Kinderpsychiatrie Ellwangen entwickelt ein eigenes Therapiekonzept bei Mutismus: IMT- Integrative Mutismus-Therapie Prof. Dr. med. Hellmuth Braun-Scharm Dipl. Psych. Heike Lepper Seelische Gesundheit Wenn Kinder nicht mehr sprechen Neben häufigen und gut bekannten seelischen Störungen wie Ängsten, Depressionen oder ADHS gibt es im Kindes- und Jugendalter auch seltenere Probleme, die ebenfalls einer sorgfältigen Diagnostik und Therapie bedürfen. Ein wenig bekanntes, aber doch interessantes Störungsbild ist der kindliche Mutismus (von lateinisch „mutus“, stumm). Geschichte: Die erste Beschreibung des elektiven Mutismus findet sich bei Kussmaul (1877) unter dem Begriff „aphasia voluntaria“. Die neuzeitliche Beschreibung erfolgte durch den Schweizer Kinder- und Jugendpsychiater Moritz von Tramer (1934) unter dem Begriff des elektiven Mutismus. Im angloamerikanischen Bereich dominiert der synonyme Begriff des „selektiven Mutismus“. Prof. Dr. med. Hellmuth Braun-Scharm Epidemiologie: Die meisten Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Mutismus bei etwa 2-8 pro 10 000 Kindern auftritt (Steinhausen et al.). Auch im stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich sind mutistische Störungen eher selten. Eine erhebliche Dunkelzifferproblematik ist allerdings anzunehmen. Definition: Grundsätzlich muss zwischen totalem Mutismus und elektivem Mutismus (teilweisem Mutismus) unterschieden werden. Der totale Mutismus tritt vor allem bei hirnorganischen Störungen und Psychosen (z. B. Schizophrenie) auf, der elektive Mutismus ist in erster Linie eine psychische Störung des Kindes- und Jugendalters. Ähnlich wie beim ADHS gibt es jedoch auch Mutismus im Erwachsenenalter. Mutistische Züge (Symptome) können als Bestandteil verschiedener anderer, organischer oder psychiatrischer Erkrankungen auftreten. Von Mutismus als eigener Diagnose spricht man dann, wenn die mutistische Symptomatik ganz im Vordergrund steht. Klassifikation: ICD-10 (F94.0) DSM-IV (313.23) Symptomatik: a) Die Symptomatik besteht im Wesentlichen darin, dass Sprach- und Sprechfähigkeit sowie Intelligenz weitgehend normal sind, die Kinder aber nur in einem engen Kreis von vertrauten Personen, meistens innerhalb der Familie sprechen, außerhalb dieses Kreises aber die sprachliche Kommunikation verweigern und dadurch nicht nur schwerwiegende Beziehungsprobleme verursachen, sondern auch ihre schulische und berufliche, überhaupt ihre ganze persönliche Entwicklung gefährden. b) Im Unterschied zu vielen anderen kindlichen psychischen Störungen ist Mutismus bei Mädchen häufiger als bei Jungen. Meistens besteht eine zusätzliche Angststörung, die ebenfalls behandlungsbedürftig ist. Versorgungssituation: Die Zahl erfahrener Mutismus-Therapeuten scheint sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich in Deutschland gering zu sein. Darauf weist vor allem das lesenswerte Buch von Hartmann (2006) hin, in dem Betroffene nicht nur über ihren Krankheitsverlauf, sondern auch über die Schwierigkeit berichten, spezielle Therapiemöglichkeiten zu finden. So ist es nicht verwunderlich, dass auch die Laienpresse über die Engpässe in der Mutismusbehandlung berichtet (SPIEGEL, 2006). Natürlicher Verlauf und therapeutische Erfordernisse: Der natürliche Verlauf, der normalerweise auch gewisse Einflussnahmen pädagogischer oder psychotherapeutischer Art einschließt, weißt eine hohe Unterschiedlichkeit auf. Mutistische Kinder und ihre Familien entwickeln meistens großes Geschick, die fehlende Sprache durch Mimik, Gestik, handschriftliche Nachrichten oder andere nonverbale Hilfsmittel zu ersetzen. Dadurch entsteht allerdings ein Teufelskreis, da für das Kind keine Notwendigkeit mehr besteht, die Sprache zu gebrauchen. So liegt es auch in der Therapie nahe, den ersten Zugang zum mutistischen Kind mit non verbalen Methoden, wie z.B. Musiktherapie, Kunsttherapie, Bewegungstherapie etc. zu suchen. Erfahrungsgemäß gelingt es aber auch nur einer