FORUM ERNÄHRUNGSMEDIZIN Wissenschaftliche Ernährungsinformation Übergewicht bei Kindern PROF. DR. V. PUDEL Wissenschaftliche Ernährungsinformation Übergewicht bei Kindern Eine Initiative des FORUM ERNÄHRUNGSMEDIZIN „Wissenschaftliche Ernährungsinformation Übergewicht bei Kindern” ist eine Broschüre in der Reihe von ernährungsmedizinischen Informationsschriften, die im FORUM ERNÄHRUNGSMEDIZIN erscheint. Das FORUM ERNÄHRUNGSMEDIZIN ist eine Initiative der KELLOGG (DEUTSCHLAND) GMBH. Inhaltsverzeichnis Weitere Broschüren und Informationen können Sie anfordern beim: FORUM ERNÄHRUNGSMEDIZIN Postfach 700842, 60558 Frankfurt a. M. Telefax 069/96 36 52-15 Zusätzlich sind bisher erschienen: Eine Einführung Indikation Osteoporose Antioxidantien Ballaststoffe Folsäure (mit zusätzlichem Faltblatt zur Ausgabe ans Publikum) Editorial 4 Übergewicht – was ist das? 6 Übergewicht – wie häufig kommt es vor? 10 Übergewicht – Ätiologie und Ursachen 11 Übergewicht – Therapie und Prävention 18 Übergewicht beim Kind – Ausblick 36 Ausgewählte Literatur 38 IMPRESSUM Herausgeber: FORUM ERNÄHRUNGSMEDIZIN 60558 Frankfurt a. M. Autor: Prof. Dr. V. Pudel 37077 Göttingen Redaktion: :relations GmbH 60596 Frankfurt Layout und Satz: Christa Herzer 60596 Frankfurt Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne ausdrückliche Genehmigung der KELLOGG (DEUTSCHLAND) GMBH reproduziert werden. © FORUM ERNÄHRUNGSMEDIZIN 1. Auflage 1999 1299/5000 Druck: Hella Pukowski 63452 Hanau 3 Editorial „Gesunde Kinder sind runde Kinder“ – daran änderte auch Twiggy nichts Der pralle niedliche Säugling lächelte von so manchem Plakat, das der Mutter die Vorzüge einer Babykost nahebringen wollte. Gesunde Kinder sind runde Kinder. Selbst als Twiggy Mitte der 60er Jahre das extreme Schlankheitsideal visualisierte und Millionen von Frauen auf Diät gingen, mussten Kinder vor „Gesundheit nur so strotzen“. Vor allem: Gut essen mussten sie, denn schlechter Appetit war das untrügliche Zeichen einer drohenden Krankheit. Die meisten Mütter erkennen Übergewicht nicht einmal beim eigenen Kind So wuchsen Kinder heran, von denen immer mehr auch im späteren Kindesalter nicht nur prall, sondern richtig dick wurden. Das kindliche Übergewicht ist bis heute ein Phänomen, das von vielen Müttern nicht einmal beim eigenen Kind wahrgenommen wird. In Deutschland wurden 1984 repräsentativ ausgewählt Tausende von Müttern gebeten, anhand von grafischen Silhouetten, die Mädchen und Jungen in verschiedenen Altersgruppen von untergewichtig bis erheblich übergewichtig darstellten, ihr eigenes Kind einzustufen. Es ist kaum zu glauben, dass nur 8% aller Mütter, deren Kind objektiv um mehr als 25% übergewichtig war, auch eine „übergewichtige“ Silhouette wählten. 28% dieser Mütter deuteten auf eine „sehr schlanke“, 33% auf eine „schlanke“ und 20% auf eine „normalgewichtige“ Silhouette. Untergewicht dagegen erkannten die Mütter deutlich besser: 80% wählten für ihr Kind, das mindestens 15% unter dem Normgewicht lag, eine „schlanke“ Silhouette. Die Aufgabe: Mütter sensibilisieren, dass dick nicht gleichbedeutend sein muss mit gesund Die Ursachen für Übergewicht werden heute differenzierter aufgefächert 4 Dünne Kinder werden richtig eingestuft. Dicke Kinder dagegen kaum. Hier hat der Pädiater eine wichtige, wenngleich nicht einfache Aufgabe. Er müsste die Mütter sensibilisieren, sie darauf aufmerksam machen, dass ein zu dickes Kind nicht darum auch gleichzeitig ein gesundes Kind ist. Doch das ist leicht gesagt, aber schwer vermittelbar, wenn die stolze Mutter ihr Kind vorstellt, von dem sie selbst überzeugt ist, dass es so richtig wohl genährt nur Gesundheit repräsentiert. Von Jahr zu Jahr werden die Kinder in Deutschland (aber auch in anderen Industrienationen) immer dicker. Was sind die Gründe? Die einfache Ursachenzuschreibung „Die essen halt zuviel“ hat die Forschung in den letzten Jahren differenzierter aufgefächert. Genetische Dispositionen wurden festgestellt. Biologische Regelkreise, die auch das Körpergewicht betreffen, sind ansatzweise bekannt. Evolutionsbiologische Prinzipien sind stärker in die Diskussion gekommen. Verändertes Essverhalten, aber auch die Bedeutung der körperlichen Aktivität sind wesentliche Faktoren, die in dem multikausalen Geschehen der Manifestation von Adipositas gesehen werden müssen. Die Zeiten, in denen Laien und Experten dem dicken Kind „geraten“ haben, weniger zu essen, sollten vorbei sein. Es sind heute Trainingsprogramme entwickelt worden, die eher an den Ursachen angreifen, dem Kind besser und langfristiger helfen können und überdies mehr auf ein Verständnis der schwierigen Situation aufbauen, in der sich das dicke Kind befindet. So wird auch in den folgenden Kapiteln die Frage nach „Schuld“ oder „Schicksal“ gestellt (und beantwortet), die heute bekannten Forschungsergebnisse werden kurz dargestellt, um dann die wichtigsten Maßnahmen für Prävention und Therapie zu beschreiben. Mit Trainingsprogrammen die Ursachen angreifen Übergewicht ist kein unausweichliches Schicksal, aber wenn es nicht (oder gar falsch) behandelt wird, kann es zu einem lebenslangen, unausweichlichen Problem werden, das die Lebensqualität und die Gesundheit erheblich beeinträchtigt. Patentrezepte für die Therapie gibt es nicht, denn schließlich hat das biologische Fettspeicherprogramm der Evolution das Überleben der Menschheit erst ermöglicht. So genial dieses Programm der Evolution war, so tückisch beeinträchtigt es die Gesundheit heute im Überfluss ohne Missernten und Notzeiten. Eine Adipositastherapie versucht, den Menschen zu trainieren, sein Verhaltensmanagement gegen ein uraltes Naturprogramm erfolgreich durchzusetzen. Dazu bedarf es mehr als ein paar guter Worte. Patentrezepte für die Therapie gibt es nicht Begleitend zu dieser Fachbroschüre bietet die KELLOGG (DEUTSCHLAND) GMBH eine Broschüre „Frühstück kinderleicht gemacht – Mit Pfunds -Tips bei Gewichtsproblemen“ an, die zur Weitergabe an interessiertes Publikum gedacht ist. Exemplare davon können kostenfrei beim FORUM ERNÄHRUNGSMEDIZIN (Adresse siehe Impressum) angefordert werden. 