Albert Schweitzer als Philosoph Vortrag in Berlingen, 18. 9. 2013 von Prof. Dr. phil. Andreas Urs Sommer 1. Kultur und Kulturkritik Albert Schweitzers (1875-1965) Philosophieren nimmt seinen Ausgangspunkt bei Alltagserfahrungen und Alltagsproblemen. Immerzu streicht er überdies das "Elementare", das "Natürliche", das "Gesunde" heraus, wodurch er sich u. a. von den Abstraktionen der Existenzphilosophie abzusetzen wähnt. Auch philosophisch betrachtet sich Schweitzer als Abkömmling des aufklärerischen Rationalismus, den er freilich um Momente jener Metaphysiken ergänzt, die nach dem Zusammenbruch des hegelianischen Systemdenkens von Schopenhauer und Nietzsche entworfen wurden. Schliesslich liiert Schweitzer seinen Rationalismus noch mit der Stoa.1 Dies hindert ihn jedoch nicht daran, neuere Erkenntnisse beispielsweise aus den Naturwissenschaften aufzugreifen und sie mit der Erkenntniskritik Kants zu veredeln. Im Brief vom 17./18. Juli 1955, der dem Basler Theologen Fritz Buri (1906-1995) eine Art geistiges, mit einigem Selbstbewusstsein angereichertes Testament anvertraut, bekennt er sich als einer, "der aus der naturwissenschaftlichen Erkenntnis den Schluss zog, dass wir unsere Lebensanschauung nicht auf eine befriedigende Welterkenntnis gründen können, sondern auf ein Erleben von uns selbst und der Welt in uns. In der Ethik glaube ich durch die Idee der Ehrfurcht vor dem Leben, eine Vertiefung und eine Verlebendigung angeregt zu haben." Schweitzer bemüht sich, wie es zu Beginn von Verfall und Wiederaufbau der Kultur (1923) heisst, um "lebendige Popularphilosophie", "die daraus entsteht, dass die Philosophie auf die elementaren, innerlichen Fragen, die die einzelnen und die Menge denken oder denken sollen, eingeht, sie in umfassenderem und vollendeterem Denken vertieft und sie so der Allgemeinheit zurückgibt" (GW 2,29). Wie Günzler herausgearbeitet hat, zählte Schweitzer in den zwanziger Jahren zur Strömung der Kulturphilosophie, die danach strebte, ihre Zeit in Gedanken zu fassen. Dominiert wurde diese Zeit jedoch von pessimistischen Prognostikern, die nach dem Schock des grossen Krieges den Gang in eine nachaufklärerische Inhumanität für unvermeidlich und unabwendbar hielten und sich darin gefielen, die irrationalen, triebhaften oder dämonischen Seiten des Menschen zu glorifizieren. In diesem wirren Reigen der Kassandrarufer und Apotheotiker von Blut, Volk oder reissendem Lebensstrom gehörte Schweitzer "zu den wenigen, die es wagten, an den Zielen der Aufklärung festzuhalten […]. Seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben hat mit der Lebensphilosophie zwar den Leitbegriff gemein, keineswegs aber die Absage an die Rationalität."2 Es ist unverkennbar, dass Schweitzers Kulturbegriff ethisch imprägniert ist und eine normative Funktion hat: Kultur ist für Schweitzer nicht einfach die reale Summe aller menschlichen Aktivität, sondern vielmehr etwas Normatives, ein anzustrebendes Ideal, das im Sog des Zeitgeschehens unrettbar Schiffbruch zu erleiden droht.3 Mit den Kulturpessimisten der Weimarer Zeit hatte Schweitzer immerhin die Skepsis gegenüber der Demokratie gemeinsam; seine politischen Hoffnungen waren damals nostalgisch-monarchistischer Art. Als höchster Wert des Kulturideals figuriert jedoch die Humanität, die Schweitzer aus seiner Ehrfurchtsethik ableiten zu können meinte. Damit steht er zu einem seiner wichtigen, aber immer wieder angefochtenen philosophischen Gewährsmänner, Friedrich Nietzsche (1844-1900), in Opposition, so sehr er mit Nietzsche die Krise der Kultur diagnostiziert.4 Nietzsches radikal antiegalitäre Rezepte zur Kulturregeneration werden Schweitzer mehr und mehr suspekt, so dass er ihn, zusammen mit Kierkegaard, etwa im Brief an Buri vom 21. Oktober 1946, für die Übel der Gegenwart mitverantwortlich macht: Nietzsche sei "zeitgemäss, weil unsere Zeit selber einen Hang zum Krankhaften" habe. Er hatte sich gerade nicht von einer intellektualistischen Ethik, sondern (wenigstens in seinem romantischen Frühwerk) von einer mythischneopagan verbrämten Revitalisierung des Dionysischen die Auferstehung der im Argen liegenden Kultur erhofft. Vor diesem Hintergrund wird man Buris durchaus zustimmender Paraphrase von Schweitzers Kulturdiagnose wahrscheinlich ein wenig argwöhnisch begegnen, so sehr man auch wünschen möchte, sie träfe zu, und der Mangel liesse sich durch intensivierte Reflexionsarbeit tatsächlich beheben: Schweitzer zeige, "dass der Verfall der Kultur in erster Linie von einem Mangel an Besinnung auf das Wesen der Kultur und an kulturbegründenden Ideen beruht".5 Schweitzers sokratischer Rationalismus, der anzunehmen scheint, aus der richtigen Einsicht folge notgedrungen das richtige Handeln, steht hier in seiner entwaffnenden Einfachheit vor uns. Buris Rekapitulation verdeutlicht, dass Schweitzer und Nietzsche zwar dasselbe Wort — "Kultur" — benutzen, aber von vollkommen anderen Dingen sprechen. Was Schweitzer als Ideal gilt, verabscheut Nietzsche als sklavenmoralische Domestizierung der (Menschen-)Natur und fruchtlosen Intellektualismus, an denen die Kultur gründlich zugrunde gegangen sei; was Nietzsche dagegen verficht, ist für Schweitzer schändlichster Neoprimitivismus.6 Nun erinnert nicht nur Schweitzers Kulturkritik zumindest auf den ersten Blick an Nietzsche, sondern auch das Grundgerüst seiner ethisch interessierten Ontologie. "Universeller Wille zum Leben" (GW 2,109) heisst das Stichwort, das in Kultur und Ethik von 1923 dazu verhilft, eine ebenso universelle Ethik zu konzipieren. Der ethische Formalismus Kants wird hier konterkariert durch die in der realen Leidens- und Lebenserfahrung gegründete Ethik Arthur Schopenhauers (1788-1860). Schopenhauer hatte bekanntlich als Wesen der Welt einen universellen Willen angesetzt, der von Nietzsche in die irreduzible Vielfalt miteinander konkurrierender Willen (zur Macht) fraktioniert wurde. Das metaphysische Einheitsdenken wird bei Nietzsche durch die Vielheit abgelöst, während Schweitzer in seiner kantianischen Reserve, wonach das "Ding an sich" und damit das Wesen der Welt letztlich unerkennbar seien, auf die Erkenntnis dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, ganz verzichten will. Dabei wählt er jedoch Schopenhauers Ansatzpunkt der Selbsterfahrung, die ihm darüber Auskunft gibt, was not täte — und an dieser Stelle führt Schweitzer eben jene als Beobachtung deklarierte, ontologische Verallgemeinerung ein, dass alles Wille zum Leben sei. Es ist das menschliche Denken, das sich über seine Möglichkeitsbedingungen klar wird und daraus eine philosophische Ethik entfaltet.7 Weiter folgert Schweitzer, dass diese Ethik darauf zielen müsse, die jeweils anderen Lebenswillen zu schützen, will der eigene ja auch geschützt sein. "Nicht durch ein Erkennen der Welt, sondern durch ein Erleben der Welt kommen wir in ein Verhältnis zu ihr. Das Erkennen kann den Menschen immer nur bis zu dem Wissen führen, dass alles, was um ihn