) erhalten wir 2 /2mkT −mgz/kT f B = Ae− p e . Da uns nur die Abhängigkeit von z interessiert, können wir über die anderen Variablen d px , d p y und d pz integrieren. Die Integration liefert uns lediglich eine neue Normierungskonstante A , was bedeutet, daß das Ergebnis nicht von diesen Variablen abhängt. Der Anteil der Moleküle zwischen z und z + dz ist dann f B (z) dz = A e−mgz/kT dz . (8.15) ∞ Die Konstante A erhalten wir aus der Normierungsbedingung 0 f B (z) dz = 1. Das Ergebnis ist A = mg/kT . Die Dichte nimmt deshalb exponentiell mit der Höhe ab. Dies ist die barometrische Höhenformel. (b) Das Verhältnis der Dichte bei z = 1000 m zu der bei z = 0 m ist gleich f B (1000) / f B (0), wobei f B (z) durch Gleichung (8.15) gegeben ist. Somit haben wir f B (1000) e−mg(1000)/k(300) ρ (1000) = = −mg(0)/k(300) = e−mg(1000)/k(300) . ρ (0) f B (0) e Einsetzen von m = 28,6 × 1,67 · 10−27 kg und g = 9,8 m/s2 liefert ρ (1000) = ρ (0) e−0,113 = 1,292 × 0,893 = 1,154 kg/m3 . Beispiel 8.2: Wasserstoffatome im ersten angeregten Zustand Der erste angeregte Zustand E 2 des Wasserstoffatoms befindet sich 10,2 eV über dem Grundzustand E 1 . Bestimmen Sie das Verhältnis der Anzahl der Atome im ersten angeregten Zustand zur Anzahl der Atome im Grundzustand bei (a) T = 300 K und (b) T = 5800 K. Lösung 1. Die Anzahl der Atome in einem Zustand mit der Energie E ist durch Gleichung (8.14) gegeben: n (E) = Ag (E) e−E/kT . 2. Das Verhältnis der Anzahl im ersten angeregten Zustand zur Anzahl im Grundzustand ist dann Ag2 (E) e−E2 /kT g2 n2 = = e−(E2 −E1 )/kT . n1 Ag1 (E) e−E1 /kT g1 8.1 Klassische Statistik 405 3. Das statistische Gewicht (die Entartung) des Grundzustands g1 (unter Berücksichtigung des Spins) ist 2; die Entartung des ersten angeregten Zustands g1 ist 8 (ein Zustand mit l = 0 und drei mit l = 1, jeder mit zwei Spinzuständen). Deshalb gilt: g2 8 = =4 g1 2 und n2 = 4e−(E2 −E1 )/kT . n1 4. Für Frage (a) ist kT ≈ 0,026 eV bei T = 300 K. Einsetzen liefert mit E 2 − E 1 = 10,2 eV n2 = 4e−(10,2)/0,026 n1 = 4e−392 ≈ 10−171 ≈ 0. 5. Für Frage (b) ist kT ≈ 0,5 eV an der Sonnenoberfläche bei T ≈ 5800 K. Einsetzen liefert n2 = 4e−(10,2)/0,5 = 4e−20,4 n1 ≈ e−19 ≈ 10−8 . Bemerkungen: Das Ergebnis von Schritt 4 veranschaulicht, daß sich aufgrund der im Vergleich zu kT großen Energiedifferenz zwischen den beiden Zuständen sehr wenige Atome im ersten angeregten Zustand befinden. Noch weniger befinden sich in höher angeregten Zuständen, was erklärt, warum ein ungestörter Behälter mit Wasserstoff bei Raumtemperatur nicht spontan die sichtbare Balmer-Serie abstrahlt. An der Sonnenoberfläche (Schritt 5) befinden sich etwa 1015 Atome pro Mol atomaren Wasserstoffs im ersten angeregten Zustand. Die Maxwell-Verteilung der Molekülgeschwindigkeiten Die Boltzmann-Verteilung ist eine grundlegende Beziehung, aus der viele Eigenschaften klassischer Systeme, sowohl von Gasen als auch von kondensierter Materie, abgeleitet werden können. Wir wollen uns auf die Diskussion von zwei der wichtigsten Beispiele beschränken und beginnen mit der Maxwellschen Geschwindigkeitsverteilung der Moleküle in einem Gas. Maxwell leitete im Jahre 1859 die Verteilung sowohl der Geschwindigkeitsvektoren als auch der Geschwindigkeiten der Moleküle in Gasen ab, etwa fünf Jahre, bevor Boltzmann Gleichung (8.13) aufstellte. Maxwell erhielt zunächst die Verteilung der Geschwindigkeitsvektoren. Mit ihrer Hilfe kann man die Verteilung der Beträge der Geschwindigkeiten unter der Annahme herleiten, daß die Komponenten vx , v y und vz eines Geschwindigkeitsvektors voneinander unabhängig sind. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Molekül einen Satz vx , v y , vz der Geschwindigkeitskomponenten besitzt, ist dann das Produkt der separaten Wahrscheinlichkeiten für vx , v y und vz . Maxwell 406 8 Statistische Physik nahm weiterhin an, daß die Verteilung nur vom Betrag der Geschwindigkeit abhängt, was bedeutet, daß die Geschwindigkeitskomponenten in der Verteilungsfunktion nur in der Kombination v2x + v2y + v2z erscheinen konnten. Er formulierte diese Verteilungsfunktion F vx , v y , vz (8.16) F vx , v y , vz = f (vx ) f v y f (vz ) , wobei f (vx ) die Verteilungsfunktion für die Komponente vx ist: f (vx ) dvx ist der Anteil von Molekülen, deren x-Komponente der Geschwindigkeit sich zwischen vx und vx + dvx bewegt.3 Ausgehend von diesen Annahmen konnte Maxwell nun die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Geschwindigkeitskomponenten ableiten. Die Gleichung für f (vx ) ist 2 f (vx ) = Ce−mvx /2kT , (8.17) die Ausdrücke für f v y und f (vz ) sind analog, und die Konstante wird von der Normierungsbedingung +∞ +∞ 2 f (vx ) dvx = Ce−mvx /2kT = 1 (8.18) −∞ −∞ bestimmt. Integrale dieses Typs werden wir in diesem Kapitel mehrmals ausrechnen müssen. Eine hilfreiche Zusammenfassung aller dieser Integrale finden Sie in Tabelle B1.1 im Anhang B1. Für Gleichung (8.18) erhalten wir damit und mit λ = m/2kT m 1/2 C = (λ/π)1/2 = . (8.19) 2πkT Wir ersetzen C in Gleichung (8.18) durch dieses Ergebnis, es ergibt sich m 1/2 2 f (vx ) = e−mvx /2kT . 2πkT (8.20) Abb. 8.3 zeigt f (vx ) in Abhängigkeit von vx . Natürlich ist f (vx ) symmetrisch bezüglich des Ursprungs, also f (vx ) = f (−vx ), so daß der Durchschnitt von vx null ist. Wie man der Abbildung entnehmen kann, ist der wahrscheinlichste Wert von vx ebenfalls null. Die vollständige Geschwindigkeitsverteilung ist m 3/2 −m v2x +v2y +v2z /2kT F v x , v y , vz = e . (8.21) 2πkT Der Nutzen der Geschwindigkeitsverteilungsfunktionen besteht darin, daß wir mit ihrer Hilfe die Mittelwerte oder Erwartungswerte physikalischer Größen berechnen und daraus die physikalischen Eigenschaften von Systemen vorhersagen können. Die Bestimmung des Mittelwerts einer Größe, deren Verteilungsfunktion bekannt ist, wird für klassische Systeme im Anhang B2 diskutiert. Daß der Mittelwert von vx null ist (wie aus Abb. 8.3 ersichtlich), kann durch Berechnung von vx aus Gleichung (B2.6) bewiesen werden, wobei die Verteilung von vx , gegeben durch Gleichung (8.20), und Tabelle B1.1 verwendet werden: +∞ +∞ m 1/2 −mv2x /2kT vx = vx f (vx ) dvx = vx e dvx . 2πkT −∞ −∞ 3 Um eine Wiederholung dieses ziemlich langen Satzes zu vermeiden, der für E genauso wie für v auftauchen müßte, werden wir ab jetzt den Ausdruck ,,die Anzahl in dvx bei vx “ verwenden oder einfach ,,die Anzahl in dvx “. 