5 Übergewicht – was ist das? Die Frage, wann ein Kind als übergewichtig gilt, ist schwer zu beantworten Messmethoden für den Anteil an Körperfett sind oft aufwendig oder ungenau. Für die Praxis gelten nach wie vor einfache Schätzverfahren Eine Adipositas liegt vor, wenn das Körpergewicht bezogen auf die Körperlänge den Toleranzbereich überschreitet und wenn das Zuviel an Gewicht auf einem Zuviel an Körperfett beruht 6 Die einfache Frage, ab welchem Gewicht ein Kind von einer bestimmten Größe an übergewichtig ist, ist schwer zu beantworten. Der Grund wiederum ist einfach einzusehen: Es gibt kaum abgesicherte Studienergebnisse an Kindern, die anhand von manifesten Risikofaktoren bestimmen lassen, wann ein kritisches Gewicht beginnt. Zudem muss zwischen übergewichtig und adipös unterschieden werden. Schwere Kinder (mit großen Muskelpartitionen) wiegen überdurchschnittlich viel, sind also übergewichtig, aber nicht unbedingt adipös. Das sind sie erst bei einem Zuviel an Körperfett. Bestimmung von Körperfett Adipositas also beschreibt einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Körperfett im Vergleich zur fettfreien Körpermasse. Nun lässt sich der Anteil des Körperfettes aber nur mit erheblichem technischen Aufwand messen. So kann mit der Densitometrie („goldener Standard“) durch Unterwasserwiegen die Gesamtkörperdichte bestimmt werden. Auch die Duale X-Ray-Absorptionsmethode (DXA) ist sehr genau, aber ebenfalls aufwendig und teuer. Die Hautfaltenbestimmung ist im Einzelfall dagegen zu ungenau und wird eher in der Forschung bei Untersuchungskollektiven eingesetzt. Die bioelektrische Impedanzanalyse (BIA) misst die Leitfähigkeit im Körper sehr genau, interpoliert von diesem Wert auf den Wassergehalt und dann auf den Fettanteil. Einzelmessungen sind häufig ungenau. Verfahren mit Röntgenstrahlen (CT oder NMR) sind teuer und bei Kindern kaum einsetzbar. So bleiben für die Praxis einfache Schätzverfahren, die von Gewicht und Körpergröße ausgehen. Bewertung des Gewichts Zur Diagnostik einer Adipositas bei Kindern können Somatogramme herangezogen werden, die entsprechend der Körpergröße einen Toleranzbereich für das Gewicht zuordnen. Wird dieser Toleranzbereich überschritten und beruht das Zuviel an Gewicht auf einem Zuviel an Körperfett, ist eine Intervention angezeigt. In der Pädiatrie setzt sich inzwischen auch der Body-Mass-Index durch, der nach folgender Formel berechnet wird: BMI = Körpergewicht (kg)/Körpergröße (m)2. Aber anders als bei Erwachsenen gibt es im Kindesalter keine festen Grenzwerte beim BMI, deshalb wird für die Praxis empfohlen, sich an Tabellenwerken (Tab. 1, Seite 7) zu orientieren. Die Grenzwerte beim BMI sind für Altersgruppen unterschiedlich festgelegt. Die relative Körperzusammensetzung ändert sich bei Kindern mit dem Alter: Abnahme des relativ hohen Fettgewebeanteils nach dem ersten Lebensjahr, um dann ab dem sechsten Lebensjahr wieder überproportional anzuwachsen. Dieser Anstieg im siebten Lebensjahr ist als „adipositas rebound“ bezeichnet worden. Kinder mit einem relativ frühen Einsetzen des „rebounds“ sind im Jugendalter eher übergewichtig als Kinder, die ihren „rebound“ altersgemäß mit sieben Jahren und später erreichen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat bereits 1984 eine Tabelle publiziert, die für Jungen und Mädchen gleichermaßen für eine bestimmte Körperhöhe einen Toleranzbereich des Gewichts erkennen lässt. Körpergröße in cm 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 Toleranzbereich Körpergewicht in kg von bis 11 11 11 11 11 12 12 12 12 13 13 14 14 15 15 16 16 17 17 18 19 20 20 21 22 23 24 25 13 13 14 14 15 15 16 17 17 18 19 19 20 21 22 23 23 24 25 26 27 28 29 30 32 33 34 35 Körpergröße in cm 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 164 166 168 170 172 174 176 178 180 182 184 186 188 190 Toleranzbereich Körpergewicht in kg von bis 26 27 28 29 30 31 33 34 35 37 38 39 41 42 44 46 47 49 51 52 54 56 58 60 62 64 66 69 37 38 39 41 42 44 45 47 48 50 52 54 55 57 59 61 63 65 67 69 72 74 76 78 81 83 86 88 Je früher der „adipositas rebound“, desto eher übergewichtig im Jugendalter Tab. 1: Toleranzbereich um das Referenz-Körpergewicht, in dem 80% aller Kinder und Jugendlichen liegen. Überschreitet das Gewicht eines Kindes den oberen Wert des Toleranzbereichs, gilt es als übergewichtig. Quelle: DGE Ernährungsbericht 1984 7 Auch bei Kindern muss bei einem ungünstigen Fettverteilungsmuster mit erhöhten Folgeproblemen gerechnet werden Abb. 1: Unterschiedliche Fettverteilungsmuster: viszeral = „Apfeltyp“ gynoid = „Birnentyp“ Psychische Belastungen durch das gesellschaftlich definierte Schlankheitsideal dominieren bei adipösen Kindern und Jugendlichen 8 Der erhöhte Anteil an Körperfett führt zu einer Reihe von sekundären Erkrankungen, die zumeist erst im Erwachsenenalter auftreten, bisweilen aber bereits schon bei adipösen Kindern diagnostizierbar sind, so z.B. Fettstoffwechselstörungen, Diabetes mellitus Typ 2, Hypertonie (WHO) oder Abnutzungserscheinungen an Gelenken (v. a. Knie und Hüfte). Analog zu Befunden an Erwachsenen wird auch für Kinder mit einem ungünstigen Fettverteilungsmuster mit erhöhten Folgeproblemen der Adipositas gerechnet, obschon die Befunde nicht ganz einheitlich sind. Ungünstig ist das androide, viszerale Verteilungsmuster mit einem Quotienten aus Taillen- und Hüftumfang über 0,85 (weiblich) oder 1,0 (männlich). Umgangssprachlich wird die viszerale Fettverteilung auch als „Apfeltyp“, das gynoide Muster als „Birnentyp“ bezeichnet. Apfeltyp Birnentyp Begleitprobleme der Adipositas Deutlicher als die somatischen Begleiterkrankungen sind die psychischen Belastungen bei adipösen Kindern beschrieben worden. Ausgelöst durch das gesellschaftlich definierte Schlankheitsideal – die extrem schlanke Barbie-Puppe ist verbreitetes Spielzeug für Kinder – sind viele Kinder und Jugendliche mit ihrem Gewicht, auch wenn sie (noch) nicht adipös sind, unzufrieden, halten ständig „Diät“ oder nehmen Laxantien. Übereinstimmend zeigen denn auch Untersuchungen, dass eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper ein typisches Kennzeichen der adipösen Kinder ist. Uneinheitlich sind die Befunde für erhöhte Depression oder gesteigerte Angst. Es gibt immer wieder Studien, die insbesondere bei klinischen (Therapie)-Gruppen eine deutliche Belastung durch emotionale Probleme aufzeigen, doch werden diese Befunde in großen, unausgelesenen Stichproben von adipösen Kindern nicht grundsätzlich bestätigt. Klarer sind die Befunde zu sozialen und schulischen Problemen. Adipöse Kinder werden von ihrer sozialen Umwelt zu einem großen Teil für ihr Problem selbst verantwortlich gehalten. Dies begünstigt die soziale Ablehnung und verstärkt Probleme in der sozialen Interaktion. Allerdings ist innerhalb der Kindergruppe selbst kein deutlich negativ emotionales Image für „dicke Kinder“ feststellbar. Sie werden zwar für träge und faul gehalten (Leistungsaspekt), aber auch für gutmütig, einsam und freundlich (Sozialaspekt). Amerikanische Studien zeigen jedoch, dass adipöse Jugendliche im Berufsleben und bei der Partnerwahl erhebliche Nachteile haben. Psychologische Studien an adipösen Kindern haben keine eindeutigen Resultate erbracht, die eine spezifische Persönlichkeitsstruktur als prädisponierenden Faktor für die Adipositas erkennen lassen. Zu gleichen Einsichten ist auch die Forschung für die Adipositas bei Erwachsenen gekommen. Wenn psychische Auffälligkeiten diagnostiziert werden, dann handelt es sich um Folgen der Adipositas und ihrer sozialen Stigmatisierung, nicht aber um mögliche Ursachen für die Gewichtszunahme. Die kindliche Adipositas ist ein Risikofaktor für das Kind. Die somatischen Begleiterkrankungen, mit denen langfristig gerechnet werden muss, stehen bei Kindern aktuell nicht so im Vordergrund wie die psychischen Risiken, denen das Kind in seiner sozialen Umwelt ausgesetzt ist. Eindeutige Befunde, die die Ursache der Adipositas in der Persönlichkeit des Kindes sehen, sind nicht vorgelegt worden. Es ist zweifellos notwendig, Kindern eine effektive Therapie angedeihen zu lassen. Adipöse Kinder erleben häufig soziale Ablehnung und haben Probleme in der sozialen Interaktion Studien konnten keine spezifische Perönlichkeitsstruktur als prädisponierenden Faktor für Adipositas ausmachen Adipositas ist ein Risikofaktor für das Kind und bedarf der effektiven Therapie 9 Die letzte repräsentative Untersuchung 1984 ergab: Ca. 17% der Kinder und Jugendlichen waren übergewichtig Einige regional angelegte Studien konstatierten einen Anstieg des Übergewichts bei Kindern Die Wahrscheinlichkeit, dass dicke Kinder auch als Erwachsene übergewichtig bleiben, ist sehr groß Übergewicht – wie häufig kommt es vor? Übergewicht – Ätiologie und Ursachen Die Prävalenz der Adipositas im Kindesalter ist hoch. Die exakten Zahlen werden jedoch von den Indizes und den Grenzwerten bestimmt, die der Diagnose der Adipositas zugrunde gelegt werden. Die letzte repräsentative Untersuchung von deutschen Kindern und Jugendlichen zwischen 4 und 18 Jahren wurde 1984 vorgenommen. Der Ernährungsbericht berichtete, dass 5% der Kinder und Jugendlichen das für ihre Körpergröße adäquate Referenzgewicht um 25% und weitere 12% um 15% überziehen. Damit waren 1984 etwa 17% der Kinder und Jugendlichen übergewichtig. Eindeutige Zusammenhänge zwischen kindlicher Adipositas und z. B. Sozialschicht wurden nicht gefunden. Die Adipositasforschung der letzten 10 Jahre hat eine Fülle neuer Ergebnisse gebracht, die – auch im Hinblick auf die Therapie – zu einem Paradigmenwechsel führen musste. Das Dilemma besteht vor allem darin, dass die modernen Erkenntnisse teilweise als Widerspruch zur traditionellen Sichtweise aufgefasst werden, obschon sie in den meisten Bereichen lediglich Wirkungsmechanismen klinisch oder experimentell untersucht haben, die zuvor nicht überprüft, sondern einfach als existent vorausgesetzt wurden. Eine Reihe von regional angelegten Studien fanden einen Anstieg des Übergewichts bei Kindern in den letzten Jahren, so in Bremerhaven, Heidelberg, Hamburg, Kiel, Jena und im Saarland. Eine große Studie in Brandenburg stellte fest, dass die Kinder nach der „Wende“ größer und schwerer, aber nicht unbedingt übergewichtiger geworden sind. In München ergab eine Einschulungsuntersuchung eine Prävalenz von 13% adipösen Kindern (Koletzko). Ähnliche Untersuchungsergebnisse liegen aus den USA oder den anderen europäischen Ländern vor. Die Inzidenzrate der Adipositas nimmt seit Jahren zu. Da jedoch direkte pathophysiologische Konsequenzen relativ selten sind, wird diesem international gesicherten Trend zu wenig Beachtung beigemessen, obschon Studien zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit für dicke Kinder, auch als Erwachsene übergewichtig zu bleiben, sehr groß ist. Die jährlichen Kosten, die durch Adipositas in Deutschland verursacht werden, können auf ca. 40 Milliarden DM geschätzt werden. Der Zusammenhang zwischen erhöhter Morbidität und Adipositas, aber auch zwischen Mortalität und Adipositas gilt als gesichert. Energiebilanz Mehr Desinformation als Erklärung bot sicher das Prinzip der Energiebilanz, das als der unumstößliche Grundsatz zur Genese der Adipositas angeführt wurde: zunehmen kann nur der Mensch, der mehr Nahrungsenergie aufnimmt als sein Körper an Energie verbraucht. So richtig dieser Grundsatz auch nach wie vor ist, so verleitet er doch zu Fehl- und Überinterpretation. Alle Empfehlungen, die „Kalorien zu reduzieren“ leiten sich aus diesem Grundsatz ab. „Alle Kalorien sind gleich“, so eine weitere (unzulässige) Ableitung. Letztlich nutzen auch alle Blitzund Crashdiäten diesen Grundsatz, um ihre Effektivität zu belegen. Und das Paradoxe ist: Menschen, die weniger Kalorien konsumieren als ihr Organismus verbraucht, nehmen tatsächlich ab. Denn das Prinzip der Energiebilanz stimmt wirklich. Allerdings nehmen sie nach Beendigung der kalorienreduzierten Diät auch wieder zu. Skender et al. haben dies eindrucksvoll belegt: Ihre Patienten wurden ein Jahr lang sehr intensiv im Umgang mit einer kalorienreduzierten Mischkost trainiert. 