herum in Zeit und Raum als Erscheinung auftritt, seinem Wesen nach Wille zum Leben ist wie er selbst. Das letzte Wissen geht in Erleben über. Das Problem der Welt- und Lebensanschauung ist also das Problem des Verhaltens meines Willens zum Leben zu sich selber und zu anderem Willen zum Leben."8 2. Ethik Demgegenüber kranke das europäische Denken gerade daran, dass es die Ethik als die eigentliche philosophische Kardinalsdisziplin sträflich vernachlässigt habe und so nicht dem an es gestellten Anspruch einer allgemein akzeptierten "Popularphilosophie" genügen könne. Diese Kritik ist der Refrain jener von Schweitzer nicht veröffentlichten Kulturphilosophie III, an der er während Jahrzehnten gearbeitet hatte. So setzt Schweitzer in seinem Brief an Buri vom 22. Dezember 1950 nach einer unzimperlichen Erörterung der ethischen Mängel von Jaspers' System zu einem Urteil über René Descartes (1596-1650) an, das an Pauschalität wenig zu wünschen übrig lässt — und überdies einen entschieden antimodernistischen Zug in Schweitzers Philosophieren offenlegt: "das tiefere Empfinden für das Ethische gehört zum Philosophen. Das lass ich mir nicht nehmen. Das ist das Klarste an seiner Leistung. Und wenn ers nicht hat, dann kann er durch keine dialektische Kunst ein Voll-Philosoph werden. Darum kann ich den Descartes nicht ausstehen. Er ist in Ethik nicht interessiert und tut damit noch gross. Er hat einige Bedeutung für seine Zeit, dadurch dass er die neue wissenschaftliche Weltanschauung so zurechtgestutzt hat, dass die Kirche sich zur Not damit abfinden konnte. Aber als Philosoph hat er keine bleibende Bedeutung. Er hat keine tiefere Erkenntnis der Probleme vorbereitet."9 So freimütig hat sich nicht jedermann über den Stammvater des neuzeitlichen Denkens geäussert. Buri — von nietzscheanischem (obgleich nicht radikaldekonstruktiven) Perspektivismus vielleicht mehr inspiriert, als er sich selber eingestehen mochte10 — begann demgegenüber schon früh, Schweitzers Trachten nach der "objektivierenden" Eingemeindung eines absoluten ethischen "Sinns" anzuzweifeln. Schweitzer kritisiere, heisst es 1960 in Buris wohl pointiertester Selbstprofilierung gegenüber dem verehrten Meister, "von dem Gesichtspunkt der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben aus alle religiösen und philosophischen Weltanschauungen, um dann doch auch selber zu einer ethischen Weltanschauung zu gelangen, in der absolute Urteile über den Sinn und die Sinnlosigkeit des Seins im ganzen gefällt werden und das Tun des Menschen in ein Verhältnis zu der Vollendung des unendlichen Lebenswillens gebracht wird".11 Das komplementäre Begriffspaar "Sinn" und "Sein", das Buri bereits in der Antrittsvorlesung von 1935 exzessiv gebraucht und sich terminologisch vielleicht einer Anregung Martin Werner verdankt,12 scheint in der Sache selbst auf Schweitzer zurückzugehen. Buri lehnt es wie Schweitzer ab, aus dem schieren Sein Sinn oder Ethik zu deduzieren; die Sinnkonstruktionen haben jeweils die Funktion anzustrebender Ideale — Sinn ist zu schaffen. Dennoch wirft Buri Schweitzer gerade vor, bei der Unterscheidung von Sinn und Sein nicht genügend konsequent zu verfahren, weil er Sinn eben letztlich zu einem Seienden mache, das irgendwie gegenständlich vorhanden ist. Vielmehr muss man nach Buri alle Sinnaussagen symbolisch auffassen und nicht als Aussagen über Faktizitäten nehmen. Also darf man keine ethischen Direktiven qua Sinnaussagen auf die Weise verabsolutieren wie Schweitzer es mit seinem Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben tue. Es verwundert nicht weiter, dass derartige Einwände die SchweitzerGemeinde in helle Aufregung versetzten.13 Verwandt ist dieser Einwand gegen Schweitzer mit dem von seiten der Metaethik erhobenen Verdacht, Schweitzer leite, indem er das Leben zu einem unter allen Umständen schützenswerten Gut mache, aus dem Sein ein Sollen ab, begehe also einen naturalistischen Fehlschluss. Darum würde es sich handeln, falls man etwas Empirisches, etwas Vorkommendes mit dem moralisch Guten identifiziert. Gemäss Hans Lenk solle bei Schweitzer "doch so etwas wie ein Schluss vom 'Sein' des Lebenwollens und der Lebensbejahung in mir auf das ethische Sollen geführt werden […]. Die fundamentalen Differenzen zwischen Normativem und Deskriptiv-Kognitivem werden ignoriert und überspielt, gleichsam durch einen Taschenspielerkunsttrick dennoch einer rationalistischen Einheitslösung zugeführt."14 Günzler hält gegen Lenk zwar fest, dass Schweitzer eine Ethik nicht aus der Natur selber folgern wolle, sondern sie als "Ausdruck menschlicher Setzung" verstehe; er wende "ein streng rationales Verallgemeinerungsverfahren" nach Kants Massgabe an, mit dem er "die mystisch erfahrene Bejahung des eigenen Lebens und die per analogiam angenommene Lebensbejahung bei nicht-menschlichen Lebewesen unter ein allgemeingültiges ethisches Prinzip" bringe.15 Ja, Schweitzer weiss: "die Natur kennt keine Ehrfurcht vor dem Leben".16 Dennoch ist damit das Problem des Schlusses vom Sein auf das Sollen nur scheinbar beseitigt, denn es liegt ja nicht so sehr darin, dass man dem "Leben" unterstellt, es handle von "Natur" selber sittlich, sondern dass man vielmehr ebendieses Leben zu einem für Menschen absoluten ethischen Wert macht, soll heissen, dass man all seine Aktivitäten darauf konzentriert, es in allen Erscheinungsformen zu erhalten. Diese unbedingte Werthaftigkeit sowohl des hypostasierten, universellen "Lebens" als auch der zahllosen Einzelleben ist selber nicht mehr argumentativ oder rational einzuholen. Schopenhauer beispielsweise brachte gute Gründe gegen die Lebensbejahung vor (obwohl er den Willen als Selbsterhaltungswillen verstand) und erhob aus der Einsicht in den durch das Leben verursachten Leidensüberhang vielmehr die Verneinung von Willen und Leben zur ethischen Maxime — ist ihm doch alles, was entsteht, wert, dass es zugrunde geht.17 Und gerade das frühe Christentum scheint von ähnlichen nihilistischen Anwandlungen nicht unangefochten gewesen zu sein, so dass Schweitzers Exegese, ausgerechnet in Jesus die Ehrfurcht vor dem Leben hineinzulesen, beherzt anmutet.18 Das späte 19. Jahrhundert, soweit es seit Leo Tolstoi Matthäus 5,39 (vgl. oben Fn. 35) — die Aufforderung, dem Übel nicht zu widerstehen — als Indiz eines Aufgebens von Selbst- und Lebenswillen zu deuten sich anschickte, hatte da andere Optionen. 