Brauchen wir eine neue Moral?

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GILBERT SCHARIFI (HRSG.)
Brauchen wir eine neue Moral?
Herausforderungen der Ethik
durch die Neurowissenschaft
mentis
PADERBORN
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Einbandgestaltung: Anne Nitsche, Dülmen (www.junit-netzwerk.de)
Satz und Druck: Druckhaus Plöger, Borchen
ISBN 978-3-89785-729-2
Gilbert Scharifi
Einleitung
Die doppelte Herausforderung durch die Neurowissenschaft
Die im Titel angesprochene Herausforderung ist eigentlich eine zweifache:
Die erste Herausforderung besteht darin, dass der rapide Fortschritt in der
Neurowissenschaft und den angrenzenden Disziplinen eine Vielzahl von
neuen medizinisch-technischen Handlungsmöglichkeiten eröffnet, zu denen
wir moralisch Stellung beziehen müssen. Die zweite Herausforderung
betrifft die allgemeinen Grundlagen der Ethik selbst: Der Erkenntnisfortschritt in diesen Disziplinen stellt einige der zentralen Annahmen und Konzeptionen in Frage, auf denen unsere ethischen Prinzipien beruhen.
Diese Herausforderungen werden von manchen Wissenschaftlern und
Philosophen als so gravierend empfunden, dass sie eine neue Ethik für notwendig erachten.1
Die moralische Bewertung neuer medizinisch-technischer
Interventionsmöglichkeiten
Zweifellos sind viele der Entwicklungen innerhalb der Neurowissenschaft
äußerst beeindruckend, aber das heißt nicht unbedingt, dass sie auch eine
neue Ethik erforderlich machen – schließlich bringt jeder wissenschaftlichtechnische Fortschritt prinzipiell neue Handlungsoptionen mit sich, die wir
ethisch bewerten müssen. Normalerweise stellen solche Entwicklungen die
Ethik nicht vor besondere theoretische oder methodische Herausforderungen; zumeist geht es »lediglich« um die Frage nach der richtigen Anwendung
bereits akzeptierter ethischer Prinzipien auf die neuen Handlungsoptionen.
Warum sollten also ausgerechnet die Möglichkeiten, die durch die neurowissenschaftlichen Entwicklungen geschaffen werden, eine neue Ethik
erfordern? Wieso sollte es nicht stattdessen möglich sein, die aufgeworfenen
Fragen bereits befriedigend im Rahmen der bestehenden allgemeinen Bio1 Vgl. z. B. Illes (2006).
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oder Medizinethik zu beantworten? Was sind die mutmaßlichen Besonderheiten neurotechnischer Manipulationen, die eventuell die Forderung nach
einer eigenständigen Bereichsethik rechtfertigen könnten?
Prima facie weisen neurotechnische Manipulationen zumindest zwei
Merkmale auf, die eine spezifische moralische Problematik in sich tragen
könnten. Erstens: dem Organ, das den primären Gegenstand der neurotechnischen Eingriffe bildet, kommt ein ganz besonderer Status zu. Zweitens:
vielleicht werfen die Möglichkeiten des sogenannten enhancements keine
grundsätzlich neuen philosophischen Fragen auf, aber einige bisher vernachlässigte Fragen stellen sich angesichts dieser Möglichkeiten umso dringlicher.
Der besondere Status des Gehirns
Ein Eingriff am Gehirn – gleichgültig, ob es sich um einen pharmakologischen oder invasiven Eingriff handelt – ist in moralischer Hinsicht brisant,
da das Gehirn nicht irgendein Organ ist, sondern eben dasjenige Organ,
durch das unsere kognitiven Fähigkeiten, unser emotionales Erleben und
unsere Persönlichkeit realisiert sind. Daraus ergeben sich eine Reihe von
spezifischen Schwierigkeiten für die ethische Bewertung möglicher Eingriffe
an diesem Organ: (i) Probleme im Hinblick auf die diachrone personale
Identität der Patienten: Wir können einem Patienten eine neue Niere einpflanzen, ohne dass dadurch die Frage aufgeworfen würde, ob es sich vor
und nach dem Eingriff um dieselbe Person handelt. Ganz anders lägen die
Dinge, wenn man dem Patienten ein neues Gehirn implantieren würde.