6,8 kg Gewichtsabnahme wurden in dieser Zeit erzielt, was zunächst für diese kalorienreduzierte Mischkost spricht. Eine Nachkontrolle 12 Monate später dokumentierte allerdings eine Wiederzunahme von 0,9 kg über das ehemalige Ausgangsgewicht hinaus. Hier muss gefragt werden, wo der Fehler liegt: bei der Diät oder bei der Compliance der Patienten? Zuckerkonsum Ein anderes treffendes Beispiel ist das Lebensmittel Zucker. Standardempfehlung der Ernährungsberatung war immer, vor Zuckerverzehr zu warnen, um einer Gewichtszunahme vorzubeugen. Dieses Verdikt galt einige Jahrzehnte und hat durch 10 Neue Erkenntnisse der Adipositasforschung werden teilweise als Widerspruch zur traditionellen Sichtweise aufgefasst Das Prinzip der positiven Energiebilanz verleitet zu Fehl- und Überinterpretationen Eine negative Energiebilanz führt zur Gewichtsabnahme, allerdings kurz darauf wieder zum Gewichtsanstieg Zucker wurde jahrzehntelang als „Dickmacher“ abgestempelt 11 Abb. 2: Menschen, die eher viel Zucker essen, haben einen geringeren BMI als diejenigen, die eher weniger Zucker konsumieren BMI in Abhängigkeit vom Zuckerverzehr 140 120 100 80 60 Genetische Disposition Die neuen Befunde greifen aber auch in noch ganz andere Bereiche hinein. Eine familiäre Häufung von Übergewicht war immer schon bekannt, auf die sich auch viele Patienten zur Erklärung ihres eigenen Übergewichts bezogen. Doch eine genetische Disposition wurde grundsätzlich als nicht existent abgelehnt, denn der gemeinsame Familientisch galt als hinreichende Erklärung für familiäre Gewichtsprobleme. Albert Stunkard, der berühmte amerikanische Psychiater und Verhaltenstherapeut, wollte die Bedeutung der Umwelt für das Essverhalten empirisch belegen. In Skandinavien untersuchte er über 500 adoptierte Kinder, gruppierte sie nach Gewicht in vier Gruppen und stellte jeweils das Durchschnittsgewicht der Adoptivmütter bzw. -väter dagegen. Die Umwelthypothese erlitt eine herbe Enttäuschung, denn es zeigte sich keine Beziehung zwischen dem Gewicht der Kinder und ihrer Adoptiveltern. Stunkard sammelte daraufhin die Daten der biologischen Eltern und wiederholte die Auswertung: Sie ergab eine eindrucksvolle Übereinstimmung zwischen dem Gewicht der Kinder und ihren leiblichen Eltern, obwohl diese nicht zusammengelebt und -gegessen haben. Genetik der Adipositas Body Mass Index der Eltern Studien belegen: Kohlenhydrate führen nicht direkt zur Gewichtszunahme die millionenfach wiederholte Darstellung in allen Medien, aber auch in Fachbüchern, den Zucker in der öffentlichen Meinung zum primären „Dickmacher“ abgestempelt. Die Begründung war klar und einleuchtend: Kohlenhydrate werden im Organismus zu Fett umgewandelt und führen damit zur Gewichtszunahme. Tierexperimente beweisen, wie z. B. Hausschweine mit Kohlenhydraten gemästet werden können. Erst vor 10 Jahren führten Acheson et al. ein Humanexperiment durch, in dessen Verlauf Studenten als Versuchspersonen täglich sehr große Mengen an Kohlenhydraten verzehren mussten. Die Analyse zeigte eindeutig, dass der menschliche Organismus erst nach mehrtägiger Aufnahme von mehr als 500 g Kohlenhydrate/Tag mit der Konvertierung von Kohlenhydraten in Fett (De-Novo-Lipogenese) beginnt. 500 g Kohlenhydrate beanspruchen aber bereits ein so großes Nahrungsvolumen, das unter verzehrsüblichen Bedingungen nicht gegessen wird (z. B. 2,5 kg Nudeln, 20 kg Blumenkohl, 0,5 kg Zucker). Damit war erwiesen, dass Kohlenhydrate nicht direkt zur Gewichtszunahme führen. Eine große epidemiologische Studie in Schottland bestätigte dann auch, dass Menschen, die eher viel Zucker essen, einen geringeren BMI haben als jene Menschen, die weniger Zucker konsumieren. Eine verbreitete ätiologische Betrachtung wurde damit abgelöst. 26 25 24 Früher wurde eine genetische Disposition für Übergewicht als nicht existent abgelehnt Studien zeigten eine eindrucksvolle Übereinstimmung des Gewichts der Kinder mit dem ihrer leiblichen Eltern, nicht aber mit dem der Adoptiveltern Abb. 3: Das Gewicht von Kindern stimmt mit dem ihrer biologischen Eltern stark überein, auch wenn sie nicht mit ihnen zusammengelebt und -gegessen haben. Zum Gewicht der Adoptiveltern zeigt sich keine Beziehung 23 22 40 20 1. Quintil Zuckerverzehr 12 2. Quintil BMI 3. Quintil 4. Quintil 5. Quintil Gewichtsklassen der adoptierten Kinder Biologische Eltern Adoptiveltern 13 Zwillingsstudien zeigen, dass die genetische Disposition bei Überernährung die Gewichtsänderungen mitreguliert Es konnte nicht belegt werden, dass adipöse Kinder überdurchschnittlich viel Energie aufnehmen, vielmehr scheint der Energieverbrauch reduziert zu sein Adipöse Personen konsumieren erheblich mehr Nahrungsfett, essen aber weniger Kohlenhydrate 14 Seither erfolgten viele Untersuchungen auch an mono- und dizygoten Zwillingen, die gemeinsam aufgewachsen oder früh nach der Geburt getrennt worden sind. Eineiige Zwillinge, getrennt aufgewachsen, haben ein relativ ähnliches Gewicht (r = 0,76) im Vergleich zu gemeinsam aufgewachsenen, zweieiigen Zwillingen. 12 monozygote Zwillingspärchen verzehrten in einem anderen Experiment über 100 Tage täglich 1000 kcal zusätzlich zu ihrer gewohnten Nahrung. Die Gewichtszunahmen variierten zwischen gut 4 kg und knapp 14 kg: Ein Hinweis auf die Existenz guter und schlechter „Futterverwerter“. Besonders wichtig war die Beobachtung, dass die erbidentischen Zwillingspärchen sehr gleichartig zunahmen, was einen weiteren Hinweis darauf gibt, dass die genetische Disposition bei Überernährung die Gewichtsänderungen mitreguliert. Nahrungszufuhr und Aktivität Studien, die versucht haben, die positive Energiebilanz adipöser Kinder durch überdurchschnittliche Nahrungsaufnahme zu belegen, sind häufig gescheitert. Oft wird kein Unterschied in der Energieaufnahme zwischen normal- und übergewichtigen Kindern gefunden, manchmal wurde sogar eine geringere Energieaufnahme bei adipösen Kindern festgestellt. Das lässt den Schluss zu, dass gerade bei adipösen Kindern der Energieverbrauch reduziert ist. Untersuchungen haben diese Erklärung ebenfalls für Kinder und Jugendliche bestätigt, wobei