3. Ehrfurcht vor dem Leben Neben der Vermutung, Schweitzers Ethik wolle letztlich Sinn aus einem gegenständlich begriffenen Sein ableiten, meldet Buri auch Bedenken bei der Praktibilität der Ehrfurchtsethik an: "Hat sich schon jemand von Ihnen in einer konkreten Situation in seiner ethischen Entscheidung von der Ehrfurcht vor dem Leben leiten lassen? In welcher konkreten Situation nimmt diese nun für uns entsprechend konkrete Form an? Wann habe ich es mit dem Leben zu tun und wie begreife ich Ehrfurcht vor dem Leben? Ich muss gestehen, das hat mich noch nie bewegt. Wenn ich mich in irgend einer Lage zu entscheiden hatte, so oder so: jetzt musst du ehrfürchtig vor dem Leben sein? Es waren ganz andere Dinge, die mich beschäftigten und in meiner Entscheidung bestimmten. Ich frage mich deshalb, ob dieser Begriff von der Ehrfurcht vor dem Leben der ethischen Situation der verantwortlichen Entscheidung eigentlich entspricht."19 Weil das Prinzip der Lebensehrfurcht so umfassend und zugleich "paradox" ist — "wir wissen, dass es eindeutig gilt, und wir wissen zugleich, dass wir ständig dagegen handeln und sogar dagegen […] handeln müssen"20 — ist es nach Buri auf konkrete Entscheidungssituationen nicht wirklich anwendbar. Häufig sind es ja miteinander konkurrierende Lebensinteressen, die eine solche Situation herbeiführen, und dann müssen wir die miteinander im Konflikt liegenden Leben bewerten und dem (situativ) "höherwertigen" den Vorrang einräumen. Im Falle eines von einer Giftschlange bedrohten Kindes werden wir nicht zögern, die Schlange zu erschlagen, auch wenn ihr Lebenswille prinzipiell genau gleich berechtigt ist wie derjenige des Menschenkindes, und sich also von der Ethik der Lebensehrfurcht her die Situation als unlösbar erweist.21 Schweitzer wandte 1931 gegen seine frühen, wertphilosophischen Kritiker gerade ein, das "Unternehmen, allgemeingültige Wertunterschiede zwischen den Lebewesen zu statuieren", laufe "darauf hinaus, sie danach zu beurteilen, ob sie uns Menschen nach unserem Empfinden näher oder ferner zu stehen scheinen, was ein ganz subjektiver Massstab ist" (GW 1,242). Dass eine objektive Wertetafel unter kritischen Vorzeichen keinen Bestand mehr habe, wird man Schweitzer zugestehen — damit auch, dass die realen, auf solche "objektiven" Wertabstufungen zurückgeführten Entscheidungen wenn schon nicht "subjektiv", so doch wenigstens kulturell, sozial, situativ, kurz: kontextuell begründet sind. Dieses Zugeständnis beseitigt aber mitnichten das Problem, mit dem wir in unserem (durch einer Werthierarchie-Ethik leicht lösbaren) Fallbeispiel zweier antagonistischer Lebenswillen ringen. Es zeigt sich dort, dass das Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben zumindest in gewissen, aber sehr zentralen Handlungskonstellationen nur sehr bedingt brauchbar ist; ja, dass es vielleicht erst ethische Probleme schafft, wo bisher gar keine waren — weil sich im Falle des Kindes und der Schlange nie jemand (und das heisst: kein Mensch) gefragt hätte, ob die Schlange vielleicht auch ein Lebensrecht hat, wenn ihm nicht die Lebensehrfurchtsethik solche Fragen eingeflüstert hätte. Schweitzer gesteht für die Konfliktfälle zwischen konkurrierenden Lebenswillen zu, dass seine Lebensehrfurchtsethik keine Entscheidungshilfen bietet: "Bei diesen Entscheiden von Fall zu Fall ist er [sc. der "wahrhaft ethische Mensch"] sich bewusst, subjektiv und willkürlich zu verfahren und die Verantwortung für das geopferte Leben zu tragen zu haben." (GW 1,242f.) In welchen Fällen hat die Lebensehrfurchtsethik dann noch eine praktische Relevanz? Kann ein Ideologe des Kalten Krieges nicht ebenso unter Rekurs auf eine Lebensehrfurchtsethik die atomare Aufrüstung als notwendig für den Schutz von Leben hinstellen, wie Schweitzer sie in seinen späten Jahren vehement bekämpfte?22 Nur die atomare Abschreckung verhindere die kriegerische Aggression des Gegners und schütze so Millionen von Menschen- und Tierleben… Freilich hat das Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben in erster Linie den Zweck, überhaupt erst einmal die ethische Problematik unseres Handelns bewusst zu machen und aufzuzeigen, dass wir nie dem strengen Massstab, jedes Leben ehrfürchtig zu behandeln, genügen können. Wir sind immer vor eine Wahl gestellt und werden so notwendig schuldig an jenem Leben, das wir zugunsten eines anderen beeinträchtigen müssen. Neudeutsch würde man sagen, das Prinzip der Lebensehrfurcht solle ethisch "sensibilisieren". Freilich ist der Begriff der "Ehrfurcht" selber nicht ohne Tücken — trotz Schweitzers Versicherung, "alles Erkennen" drücke "Ehrfurcht vor dem Unbegreiflichen" aus, "das uns im All entgegentritt", und in ihr, in dieser Ehrfurcht, geschehe "Aufhebung des Fremdseins".23 Es erhebt sich nicht nur das Problem, wie man mit Goethe das Unerforschliche oder Unbegreifliche verehren kann, sondern ebenso dasjenige, wie man die in der (mit Verehrung nicht identischen!) Ehrfurcht implizierte Distanz zu dem überwindet, dem man ehrfürchtig gegenübersteht.24 Im Unterschied zu Nietzsche und dessen Beharren auf "Pathos der Distanz" will Schweitzer ja gerade nicht Distanz, sondern mitfühlende Teilnahme. Empfindet man vor den einzelnen Lebewesen oder von einem Abstraktum "Leben" die von Schweitzer eingeforderte Ehrfurcht? Der Ausdruck "Ehrfurcht" bleibt schillernd und lässt in der allgemeinen Formel jene für praktische Umsetzbarkeit tunliche, begriffliche Präzisierung vermissen. Mit anderen Worten: Die Popularität der ethischen Losung "Ehrfurcht vor dem Leben" (vgl. Schweitzers Brief an Buri vom 14. Oktober 1947) könnte sich (bestimmt gegen die Intention ihres Erfinders) dem Umstand zu verdanken, dass sie in ihrer Abstraktheit letztlich leer und daher als Legitimation für jedwedes Verhalten und Handeln verwendbar ist. Mit den allermeisten Handlungen kann man vorgeben, Leben ehrfürchtig behandelt zu haben, auch wenn es auf Kosten anderen Lebens ging. Nicht genug, dass "Leben" als Wert eine Glaubensüberzeugungen zu verdankende Grösse bleibt: Im Bereich der Sittlichkeit könnte ein um keine Spezifizierung bemühtes Prinzip wie das der Ehrfurcht vor dem Leben viel weniger ein tatkräftiges Hinarbeiten auf das Reich Gottes als viel mehr die grosse Vergleichgültigung aller Dinge zu bewirken.25 Alles ist Wille zum Leben und hat dadurch unbedingten Wert, oder eben auch gar keinen — was kaum einen Unterschied macht, wenn es neben diesem vorgeblich unbedingten Wert des Lebens nur noch "subjektive" gibt. So etwas wie politische oder gesellschaftliche Ethik kann unter diesen Umständen nicht in Schweitzers Blickfeld kommen — es gibt für ihn keinen von Menschen begehbaren Raum jenseits von "subjektiver" Entscheidung und "objektiver" Werthaftigkeit des Lebens. Vielleicht machen gerade diese Indizien von Wirklichkeitsferne zusammen mit Schweitzers humanitärem Engagement als säkularer Heiliger die merkwürdige Attraktivität seiner von den Epigonen auf Schlagworte verminderten Ethik durchsichtig. Überdies ist der mnemotechnische Effekt einer Reduktion der Handlungswelten, in denen wir leben, auf ein einziges, in seinem Universalitätsgestus kaum überbietbares Prinzip (eben der Ehrfurcht vor dem Leben) nicht zu unterschätzen. Die Komplexitätsreduktionen, die Schweitzers Ehrfurchtsprinzip gewährt, sind offensichtlich ebenso unerschöpflich wie dessen (Selbst-) Exkulpationsreservoir: Die Welt wird einfach und gar Vieles entschuldbar.26 Bei all diesen Engpässen und Notständen ist Buris Vorhaben, nicht nur Schweitzers