Minderzahl von Kindern, auf diesem Wege die Sprache als vollständiges Kommunikationsverhalten wieder zu erlernen. Es ist deshalb erforderlich, eine störungsspezifische Therapie mutistischer Kinder zu praktizieren, die direkt das Ziel anstrebt, das Kind wieder zum Sprechen zu bringen. Traumatische Belastungen bzw. posttraumatische Störungen oder familiäre Probleme gehören entgegen weit verbreiteten Vorurteilen nicht zu den Hauptursachen des Mutismus, sodass die alleinige Anwendung psychotherapeutischer Basistechniken oder traumatherapeutischer Verfahren nicht sinnvoll ist. Therapeutische Möglichkeiten im Ostalbkreis: Zusätzlich zu bereits bestehenden therapeutischen Techniken (Manual von Johnson & Wintgens) ist in Ellwangen ein eigenes therapeutisches Konzept, die IMT (Integrative Mutismus-Therapie) entwickelt worden. Am Anfang der Behandlung stehen Angstminderung und Kontaktaufbau, um dem Kind überhaupt die Teilnahme an der Therapie näher zubringen und zu ermöglichen. Dazu gehören: • Aufklärung und Einbeziehung der Eltern und Angehörigen (Psychoedukation) • Angstfreies und kindgerechtes Milieu. • Empathie und Verständnis für die mutistischen Probleme. • Vertrauensaufbau durch alterstypische Spiele und Unternehmungen. Die Angstminderung bleibt auch im weiteren Verlauf der Therapie im Zentrum und ein Ziel der allgemeinen psychotherapeutischen Behandlung. Angstbehandlung: Die symptomorientierte Angstbehandlung ist die Domäne der Verhaltenstherapie in Form der sogenannten Expositionsbehandlung. Eine vorübergehende medikamentöse Behandlung ist ebenfalls möglich. Ihm folgenden sollen allerdings vor allem die sprachbezogenen Aspekte der IMT beschrieben werden: Grundsätzlich kann jede zur Verfügung stehende Methode benützt werden, um das Kind wieder zum Lautieren (Laute sprechen) zu bringen. Bei jüngeren Kindern bieten sich vor allem Spiele an, die eine gewisse Lautbildung beinhalten (Lokomotive, Biene, Bär, etc.). Aber auch technische Möglichkeiten wie z.B. das Sprechen in ein Mikrophon oder Telefonieren kann benützt werden, um dem Kind Anreize zu geben. Ein wesentlicher Aspekt der Mutismustherapie ist darin zu sehen, Sprechen als eine unter anderem auch motorische Tätigkeit „wieder“ zu erlernen. Dies beinhaltet eine Vielzahl von eher logopädischen Techniken, die in sonstigen Therapien normalerweise keinen Platz haben. Die Motivation der Kinder kann in jeder Altersstufe durch eine adäquate Psychoedukation (Aufklärung) gefördert werden. Dazu gehört auch die Vermittlung folgender Botschaften: • Sprechen hat etwas mit Gefühlen zu tun, am hinderlichsten für das Sprechen ist Angst. • Sprachlosigkeit aus Angst ist belastend, quälend und führt zu Verzweiflung und Rückzug. • Mutismus ist eine Krankheit ohne Erreger aber mit Erregung, die blockiert. • Die Therapeuten verstehen die Probleme und helfen, dass sie sich bessern. • Das Therapieprogramm baut darauf auf, dass Fortschritt und eine positive Änderung möglich und wahrscheinlich sind. • Dazu gehen wir kleine Schritte für den Einzelnen, die dann große Schritte für die Familie, die Schule und die Freunde werden können. Vorstufe: Der Beginn der Behandlung kann dadurch erleichtert werden, dass vertraute Personen wie die Mutter oder Geschwister noch als „Sprachrohr“ zur Verfügung stehen und vom Kind benutzt werden dürfen. Auch die Mitteilung über geschriebene Zettel oder in flüsternder Sprache zählen hierzu. Zu Beginn ist der Therapeut noch wesentlich aktiver als das Kind, übernimmt die Kommunikationsregie und stellt dem Kind leicht lösbare Aufgaben. Dieses und andere Hilfsmittel müssen jedoch mit der Zeit ausgeblendet werden, weil die Gefahr zu groß ist, dass das Kind auf dieser Stufe stehen bleibt. Der Hauptteil der Therapie besteht darin, erste Anfänge von Mundmotorik und Lautierung in fremder Umgebung soweit zu entwickeln, dass wieder eine zumindest annähernd normale Sprache möglich wird. Obgleich die Kinder normal sprechen können, muss aufgrund der