langen Phasen der Inaktivität offenbar mehr Bedeutung zukommt als denen der spontanen, eher kurzfristigen Aktivität. So überrascht es nicht, dass adipöse Kinder länger fernsehen und ihr Übergewicht bei Verringerung des TV-Konsums reduziert war. Fettkonsum Bei Erwachsenen wurde schon 1992 festgestellt, dass sich Normal- und Übergewichtige, wenn Ernährungstagebücher analysiert werden, nicht in ihrer Kalorienzufuhr unterscheiden. Große Unterschiede allerdings ergeben sich, wenn die energieliefernden Nährstoffe betrachtet werden. Adipöse Personen konsumieren erheblich mehr Nahrungsfett, essen aber weniger Kohlenhydrate (Abb. 4, Seite 15). Die Gruppe mit einem BMI bei 29 liegt bei etwa 50 Energieprozent Fett und bei nur 37 Energieprozent Kohlenhydraten, eine den Empfehlungen der DGE gegenüber erheblich verzerrte Nährstoffrelation, deren optimale Verteilung bei 30 Energieprozent Fett und bei mehr als 55 Energieprozent Kohlenhydraten angesetzt wird. BMI 29 Relativer Fettverzehr/Relativer KH-Verzehr und Body-Mass-Index BMI Basis: n = 200.000 – 7 Tage-Ernährungsprotokolle Abb. 4: Je höher der Fettgehalt bzw. je niedriger der Kohlenhydratgehalt der Nahrung, desto höher der BMI 28,5 28 27,5 27 Fettverzehr Kohlenhydrat-Verzehr Neue Studien an Kindern kamen zu sehr vergleichbaren Ergebnissen. Je höher der Fettgehalt bzw. je niedriger der Kohlenhydratgehalt der Nahrung, umso höher lag der BMI der Kinder. Übergewichtige Kinder nahmen den Großteil ihres Nahrungsfettes insbesondere durch Snacks und fetthaltige Zwischenmahlzeiten auf. Neue Befunde aus Brasilien und Entwicklungsländern weisen ebenfalls auf signifikante Assoziationen zwischen Fettkonsum und den auch dort steigenden Prävalenzen für Übergewicht hin. Neue Studien, die gezielt Essverhalten, Nahrungswahl und Bewegungsmuster von Kindern feststellten, belegen übereinstimmend die besondere Bedeutung der erhöhten Nahrungsfett- und reduzierten Kohlenhydratzufuhr für die kindliche Adipositas. Unklar bis heute bleibt, auf welchem Mechanismus die Wahl von fettreicheren Speisen durch adipöse Kinder beruht. In einer Studie wurde deutlich, dass adipöse Mütter ihre eigene Fettpräferenz auf ihre Kinder übertragen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Essverhalten zu einem erheblichen Anteil gelerntes Verhalten ist, insbesondere die Ausformung des Essverhaltens und die Bevorzugung oder Ablehnung bestimmter Lebensmittel. Neben dieser Hypothese des Lernens durch Beobachtung wird auch eine mögliche evolutions- Es ist bislang unklar, warum adipöse Kinder fettreiche Speisen wählen 15 biologische Deutung diskutiert, da ein Fettverzehr, wenn möglich, immer eine effektivere Energieaufnahme und damit eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit unter verknappten Ressourcen darstellte. Körperfett „kommuniziert“ mit dem zentralen Regulationszentrum über den Botenstoff Leptin. Kann Leptin aufgrund eines Gendefektes nicht exprimiert werden, so steigt das Gewicht jener ob/ob-Mäuse (genetisch bedingt adipös) rapide an, an denen Friedman et al. diesen Wirkmechanismus entdeckt haben. Wird diesen Tieren nun Leptin injiziert, so wirkt diese Substanz hemmend auf den Hunger und steigert den Energieumsatz: die Mäuse nehmen ab. Auch wenn es zur Zeit noch keine Anwendung der Leptinforschung für die Klinik gibt, so ist dieser Bereich doch ein aufschlussreiches Beispiel für biologische Regulationen, die der kognitiven Kontrolle verschlossen bleiben. Übrigens: Adipöse Menschen haben zumeist höhere Leptinspiegel, so dass „ihr Problem“ nicht in der Leptin-Produktion besteht. Studien zeichnen ein neues Bild von der Ätiologie der Adipositas Fettspeicher sind evolutionsbiologisch betrachtet genial Adipöse Kinder essen zu viel Fett, zu wenig Kohlenhydrate und bewegen sich oft zu wenig 16 Werden verschiedene Studienergebnisse simultan betrachtet, dann rundet sich in gewisser Weise ein neues Bild über die Ätiologie der Adipositas ab und weist dem einfachen Prinzip der positiven Energiebilanz „Adipöse essen zuviel“ keinen wirklichen Erklärungswert zu. Die Entwicklung des Fettspeicherprogramms war eine geniale, evolutionsbiologische Notwendigkeit, um der Menschheit das Überleben in Mangel- und Notzeiten zu ermöglichen. Erst seit 50 Jahren (einer Mikrosekunde aus der Zeitsicht der Evolution) sind Notzeiten durch permanenten Überfluss abgelöst. Keine Zeitspanne, um auf „Anpassungsprozesse“ zu hoffen. So besitzen auch Kinder bereits das evolutionsbiologische Programm, Energiereserven in Fettdepots anzulegen, in ihrer genetischen Anlage. Gerade jene Kinder, die viel Nahrungsfett konsumieren, sind häufiger adipös. Andererseits verzehren sie weniger Kohlenhydrate. Oft bewegen sie sich weniger, wobei nicht immer geklärt werden kann, ob die Inaktivität Ursache oder Folge der Adipositas ist. Spezifische Persönlichkeitsstrukturen konnten als kausale Bedingungen für die Adipositas nicht festgestellt werden. Neue Aspekte für Prävention und Therapie So ergeben sich für Prävention und Therapie der kindlichen Adipositas eine Fülle neuer Aspekte, die die herkömmlichen Strategien der Reduktionsdiäten ablösen muss. Festzuhalten sind folgende Bedingungen: ◆ Es ist nicht die persönliche Schuld des Kindes, wenn es an Gewicht zunimmt oder zugenommen hat. Aufgrund seiner genetischen Disposition in Zusammenhang mit bestimmten Umweltfaktoren reagiert der Organismus mit der Energiespeicherung, falls die Gesamtenergiebilanz dies zulässt. ◆ Trotz genetischer Disposition ist Adipositas kein unentrinnbares Schicksal, denn sie entsteht als Interaktion zwischen Genetik und Umwelt. Ist die Umwelt adipositasfeindlich (z.B. Nachkriegszeit), manifestiert sich kein Übergewicht. ◆ Bei spontaner Nahrungswahl konsumieren manche Kinder mehr Fett und weniger Kohlenhydrate. Diese Kinder nehmen eher zu und werden adipös. Ob es sich dabei um Lernvorgänge oder biologische Dispositionen handelt, ist bislang ungeklärt. ◆ Adipöse Kinder sind eher inaktiv. Auch wenn dies nicht unbedingt eine Ursache der Adipositas sein muss, sondern Folge sein kann, kommt der Steigerung der körperlichen Aktivität eine große Bedeutung zu. ◆ Da die Adipositas kein Resultat einer kognitiven Steuerung ist, sollte von kognitiven Maßnahmen nicht zuviel erwartet werden. Gegen Adipositas erscheint ein Verhaltenstraining wirksamer, das den Spielraum für die biologisch programmierte Gewichtszunahme einschränkt. 