Jesus-Bild durch neuere Erkenntnisse (namentlich aus der Formgeschichte Rudolf Bultmanns) zu reaktualisieren, sondern darüber hinaus die Ethik der Lebensehrfurcht auf existenzphilosophischer Basis einer Überprüfung zu unterziehen, zweifellos gerechtfertigt. Trotz aller Einflüsse aus ganz anderen Ecken versuchte Buri, Schweitzer wenigstens in der Intention die Treue zu halten, ohne nach der Art vieler Schweitzer-Verehrer Leben und Lehren des Meisters zu kanonisieren.27 Schweitzer hat, wenn man seinen brieflichen Äusserungen trauen darf, die von Buri unternommene Revitalisierungs- und Revisionsar- beit (die eigentlich schon mit der Dissertation, spätestens aber mit dem existenzphilosophischen Eschatologie-Verständnis des Clemens-Buches eingesetzt hatte) gutgeheissen — ganz im Unterschied zur Unduldsamkeit einiger schweitzerianischer Gralshüter. So schreibt Schweitzer am 17. Juli 1955 nach der Lektüre von Buris Artikel in der Festschrift zu seinem 80. Geburtstag, in welchem der Basler Professor den konsequenteschatologischen Jesus von Bultmann und Jaspers her befragte:28 "Ich habe deine kritischen Ausführungen genau zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen. Ich verstehe, dass du vor der Welt für meine Gedanken und mich nicht eintreten kannst, ohne sie zu äussern. Man muss immer wahrhaftig sein und sich selber treu bleiben, auch wenn es sich um Freunde handelt." Buri hat andernorts moniert, dass Schweitzer den formgeschichtlichen Ansatz in der Erforschung des Neuen Testaments nicht rezipiert habe: Bultmann und seine Anhänger betrachteten die Evangelien nicht mehr als historische Berichte über das Leben Jesu, sondern als auf Verkündigung ausgerichtete Glaubenszeugnisse.29 Man kann also nach Bultmann und Buri nicht in der Weise auf das eschatologische Selbstverständnis, das "Wollen" Jesu rückschliessen, wie Schweitzer dies noch tat, sondern man betrachtet Jesus immer durch den Filter nachträglicher, schon von spezifischen Glaubensformen bestimmter Ausdeutungen. Aufs Ganze gesehen verdankt sich die Bewegung, die Buris Denken von Schweitzer wegführt, nicht zuletzt dem existenzphilosophisch motivierten Unbehagen über Schweitzers Trachten, die vorgeblich uralten ethisch-metaphysischen Fragen durch letztlich ebenso alte Antworten zu entschärfen. Die Existenzphilosophie hat Zweifel an der Konstanz sogenannter Grundprobleme gesät — es gibt für sie keine sichere Kontinuität der "grossen Menschheitsfragen" mehr. Anders gesagt: Schweitzers Probleme sind nicht mehr unbedingt diejenigen, die einen kritischen Theologen und Religionsphilosophen in den fünfziger Jahren umtrieben. Wir haben daher Buris neuerliche Sichtung Schweitzers und seine eigenen Systementwürfe genauer unter die Lupe zu nehmen. 4. Existenzphilosophie und Christentum Während Schweitzer sich mit Jaspers' Philosophie — wie aus seinen Briefen an Buri hervorgeht — intensiv, wenn auch kritisch auseinandergesetzt hat, bestand von Jaspers' Seite nur ein "Verhältnis kühler Achtung" Schweitzer gegenüber.30 Immerhin gibt Jaspers in seinem Brief an Buri vom 30. Januar 1949 (Ergänzung 8) zu verstehen, ihm sei Schweitzers Konsequente Eschatologie schon seit "Jahrzehnten" bekannt und er habe diese ihn "damals erleuchtende Einsicht auch in Vorlesungen vorgetragen. Da mir Theologen ständig versicherten, die Position sei nicht haltbar, & da meine Wege in andere Gebiete führten, habe ich wenig mehr daran gedacht. Durch Sie erfahre ich nun, dass Werner darüber neue ergebnisreiche Untersuchungen gemacht hat, & dass die Bedeutung der Sache viel weiter reicht als Schweitzer dachte. Ich kann hier nicht selber urteilen, aber ich gestehe, dass die Überzeugungskraft Ihrer Darlegungen aus der Natur der Sache gross ist." Martin Werner und Buri konfrontieren Jaspers mit Schweitzers Eschatologie-Konzept von Neuem; dieser lässt sich dadurch aber kaum von der "Elementarität" des ethischen Denkens nach Schweitzers Muster überzeugen. Schweitzer wird in seinen Briefen an Buri seinerseits nicht müde, das "Unelementare" an Jaspers' Philosophieren zu rügen: "Und schau, wie zerrissen das Denken von Jaspers ist. Was will er eigentlich? Was hat er den Menschen als Wegweisung und als Halt und als Ideal zu bieten?" (21. Oktober 1946.) Man mag bedauern, dass sich Jaspers und Schweitzer weder denkerisch noch persönlich näher gekommen sind31 — beim divergenten Charakter ihrer Denkhaltung, ihres Denkweges und ihrer Denkinhalte erstaunt es aber nicht. Buri hingegen, bei dessen Schriften wir schon früh einen existenzphilosophischen Einschlag konstatierten (längst bevor Jaspers 1948 von Heidelberg nach Basel kam, und Buri — seit 1952 Extraordinarius für Systematische Theologie — die Gelegenheit erhielt, mit dem Philosophen in persönlichen Austausch zu treten32), suchte Jaspers' Nähe. An dieser Stelle kann Buris reifes, existenzphilosophisch orientiertes Theologisieren nur in seinen Grundzügen dargestellt werden.33 Schweitzer äussert sich dazu selten direkt, sondern eher über den Umweg der Attacken gegen Buris Gewährsmann Jaspers. Immerhin sind die frühen Fünfzigerjahre die regste Zeit der Korrespondenz zwischen Buri und Schweitzer; zum ersten Mal gibt es in den meisten dieser Briefe ein bestimmendes Thema: eben die Existenzphilosophie. Schweitzer scheint den Versuchen Buris, das Eschatologie- und Ethik-Konzept in die zeitgenössische Debatte einzubringen und zu diesem Zweck umzuformen, zwar ironisch-wachsam, aber doch nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberzustehen. Am 22. Dezember 1950 lässt Schweitzer Buri, nicht ohne Augenzwinkern allerdings, sogar wissen: "Daraufhin erkläre ich dich zum authentischen Interpreten aller meiner geschriebenen und noch zu schreibenden Bücher." Mit diesen Worten reagiert Schweitzer auf Buris Unternehmen, ihn an Karl Jaspers zu spiegeln und umgekehrt Jaspers an ihm, um mit solcher Justierung eine Synthese erreichen, die die jeweiligen Schwächen beim einen und beim andern ausgliche. Sind bei Schweitzer die metaphysisch-ontologischen Prämissen suspekt und das Ehrfurchtsprinzip zu abstrakt, so entbindet Buri seine Leserinnen und Leser mit Jaspers' Schützenhilfe von ontologischen Letztbegründungen. Für das Nicht-Vergegenständlichbare werden Chiffren eingeführt, die das von ihnen Angedeutete nicht auf einen unumstösslichen Begriff bringen wollen. Chiffren sind Annäherungen im Bewusstsein letztlichen Scheiterns beim Bemühen, das Nichtobjektivierbare, das Umgreifende, die Transzendenz zu objektivieren; Verständigungshilfen, die darauf hinweisen, aber nicht ungebrochen aussagen, worum es zu tun ist. Mit den Chiffren kann das Glaubwürdigkeitsdefizit religiöser und metaphysischer Äusserungen gemildert werden: Metaphysische Theorien — wie diejenige, alles was ist, sei von Lebenswillen beseelt — genauso wie religiöse Überzeugungen — etwa diejenige, Jesus habe eine für alle verbindliche Ehrfurchtsethik vorgelebt — müssen nun nicht mehr als Objektaussagen