Natürlich beschreibt diese Vorstellung keine reale oder auch nur für die
absehbare Zukunft wahrscheinliche Möglichkeit. Aber sie wirft die Frage
auf, wo die Grenze verläuft – wie viel Manipulation am Gehirn überlebt die
Person, und wann wird diese Grenze überschritten, so dass ein anderer aus
der Narkose erwacht? Würden wir Teile des Gehirns durch synthetische
oder technische Prothesen ersetzen, wären wir darüber hinaus sogar mit der
Frage konfrontiert, ob es sich bei dem Patienten nach einer solchen Operation überhaupt noch um eine menschliche Person handelt. Eine spezifische
Schwierigkeit von Eingriffen am Gehirn besteht darin, dass – wie Vogeley &
Newen es ausdrücken – die »registrierende Instanz« mit dem »Gegenstand
der Manipulation« zusammenfällt: Ein Patient, der über einen möglichen
Eingriff an seinem Gehirn entscheidet, entscheidet dabei gerade über das
Schicksal jenes Organs, welches diesen Entscheidungs- und Bewertungsprozessen zugrunde liegt.
Vogeley & Newen sowie Köchy & Norwig heben in ihren Beiträgen die
besondere ethische Brisanz solcher Maßnahmen hervor und halten die Forderung nach einer bereichsspezifischen Neuroethik für begründet, während
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Lenzen argumentiert, dass der neurowissenschaftliche Fortschritt keine
neuen »schwierigen« Probleme aufwerfe, die sich nicht schon im Rahmen
der bestehenden Bioethik beantworten ließen.
Enhancement
Ein weiteres, relativ spezifisches Problem betrifft das sogenannte enhancement, also Maßnahmen, die wir intuitiv nicht als »therapeutisch« betrachten
würden, sondern als lediglich »gesundheits- oder leistungssteigernd«.2 Mit
dieser Gegenüberstellung von »therapeutischen« und lediglich »gesundheitsoder leistungssteigernden« Maßnahmen würden wir natürlich einen Begriff
von Gesundheit (bzw. Krankheit) voraussetzen, den es philosophisch zu
explizieren und zu verteidigen gelten würde. Und selbst wenn dies gelingen
sollte, wäre nicht klar, wie die fraglichen nicht-therapeutischen Maßnahmen
moralisch zu bewerten wären. Das enhancement betrifft gegenwärtig vor
allem mutmaßlich leistungssteigernde oder stimmungsaufhellende Medikamente (wie beispielsweise Modafinil oder selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer), könnte zukünftig aber durchaus auch
bestimmte neurochirurgische Eingriffe umfassen – vgl. dazu die Beiträge von
Demmerling, Lenzen, Vogeley & Newen. Schließlich könnte man sogar prädiktive Gentests für die Anlage besonderer Talente, wie sie Henn in seinem
Beitrag diskutiert, zu den enhancement-Maßnahmen zählen, weil sie eventuell eine gezielte Frühforderung ermöglichen.
Neurowissenschaftlicher Fortschritt und die Grundlagen der
Ethik
In theoretischer Hinsicht zwingt uns der neurowissenschaftliche Fortschritt,
unsere ethisch-anthropologischen Grundbegriffe zu hinterfragen, und wirft
die Frage nach den Grundlagen der Moralität selbst auf. Manche dieser Fragen berühren den Kern unseres Selbstverständnisses als menschliche Wesen.
Willensfreiheit, Schuld und Verantwortlichkeit
Einige Neurowissenschaftler3 haben sich in jüngerer Zeit dahingehend
geäußert, dass angesichts der empirischen Befunde die Ideen von Freiheit,
2 Vgl. z. B. Hildt & Metzinger (2010); Parens (2000); Birnbacher (2006); Gesang (2006).
3 Z. B. Roth (2001, 2004); Singer (2003, 2004); W. Prinz (1996, 2004).
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Schuld oder Verantwortlichkeit nicht länger aufrecht zu erhalten seien.
Beckermann und Lenzen wenden sich vehement gegen diese Auffassung;
Müller & H. Walter untersuchen in ihrem Beitrag die strafrechtlichen Konsequenzen der einschlägigen neurowissenschaftlichen Befunde; S. Walter
gibt der Auffassung Ausdruck, dass weder die Philosophie noch die empirische Wissenschaft allein die Frage beantworten können, wie frei wir tatsächlich sind.
Moralisches Urteilen: Lassen sich normative Fragen empirisch
entscheiden?