8.1 Klassische Statistik 407 f (v x ) vx Abb. 8.3. Die Verteilungsfunktion f (vx ) für die x-Komponente der Geschwindigkeit. Es ergibt sich eine Gauß-Kurve symmetrisch zum Ursprung. Schreiben wir λ = m/2kT , so erhalten wir λ vx = π +∞ −∞ 2 vx e−λvx dvx . Laut Tabelle B1.1 ist das Integral null und damit, wie erwartet, vx = 0. Wir werden nun die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Molekülgeschwindigkeiten in einem idealen Gas aus der Boltzmann-Verteilung ableiten. Dazu betrachten wir ein System aus N klassischen Teilchen pro Volumeneinheit, die ausschließlich kinetische Bewegungsenergie besitzen. (Wenn die Teilchen andere Formen der Energie besäßen, so könnten wir über die zugehörigen Variablen integrieren, wie in Beispiel 8.1 geschehen.) Damit gilt für jedes Molekül E= 1 1 2 mv = m v2x + v2y + v2z . 2 2 Die Geschwindigkeiten der Moleküle variieren kontinuierlich zwischen 0 und ∞; somit ist die Energie ebenfalls kontinuierlich. Weiterhin ist, wie wir wissen, die Anzahl von Molekülen im Intervall dE bei E durch Gleichung (8.14) gegeben: n (E) dE = Ag (E) e−E/kT dE = Ag (E) e−mv 2 /2kT dE . (8.22) Um die Zustandsdichte g (E) zu bestimmen, müssen wir den Begriff des Geschwindigkeitsraums einführen. Wir verstehen darunter den dreidimensionalen Raum, auf dem die Geschwindigkeitsverteilung F gemäß Gleichung (8.21) definiert ist. Der Geschwindigkeitsvektor jedes Moleküls soll mit seinem Anfangspunkt im Ursprung des Koordinatensystems vx , vy , vz liegen (Abb. 8.4). Die Pfeilspitze jedes Vektors endet an einem Punkt mit den Koordinaten vx , v y , vz 1/2 in diesem dreidimensionalen Raum, und die Länge jedes Vektors beträgt v2x + v2y + v2z , was dem Betrag der Geschwindigkeit entspricht. Von unseren N Molekülen ist die Anzahl der Moleküle, deren Vektoren im ,,Volumen“-Element der Geschwindigkeiten dvx dv y dvz en den, NF vx , v y , vz dvx dv y dvz 4 (siehe Abb. 8.4). Eine einfachere Darstellung sehen Sie in Abb. 8.5. Hier wird jede einzelne Molekülgeschwindigkeit mit den Komponenten vx , v y , vz durch einen Punkt repräsentiert, nämlich gerade den Endpunkt des Geschwindigkeitsvektors. Abb. 8.5 entnehmen wir, daß die Anzahl möglicher Zustände f (v) dv mit Geschwindigkeiten zwischen v und v + dv proportional zum Volumen der Kugelschale zwischen v und v + dv ist. 4 Einen alternativen Weg zur Ableitung der Verteilungsfunktion der Molekülgeschwindigkeiten kann man von diesem Punkt aus beschreiten, indem man davon ausgeht, daß NF gleich der Zustandsdichte im Geschwindigkeitsraum ist. 408 8 Statistische Physik vz dvx dvz dvy vy Abb. 8.4. Geschwindigkeitsvektoren im Geschwindigkeitsraum. Die Verteilungsfunktion der Geschwindigkeiten gibt den Anteil der Molekülgeschwindigkeiten an, deren Vektoren in einer Raumzelle des Volumens dvx dv y dvz enden. vx vy 2v0 v0 v0 = kT/m dv v v0 2v0 vx Abb. 8.5. Zweidimensionale Darstellung der Geschwindigkeitsverteilung im Geschwindigkeitsraum. Zu jeder Molekülgeschwindigkeit gehört ein Punkt im Geschwindigkeitsraum. Die Verteilungsfunktion der Geschwindigkeiten ist die Punktdichte in diesem Raum; sie erreicht im Ursprung ein Maximum. Die Verteilungsfunktion der Beträge der Geschwindigkeiten erhält man, indem man diese Dichte mit dem Volumen der Kugelschale 4πv2 dv multipliziert. (Abdruck des computergestützt erzeugten Bildes mit freundlicher Genehmigung von Paul Doherty, The Exploratorium.) Da das Volumen der Kugel (4/3) πv3 ist, beträgt das differentielle Volumen der Kugelschale 4πv2 dv. Somit erhalten wir f (v) dv = C4πv2 dv (8.23) mit C als Proportionalitätsfaktor. Jeder Wert von v gehört wegen E = 12 mv2 zu genau einem Wert der Energie, so daß die Dichte der Energiezustände g (E) dE gleich f (v) dv ist, und wir erhalten g (E) dE = 4πCv2 dv . (8.24) Einsetzen von Gleichung (8.24) in Gleichung (8.22) liefert n (E) dE = 4πA v2 e−mv 2 /2kT dv (8.25) 8.1 Klassische Statistik 409 mit A als einer weiteren Konstante. Da jeder Wert von v einem einzigen Wert von E entspricht, können wir schreiben5 n (v) dv = n (E) dE = 4πA v2 e−mv 2 /2kT dv . (8.26) Nun können wir A aus der Bedingung N= 0 ∞ n (v) dv = 4πA ∞ 0 v2 e−mv 2 /2kT dv . (8.27) erhalten. Die Auswertung des Integrals liefert A = N m 3/2 , 2πkT woraus sich durch Einsetzen in Gleichung (8.26) die berühmte Maxwell-Verteilung der Molekülgeschwindigkeiten ergibt: n (v) dv = 4πN m 3/2 2 v2 e−mv /2kT dv . 2πkT (8.28) Die Verteilung der Geschwindigkeiten ist graphisch in Abb. 8.6 gezeigt. Die wahrscheinlichste Geschwindigkeit vm , die mittlere Geschwindigkeit v und die Wurzel der quadratisch gemittelten Geschwindigkeit vrms sind in die Abbildung eingezeichnet. Obwohl die Verteilungsfunktion F der Geschwindigkeitsvektoren am Ursprung (v = 0) ein Maximum erreicht, geht die Verteilungsfunktion der Geschwindigkeitsbeträge n (v) für v → 0 gegen null, da letztere proportional zum Volumen der Kugelschale 4πv2 dv ist, die gegen null geht. Für sehr große Geschwindigkeiten wird die Verteilungsfunktion der Geschwindigkeiten wieder null wegen des exponentiellen 2 Faktors e−mv /2kT . n (v ) vm = 2kT /m 〈v 〉 = 8kT /πm v rms = 3kT /m vm v rms 〈v 〉 v Abb. 8.6. Maxwellsche Verteilungsfunktion der Geschwindigkeiten n (v). Die wahrscheinlichste Geschwindigkeit vm , die mittlere Geschwindigkeit v und die Wurzel der quadratisch gemittelten Geschwindigkeit vrms sind eingezeichnet. 5 Die Geschwindigkeitsverteilung n (v) und die Energieverteilung n (E) werden hier (wie im englischsprachigen Original) mit dem gleichen Symbol n bezeichnet, obwohl es sich um mathematisch verschiedene Funktionen handelt, m die durch die Substitution E = v2 , dE = mv dv in n (E) dE = n (v) dv auseinander hervorgehen. (Anm. von G. C.) 2 410 8 Statistische Physik Für die wahrscheinlichste Geschwindigkeit vm ist n (v) maximal. Es bleibt Ihnen als Übung überlassen, zu zeigen, daß dieser Wert 2kT 1/2 vm = (8.29) m ist. Die mittlere Geschwindigkeit v wird im folgenden Beispiel allgemein und für eine bestimmte Situation abgeleitet. Beispiel 8.3: Die durchschnittliche Geschwindigkeit von N2 -Molekülen Bestimmen Sie die Durchschnittsgeschwindigkeit v aus der Maxwell-Verteilung und berechnen Sie mit ihrer Hilfe den Durchschnittswert für die Geschwindigkeit von Stickstoffmolekülen bei T = 300 K. Lösung 1. Die mittlere Geschwindigkeit v wird durch Multiplikation der Geschwindigkeitsverteilung (Gl. (8.28)) mit v, Integration über alle möglichen Geschwindigkeiten und Division durch die Anzahl der Moleküle N erhalten: ∞ 1 ∞ 2 v = vn (v) dv = Av3 e−λv dv N 0 0 mit λ = m/2kT und A = 4π (m/2πkT )3/2 . 