verstanden werden, als Behauptungen, eine religiöse oder metaphysische Wesenheit sei wirklich und zweifelsfrei so wie irgendein objektivierbares Ding der alltäglichen Erfahrungswelt. Mit Jaspers Chiffrenphilosophie hat Buri ein probates Mittel an die Hand bekommen, metaphysische und religiöse (selbst und gerade dogmatische) Redeweisen nicht anzutasten, sondern zu reproduzieren, ohne andererseits die Erfordernisse der Aufklärung unter den Scheffel zu stellen. Wenn man sie bloss als Chiffren, als Versuch versteht, bildlich das zu fassen, was sich nicht begreifen lässt, bricht man ihnen die provozierende Spitze ab, die metaphysische und religiöse Aussagen für moderne Gemüter gerade und fast nur dann haben, wenn sie als Tatsachenbehauptungen auftreten. Man könnte darauf verfallen, Buris Theologie auf der Folie des Jaspers'schen Chiffrenkonzeptes daher als grossangelegtes Unternehmen der Entschärfung zu interpretieren.34 Letztlich liesse sich bei konsequenter Anwendung des Chiffrenkonzeptes alles als Chiffre für Transzendenz deuten — ein brauchbares, intersubjektives Kriterium, welcher Chiffre der Vorzug zu erteilen ist, entfiele, wenn man den hypertrophen Anspruch aufgegeben hat, hinter der Chiffre noch einen Ausblick aufs Eigentliche zu erhaschen: Die Chiffre hat kein Bezeichnetes, an dem man sie messen kann. Aber Buri weiss um diese Gefahr und trachtet ihr, wie weiter unten skizziert, zu begegnen. Buri hat abgesehen von Jaspers Chiffrenmodell kaum Symboltheorien rezipiert — weder von Charles Sanders Peirce (1839-1914), noch Ferdinand de Saussure (1857-1913) oder Ernst Cassirer (1874-1945) finden sich in seinen Werken nennenswerte Spuren, geschweige denn von jüngern, gar poststrukturalistischen Semiotikern. Von dieser Seite, aber auch von einer radikal verstandenen Jaspers'schen Philosophie35 hätte Buri vielleicht gefragt werden können, woher er denn die Gewissheit nehme, dass sich hinter der Chiffre tatsächlich ein damit Gemeintes verberge — dass es neben dem "Signifiant" noch ein "Signifié" oder gar ein Denotat, ein reales, mit der Chiffre irgendwie angedeutetes "Ding" gebe (wie es immer um seine Dingheit bestellt sein mag). Wenn man unter postmodernen Konditionen nur noch die Zeichen hat, aber nichts Bezeichnetes mehr, scheint ein Symbolbegriff, wie ihn Buri verwendet,36 obsolet geworden: Was verbürgt, dass das Symbol noch irgendetwas symbolisiert?37 Doch trügt der Eindruck, Buris Reden von Symbolen und symbolisches Reden stellten die Schlussapotheose des Unverbindlichen und damit eine Spielart der Selbstliquidation von Theologie dar? Zunächst ist sicher festzuhalten, dass Buri genau wie Schweitzer versucht, Theologie unter den Bedingungen und dem Entsakralisierungsdruck der Aufklärung zu treiben.38 Buris Theologisieren weiss sich von dieser Aufklärung in die Pflicht genommen gerade angesichts der Tatsache, dass eine unverblümt mit altprotestantischen Offenbarungsbegriffen hausierende Dialektische Theologie in der Phase ihrer dogmatischen Konsolidierung die aufklärerische Kritik ignorieren zu dürfen wähnt. Die linientreuen Liberalen — vor allem Martin Werner — haben Buri nicht nur den Abfall von Schweitzers vorgeblich alleinseligmachender Doktrin angelastet, sondern insbesondere auch, dass Buri, statt die alten Lehrstücke der Dogmatik aufzugeben, sie vermittlungstheologisch rehabilitiere.39 Gewiss lässt Buri keinen Zweifel daran, dass man nach vielhundertjährigen Bemühungen um Erkenntnistheorie Gott und die dogmatischen Loci nicht mehr in altgewohnter Weise zum Gegenstand des religiösen oder theologischen Sprechens machen könne. Sein Chiffrendenken drückt diesen Vorbehalt aus: Theologie ist nicht mehr die Verkündigung von soteriologisch relevanten Fakten, die auf die genau gleiche Weise Fakten sein wollen, wie das Huhn in Nachbars Garten Faktum ist. Die Theologie hat nach Buris Lesart aber auch keine wissenschaftlichen Theorien von Gott und Transzendenz anzubieten, die in irgendeiner Weise wissenschaftlichen Theorien über "objektive" Dinge ähneln. Die Trinitätslehre hat einen vollkommen anderen Status als die allgemeine Relativitätstheorie oder der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Theologische Aussagen sind Chiffren, die das andeuten wollen, was sich gerade nicht in einer vergegenständlichenden Weise aussagen lässt. Aber die Struktur von Denken und Sprache zwingt den Glauben dazu, sich eines vergegenständlichenden Zugangs zum gegenständlich nicht Fassbaren zu bedienen, falls er sich nicht gänzlich in mystisches Schweigen hüllen will. Daher sind die Glaubensaussagen für Buri "Objektivierungen des Nichtobjektivierbaren". Gewinn und Preis hierfür liegen im Aufgeben letzter religiös-dogmatischer Festschreibungen, die man erst dann als existenziell relevant erkennt, wenn man sie als Symbole fasst. Freilich geht diese Entschärfung bei Buri mit einer Verschärfung einher — und die liegt in seinem Pochen auf dem unbedingten persönlichen Verantwortlichsein. In Buris Rückgriff auf Verantwortung manifestiert sich wiederum eine existenzphilosophische Tendenz seines Denkens, die freilich bereits von Schweitzer als "Abenteuerer der Hingebung" vorgeprägt wird. So abwegig ist es daher nicht, wenn Buri danach strebt, Schweitzer existenzphilosophisch zu revidieren. Die "Subjekt-Objekt-Spaltung", in der nach Jaspers unser Denken und damit unser alltägliches Weltverhältnis gefangen sind, wird nach Buri durch die Momente sich realisierender Verantwortlichkeit transzendiert — gerade in der "Grenzsituation" letztlichen Scheiterns: "dieses an der Verborgenheit des Umgreifenden scheiternde Denken" könne "für mich zur Stätte der Offenbarung dieses Umgreifenden werden".40 Schweitzer kommen demgegenüber die "Grenzsituationen" von Verzweiflung, Schuld, Sterblichkeitsbewusstsein und Kontingenzerfahrung verdächtig vor: "Du hast mich psychoanalytisch behandelt und mich damit von dem Komplex befreit, dass ich nur ein Amateurphilosoph bin. Dafür glaubte ich mich halten zu müssen, da ich nur wusste, was eine Grenzstation ist (was ich mit dem Herzensgepopper wegen der Passkontrolle und dem Zoll gründlich kenne), aber nie zu kapieren vermochte, was eine Grenzsituation sei" (an Buri, 22. Dezember 1950). Er beharrt auf der Unbedingtheit seiner Lebensehrfurchtsethik und lässt sich von Buri in seiner Prinzipientreue nicht irre machen. Dieser benützt umgekehrt Schweitzer dazu, Jaspers' Philosophie moralisch aufzurüsten, deren "Taumelbewegungen"41 in theoretischen Uneindeutigkeiten begründet seien. Buri schlägt vor, "die existenzphilosophisch interpretierte ethische Weltanschauung Schweitzers als Überwindung der Problematik der Existenzphilosophie Jaspers' würdigen" zu lernen.42 Indes sind an dieser Stelle Buris Erläuterungen nicht mehr so luzide, wie man sich das wünschen würde; vollkommen klar wird es nicht, wie man dem "Kirchenlehrer"43 Jaspers mit Schweitzer auf die ethischen Sprünge helfen kann, deren er anscheinend bedarf. Buri will die "Haltung der Ehrfurcht vor dem Leben" nicht mehr "als Regel, sondern als Mittel der Existenzerhellung verwenden", wobei "wir mit ihm", diesem Mittel, "scheitern" werden, "aber eben nicht in theoretischen Taumelbewegungen, sondern in dem Leiden unter der Schuld, die wir als Existenz notwendig auf uns zu nehmen, und für die wir zu büssen haben".44 Eine solche Deutung der Schweitzerschen Ehrfurcht vor dem Leben gleicht dem Verständnis des alttestamentlichen Gesetzes bei den Reformatoren, das — weil wir aus eigenen Kräften zur Freiheit von Sünde unfähig seien — vor allem auch bewirke, dass wir unsere nur durch Christus tilgbare Sündhaftigkeit erkennten. Armsünderbewusstsein, Zerknirschung des Herzens sind ein Hauptzweck der reformatorischen Predigt vom unerfüllbaren Gesetz. Bei Buri führt der Lebensehrfurchtsgedanke ebenfalls zur Einsicht in die prinzipielle Schuldhaftigkeit unseres Daseins, müssen wir doch anderes Leben tangieren, wenn wir selber leben wollen. 