17 Übergewicht – Therapie und Prävention Eine Gewichtsstabilisierung kann bei Kindern schon ein voller Erfolg sein THERAPIEZIELE Die Gewichtsabnahme ist nicht das eigentliche Ziel der Adipositastherapie! Gerade bei Kindern, die – bezogen auf ihr Gewicht – von dem zu erwartenden Längenwachstum profitieren, kann auch eine Gewichtsstabilisierung ein voller Erfolg sein. Gewichtsabnahme darf nicht mit Adipositastherapie verwechselt werden. Adipositastherapie heißt: Stabilisierung des reduzierten Gewichts zur Besserung oder Vermeidung gesundheitsriskanter Folgen des Übergewichts. Das anzustrebende Therapieziel: dauerhaft stabile Gewichtsnormalisierung Primäre Ziele Da Gewichtsverluste auch mit höchst unsinnigen Maßnahmen, wie FdH, Hungern, Eier-Diät usw., erreichbar, aber nicht langfristig zu halten sind, ist das wirklich anzustrebende Therapieziel eine dauerhaft stabile Gewichtsnormalisierung. Dabei ist der Zeitfaktor wichtiger als das Ausmaß der Gewichtsreduktion: Fünf Kilogramm über fünf Jahre stabilisiert sind effektiver als 10 Kilogramm, die nur 6 Monaten gehalten werden. So unmittelbar die Gewichtsabnahme als Therapieziel ins Auge fällt, umso wichtiger ist es, die primären Ziele zu definieren und zu erreichen, die dann ihrerseits als Initiatoren eine Gewichtsreduktion wahrscheinlich machen. So gelten als sieben primäre Ziele: 1. Normalisierung des Fettgehaltes im täglichen Essen 2. Erhöhung der Zufuhr von Kohlenhydraten 3. Vermeidung von langen Phasen der Inaktivität 4. Steigerung der aktiven Bewegung im Alltag 5. Umgang mit Misserfolgen 6. Erhöhung des Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls 7. Dauerhafte Gewöhnung an das neue Verhalten Möglichst keine Vereinbarung über einen festen Kilobetrag beim Abnehmen treffen 18 Werden diese Ziele erreicht, wird sich auch das Gewicht reduzieren. Im Einzelfall ist es kaum möglich vorherzusagen, wieviel Kilogramm abgenommen werden. Daher ist es eine sinnvolle Misserfolgsprophylaxe, keinen festen Kilobetrag zu vereinbaren. Sollte das Kind selbst auf einen festen Betrag hinstreben, so muss darauf eingewirkt werden, dass dieses „Ziel“ auch erreichbar ist (nicht mehr als maximal 10% des Ausgangsgewichts!). Diese Festlegung kann aber auch nachteilige Folgen haben, da dann nicht das Verhalten, sondern die Waage zum Zentrum wird und Verhaltensweisen u.U. durch Gewichtsabnahme belohnt werden, die eher ungünstig sind (z.B. nichts essen). Grundsätzlich sollten Prinzipien der Lernpsychologie beachtet werden. Eine Kernaussage ist, dass Kinder (wie Erwachsene auch) vor allem das Verhalten wiederholen, mit dem sie gute Erfahrungen machen, das also durch Erfolg belohnt wird. Positive Verstärkung stabilisiert das Verhalten. Strafe und Misserfolge dagegen destabilisieren. Alle Ziele, die gesetzt werden, müssen darum mit größter Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führen, damit sie das Verhalten stabilisieren. Kleine Schritte und realistische Anforderungen, die möglichst schnell gemeistert werden, sind daher notwendig. Ziele, die in weiter Zukunft erst erreicht werden können, wirken aktuell wenig verstärkend. Das ist eine permanente Erfahrung der Prävention: jetzt keinen Kuchen, dafür Gewichtsabnahme in vier Wochen! Das motiviert Menschen nicht richtig. THERAPIEMASSNAHMEN Die erfolgversprechenden Maßnahmen bei adipösen Kindern können sich nur auf Ess- und Bewegungsverhalten beziehen. Die gerade in jüngster Zeit für adipöse Erwachsene angebotenen Medikamente sind für Kinder ebenso wie die chirurgische Intervention nicht empfehlenswert, zumal auch keine gesicherten klinischen Daten vorliegen. Positive Verstärkung/Erfolg stabilisiert Verhalten, Strafe und Misserfolg destabilisieren Ess- und Bewegungstherapie für Kinder: ja; Medikamente und chirurgische Intervention: nein Ein ideales Alter um Maßnahmen zu ergreifen liegt sicher zwischen 8 und 12 Jahren. Das Kind kann intellektuell angesprochen werden, es kann bereits lesen, ohne aber schon in der Pubertät zu sein. Therapiemaßnahmen unter 8 Jahren sollten mit einem Kinderpsychologen geplant werden. Zwischen 8 und 12 Jahren ist eine Intervention am besten Trainingsprogramme für adipöse Kinder müssen also erreichen, dass weniger Fett und mehr Kohlenhydrate konsumiert werden, dass Immobilität abgebaut und Aktivität aufgebaut wird, dass eine negative Selbsterklärung des eigenen Übergewichts korrigiert und die soziale Kompetenz gestärkt wird. Ziele sinnvoller Therapieprogramme 19 Fett liefert mehr als doppelt so viel Energie pro Gewichtseinheit wie Kohlenhydrate oder Eiweiß. 500 kcal sind in 65 g Streichfett oder 300 g Brot! Die Oxidationshierarchie der Nährstoffe: 1. Alkohol 2. Kohlenhydrate 3. Eiweiß 4. Fett 20 Weniger Fett – mehr Kohlenhydrate Die Zieldefinition „weniger Fett, mehr Kohlenhydrate“ gibt immer wieder Anlass zu Missverständnissen, obschon zahlreiche klinische Studien vorliegen, die mit dieser Strategie zu positiven Ergebnissen führten. Ein Einwand geht davon aus, dass bei einer Freigabe der Kohlenhydrate (ad libitum) ein Energieüberschuss aufgenommen werden kann, der zur Gewichtszunahme führen muss. Schließlich sei Kalorie gleich Kalorie, gleich welcher Herkunft. Darum helfe nur das Prinzip der Kalorienreduktion wirklich. Zur Klärung dieses offenkundigen Missverständnisses muss klargestellt werden, dass physikalisch natürlich alle Kilokalorien als Maßeinheit vergleichbar sind. Doch Kalorien können nur durch energieliefernde Stoffe aufgenommen werden. Das sind Fett, Eiweiß, Kohlenhydrate (und Alkohol). Ein Gramm Fett liefert 9 kcal, ein Gramm Eiweiß oder Kohlenhydrate jeweils 4 kcal (1 g Alkohol liefert 7 kcal). Zunächst fällt auf, dass Fett mehr als doppelt soviel Energie pro Gewichtseinheit bringt. Kohlenhydratreiche Lebensmittel sind Pflanzenprodukte, wie Brot, Reis, Nudeln, Kartoffeln, Obst, Gemüse, Salat, die einen hohen Wasseranteil haben und zudem Ballaststoffe enthalten. 