2. Wir schreiben dies in der Form mit I3 = ∞ 0 3 −λv2 v e v = AI3 dv. 3. Mit Hilfe von Tabelle B1.1 zur Berechnung von I3 erhalten wir v = Aλ−2 /2 4π m 3/2 2kT 2 = 2 2πkT m 1/2 8kT = . πm 0.002 (8.30) n (v ) ––– N O2 0.001 0 H2 0 1000 Molekülgeschwindigkeit v, m/s 2000 Abb. 8.7. Graph von n (v) /N als Funktion von v gemäß Gleichung (8.28) für O2 - und H2 -Moleküle bei T = 300 K. 8.1 Klassische Statistik 411 4. Die in Schritt 3 ermittelte mittlere Geschwindigkeit v können wir nun benutzen, um die durchschnittliche Geschwindigkeit von Stickstoffmolekülen bei T = 300 K zu berechnen. Einsetzen der Masse eines Stickstoffmoleküls in Gleichung (8.30) liefert 8 × 1,38 · 10−23 J/K × 300 K v = π × 4,68 · 10−26 kg = 475 m/s ≈ 1700 km/h . 1/2 Die mittlere Geschwindigkeit ist um etwa 8 Prozent geringer als vrms = (3kT/m)1/2 , wie aus Abb. 8.6 ersichtlich ist. Die quadratisch gemittelte Geschwindigkeit wurde mit Hilfe von Gleichung (8.12) berechnet und wird auch (mit derselben Methode wie in Beispiel 8.3) aus der Verteilung der Geschwindigkeit oder, wie wir noch sehen werden, aus dem Gleichverteilungssatz erhalten. Abb. 8.7, ein Diagramm zu Gleichung (8.28) für H2 - und O2 -Moleküle bei 300 K, veranschaulicht den Einfluß der Masse auf die Geschwindigkeitsverteilung. Die Geschwindigkeitsverteilung von Molekülen wurde 1926 von O. Stern erstmals direkt gemessen. Seit dieser Zeit nahmen Zartman und Ko (1930), I. Estermann, O. C. Simpson und O. Stern (1946) sowie Miller und Kusch (1955) derartige Messungen vor. Bei diesen Experimenten wurden mit verschiedenen Methoden aus Molekülen, die durch ein kleines Loch aus einem Ofen austraten, diejenigen in einem bestimmten Geschwindigkeitsbereich separiert und gezählt. Zartman und Ko ließen den Strahl beispielsweise durch einen Schlitz in einem rotierenden Zylinder Detektor Quelle (Ofen) φ ω Abb. 8.8. Schema des Apparates von Miller und Kusch zur Messung der Geschwindigkeitsverteilung von Molekülen. Nur einer der 720 spiralförmigen Schlitze ist abgebildet. Für eine gegebene Winkelgeschwindigkeit ω können nur Moleküle einer bestimmten Geschwindigkeit vom Ofen aus durch die spiralförmigen Schlitze zum Detektor gelangen. Der gerade Schlitz dient zur Justierung der Versuchsanordnung. 412 8 Statistische Physik 20 Durchlauf 99 Durchlauf 97 Intensität 15 10 5 0 0.2 0.6 1.0 1.4 Reduzierte Geschwindigkeit, v /vm 1.8 Abb. 8.9. Daten von Miller und Kusch zur Verteilung der Geschwindigkeit von Thalliumatomen, die einem Ofen mit T = 870 K entweichen. Die Werte sind so korrigiert, daß sie Geschwindigkeitsverteilung innerhalb des Ofens wiedergeben, da im Mittel mehr schnelle Moleküle den Schlitz verlassen, wodurch die Verteilung etwas verzerrt wird. Der gemessene Wert für vm bei 870 K beträgt 376 m/s. Die durchgezogene Linie wird von der Maxwell-Verteilung vorhergesagt. (Aus R. C. Miller und P. Kusch, Physical Review 99, 1314 (1955).) treten und maßen die Intensität in Abhängigkeit von der Position auf der Kollektorplatte. In einem neueren Experiment von Miller und Kusch (Abb. 8.8) wird ein kollimierter Strahl auf einen feststehenden Detektor gerichtet. Der größte Teil des Strahls wird von einem rotierenden Zylinder abgefangen. Kleine spiralförmige Schlitze in diesem Zylinder lassen nur Moleküle in einem schmalen Bereich von Geschwindigkeiten passieren, der durch die Winkelgeschwindigkeit des Zylinders bestimmt wird. Die Ergebnisse von Miller und Kusch sind in Abb. 8.9 zu sehen. Die Maxwell-Verteilung ist genauestens überprüft worden, so daß kein Anreiz für weitere Messungen besteht. Die Technik von Miller und Kusch ist jedoch auf jede Art molekularer Geschwindigkeitsverteilungen anwendbar und wird in modifizierter Form benutzt, um die Geschwindigkeiten von Molekularstrahlen beispielsweise in Düsentriebwerken zu messen. Die Maxwell-Verteilung der kinetischen Energie Aus Gleichung (8.22) kann man überdies die Verteilung der molekularen kinetischen Energien und die durchschnittliche Energie eines Moleküls bestimmen. Wegen E = 12 mv2 , v2 = 2E/m und dv = (2m E)−1/2 dE können wir Gleichung (8.24) in folgender Form schreiben: 2E (8.31) g (E) dE = 4πC (2m E)−1/2 dE . m Dies in Gleichung (8.22) eingesetzt, ergibt n (E) dE = 4πA 2 m3 1/2 E 1/2 e−E/kT dE , (8.32) 8.1 Klassische Statistik 413 wobei A wiederum durch die Bedingung N= ∞ 0 n (E) dE = 4πA 2 m3 1/2 0 ∞ E 1/2 e−E/kT dE (8.33) festgelegt Das Integral in Gleichung (8.33) finden Sie nicht in der Tabelle B1.1.6 Es hat die ∞ ist. n −ax Form 0 x e dx und ist durch die Gamma-Funktion Γ 0 ∞ x n e−ax dx = gegeben mit Γ (n + 1) = nΓ (n) und Γ wir für A wieder 1 2 A = N Γ (n + 1) n! = n+1 n+1 a a (8.34) = (π)1/2 . Mit Hilfe von Gleichung (8.34) erhalten m 3/2 , 2πkT weshalb wir die Maxwell-Verteilung der kinetischen Energie in folgender Form aufschreiben können: n (E) dE = 2πN E 1/2 e−E/kT dE . (πkT )3/2 (8.35) n (E ) Die Verteilung der kinetischen Energie ist in Abb. 8.10 skizziert. Die durchschnittliche kinetische Energie wird in derselben Weise wie die durchschnittliche Geschwindigkeit berechnet; die Verteilung wird mit E (der zu mittelnden Größe) multipliziert, das Ergebnis über alle Werte von E integriert (von 0 bis ∞) und durch die Anzahl der Moleküle N dividiert: 3 〈E 〉 = –– kT 2 0 2kT kT 3kT E Abb. 8.10. Maxwell-Verteilung der kinetischen Energien für die Moleküle eines idealen Gases. Die mittlere Energie E = 3kT/2 ist eingezeichnet. m 2 v geht das Integral in Gleichung (8.33) in dasjenige in Gleichung (8.27) über, so 2 daß die Rückführung auf ein Integral aus Tabelle B1.1 doch gelingt. Es ist dann auch klar, daß es sich hier um dasselbe A handelt wie in Gleichung (8.27). (Anm. von G. C.) 6 Durch die Substitution E = 414 8 Statistische Physik 1 E = N 0 ∞ 2π En (E) dE = (πkT )3/2 ∞ 0 E 3/2 e−E/kT dE . (8.36) Berechnen wir das Integral mit Hilfe von Gleichung (8.34)7 , so sehen wir schließlich, daß E = 3 kT 2 (8.37) ist. Beispiel 8.4: H2 entweicht aus der Erdatmosphäre Eine von Astrophysikern verwendete Faustregel ist, daß ein Gas aus einer Planetenatmosphäre in 108 Jahren entweicht, wenn die Durchschnittsgeschwindigkeit seiner Moleküle ein Sechstel der Fluchtgeschwindigkeit beträgt. Berechnen Sie die Durchschnittsgeschwindigkeit aus der mittleren kinetischen Energie und zeigen Sie, daß sich aus der Abwesenheit von Wasserstoff in der Erdatmosphäre schließen läßt, daß die Erde älter als 108 Jahre ist. (Die Masse von H2 beträgt 3,34 · 10−27 kg.) Lösung Die Fluchtgeschwindigkeit am unteren Ende der Atmosphäre, also an der Erdoberfläche, beträgt 11,2 km/s, und ein Sechstel dieses Wertes ist 1,86 km/s. Wenn wir T = 300 K annehmen, beträgt die mittlere Energie eines Wasserstoffmoleküls (oder jedes anderen Moleküls, da E unabhängig von der Masse ist) E = 3 × 1,38 · 10−23 × 300 3 kT = = 6,21 · 10−21 J . 