1 Vgl. Albert Schweitzer, Selbstdarstellung, Leipzig 1929, S. 36f.; GW 1,233f. und Schweitzers Brief an Kurt Leese, 30. April 1956, in: Hans-Joachim Mähl (Hrsg.), Erneuerung der Religion im Zeichen der Humanität. Unveröffentlichte Briefe Albert Schweitzers an Kurt Leese, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte, Jg. 4 (1997), S. 82-113, S. 106. Übrigens wirft Schweitzers Briefwechsel mit Leese (in welchem Buri nicht vorkommt, obwohl dieser ebenfalls mit Leese in Verbindung stand — vgl. unten im Editionsteil Ergänzung 1 — und ihn sogar eine Zeit lang in Basel beherbergte) einige Streiflichter auf Schweitzers Verhältnis zur liberalen Theologie, aber auch zur Existenzphilosophie. Kurt Leese (1887-1965), Philosophieprofessor in Hamburg, hat sich in seinen Schriften aus "neuprotestantischem" Blickwinkel intensiv mit religionsphilosophischen Themen auseinandergesetzt. 2 Günzler, Albert Schweitzer, S. 29. 3 Zum prekären Kulturbegriff bei Schweitzer siehe etwa Müller, Albert Schweitzers Kulturphilosophie, S. 143-193. 4 Zu Schweitzer und Nietzsche vgl. neben GW 2,301-307 und GW 5,162f., 172f. und 475 z. B. Harald Steffahn, Albert Schweitzer mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 92f.; Günzler, Albert Schweitzer, S. 46-54 und Wolfgang Erich Müller, Albert Schweitzers Kulturphilosophie im Horizont säkularer Ethik, Berlin / New York 1993, S. 94-116 (für bibliographische Hinweise danke ich Clemens Frey). Wichtig ist auch die späte Äusserung in Schweitzers Brief an Leese vom 30. April 1956: Nietzsche habe ihn schon "Anfang der neunziger Jahre […] auf das Problem der Ethik gestossen, obwohl seine Bezweiflung der Ethik ganz oberflächlich ist, worauf ich schon damals aufmerksam war. Mir wurde bedeutsam, dass ihm keiner, nach dem Stande der damals vorhandenen Ethik auf die Frage des Begründetseins des Guten zu antworten wusste. Dies wurde entscheidend für mich." Mähl (Hrsg.), Erneuerung der Religion im Zeichen der Humanität, S. 107. 5 Buri, Die Universalität des ethischen Denkens Albert Schweitzers, S. 2. In diesem Artikel beweist Buri das Gegenteil dessen, was er beweisen zu wollen vorgibt: Dass nämlich Schweitzers Ethik mitnichten universal ist. Um dies zu verschleiern, gibt Buri vor, Schweitzers Denken begreife schon seine dialektische Potenzierung in sich: "Die Universalität dieses Denkers und seine revolutionäre Kraft sind so gross, dass sie auch noch die Ansätze zu seiner eigenen Revolutionierung in sich schliessen." (S. 4). 6 Zum Thema "Neoprimitivismus" siehe Günzler, Albert Schweitzer, S. 42-54. 7 Dazu kritisch Buri, Albert Schweitzer und Karl Jaspers, S. 12: "Wie steht es mit diesem Denken aus dem Willen zum Leben? In welchem Verhältnis steht es zum Willen zum Leben? Ist es etwas Besonderes, zum Willen Hinzukommendes, oder gehört es seinem Wesen nach dazu und stellt nur eine besondere Gestalt desselben dar? Bei Schweitzer wird das nicht klar." Bereits in Schopenhauers System besteht eine zentra- le Schwierigkeit darin, dass das Denken einerseits eine blosse Funktion des Willens zur Verfolgung seiner Zwecke ist, es sich andererseits aber gerade diesem Willen entgegenstellen, ihn verneinen kann. 8 Schweitzer, Selbstdarstellung, S. 38. 9 Vgl. z. B. auch Schweitzer, Selbstdarstellung, S. 37: "Das neuzeitliche Denken endet tragisch wie das griechische. Wie dieses ist es im Begriffe, an der unerbittlichen Tatsache zugrunde zu gehen, dass aus der Erkenntnis der Welt, wie sie wirklich ist, keine kraftvolle und keine ethische Weltanschauung zu gewinnen ist." 10 Ein Nietzsche-Buch hat er allerdings auch verfasst: Fritz Buri, Kreuz und Ring. Die Kreuzestheologie des jungen Luther und die Lehre von der ewigen Wie-derkunft in Nietzsches "Zarathustra", Bern 1947. Es ist "dem Lehrer und Freund" Martin Werner gewidmet und arbeitet Strukturparallelen bei Nietzsche und Luther heraus, um schliesslich Nietzsche für ein letztlich christliches Erlösungsdenken (S. 104) und christliche Liebe (S. 111) zu reklamieren. Bei Schweitzer rechnete Buri offenbar mit wenig Interesse für dieses Werk: "Mit meinem eben herausgekommenen Buche über Nietzsche und Luther will ich Dich nicht behelligen." (Buri an Schweitzer, 7. November 1947). 11 Fritz Buri, Albert Schweitzers Wahrheit in Anfechtung und Bewährung, Zürich / Stuttgart 1960, S. 30. 12 Vgl. Martin Werner, Thesen zum Christusproblem, Bern 1934. Viel später, am 31. März 1953, billigt Jaspers in einem Brief an Werner zu, dass bei ihm, wie Werner zu recht moniere, keine wirkliche Vertiefung der Sinn- und Seinsfrage unternommen sei. "Ich halte allerdings eine begrifflich schlüssige Systematik hier nicht für möglich." (Briefmanuskript in Nachlass Martin Werner, Staatsarchiv Bern). 13 In seiner nicht eben wohlwollenden Rezension meint auch Martin Werner, Buri baue seine Dekonstruktion auf "wenig solider Grundlage": "Die hier an Schweitzer geübte Kritik hätte einer gründlicheren philosophischen Fundierung bedurft." (Martin Werner, Rezension von Fritz Buri: Albert Schweitzers Wahrheit in Anfechtung und Bewährung, in: Freies Christentum, Jg. 12, Nr. 11, 1. November 1960, S. 142). Buri hat Werners Kritik, die er als "persönliche Verunglimpfung" empfand, sehr harsch repliziert (Fritz Buri, Um der Wahrheit willen, in: Freies Christentum, Jg. 12, Nr. 12, 1. Dezember 1960, S. 152-153). 14 Hans Lenk (mit Claus Günzler), Ethik und Weltanschauung. Zum Neuigkeitsgehalt von Albert Schweitzers 'Kulturphilosophie III', in: Günzler / Gräßer / Christ / Eggebrecht (Hrsg.), Albert Schweitzer heute, S. 17-50, S. 38, zitiert nach Günzler, Albert Schweitzer, S. 160. Auch Müller, Albert Schweitzers Kulturphilosophie, S. 141 pflichtet Lenks Verdikt bei, es handle sich hier um einen naturalistischen Fehlschluss, während Walter Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, S. 741 immerhin konzediert, das Lebenserfurchtsprinzip (das er hochschätzt) werfe als "empirisches Prinzip" "legitimerweise schwerwiegende Fragen" auf. 15 Günzler, Albert Schweitzer, S. 161. 