mutistischen Symptomatik bei den Übungen auf ein Niveau zurückgegangen werden, als ob sie (fast) nicht sprechen könnten (natürlich nur bei Kindern, bei denen dieser Schritt notwendig ist). Motivationsphase: Mit den Kindern erfolgen regelmäßige und möglichst häufige Einzeltermine, in denen von Beginn an Sprache benützt wird. Den Kindern werden dabei aber längere Zeiten zum Antworten eingeräumt. Für die nachfolgenden Übungsschritte sollten ausreichende Therapiemotivation und damit Bereitschaft zur Mitarbeit sowie minimale Antwortbereitschaft auf Seiten der Kinder bestehen. Weiterhin ist gerade zu Beginn hohe Empathie und Aufmerksamkeit des Therapeuten gefordert, um kleinste wahrnehmbare Interessensbekundungen der Kinder, (Blickkontaktaufnahme, Blickrichtungsänderung, Hinwendung zum Therapeuten) aufzugreifen und zu bestärken. Ist die Basis einer ausreichenden Mitarbeit vorhanden, werden die nachfolgenden Übungsschritte und die Möglichkeit ihrer erfolgreichen Bewältigung aufgezeigt. Für gute Mitarbeit werden, wenn erforderlich, entsprechende positive Verstärker in Aussicht gestellt. Für viele Kinder ist der erste Schritt der schwerste Schritt. Deswegen ist die Motivationsphase bei mutistischen Kindern besonders wichtig. Sträuben sich Kinder z.B. dagegen, Laute zu bilden, können zuerst auch einfache Buchstaben und Sätze stimmlos gelesen, geschrieben, angehört oder mimisch dargestellt werden. Ein zu forsches Anfangstempo kann Kinder verschrecken und sollte daher vermieden werden. Andererseits sollte von Beginn an versucht werden, verständliche Sprache in das kommunikative Spektrum der Kinder wieder einzuführen. Übung 1: Erzeugen von leicht bildbaren stimmlosen Lauten: In dieser Übungsphase werden Laute vorgegeben, die einfach im vorderen Mundbereich über die Mundmotorik mit den Zähnen, der Zungenspitze oder den Lippen formbar sind. Dafür bieten sich stimmlose Plosive wie T, D, P, B an. Übung 2: Modulation der stimmlosen Laute: Mittels rhythmischer Vorgaben mehrerer Laute wird trainiert, das Tempo und Lautstärke der Lauterzeugung zu variieren. Übung 3: Aufbau stimmloser Konsonant-Vokal-Verbindungen: Dem Kind werden in dieser Übungsphase Laute vorgegeben, die stimmlos einen Konsonanten mit einem Vokal verbinden (Bo, To, Po etc.). Das Kind arbeitet beim Erzeugen dieser Verbindungen nur über den Luftstrom des Ausatmens. Übung 4: Verlängern von Wörtern aus Zusammensetzen der stimmlosen Konsonant-Vokal-Verbindungen: Mittels Anhängen eines Konsonanten wird geübt, die stimmlosen Konsonant-Vokal-Verbindungen zu Worten zu erweitern. (z.B. Bo, Booo, Booo-t, P, Pau, Paula). Die bislang erarbeitete Technik der Lautformung unter zu Hilfenahme der Atmung reicht für längere Wörter nicht mehr aus, weshalb die Bildung dieser Vokale und Konsonanten begrenzt ist. Analog werden stimmlos einfache Sätze über diese Technik gelesen und kurze Sätze eingeübt, über die das Kind anstelle von Mimik, Gestik oder Schreiben im Alltag kommunizieren soll. Übung 5: Atmung und Vokalisation: Es werden Übungen zur Unterscheidung von Atemtechniken über Brust und Bauch durchgeführt. Übung 6: Aufbau stimmhafter Konsonant-Vokal-Verbindungen: Mit dem Kind wird über das „Fließen lassen“ des Luftstroms beim Ausatmen geübt, die Konsonant-Vokal-Verbindungen kräftiger bis stimmhaft zu erzeugen. Übung 7: Einführung der Fließlaute (Frikative): Zu den Frikativen zählen u.a. F, stimmhaftes S, Sch, W. Der Vorteil der Frikative besteht darin, dass vermehrt die Luft bzw. die Atmung zur Lautbildung eingesetzt werden (muss). Dadurch kann sowohl die Dauer, als auch die Lautstärke moduliert werden. Diese Übungen sollten durch gleichzeitige Atemübungen, insbesondere Bauchatemübungen, ergänzt werden, auch um eine Überlastung von Mundmotorik und Stimmlippen zur vermeiden. Die Kommunikation im Alltag wird nun zunehmend stimmhaft vom Kind eingefordert. Übung 8: Entwicklung normaler Sprache: Dieser Schritt besteht vor allem in der Erhöhung der Lautstärke und