2 2 Damit ist 1 2 mv = 6,21 · 10−21 J 2 oder für Wasserstoffmoleküle v2 = und 2 × 6,21 · 10−21 2 −2 m s = 3,72 · 106 m2 s−2 . 3,34 · 10−27 v = 1,93 km/s . Da v > (1/6) vflucht = 1,86 km/s ist, kann man aus der Abwesenheit von Wasserstoff in der Atmosphäre schließen, daß die Erde älter als 108 Jahre ist. Aufgabe 8.1: H2 -Moleküle können dem Gravitationsfeld der Erde so leicht entweichen, daß in der Erdatmosphäre kein Wasserstoff mehr vorkommt (siehe Beispiel 8.4). Die Durchschnittsgeschwindigkeit der Wasserstoffmoleküle ist bei gewöhnlichen atmosphärischen Temperaturen aber viel kleiner als die Fluchtgeschwindigkeit. Wie können dann alle Moleküle entweichen? Aufgabe 8.2: Warum erwarten Sie nicht, daß alle Moleküle in einem Gas dieselbe Geschwindigkeit besitzen? 7 Sie können auch ein Tabellenwerk zu Rate ziehen. 8.1 Klassische Statistik 415 Die Wärmekapazität von Gasen und Festkörpern Die zweitwichtigste Eigenschaft klassischer Systeme, die sich aus der Boltzmann-Verteilung ableiten läßt, betrifft sowohl Gase als auch Festkörper. Der sogenannte Gleichverteilungssatz besagt: Im Gleichgewicht trägt jeder Freiheitsgrad 12 kT zur mittleren Energie der Moleküle bei. Ein Freiheitsgrad ist eine Koordinate oder Geschwindigkeitskomponente, die in quadrierter Form im Ausdruck für die Gesamtenergie eines Moleküls vorkommt. Beispielsweise hat der eindimensionale Oszillator zwei Freiheitsgrade, x und vx ; ein Atom in einem Gas besitzt die drei Freiheitsgrade vx , v y und vz . Mehr im Web Daß jeder Freiheitsgrad in einem klassischen Stoff dieselbe mittlere Energie pro Molekül beiträgt, ist überhaupt nicht selbstverständlich. Sie finden eine Herleitung des Gleichverteilungssatzes (A Derivation of the Equipartition Theorem) für den Spezialfall des harmonischen Oszillators auf der Homepage (www.whfreeman.com/physics). Sie soll veranschaulichen, wie das allgemeine Ergebnis zustande kommt. Dort finden sich auch die Gleichungen (8.38) bis (8.46). CV von Gasen Die Leistungsfähigkeit des Gleichverteilungssatzes besteht in der genauen Vorhersage der Wärmekapazitäten von Gasen und Festkörpern. Gleichzeitig offenbaren sich hier aber auch die dramatischsten Schwächen des Satzes. Betrachten wir beispielsweise ein Hantelmodell für ein zweiatomiges Molekül (Abb. 8.11a), das sich in den Richtungen x, y und z fortbewegen sowie um die Achsen x und y um den Massenmittelpunkt senkrecht zur z -Achse (Verbindungslinie zwischen beiden Atomen) rotieren kann.8 Die Energie für dieses starre Modell ist dann E= 1 1 2 1 2 1 2 1 mvx + mv y + mvz + Ix ω2x + I y ω2y , 2 2 2 2 2 wobei Ix und I y die Trägheitsmomente bezüglich der Achsen x und y sind. Da dieses Molekül fünf Freiheitsgrade besitzt, drei für die Translation und zwei für die Rotation, sagt der Tabelle 8.1. C V in cal/(mol · K) bei 15 ◦ C und 1 atm für einige Gase, R = 1,987 cal/ (mol · K) Gas Ar He CO H2 HCl N2 NO O2 CV 2,98 2,98 4,94 4,87 5,11 4,93 5,00 5,04 C V /R 1,50 1,50 2,49 2,45 2,57 2,49 2,51 2,54 (Aus: J. R. Partington und W. G. Shilling, The Specific London 1924.) Cl2 CO2 CS2 H2 S 5,93 6,75 9,77 6,08 2,98 3,40 4,92 3,06 Heats of Gases, Ernest N2 O SO2 6,81 7,49 3,42 3,76 Benn, Ltd., 8 Die Rotation um die z -Achse wurde früher aus unterschiedlichen Gründen ausgeklammert. Entweder nahm man die Atome als punktförmig an, deren Trägheitsmoment um die z -Achse folglich null sein sollte (stimmt nicht), oder man faßte sie als harte Kugeln auf, deren Rotation um die z -Achse durch Zusammenstöße nicht beeinflußt werden kann und folglich nicht am Energieaustausch zwischen den Molekülen teilnimmt (stimmt ebenfalls nicht). Beide Annahmen schließen auch die Rotation einatomiger Moleküle als Freiheitsgrad aus. 416 (a) 8 Statistische Physik y (b) z´ y´ x´ CM x x z y z Abb. 8.11. (a) Starres Hantel-Modell eines zweiatomigen Gasmoleküls, das sich entlang der Achsen x, y und z fortbewegen und um die x - und die y -Achse, deren Ursprünge im Schwerpunkt liegen, rotieren kann. Wenn die Kugeln glatt oder punktförmig sind, kann die Rotation um die z -Achse vernachlässigt werden. (b) Nichtstarres Hantelmodell eines zweiatomigen Gases, das sich fortbewegen, rotieren und schwingen kann. Gleichverteilungssatz eine mittlere Energie von 52 kT pro Molekül voraus. Die Energie U pro Mol ist damit 52 N A kT = 52 RT (N A = 6,02 · 10−23 ist die Avogadro-Konstante) und die molare Wärmekapazität bei konstantem Volumen C V = (∂U/∂T )V ist gleich 52 R. Die Beobachtung, daß C V sowohl für Stickstoff als auch für Sauerstoff etwa 52 R ist, veranlaßte Clausius um 1880 zu der Vermutung, daß diese Gase zweiatomig sind und sich neben der Translationsbewegung noch um zwei Achsen drehen können (siehe Tabelle 8.1). Wenn ein zweiatomiges Molekül nicht starr ist, können die Atome auch entlang ihrer Verbindungslinie schwingen (Abb. 8.11b). Zur kinetischen Energie der Translation des Schwerpunkts und der Rotationsenergie kommt dann noch die Schwingungsenergie hinzu. Die Schwingung, eine einfache harmonische Bewegung, liefert zwei weitere quadratische Energieterme, einen für die potentielle Energie und einen für die kinetische Energie. Für ein zweiatomiges Molekül, das sich fortbewegt, rotiert und schwingt, sagt der Gleichverteilungssatz eine Wärmekapazität von (3 + 2 + 2) 12 R oder 72 R voraus. In den für zweiatomige Moleküle gemessenen Werten von C V (siehe Tabelle 8.1) tauchen demgegenüber keine Beiträge der Schwingungsfreiheitsgrade auf. Der Gleichverteilungssatz kann das Fehlen dieser Terme nicht erklären. Für mehrere zweiatomige Gase sind in Tabelle 8.1 experimentelle Werte für C V angegeben. Für alle diese Gase außer Cl2 sind die Daten mit dem Gleichverteilungssatz konsistent, wenn man ein starres nichtschwingendes Molekül annimmt. Der Wert für Cl2 liegt etwa auf halbem Wege zwischen dem für ein starres Molekül und dem für ein schwingendes Molekül. Die Situation für Moleküle mit drei oder mehr Atomen, von denen