16 Albert Schweitzer, Was sollen wir tun? 12 Predigten über ethische Probleme (1919), hrsg. von Martin Strege und Lothar Stiehm, Heidelberg 2 1986, S. 30 (zitiert nach Günzler, Albert Schweitzer, S. 161). 17 Vgl. z. B. Hermann Baur / Robert Minder (Hrsg.), Albert Schweitzer Gespräch Basel 1967, Hamburg 1969, S. 36 (Hermann Josef Meyer). 18 Vorsichtig bestimmt Buri noch 1967 im Anschluss an Schweitzers Konsequente Eschatologie Jesu Bedeutung nicht durch die Behauptung, in der Bergpredigt oder Jesu Erdenleben präge sich die Ehrfurcht vor dem Leben exemplarisch aus: Nicht mit seiner "fragwürdigen, mehr oder weniger plausiblen, zeitbedingten und dann wieder zu verbessernden Ethik ist er [sc. Jesus] in die Geschichte eingegangen, sondern als der sich mit der eschatologischen Situation Identifizierende. […] Kann Ethik sich nicht auf […] abschliessende, sichernde Systeme und Gehäuse stützen, sondern muss wagen, immer nur eine Interims-Ethik zu sein? Nur vorläufig, aber nie in irgendeiner Norm oder einem Prinzip oder einer Institution abschliessbar? Ist das das Besondere auch der ethischen Verkündigung Jesu? […] diese letzte Infragestellung aller Verwirklichungen, ist das das Besondere?" Votum in Baur / Minder (Hrsg.), Albert Schweitzer Gespräch Basel 1967, S. 48f. 19 A. a. O., S. 52f. Groos, Albert Schweitzer, S. 545, doppelt im Anschluss an diese Gesprächspassage nach: "Diese aus dem Schweitzer-Kreis selbst hervorgegangene Frage und ihre Beantwortung durch den Fragenden dürfte mehr und besser als alles andere erweisen, dass die Frage nach der Zulässigkeit des Schweitzerschen Prinzips eindeutig negativ zu beantworten ist." Die "Zulässigkeit" hatte Buri gerade nicht bestritten, sondern nur die Brauchbarkeit! 20 Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, S. 741. 21 Vgl. zum Problem beispielsweise Werner Picht, Albert Schweitzer — Wesen und Bedeutung, Hamburg 1960, S. 127 und Günzler, Albert Schweitzer, S. 165. 22 Vgl. z. B. Albert Schweitzer, Friede oder Atomkrieg, München 1958. Buri hat angesichts der zur Volksabstimmung stehenden Frage, ob sich die Schweiz atomar bewaffnen soll, hingegen nur zum Wahrnehmen persönlicher Verantwortung aufgerufen: "Die Entscheidung darüber, ob diese Nachfolge [sc. Christi] auch mit oder nur ohne Atomwaffen möglich sei, kann keiner dem andern abnehmen, sondern jeder muss sie in eigener Verantwortung vor Gott treffen." Fritz Buri, Aussichtslosigkeit und Hoffnung des Atomzeitalters. Bettagspredigt gehalten am 21. September 1958 im Basler Münster, (Basel 1958), S. 8. Es ist anzumerken, dass sich Schweitzer in erster Linie gegen die durch Atomwaffenversuche drohende Verseuchung der Atmosphäre und damit allen Lebens wandte. 23 Schweitzer, Strassburger Predigten, S. 123. 24 Siehe Groos, Albert Schweitzer, S. 684 und ausführlicher zum Ehrfurchtsbegriff S. 737739. 25 Vgl. Buri, Albert Schweitzer und Karl Jaspers, S. 13 zur "ethischen Relevanz des universalen Lebenswillens": "Wird dadurch nicht alles zu sehr auf das gleiche Niveau heruntergedrückt, auf dem ich allem gegenüber gleich verantwortlich, gleich verpflichtet und gleich schuldig — und eben darum keinem gegenüber recht verantwortlich, recht verpflichtet, recht schuldig sein kann?" 26 Zur zeitgenössischen Diskussion um die Ehrfurcht vor dem Leben vgl. auch Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. 3: Die Lehre von der Schöpfung, Teil 4, Zürich 1951, S. 366453. In seiner letzten Vorlesung ist Barth Schweitzer gegenüber milder gestimmt. 27 Dass Buri dies im Unterschied zum Hauptstrom der liberalen Theologie in der Schweiz nicht getan hat, brachte seinen alten Lehrer Martin Werner gegen ihn auf. So heisst es in Werners Brief an Schweitzer vom 25. November 1958: "Deine Schweitzer-Kritik ist ebenso oberflächlich wie Deine apologetische Nutzbarmachung der Philosophie von Jaspers. Ginge es um Sachlichkeit, so müsstest Du noch heute bei Schweitzer Abbitte leisten für die Karikatur, die Du aus seiner geistigen Leistung gemacht hast." (Nachlass Fritz Buri, Universitätsbibliothek Basel). 28 Buri, Der existentielle Charakter des konsequent-eschatologischen JesusVerständnisses Albert Schweitzers. 29 Vgl. Fritz Buri, Albert Schweitzer als Theologe heute, Schaffhausen 1955, S. 18-20. 30 Hans Saner, Karl Jaspers in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Reinbek 1974, S. 144. Vgl. auch Hans Saner, Einmütigkeit und Differenz. Zur philosophischen Begegnung von Fritz Buri und Karl Jaspers, in: Bulletin 1 (1998) der Internationalen Fritz Buri-Gesellschaft für Denken und Glauben im Welthorizont, Luzern 1998, S. 23-41, S. 29. 31 Eberhard W. Kretzschmar-Sauer, Weltanschauung — Lebensanschauung — Ethik. Ei- ne Untersuchung zum Denken Albert Schweitzers. Unter vergleichender Heranziehung der weltanschaulichen Konzeptionen von Wilhelm Dilthey und Karl Jaspers, Frankfurt am Main 1990, S. 188 spricht von einer "Tragik", "dass beide sich nicht in der adäquaten Weise kennen und schätzen gelernt haben". S. 136-199 untersucht KretzschmarSauer die Gemeinsamkeiten und Divergenzen in Schweitzers und Jaspers' Weltanschauungskonzepten. 32 Vgl. Saner, Einmütigkeit und Differenz sowie die nahezu vollständige Edition des Briefwechsels Fritz Buri / Karl Jaspers 1949 bis 1963, in: Bulletin 1 (1998) der Internationalen Fritz Buri-Gesellschaft für Denken und Glauben im Welthorizont, Luzern 1998, S. 46-62. Buri hat Karl Jaspers Philosphie "schon gleich nach ihrem Erscheinen" in einer Vorlesung behandelt "und konfrontierte sie mit derjenigen Schweitzers" (Fritz Buri / Jan Milicÿ Lochman / Heinrich Ott, Dogmatik im Dialog, Bd. 1, Gütersloh 1973, S. 8). 33 Ausführlich tut dies Gert Hummel, Die Begegnungen zwischen Philosophie und evangelischer Theologie im 20. Jahrhundert, Darmstadt 1989, S. 297-332. 34 Ein zwischen Buri und Jaspers 1963 geplantes Radiogespräch wäre am Ende beinah darauf hinausgelaufen, dass Jaspers Buri als "Ungläubigen" hingestellt hätte und selber als "Verteidiger der Orthodoxie" aufgetreten wäre (Buris Brief an Jaspers, 3. September 1963, in: Briefwechsels Fritz Buri / Karl Jaspers 1949 bis 1963, S. 62; vgl. Saner, Einmütigkeit und Differenz, S. 26). 35 Vgl. Saner, Einmütigkeit und Differenz, S. 38: "Die Differenz zu Jaspers ist scheinbar gering und doch zentral. Für Jaspers ist alle Wirklichkeit im Sinn der Erfahrbarkeit bloss Erscheinung, die aber für Augenblicke auf eine andere, metaphysisch gründende Wirklichkeit hin transparent werden kann. Die Chiffren sind diese aufleuchtende und wieder verschwindende Transparenz. Für Buri dagegen ist die Wirklichkeit in ihrem Geheimnis ineins Erscheinung und erfahrbare Offenbarung Gottes, die sich im nachhinein durch Bilder festhalten lässt. Diese Bilder sind die bleibenden Chiffren." 36 In späteren Jahren zog Buri den Ausdruck "Symbol" demjenigen der immer im Schweben bleibenden "Chiffre" vor. Vgl. dazu Hans Saner, Einmütigkeit und Differenz, S. 3740 und Günther Hauff in: Buri, Zur Theologie der Verantwortung, S. 386. 