Verbesserung der Aussprache. Spätestens ab dieser Situation ist die intensive Einbeziehung der Familie notwendig. Die Eltern und Geschwister erhalten Co-Autoren-Funktion, außerdem werden symptomstabilisierende Familienstrukturen bearbeitet. Übung 9: Aufbau von Spontansprache (Lautierung und Syntax): Regelrechte Anwendung von Grammatik und Bildung erweiterter Satzstrukturen. Zum Aufbau einer Sprachmelodie bietet sich das Lesen einfacher gereimter Texte mit entsprechenden Betonungen an. Nächste Schritte….. Über genaue Rückmeldung und den Vergleich mit Tonbandaufnahmen der eigenen Stimme kann dem Kind verdeutlicht werden, was zu verbessern ist. Freies Sprechen, das dem Kind in dieser Übungsphase in der Regel noch schwer fällt, wird mit dem Training sozialer Fertigkeiten und spezifischen Aufgabenstellungen verknüpft. Jeder in der Einzeltherapie erarbeitete Fortschritt kann in der Übertragung auf weitere Personen ausgebaut werden (innerhalb einer Klinik bieten sich dafür vor allem andere Mitarbeiter an). Übungserfolge können so gefestigt werden und das Kind kann schrittweise seine Ängste in unterschiedlichen sozialen Kontexten abbauen. Entscheidend bleibt, dass die Kinder auch in ihrer normalen Umgebung (Schule, Spielplatz etc.) sprechen. Erweist sich ein therapeutisches Konzept wie die IMT als nicht ausreichend, kann das Manual von Johnson & Wintgens als Grundlage für Anregungen und Erweiterungen hinzugezogen werden. Zusammenfassung: Die integrative Mutismus-Therapie besteht im Wesentlichen aus den Bausteinen • störungsspezifische Sprachtherapie • Angstbehandlung (inclusive event. Medikation) und Training sozialer Fertigkeiten • Familientherapie • verschiedene ergänzende Therapiebausteine (Musiktherapie…..) • eventuell Medikation • Die IMT wurde in erster Linie für jüngere Kinder (< 10 Jahre) entwickelt Wie Sie die Kinder- und Jugendpsychiatrie Ellwangen der St. Anna-Virngrundklinik erreichen können: Die Abteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie Ellwangen der St. Anna-Virngrundklinik verfügt über 2 Ambulanzen. 1) St. Anna-Virngrund-Klinik Psychiatrische Institutsambulanz Dalkinger Str. 8-12 73479 Ellwangen Anmeldung über das Sekretariat Tel. 07961/ 881-2601 Fax: 07961/ 881-2603 2) Psychiatrische Institutsambulanz Schwäbisch Gmünd Heugenstraße 1 73525 Schwäbisch Gmünd Anmeldung über das Sekretariat Tel.: 07171/ 1808-20 Fax: 07171/ 1808-25 Literatur: American Psychiatric Association, 1994, Diagnostic and statistical manual of mental disorders, 4th Edition (DSM-IV), Washington, DC, American Psychiatric Association. Der Spiegel, 2006, Stilles Leiden, 7, pp148-149. Hartmann B (Hrsg.), Gesichter des Schweigens, Die Systemische Mutismus-Therapie/SYMUT als Therapiealternative, Schulz-Kirchner-Verlag GmbH, Idstein 2006. Johnson M & Wintgens A, The Selective Mutism Resource Manual, Speechmark Publishing Ltd. Telford Road, Bicester, Oxon, 2001. Kumpulainen K, Rasanen E, Raaska, H & Somppi V, 1998, ´Selective mutism among secondgraders in elementary school´ European Child and Adolescent Psychiatry, 7, pp24-9. Kussmaul A, 1877, Störungen der Sprache, Leipzig: FCW Vogel. Steinhausen HC & Adamek R, 1997, ´The family history of children with elective mutism: a research report, European Child & Adolescent Psychiatry 6, pp107-111. Steinhausen HC & Juzi C, 1996, ´Elective mutism: an analysis of 100 cases´, Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 35, pp 606-614. Steinhausen HC, Wachter M, Laimböck K, Winkler Metzke C, 2006, A long-term outcome study of selective mutism in childhood, Journal of Child Psychology and Psy-chiatry 47:7, pp 751-756. Tramer M, 1934, ´Elektiver Mutismus bei Kindern´, Zeitschrift für Kinderpsychiatrie 1: 30-35. World Health Organisation, 1994, International statistical classification of diseases and related health problems (ICD-10), 10th revision, World Health Organization, Geneva. April 2008 Quellenangabe: Prof. Dr. med. Hellmuth Braun-Scharm - 15.04.08