einige auch in Tabelle 8.1 erfaßt sind, ist noch komplizierter, weshalb wir nicht im Detail darauf eingehen wollen. Der Gleichverteilungssatz in Verbindung mit dem starren Hantelmodell punktförmiger Atome erwies sich bei der Vorhersage der molaren Wärmekapazität der meisten zweiatomigen Moleküle als so erfolgreich, daß zunächst niemand verstand, warum er nicht für alle Gase zutreffende Werte lieferte. Warum sollten einige zweiatomige Gase schwingen und andere nicht? Da Atome nicht punktförmig sind, ist das Trägheitsmoment entlang der Verbindungslinie der Atome zwar klein, aber nicht null, und es gibt drei Terme für die Schwingungsenergie statt zweier. Ohne die Schwingung sollte C V damit 62 R sein. Dies stimmt mit dem für Cl2 gemessenen Wert überein, aber nicht mit den Werten für die anderen zweiatomigen Gase. Des weiteren sollten einatomige 8.1 Klassische Statistik 417 Cv 7 –– R 2 Schwingung 5 –– R 2 Rotation 3 –– R 2 Translation 1 –– R 2 25 50 100 250 500 1000 2500 5000 T, K Abb. 8.12. Temperaturabhängigkeit der molaren Wärmekapazität von H2 . Zwischen etwa 250 und 1000 K ist C V = 52 R (entsprechend dem starren Hantelmodell). Bei niedrigen Temperaturen ist C V = 32 R (entsprechend einem nicht rotierenden Molekül). Bei hohen Temperaturen scheint sich C V an 72 R (entsprechend einem rotierenden und schwingenden Hantelmodell) anzunähern, dissoziiert jedoch, bevor dieses Plateau erreicht wird. Moleküle drei Terme für die Rotationsenergie besitzen, wenn die Atome nicht punktförmig sind, und C V sollte auch hier 62 R betragen anstelle der beobachteten 32 R. Da die mittlere Energie durch Zählen der einzelnen Beiträge berechnet wird, sollte die Größe der Atome keine Rolle spielen, solange es sich nicht um wirkliche Punkte handelt. Zusätzlich zu diesen Problemen fand man heraus, daß die molare Wärmekapazität von der Temperatur abhängt – wieder ein Fakt, den der Gleichverteilungssatz nicht erklären kann. Am spektakulärsten ist sicher der Fall des Wasserstoffmoleküls H2 (Abb. 8.12): Dieses scheint sich bei sehr niedrigen Temperaturen, unter 60 K, wie ein einatomiges Molekül zu verhalten und nicht zu rotieren. Offensichtlich findet bei dieser Temperatur ein Übergang statt; zwischen 250 K und 1000 K verhält sich H2 mit C V = 52 R wie ein rotierendes starres Hantelmodell. Bei sehr hohen Temperaturen beginnt das Molekül zu schwingen, es dissoziiert jedoch, bevor C V den Wert 72 R erreicht. Andere zweiatomige Gase verhalten sich ähnlich, werden aber bei niedrigen Temperaturen flüssig, bevor C V bei 32 R angelangt ist. Das Unvermögen des Gleichverteilungssatzes, eine Erklärung für dieses Verhalten zu liefern, ist dadurch begründet, daß die klassische Mechanik prinzipiell nicht auf Atome und Moleküle angewendet werden kann, sondern durch die Quantenmechanik abgelöst werden muß. CV von Festkörpern Der Gleichverteilungssatz hilft auch, die Wärmekapazität von Festkörpern zu bestimmen. Im Jahre 1819 erkannten Dulong und Petit, daß die molare Wärmekapazität der meisten Festkörper ziemlich genau 6 cal/K · mol ≈ 3R beträgt. Mit Hilfe dieses Ergebnisses berechneten sie bislang unbekannte Molekülmassen aus der experimentell bestimmten Wärmekapazität. Die Dulong-Petitsche Regel kann man leicht aus dem Gleichverteilungssatz ableiten, indem man annimmt, daß die innere Energie eines Festkörpers vollständig aus der Schwingungsenergie der Moleküle besteht (siehe Abb. 8.13). Wenn die Kraftkonstanten in den Richtungen x, y und z mit κ1 , κ2 und κ3 bezeichnet werden, beträgt die Schwingungsenergie jedes Moleküls E= 1 2 1 2 1 2 1 1 1 mv + mv + mv + κ1 x 2 + κ2 y2 + κ3 z 2 . 2 x 2 y 2 z 2 2 2 418 8 Statistische Physik Abb. 8.13. Einfaches Modell eines Festkörpers, dessen Atome durch Spiralfedern miteinander verbunden sind. Die innere Energie des Festkörpers besteht dann aus kinetischer und potentieller Schwingungsenergie. Da hier sechs quadratische Terme vorkommen, ist die durchschnittliche Energie pro Molekül gleich 6 12 kT , und die Gesamtenergie eines Mols ist 3N A kT = 3RT , woraus sich C V = 3R ergibt. Bei hohen Temperaturen verhalten sich alle Festkörper gemäß der Dulong-Petitschen Regel. Unterhalb einer kritischen Temperatur fällt C V beträchtlich unter den Wert 3R ab und nähert sich null, wenn die Temperatur gegen null geht. Die kritische Temperatur ist für den jeweiligen Festkörper charakteristisch. Sie ist niedriger für weiche Festkörper wie Blei als für harte Körper wie Diamant. Die Temperaturabhängigkeit von C V ist in Abb. 8.14 gezeigt. Daß der Wert von C V für Metalle sich nicht deutlich von dem für Isolatoren unterscheidet, verwirrt uns zunächst. Das klassische Modell eines Metalls erwies sich als einigermaßen erfolgreich bei der Beschreibung der Leitung des elektrischen Stroms und der Wärme. Dabei wird angenommen, daß sich etwa ein Elektron pro Atom frei durch den Festkörper bewegen kann, wobei die Elektronen mit den Atomen zusammenstoßen wie die Moleküle in einem Gas. Nach dem Gleichverteilungssatz sollte dieses ,,Elektronengas“ eine durchschnittliche kinetische Energie von 32 kT pro Elektron aufweisen; somit sollte die molare Wärmekapazität eines Leiters Cv , kcal/kmol · K 7 6 Blei Aluminium Silicium 5 Kohlenstoff (Diamant) 4 3 2 1 0 200 400 600 800 1000 1200 Absolute Temperatur, K Abb. 8.14. Temperaturabhängigkeit der molaren Wärmekapazität verschiedener Festkörper. Bei hohen Temperaturen ist C V = 3R, wie vom Gleichverteilungssatz vorausgesagt wird. Bei niedrigen Temperaturen nähert sich C V jedoch null. Die kritische Temperatur, von der an C V deutlich von 3R abzuweichen beginnt, variiert von Festkörper zu Festkörper. 