37 Man könnte geistesgeschichtliche Mutmassungen darüber anstellen, ob Buri Symboltheologie nicht als logische, vielleicht finale Konsequenz der liberalen Theologie anzusehen sei — einer liberalen Theologie, die seit langem (mit einem kontrapunktischen Intermezzo bei Schweitzer?) religiös-theologische oder andere weltanschauliche Provokationen beschwichtigt und so zur Erhaltung der bestehenden Verhältnisse ihr Schärflein beigetragen habe (was man begrüssen oder verurteilen mag). 38 Buri sei "im deutschen Sprachraum wohl der energischste Vertreter einer aufgeklärten Theologie", meint Günther Hauff, Prof. Fritz Buri zum Achtzigsten, in: Basler Zeitung, 3. November 1987. Ähnlich Andreas Urs Sommer, Im Gedenken: Professor Fritz Buri, in: Basellandschaftliche Zeitung / Nordschweiz, Jg. 163, Nr. 29, 3. Februar 1995, S. 24. 39 Werner spricht in seinem Brief an Buri vom 25. November 1958 von einer "bemitleidenswerten 'Vermittlungstheologie'" (Nachlass Fritz Buri, Universitätsbibliothek Basel). 40 Buri, Albert Schweitzer und Karl Jaspers, S. 20. Vgl. zu Luthers Erlebnis der "Grenzsituation" Buri, Kreuz und Ring, S. 106. 41 Buri, Albert Schweitzer und Karl Jaspers, S. 24. 42 A. a. O., S. 25. 43 Siehe Fritz Buri, Karl Jaspers — ein Lehrer der Kirche, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 702, 30. November 1969, S. 51-52 (auch in: Buri, Zur Theologie der Verantwortung, S. 62-70). 44 Buri, Albert Schweitzer und Karl Jaspers, S. 28. Erschienen in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Vierte, völlig neu bearbeitete Auflage, hrsg. von Hans Dieter Betz u.a., Bd. 7, Tübingen 2004, Sp. 1063-1064 Schweitzer, Albert (14. 1. 1875 Kaysersberg – 4. 9. 1965 Lambarene) I. Leben – II. wissenschaftliches Werk – III. Wirkung I. Aus einem liberalen Pfarrhaus stammend, studierte S. Philosophie und Theologie in Strassburg, Paris und Berlin, nahm Orgelunterricht bei Ch. M. Widor (mit dem er später die kritische Ausgabe der Orgelwerke J. S. Bachs veranstaltete), promovierte 1899 mit einer Arbeit über Kants Religionsphilosophie zum Dr. phil., 1900 zum Lic. theol., wurde im selben Jahr Vikar an St. Nicolai in Strassburg, 1902 PD für NT und beschäftigte sich nebenbei mit musikwissenschaftlichen Themen (J. S. Bach, frz. 1905, erweitert dt. 1908). 1896 hatte S. den Entschluss gefasst, bis zum 30. Lebensjahr „der Wissenschaft und der Kunst zu leben“, sich danach aber „einem unmittelbaren menschlichen Dienen zu weihen“ (GW 1, 99). Daher begann er 1905 das Studium der Medizin, promovierte 1913 zum Dr. med. und brach nach Lambarene auf, um dort ein Spital zu gründen. 1917/18 in Südfrankreich interniert, unternahm S. 1920/22 ausgedehnte Konzert- und Vortragsreisen in Europa, um 1924/27 in Lambarene ein neues Spital aufzubauen. In den folgenden Jahrzehnten wurde die medizinisch-charitative Arbeit in Afrika, von der S. in populär gewordenen autobiographischen Schriften Rechenschaft ablegte (Zwischen Wasser und Urwald, 1921; Aus meinem Leben und Denken, 1931), durch zahlreiche Fundraising-Touren unterbrochen. Nach dem II. Weltkrieg trat S. mit A. Einstein und B. Russell als Warner vor den Gefahren des Atomkrieges und als Fürsprecher globalen Friedens in Erscheinung. 1951 erhielt er den Friedenspreis des Dt. Buchhandels, 1953 den Friedensnobelpreis. II. S.s bedeutsamstes theologisches Werk, die Geschichte der Leben-JesuForschung (1906, erweitert 21913), bilanziert die bisherigen (vergeblichen) exegetischen Bemühungen, um seinerseits einer konsequent eschatologischen Deutung Jesu Nachdruck zu verschaffen. S. zufolge ist Jesu Denken und Handeln bestimmt von der im Judentum seiner Zeit wurzelnden, irrigen Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Weltendes und Gottesreiches. „Mit der Eschatologie wird es unmöglich, moderne Ideen in Jesus hineinzulegen und sie von ihm durch die neutestamentliche Theologie wieder als Lehen zurückzufordern“ (GW 3, 371). Obwohl uns die praktische Aneigung von Jesu Weltanschauung verwehrt bleibe, sei uns "das Verstehen von Wille zu Wille" (GW 3, 883) möglich. Die jesuanische Liebesethik könne unabhängig von ihren historischen Entstehungsumständen aktualisiert werden. Unter eschatologische Prämissen sah S. auch Paulus stehen (Die Mystik des Apostels Paulus, 1930; vgl. Reich Gottes und Christentum, 1967, vollständig 1995). Unter dem Einfluss von J. W. v. Goethe und A. Schopenhauer, dessen pessimistische Willensphilosophie er mit F. Nietzsche in Lebensbejahung umwertete, wandte sich S. nach einem Inspirationserlebnis 1915 kulturphilosophischen Fragestellungen zu. Er konzipierte eine Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ mit kulturübergreifendem Geltungsanspruch, die auf der Universalität des Lebenswillens gründet und alles Lebensfördernde gut, alles Lebensvernichtende dagegen böse heisst. Unter Rückgriff auf eine solche Ethik hoffte S. nach dem Zusammenbruch der alteuropäischen Ordnung eine Regeneration der Kultur einzuleiten (Verfall und Wiederaufbau der Kul- tur, 1923; Kultur und Ethik, 1923. Der umfangreiche dritte Teil dieser Kulturphilosophie wurde erst 1999/2000 aus dem Nachlass veröffentlicht). III. S.s Deutung Jesu und des Urchristentums im Rahmen der Konsequenten Eschatologie hat Versuche angeregt, die liberale Theologie in dogmengeschichtlicher (M. Werner) und in systematischer Hinsicht ( F. Buri) zu erneuern, ist aber mittlerweile in den Hintergrund getreten. Eine Rezeption von S.s Kulturphilosophie hat in der Fachphilosophie (die S. des naturalistischen Fehlschlusses verdächtigt) kaum stattgefunden, sieht man von der Fruchtbarkeit ihres Ansatzes in der Ökologie-Diskussion ab. Dafür ist Schweitzer mit dem Schlagwort der „Ehrfurcht vor dem Leben“ und seinem charitativen Werk zum Inbegriff selbstloser Mitmenschlichkeit und so zum Bestandteil der Populärkultur geworden. Werke: Ges. Werke, 5 Bde., hg. von R. Grabs, 1971 (GW 1-5) ◊ Werke aus dem Nachlaß, hg. von J. Zürcher u.a., 1995ff. ◊ Predigten u.a.: Straßburger Predigten, hg. von U. Neuenschwander, 31993 ◊ Predigten 1898-1948, hg. von E. Gräßer / R. Brüllmann, 2001 ◊ Briefe u.a.: A. S. / H. Bresslau, Die Jahre vor Lambarene. Briefe 1902-1912, hg. von R. Schweitzer Miller / G. Woytt, 1992 ◊ H. W. Bähr (Hg.), A. S. Leben, Werk und Denken 1905-1965, mitgeteilt in seinen Briefen, 1987 ◊ A. S. / F. Buri, Existenzphilosophie und Christentum. Briefe 1935 - 1964, hg. von A. U. Sommer, 2000 ◊ Über S.: E. Gräßer, A. S. als Theologe, 1979 ◊ C. Frey, Christliche Weltverantwortung bei A. S. mit Vergleichen zu Dietrich Bonhoeffer, 1993 ◊ W. E. Müller, A. S.s Kulturphilosophie im Horizont säkularer Ethik, 1993 ◊ C. Günzler, A. S.. Einführung in sein Denken, 1996 ◊ A.U. Sommer, Existenzphilosophische Selbstbehauptung liberaler Theologie? (ThZ 56, 2000, 325-341) ◊ Bibliogr.: N. S. Griffith / L. Person, A. S. An International Bibliography, 1981 ◊ K. Schneider, A. S., 1998. Andreas Urs Sommer