500 kcal als Fett sind in ca. 65 g Streichfett. Aber erst mehr als 300 g Brot liefern 500 kcal als Kohlenhydrate. Faktor 1:5! 500 kcal sind tatsächlich 500 kcal, aber ob als Streichfett oder als Brot gegessen, wirken sie dennoch sehr unterschiedlich. Prentice hat die Oxidationshierarchie der Nährstoffe untersucht. Die Frage an ihn war: „Are all calories equal?“ Seine Antwort ist eindeutig. Der Organismus verbrennt die Energieträger in unterschiedlicher Rangreihe. Steht Alkohol zur Verfügung, wird dieser primär verbrannt, zumal keine Speichermöglichkeiten vorhanden sind. An zweiter Stelle werden Kohlenhydrate oxidiert, dann folgt Eiweiß, und an letzter Stelle erst rangiert das Fett. Solange Alkohol, aber auch Kohlenhydrate zur Verfügung stehen, wird kein Fett verbrannt. Darum setzt ein Zuviel an Nahrungsfett so leicht an. Die entscheidende Frage ist nun, ob eingespartes Nahrungsfett – energiemäßig vergleichbar – als Kohlenhydrate zusätzlich verzehrt werden kann. Konkret: Wer 6 Scheiben Brot ohne Streichfett isst und so 60 g Fett spart, müsste anschließend noch 7 Scheiben Brot hinterher essen, um die Kalorien durch Kohlenhydrate auszugleichen. Es ist schwierig, wie auch die Praxis belegt, bei 60 g Fett als Tageskonsum am Abend auf insgesamt 2500 kcal zu kommen. Kohlenhydrate haben zudem eine doppelt so hohe Sättigungswirkung im Vergleich zu Fett. Die fettnormalisierte Ernährung bezieht 30% der Kalorien aus Fett und über 50% aus Kohlenhydraten. Konkrete Speisepläne, die diese Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung einhalten, geben viel Nahrungsvolumen zu essen, sie machen also satt. Das ist auch der eigentliche Punkt, warum kalorienreduzierte Esspläne immer wieder abgebrochen werden, denn sie verringern mit der pauschalen Kalorienreduktion auch die Essmenge und lassen darum keine ausreichende Sättigung aufkommen. Kurz zusammengefasst: eine fettnormalisierte Ernährung bei liberaler Kohlenhydrataufnahme ist unter dem Strich eine energiereduzierte Kost, die wegen der großen Menge auch sättigt. Fettarme/kohlenhydratreiche versus energiereduzierte Kost Änderungen während der Therapie Häufiges Missverständnis: Kalorie = Kalorie Dauer: 6 Monate In Studien wurde die pauschale Kalorienreduktion gegen eine fettnormalisierte Ernährung bei unbeschränktem Zugang zu Kohlenhydraten getestet. Shah et al. fanden nach 6 Monaten eine vergleichbare Gewichtsabnahme. Die Patientengruppe mit freiem Zugang zu den Kohlenhydraten stufte Geschmack, Sättigung und Lebensqualität positiv ein. Die Gruppe mit pauschaler Kalorienrestriktion gab in allen drei Punkten negative Bewertungen. Interessant ist, dass die erste Gruppe pro Tag auf 37 g Fett kam, insgesamt mit 1587 kcal/Tag aber kaum mehr Energie aufgenommen hatte als die „Kaloriengruppe“ (1557 kcal/Tag). Die „Kohlenhydrat-Freigabe“ beschränkt sich durch die Beschaffenheit der Lebensmittel von selbst. Eine fettnormalisierte Ernährung bei liberaler Kohlenhydratzufuhr ist energiereduziert und macht satt Abb. 5: Patienten mit fettnormalisierter Ernährung und Freigabe des Kohlenhydratkonsums stuften Geschmack, Sättigung und Lebensqualität positiv ein. Patienten mit pauschaler Kalorienreduktion bewerteten negativ. Beide verzeichneten vergleichbare Gewichtsabnahmen. fettarm kohlenhydratreich n = 47 energiereduziert n = 42 21 Im Fettkontrollieren geschulte Patienten halten ihr Gewicht besser als die im Kalorienzählen trainierten In Kopenhagen nahmen Patienten zunächst relativ schnell ab (12 – 14 kg mit Medikamenten /Formula Diäten). Danach wurden sie in zwei Gruppen geteilt, die ein Jahr lang jeweils ein intensives Training durchführten. Eine Gruppe lernte, Kalorien zu zählen. Die andere wurde in fettnormalisierter Ernährung bei Kohlenhydraten ad libitum geschult. Ein weiteres Jahr ohne Schulung wurde abgewartet, dann kamen die Patienten zur Gewichtskontrolle. Die im Kalorienzählen trainierten Patienten hatten durchschnittlich 11,3 kg zugenommen, die fettkontrollierten Patienten dagegen nur 5,4 kg. Ein weiterer Beleg dafür, dass diese Strategie vor allem auch langfristig von Vorteil ist. Abb. 6: Nach 1 Jahr Training und 1 Jahr ohne nahmen Patienten, die fettkontrolliert aßen, weniger an Gewicht wieder zu als jene, die Kalorien zählten Fettkontrolle versus Kalorienzählen ➜ ➜ ➜ = Fett Kohlenhydrate 22 THERAPIEABLAUF Voraussetzung ist eine intrinsische (aus sich selbst heraus wirkende) Motivation des Kindes zur Gewichtsabnahme, da nur es selbst sein Verhalten dauerhaft regulieren kann. Kinder, die nur „interessiert sind“ abzunehmen oder dies nur auf Druck des Arztes oder der Eltern versuchen wollen, haben zumeist kaum eine realistische Chance. Allerdings können erste Anfangserfolge dann zu einer überdauernden Motivation führen. Warum bin ich dick? Im Gespräch mit dem Kind über Ursachen von Übergewicht sollte geklärt werden, welche Gründe das adipöse Kind selbst sieht. Dabei muss ruhig abgeklärt werden, ob das Kind diese vorgebrachten Gründe tatsächlich selbst glaubt oder nur solche Gründe wiederholt, die ihm bislang immer angelastet wurden. Das folgende Beispiel mag ein solches Gespräch wiedergeben. = Kalorien Studien belegen: Je höher die Fetteinsparung, desto stärker die Gewichtsabnahme Möglichkeiten, Fett einzusparen, müssen individuell ausgewählt und auch mit den Eltern besprochen werden. Eine Quelle können bestimmte fettreiche Lebensmittel sein, die das Kind gerne isst. Eine weitere Quelle kann auch in der Küche sprudeln, wenn viel Koch- und Bratfette verwendet werden. Darauf wird später eingegangen. Andere Studien ergänzen die Absicherung der neuen diätetischen Strategie. Allein die Verwendung von fettreduzierten Lebensmitteln führt zu Gewichtsabnahmen. Dabei ist der individuelle Spielraum natürlich unterschiedlich, je nachdem wie viele Lebensmittel verzehrt werden, von denen es fettreduzierte Varianten gibt. In einem Grundlagenexperiment wurden freiwillige Versuchspersonen getestet, um