8.2 Quantenstatistik 419 um etwa 32 kT größer als die eines Isolators sein. Obwohl die molare Wärmekapazität von Metallen bei Raumtemperatur etwas größer als 3R ist, ist der Unterschied wesentlich kleiner als die 32 R, die eigentlich vom Elektronengas beigesteuert werden sollten. Die Boltzmann-Verteilung und die statistische Mechanik waren enorm erfolgreich bei der Vorhersage der beobachteten thermischen Eigenschaften physikalischer Systeme; das Unvermögen der Theorie, die Wärmekapazitäten von Gasen und Festkörpern korrekt vorherzusagen, war ein ernstes Problem für die klassische Physik, deren Ursache schließlich im Versagen der klassischen Mechanik selbst gefunden wurde. Der Versuch, eine Erklärung der Wärmekapazitäten zu finden, begünstigte im zwanzigsten Jahrhundert die Entdeckung der Energiequantelung. Die folgenden Abschnitte zeigen, wie die Quantenmechanik die Grundlage für das vollständige Verständnis dieses Problems liefert. Beispiel 8.5: Die Verbreiterung von Spektrallinien In Kapitel 3 haben wir gelernt, daß die von Atomen emittierten Spektrallinien wegen der Unschärferelation eine bestimmte natürliche Breite besitzen. In leuchtenden Gasen, etwa in Natrium- oder Quecksilberdampflampen oder an der sichtbaren Sonnenoberfläche, bewegen sich die Atome jedoch gemäß der Maxwellschen Geschwindigkeitsverteilung. Dabei tritt ein Doppler-Effekt auf; Rayleigh zeigte, daß dieser proportional zum Boltzmann-Faktor ist und zu einer Verbreiterung ∆ der Spektrallinie führt: (8.47) ∆ = 0,72 · 10−6 λ T/M (λ ist die Wellenlänge der Linie, T die absolute Temperatur und M die molare Masse). Berechnen Sie hieraus die Doppler-Verbreiterung der Hα -Linie, die von den Wasserstoffatomen an der Sonnenoberfläche bei T = 5800 K emittiert wird. Lösung Die Wellenlänge der Hα -Linie beträgt 656,3 nm und die relative Atommasse von H ist 1, damit ist ∆ = 0,72 · 10−6 × 656,3 × 5800/1 µm = 0,036 nm . Zum Vergleich: Die natürliche Linienbreite der Hα -Linie beträgt etwa 0,0005 nm. Beachten Sie auch, daß der Druck in einem Gas ebenfalls eine wichtige Rolle spielt: Er führt zur sogenannten Stoßverbreiterung der Linien infolge von Zusammenstößen der Gasteilchen. Bei hohen Drücken dominiert dieser Effekt. Aus diesem Grund ist das sichtbare Spektrum der Sonne kontinuierlich. 8.2 Quantenstatistik Die Bose-Einstein- und die Fermi-Dirac-Verteilung In Abschn. 8.1 diskutierten wir klassische Systeme aus identischen, aber unterscheidbaren Teilchen. Diese behandelten wir wie Billardkugeln, welche absolut identisch, aber mit Zahlen beschriftet sind (siehe dazu auch die erste Annahme in der Abhandlung zur kinetischen Gastheorie 420 Teilchen 1 Teilchen 1 8 Statistische Physik Teilchen 2 Teilchen 2 Teilchen 2 Teilchen 2 Teilchen 1 Teilchen 1 Abb. 8.15. Die Wellennatur quantenmechanischer Teilchen hindert uns daran, zu bestimmen, welches der vier gezeigten Ereignisse wirklich stattfindet, wenn die beiden identischen ununterscheidbaren Teilchen einander bis auf eine deBroglie-Wellenlänge nahekommen. auf der Homepage). Jedoch verhindert die Wellennatur der Teilchen in der Quantenmechanik, daß man identische Teilchen voneinander unterscheiden kann: Die endliche Ausdehnung und die Überlagerung der Wellenfunktionen machen identische Teilchen ununterscheidbar. Wenn zwei identische Teilchen 1 und 2 einander bis auf eine de-Broglie-Wellenlänge nahekommen, kann man nicht sagen, welches der anschließend entweichenden Teilchen 1 ist und welches 2 – wir können also nicht zwischen den verschiedenen möglichen Varianten des Ereignisses in Abb. 8.15 unterscheiden. Die Behandlung klassischer Teilchen, die zur Boltzmann-Verteilung führt, kann man auf Systeme erweitern, die eine große Anzahl identischer, ununterscheidbarer Teilchen enthalten (siehe Anhang B3). Erstmals setzte dies 1924 Bose9 um, nachdem er erkannt hatte, daß die Boltzmann-Verteilung das Verhalten der Photonen nicht adäquat beschreiben kann. Er beschrieb Teilchen mit dem Spin null oder ganzzahligen Spins – also solche Teilchen, die nicht dem Ausschlußprinzip unterliegen wie Heliumatome (Spin 0) und Photonen (Spin 1). Boses neue statistische Verteilung für Photonen wurde bald darauf von Einstein auf Teilchen mit einer Ruhemasse verallgemeinert. Die resultierende Bose-Einstein-Verteilung f BE (E) ist gegeben durch f BE (E) = 1 eα e E/kT −1 , (8.48) wobei eα eine systemabhängige Normierungskonstante ist. Teilchen, deren statistische Verteilung Gleichung (8.48) entspricht, werden Bosonen genannt. Nach der Entdeckung des Elektronenspins und der Entwicklung der relativistischen Wellenmechanik für Teilchen mit dem Spin 12 durch Dirac vollendeten Fermi10 und Dirac11 die statistische Mechanik für quantenmechanische Teilchen durch die Ableitung der Wahrscheinlichkeitsverteilung für große Ensembles identischer, ununterscheidbarer Teilchen, die dem Ausschlußprinzip 9 Satyendra Nath Bose (1894–1974), indischer Physiker. Nach der Veröffentlichung seiner Arbeit über die Statistik ununterscheidbarer Teilchen, die von Einstein selbst ins Deutsche übersetzt wurde, verbrachte Bose zwei Jahre in Europa. Dann kehrte er nach Indien zurück, um sich der Lehre zu widmen. Da er nicht promoviert war, verwehrte man ihm die Berufung zum Professor, bis Einstein eine Postkarte mit einem Satz zu seiner Unterstützung nach Dacca sandte. 10 Enrico Fermi (1901–1954), italo-amerikanischer Physiker. Der außerordentlich produktive Wissenschaftler und couragierte Tennisamateur, dessen Arbeit Gebiete der Festkörper-, Kern- und Teilchenphysik umfaßte, ist wahrscheinlich am besten als ,,Vater“ des Kernreaktors bekannt. Er erhielt 1938 den Nobelpreis für Physik für seine Leistungen in der Kernphysik. 11 Paul A. M. Dirac (1902–1984), englischer Physiker. Seine relativistische Wellenmechanik für Teilchen mit dem Spin 12 führte ihn 1930 zur Vorhersage der Existenz des Positrons. Nach der tatsächlichen Entdeckung dieses Teilchens durch Anderson zwei Jahre später erhielt Dirac (zusammen mit Schrödinger) im Jahre 1933 den Nobelpreis für Physik. Von 1932 bis zu seiner Emeritierung hatte er den Lucas-Lehrstuhl für Mathematik inne, der 250 Jahre früher von Newton besetzt wurde. 8.2 Quantenstatistik 421 Enrico Fermi auf einem Picknick in Michigan im Jahre 1935. Das Pflaster auf der Stirn bedeckt eine Verletzung, die er sich beim Tennisspielen versehentlich selbst mit dem Schläger zugefügt hatte. genügen. Die nach ihnen benannte Fermi-Dirac-Verteilung f FD (E) ist gegeben durch f FD (E) = 1 , eα e E/kT + 1 (8.49) wobei eα wieder eine systemabhängige Normierungskonstante ist. Teilchen, deren statistische Verteilung Gleichung (8.49) entspricht, werden Fermionen oder Fermi-Dirac-Teilchen genannt. Ein Vergleich der Verteilungsfunktionen Wir können die Boltzmann-Verteilung (Gl. (8.13)) in der Form f B (E) = 1 eα e E/kT (8.50) schreiben, wobei der Normierungsfaktor A in Gleichung (8.13) durch e−α ersetzt wurde. Dabei überrascht die augenfällige Ähnlichkeit zwischen den Gleichungen (8.48), (8.49) und (8.50): Die Fermi-Dirac- und die Bose-Einstein-Verteilung unterscheiden sich von der Boltzmann-Verteilung lediglich durch das Auftreten von ±1 im Nenner. Unmittelbar erhebt sich die Frage nach der ∞ Signifikanz dieser scheinbar ∞ kleinen Abweichung. Insbesondere weil Integrale der Form 0 F (E) f BE (E) dE und 0 F (E) f FD (E) dE nur numerisch gelöst werden können, wäre es gut zu wissen, ob und unter welchen Bedingungen die Boltzmann-Verteilung für ununterscheidbare quantenmechanische Teilchen verwendet werden kann. Als erstes wollen wir die physikalische Bedeutung des Unterschiedes zwischen den Verteilungen untersuchen. Wir betrachten zwei Teilchen 1 und 2, von denen sich das erste im Zustand n und das zweite im Zustand m befindet. Wie wir in Abschn. 