Während Psychologie und Biologie lange Zeit »Moralität« einfach mit
altruistischem oder prosozialem Verhalten gleichsetzten, hat sich in jüngerer
Zeit ein Forschungszweig etabliert, der sich mit der Erforschung der Natur
genuin moralischer Urteile und Kategorien beschäftigt.4 Einige Forscher leiten aus den empirischen Befunden philosophisch-normative Folgerungen
ab – etwa zugunsten einer naturalistischen Ethik5 oder für einen grundsätzlichen moralischen Skeptizismus6. Joshua Greene, mit dessen Arbeiten sich
hier Schleim und Scharifi kritisch auseinandersetzen, argumentiert auf der
Grundlage (neuro-)psychologischer und soziobiologischer Befunde für eine
utilitaristische Moral.
Die Beiträge im Einzelnen
Kriteriologie der Neuroethik
von Kai Vogeley & Albert Newen
Vogeley & Newen argumentieren, dass der Ruf nach einer bereichsspezifischen Neuroethik begründet sei, und die Probleme, die sich durch die Entwicklungen in der Neurowissenschaft ergeben, nicht schon durch die
allgemeine Bioethik abgedeckt würden. Sie verweisen auf die bereits
erwähnte Besonderheit neurotechnischer Manipulationen: Ein solcher Eingriff betrifft gerade dasjenige Organ, welches, salopp gesagt, über den Eingriff entscheiden soll.
Sie schlagen vier Kernkriterien als Grundlage für die ethische Beurteilung neurotechnischer Eingriffe vor. Die vorgeschlagenen Kriterien berücksichtigen Ziel, Modell, Mittel und Zweck der Intervention:
4 Z. B. Haidt (2001); Harris & Nunez (1996); Smetana & Braeges (1990); Turiel (1998).
5 Campbell (1996); Casebeer (2003).
6 Vgl. Joyce (2001, 2006).
Einleitung
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– Zielt die Intervention auf eher periphere Leistungen des ZNS wie Wahrnehmung und motorische Steuerung oder betrifft sie »nukleäre« Leistungen, welche die »Kerneigenschaften der Person« bedingen? Um
diese Frage zu beantworten müssen wir, so die Autoren, in einem ersten
Schritt einen Katalog personaler Identitätskriterien bestimmen und dann,
in einem zweiten Schritt, die neuralen Korrelate dieser personalen Kerneigenschaften empirisch identifizieren.
– Die ethische Legitimierbarkeit eines Eingriffs hängt, so die Autoren,
nicht zuletzt auch vom »Grad der Belastbarkeit« des »Modells der Intervention« ab, d. i. das verfügbare Wissen über die neurale Realisierung der
zu beeinflussenden Leistungen.
– Die Mittel der Intervention betreffen u. a. die Art des Eingriffs sowie
Ausmaß, Reversibilität und Latenz der durch den Eingriff bewirkten
Veränderung.
– Handelt es bei der Intervention um eine therapeutische, um eine präventive oder lediglich um eine gesundheitssteigernde Maßnahme (i. S. eines
enhancements)? Welchen ethischen Stellenwert sollten wir diesen Unterscheidungen beimessen?
Von der Neuroethik zur Neuroanthropologie: Die Frage nach dem Menschen angesichts aktueller Neurotechniken
von Kristian Köchy & Martin Norwig
Köchy & Norwig gehen über die von Vogeley & Newen erhobenen Forderungen hinaus: Ergänzend zu den »praxisbezogenen Kriterien und
Mischnormen« (Machbarkeit, Reversibilität, Risiko, Schadensvermeidung,
Verbesserung der Lebensqualität) fordern sie die Berücksichtigung der
»anthropologischen Konsequenzen der zunehmenden Technisierung des
menschlichen Körpers«.
Anknüpfend an Hans Jonas und Jürgen Habermas befürchten sie, dass
innerhalb des »neurotechnischen Handlungsrahmens« das »reziprok symmetrische Anerkennungsverhältnis« aufgehoben wird, welches im alltäglichen Kontext die Beziehungen zwischen Akteuren bestimmt: Der Patient
steht dann, so die Befürchtung, dem Arzt oder Forscher nicht mehr als Mitmensch gegenüber, sondern wird zur bloßen Sache degradiert.
Durch gewisse Arten von neurotechnischen Eingriffen sehen die Autoren darüber hinaus den ontologischen Status des Menschen – in Abgrenzung
zu Tieren bzw. technischen Artefakten – bedroht. Sie schlagen die Unterscheidung von drei neurotechnischen Handlungstypen vor:
– Soft manipulation: nicht-invasive Eingriffe in die Funktion, aber nicht in
die Struktur des ZNS,
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