6.7 behandelt haben, gibt es zwei 422 8 Statistische Physik mögliche Einteilchen-Produktlösungen der Schrödinger-Gleichung: ψnm (1, 2) = ψn (1) ψm (2) (8.51a) ψnm (2, 1) = ψn (2) ψm (1) (8.51b) Die Zahlen 1 und 2 entsprechen den Ortskoordinaten der beiden Teilchen. Wenn die beiden Teilchen voneinander unterscheidbar, also klassisch zu beschreiben sind, können wir den Unterschied zwischen den Zuständen, die durch die Gleichungen (8.51a) und (8.51b) gegeben sind, angeben. Wie wir aber bereits wissen, müssen die Lösungen für ununterscheidbare Teilchen symmetrische oder antisymmetrische Linearkombinationen sein (siehe Abschn. 6.7): 1 ψS = √ [ψn (1) ψm (2) + ψn (2) ψm (1)] 2 (8.52a) 1 ψA = √ [ψn (1) ψm (2) − ψn (2) ψm (1)] 2 (8.52b) √ Der Faktor 1/ 2 ist die Normierungskonstante. Bekanntlich beschreibt die antisymmetrische Funktion ψA Teilchen, die dem Ausschlußprinzip unterworfen sind, also Fermionen. Die symmetrische Funktion ψS hingegen beschreibt ununterscheidbare Teilchen, die dem Ausschlußprinzip nicht unterworfen sind, also Bosonen. Ist m = n, so ist das einfache Produkt der Wellenfunktionen bereits symmetrisch. Bei einem System mit zwei verschiedenen Zuständen gibt es also genau drei Möglichkeiten, zwei ununterscheidbare Bosonen zu verteilen: 1. Beide Teilchen befinden sich im Zustand m. 2. Beide Teilchen befinden sich im Zustand n. 3. Beide Teilchen sind in beiden Zuständen zu finden. Klassisch gesehen besetzen die Teilchen bei zwei von vier Möglichkeiten gemischte Zustände; bei Bosonen hingegen existieren nur drei Möglichkeiten, von denen nur einer ein gemischter Zustand ist. Setzt man (probehalber) eine gleichmäßige Besetzung aller möglichen Zustände an, so stellt sich heraus, daß die Bosonen im Vergleich zu klassischen Teilchen die Besetzung eines einzelnen Zustands bevorzugen. Gibt es nicht nur zwei, sondern sehr viele Zustände (zum Beispiel ein Zustandskontinuum wie beim Impuls eines freien Teilchens), so findet man die Bosonen doppelt so häufig im gleichen Zustand, wie es der klassischen Erwartung entspricht. Diesen überraschenden statistischen Effekt für große Ensembles von Bosonen kann man qualitativ wie folgt formulieren: Die Anwesenheit eines Bosons in einem bestimmten quantenmechanischen Zustand erhöht (im Vergleich zu unterscheidbaren Teilchen) die Wahrscheinlichkeit, daß derselbe Zustand von einem weiteren identischen Boson besetzt wird. 8.2 Quantenstatistik 423 Es scheint, als ob ein Boson andere identische Bosonen ,,anzieht“. Der Faktor −1 im Nenner von Gleichung (8.48) erhöht also die Wahrscheinlichkeit, mehrere Bosonen in einem gegebenen Zustand anzutreffen, verglichen mit der Wahrscheinlichkeit für klassische Teilchen unter denselben Umständen. Der Laser ist das bekannteste Beispiel dieses Phänomens (siehe Kapitel 9). Eine andere Folge dieses beeindruckenden Verhaltens werden wir in Abschn. 8.3 betrachten. Sind die beiden ununterscheidbaren Teilchen Fermionen, ist die Wellenfunktion für den Fall, daß die beiden Teilchen denselben Zustand besetzen (siehe Abschn. 6.7) 1 ψFD = √ [ψn (1) ψn (2) − ψn (2) ψn (1)] = 0 . 2 (8.53) ∗ ψFD = 0. Dieser Befund läßt sich auf ein großes Die Wahrscheinlichkeitsdichte ist ebenfalls ψFD Ensemble von Fermionen folgendermaßen verallgemeinern: Die Anwesenheit eines Fermions in einem bestimmten Quantenzustand verhindert, daß andere identische Fermionen diesen Zustand besetzen. Es scheint so, als ob identische Fermionen einander abstoßen. Die +1 im Nenner der Gleichung folgt damit aus dem Ausschlußprinzip. Wir werden die Konsequenzen dieses besonderen Verhaltens von Fermionen in Kapitel 10 ausführlicher diskutieren. Abb. 8.16 vergleicht Verteilungen von Bosonen und Fermionen für Systeme mit jeweils sechs Teilchen. Ausgehend von diesen Überlegungen wollen wir nun die drei Verteilungsfunktionen vergleichen. Abb. 8.17 stellt die drei Verteilungen für α = 0 in einem Energiebereich von null bis 5kT nebeneinander. Beachten Sie, daß die f BE -Kurve für Bosonen bei einer gegebenen Energie oberhalb derer von f B für klassische Teilchen liegt; dies ist ein Ausdruck der erhöhten Wahrscheinlichkeit für die Besetzung gleicher Zustände. Analog liegt die f FD -Kurve für Fermionen unterhalb derer von f BE und f B , was als Konsequenz des Ausschlusses identischer Fermionen aus bereits besetzten Zuständen zu betrachten ist. Für eα e E/kT gehen die Gleichungen (8.49) und (8.50) in die Boltzmann-Verteilung über, und es ist f BE (E) ≈ f B (E) 1 und f FD (E) ≈ f B (E) 1. Damit nähern sich f BE (E) und f FD (E) der klassischen Boltzmann-Verteilung, wenn die Wahrscheinlichkeit, daß ein Teilchen den Zustand mit der Energie E besetzt, klein gegen 1 ist. 3 nB (E ) nF (E ) n (E ) 2 1 0 2∆E 4∆E E 6∆E 8∆E Abb. 8.16. n (E) in Abhängigkeit von E für ein System von sechs identischen, ununterscheidbaren Teilchen. n B (E) gilt für Teilchen mit geradzahligem Spin oder einem Spin von null (Bosonen). n F (E) gilt für Teilchen mit halbzahligem Spin (Fermionen). Vergleiche Abb. 8.2. 424 8 Statistische Physik 1.0 • f (E ) Bose-Einstein fBE Boltzmann fB 0.5 Fermi-Dirac fFD 0 kT 2kT 3kT 4kT 5kT E Abb. 8.17. Diagramm der Verteilungen f B , f BE und f FD in Abhängigkeit von der Energie für den Wert α = 0. f BE liegt oberhalb von f B , welche ihrerseits oberhalb von f FD liegt. Alle drei Verteilungen sind ungefähr gleich für Energien größer als etwa 5kT . Dasselbe ist ebenfalls eindeutig der Fall, wenn für ein gegebenes α gilt E kT , wie Abb. 8.17 veranschaulicht. Zu Beginn dieses Abschnitts bemerkten wir, daß identische Quantenteilchen bei Überlappung ihrer de-Broglie-Wellen nicht mehr voneinander unterschieden werden können. Dies führt uns zu einer anderen Methode, um zu bestimmen, wann ein System mit der Boltzmann-Verteilung beschrieben werden kann. Wie sich zeigen läßt, ist dieser Ansatz der oben erwähnten Bedingung f B (E) 1 gleichwertig, läßt sich aber manchmal leichter anwenden. Ist die de-BroglieWellenlänge klein gegen die mittlere Entfernung d der Teilchen, können wir die Überlappung der de-Broglie-Wellen vernachlässigen und die Teilchen als unterscheidbar behandeln: λ d (8.54) mit λ= h h h h =√ =√ =√ . p 2m (3kT/2) 2m E k 3mkT (8.55) Der mittlere Abstand der Teilchen ist d = (V/N)1/3 , wobei N/V die Anzahl der Teilchen pro Volumeneinheit ist. Hiermit wird aus der Bedingung von Gleichung (8.54) 1/3 h V , √ N 3mkT was wir umformen können zu N V h3 1. (3mkT )3/2 (8.56) 8.2 Quantenstatistik 425 Gleichung (8.56) ist die Bedingung für die Anwendung der Boltzmann-Verteilung. Sie setzt allgemein niedrige Teilchendichten und hohe Temperaturen voraus. Das nächste Beispiel illustriert ihre Anwendung. Beispiel 8.6: Die statistische Verteilung von He in der Atmosphäre Heliumatome haben einen Spin von 0 und sind deshalb Bosonen. Der Anteil von Helium in der Atmosphäre beträgt 5,24 · 10−6 . (a) Kann man die Boltzmann-Verteilung verwenden, um die thermischen Eigenschaften des atmosphärischen Heliums bei T = 273 K vorherzusagen? (b) Kann man dies für flüssiges Helium bei T = 4,2 K tun? Lösung (a) NA Moleküle nehmen unter Standardbedingungen 2,24 · 10−2 m3 ein. Die Anzahl der He-Atome pro Volumeneinheit ist dann 6,02 · 1023 × 5,24 · 10−6 N = = 1,41 · 1020 He-Moleküle/m3 . V 2,24 · 10−2 m3 Die linke Seite von Gleichung (8.56) ist dann 3 1,41 · 1020 m−3 × 6,63 · 10−34 J · s −11 1 3/2 = 6,3 · 10 −27 −23 3 × 1,66 · 10 kg × 4 × 1,38 · 10 J/K × 273 K Das Verhalten des Heliums in der Atmosphäre kann demnach mit der Boltzmann-Verteilung beschrieben werden. (b) Die Dichte von flüssigem Helium an seinem Siedepunkt bei T = 4,2 K ist 0,124 g/cm3 . Die Teilchendichte N/V ist dann 3 NA Moleküle N = × 0,124 g/cm3 × 102 cm/m = 1,87 · 1028 He-Atome/m3 . V 4g Damit ist die linke Seite von Gleichung (8.56) 3 1,87 · 1028 × 6,63 · 10−34 J · s 3/2 = 3,71 , 3 × 1,66 · 10−27 kg × 4 × 1,38 · 10−23 J/K × 4,7 K also nicht 1. Folglich beschreibt die Boltzmann-Verteilung das Verhalten von flüssigem Helium nicht adäquat, statt dessen muß die Bose-Einstein-Verteilung benutzt werden. Die Verwendung der Verteilung zur Bestimmung von n (E) Um die tatsächliche Anzahl von Teilchen n (E) mit der Energie E zu bestimmen, muß jede der Verteilungsfunktionen, die durch die Gleichungen (8.48), (8.49) und (8.50) gegeben sind, mit der Zustandsdichte aus Gleichung (8.14) multipliziert werden: n B (E) = g (E) f B (E) n BE (E) = g (E) f BE (E) n FD (E) = g (E) f FD (E) (8.57a) (8.57b) (8.57c) 426 8 Statistische Physik Haben wir g (E), so können wir die Konstante eα für die jeweiligen Systeme aus der bereits mehrmals verwendeten ∞ Normierungsbedingung bestimmen, welche besagt, daß die Gesamtzahl der Teilchen N = 0 n (E) dE ist. Die Zustandsdichte Als Beispiel für die Bestimmung von g (E) betrachten wir ein System im Gleichgewicht mit N klassischen Teilchen, die in einem würfelförmigen Volumen der Kantenlänge L eingeschlossen sind. Behandeln wir den Würfel als dreidimensionales Kastenpotential, so kennen wir (Kapitel 7) die Energie eines Teilchens in einem solchen Kasten: En1 n2 n3 = 2 π 2 2 n + n 22 + n 23 . 2m L 2 1 Wir schreiben diese Beziehung der Einfachheit halber in der Form E n = E 0 n 2x + n 2y + n 2z (7.4) (8.58) auf, wobei x, y und z die 1, 2 und 3 ersetzen und E 0 = 2 π 2 /2m L 2 ist. Die drei Quantenzahlen n x , n y und n z bestimmen den Quantenzustand des Systems. Wir erinnern uns, daß g (E) die Anzahl der Zustände mit einer Energie zwischen E und (E + dE) angibt. Nun wollen wir einen Ausdruck für die Gesamtzahl von Zuständen mit Energien zwischen null und E suchen und diesen nach E ableiten, um die Anzahl innerhalb der Schale dE zu bestimmen. Dies ist nicht schwierig, weil erstens (8.58) die Gleichung einer Kugel mit dem Radius R = (E/E 0 )1/2 im n x n y n z -,,Raum“ ist und zweitens die Quantenzahlen ganzzahlig sein müssen, wobei jede Kombination dieser Quantenzahlen zu einer bestimmten Energie gehört und einem Punkt in diesem ,,Raum“ entspricht (siehe Abb. 8.18). Da die Quantenzahlen positiv sein müssen, beschränkt sich der ,,Raum“ auf einen Oktanten der Kugel, wie in Abb. 8.18 zu sehen ist. Die Anzahl der Zustände N innerhalb des Radius R (gleich der Anzahl unterschiedlicher Kombinationen der Quantenzahlen) ist gegeben durch π E 3/2 1 4πR3 N= = . (8.59) 8 3 6 E0 Die Zustandsdichte im n x n y n z -,,Raum“ ist g (E) = dN π −3/2 (2m)3/2 L 3 1/2 E = E 0 E 1/2 = dE 4 4π 2 3 (8.60) oder nz R ny nx Abb. 8.18. Die erlaubten Quantenzustände für ein System von Teilchen, die in einem dreidimensionalen Kastenpotential eingeschlossen sind. Der Radius R ist proportional zu E 1/2 . 8.2 Quantenstatistik 427 g (E) = (2m)3/2 V 1/2 2π (2m)3/2 V 1/2 E = E , 4π 2 3 h3 (8.61) wobei das Volumen V = L 3 ist. Wären die Teilchen Elektronen, könnte jeder Zustand zwei von ihnen aufnehmen (eins mit Spin aufwärts, eins mit Spin abwärts), und die Zustandsdichte wäre dann doppelt so groß wie die durch Gleichung (8.61) gegebene, also g (E) = 4π (2m e )3/2 VE 1/2 . h3 (8.62) Wir können die Konstante eα in der Boltzmann-Verteilung für diese beiden Fälle aus der Normierungsbedingung berechnen: ∞ ∞ ∞ N= n B (E) dE = g (E) f B (E) dE = g (E) e−α e−E/kT dE . (8.63) 0 0 0 Sind die unterscheidbaren Teilchen Elektronen, ist g (E) = ge (E), und es ist N = e−α 4π (2m e )3/2 V h3 0 ∞ E 1/2 e−E/kT dE . Das ergibt mit Gleichung (8.34) N= 2 (2πm e kT )3/2 V −α e h3 oder e−α = Nh 3 2 (2πm e kT )3/2 V oder eα = 2 (2πm e kT )3/2 V . Nh 3 (8.64) Für Teilchen, die nicht dem Ausschlußprinzip unterworfen sind, fehlt die 2 vor der Klammer in Gleichung (8.64). Beachten Sie, daß e−α von der Dichte der Teilchen N/V abhängt. Im wesentlichen folgt die Größe e−α auf der linken Seite von Gleichung (8.56) aus der de-BroglieBeziehung für klassische Teilchen. Damit ist die in Gleichung (8.56) gegebene Bedingung für die Anwendbarkeit der Boltzmann-Verteilung äquivalent zur Bedingung, daß e−α 1 sein muß. Aufgabe 8.3: Unter welchen Bedingungen können identische Teilchen auch klassisch unterscheidbar sein? Aufgabe 8.4: Unter welchen physikalischen Bedingungen ist die Boltzmann-Verteilung für ein System von Teilchen gültig? Aufgabe 8.5: Könnten zwei Elektronen im gleichen Zustand durch ihren entgegengesetzt gerichteten Spin unterschieden werden? Aufgabe 8.6: Was ist ein Boson? Was ist ein Fermion?