zu prüfen, welche Lebensmittel sie durch fettreduzierte Varianten ersetzen können. Sie versuchten dies dann nach vorgegebenen Plänen, wobei sie aber beliebig Kohlenhydrate zusätzlich essen konnten. Je höher die Fetteinsparung, desto stärker die Gewichtsabnahme. Obschon hier keine Therapie geplant war, erfolgte eine Nachuntersuchung 12 Monate später. Alle Versuchspersonen, die weiterhin auf Fett geachtet hatten, konnten ihre Abnahme halten oder haben weiter abgenommen. BeraterIn Du findest also, dass du zu pummelig bist. Dein Gewicht ist höher als bei anderen Kindern in deiner Klasse. Was meinst du denn, woran das liegen kann? Kind Weiß auch nicht. Vielleicht esse ich zu viel. Manchmal habe ich aber auch richtigen Hunger. BeraterIn Ganz genau weißt du auch keinen Grund. Du isst vielleicht mehr als deine Klassenkameraden? Kind Nein, die essen viel mehr als ich. Ich kriege nur wenig mit. Und dann habe ich Hunger. BeraterIn Also, das ist nicht der Grund. Du möchtest eigentlich mehr essen, um auch mal richtig satt zu werden. Kind Ja, aber das geht ja nicht. Dann werde ich noch dicker. Ich esse wirklich ganz wenig. Möglichkeiten des Fettsparens auch mit den Eltern besprechen Voraussetzung für erfolgreiches Abnehmen ist die intrinsische Motivation des Kindes Wo sieht das Kind die Gründe für sein Übergewicht? 23 BeraterIn Das Ziel: Abbau von Schuldgefühlen, Aufbau der Einsicht, über Handlungsspielraum zu verfügen Wesentliche Fetteintragsquellen aufspüren 24 Daran kann es also nicht liegen. Und trotzdem nimmst du an Gewicht zu? Kind Ja, nicht so viel, aber etwas. Ich kann da nichts gegen machen. Ich werde halt dick. Meine Mutter ist auch ein bisschen pummelig. Das ist in der Familie bei uns. BeraterIn Das kann wirklich so sein, denn auch bei der Haar- und Augenfarbe ähneln Kinder ihren Eltern. Warum nicht auch beim Gewicht. Kind Wirklich, das kann sein? Was kann ich denn dann noch dagegen tun? BeraterIn Du willst gerne etwas weniger wiegen. Das müssen wir gemeinsam besprechen. Du kannst das schaffen. Aber es ist nicht deine Schuld, wenn du jetzt so viel wiegst. Kind Aber das sagen doch alle. Ich würde zu viel essen. BeraterIn Das stimmt so nicht. Ich würde gerne einmal erfahren, welche Lebensmittel du gerne magst... Ich kann selbst viel tun Im nächsten Schritt wird dem Kind erklärt, dass es ein natürliches Programm gibt, das auch das Gewicht mit steuert. Ähnlich, aber nicht ganz so streng, wie bei der Körpergröße. Beim Gewicht hat das Kind selbst einen Einfluss. So kann beim Kind Motivation aufgebaut werden, sich mit dem eigenen Gewicht und dem der anderen Familienangehörigen zu beschäftigen. Ziel sollte sein: Abbau von Schuldgefühl, Aufbau der Einsicht, dass es einen Spielraum für eigenes Handeln gibt. Das Argument von der „Vererbung“ wird leicht als unentrinnbares Schicksal verstanden. Hier bieten sich Vergleiche zu anderen körperlichen und intellektuellen Fähigkeiten an, die von Kind zu Kind unterschiedlich ausgeprägt, aber dennoch mit Training modifizierbar sind. Das Ess-Protokoll Im zweiten Schritt kann vereinbart werden, einmal alle Lebensmittel, Speisen und Getränke aufzuschreiben, die in einer Woche verzehrt werden. Ziel dieses Verhaltensprotokolls ist, die wesentlichen Fetteintragsquellen beim Kind aufzuspüren. Die Mutter wird auch wichtige Informationen liefern können, die die häuslichen Mahlzeiten betreffen. Unterwegs als „Fettdetektiv“ Mit sachkundigem Blick lässt sich meist schnell feststellen, welche Speisen den höchsten Fetteintrag verursachen (häufig: Streichfette, Wurst, Käse, fettreiche Süßigkeiten). Es könnte dann eine Spielregel „Du bist der Fettdetektiv“ vorgeschlagen werden, diesen Hauptfetteintrag in der kommenden Woche zu halbieren. Das ist eine Zielsetzung, die meistens gelingt, weil sie nicht zu hohe Anforderungen stellt. Damit stellt sich der erste Erfolg für das Kind ein, der die Motivation stärkt. Allgemein sollte auch nicht mehr als eine Verhaltensregel in einer Woche geprobt werden. BeraterIn Du isst ja wirklich viele Sachen. Bei deinen Wurst- und Käsebroten, aber auch bei der Nussnugatcreme kommt erst immer Butter aufs Brot. Letzte Woche hast du 24 Scheiben Brot gegessen. Ich schlage dir ein Spiel vor, du wirst dein eigener Fettdetektiv. Einverstanden? Kind Ja, aber was muss ich da tun? BeraterIn Ganz einfach. Du bewachst deine Brote. Unsere Spielregel heißt: 12 Scheiben in der Woche mit Wurst, Käse, Nussnugatcreme, aber ohne Butter. Darauf muss der Detektiv aufpassen. Kind Na klar, das mach’ ich schon. Ich esse nie mehr Butter, wenn das so gut ist. Der letzte Satz des Kindes weist auf ein Problem hin, dass in den letzten Jahren von der Verhaltensforschung erkannt und entschärft werden konnte. Kinder wie Erwachsene reagieren gerne und spontan „sehr vernünftig“, d.h. wenn die Butter auf dem Brot gezählt werden soll, dann wäre es doch vernünftig, „überhaupt keine Butter mehr zu essen“. Paradox, aber psychologisch verständlich ist, dass diese „so vernünftigen Verhaltensregeln“ in der Praxis äußerst unzweckmäßig sind, weil sie nicht durchgehalten werden können. Nicht mehr als eine Verhaltensregel pro Woche, z.B. Halbieren des Hauptfetteintrags „Vernünftige Verhaltensregeln“ sind äußerst unzweckmäßig 25 Rigide Verhaltenskontrollen sind gekennzeichnet durch Einseitigkeit – geringste Abweichungen führen zum Zusammenbruch der gesamten Kontrolle RIGIDE VERSUS FLEXIBLE VERHALTENSKONTROLLEN Solche starren, absolut formulierten Vorsätze werden als rigide Verhaltenskontrollen bezeichnet. Sie bestehen häufig aus spontanen Vorsätzen, die Patienten fassen, um ihr Verhalten zu verbessern. Kennzeichen dieser rigiden Verhaltenskontrollen ist ihre Einseitigkeit, formuliert durch „immer“, „nur noch“, „nie mehr“ oder 0% sowie 100%. Dadurch wird ein Verhalten gefordert, bei dem bereits die geringste Abweichung vom Vorsatz zum Zusammenbruch der gesamten Verhaltenskontrolle führt. Wer nie mehr Schokolade essen will, bei dem reicht bereits der Verzehr von einem halben Stückchen, damit die Gegenregulation einsetzt: „Wieder nicht geschafft. Jetzt ist es auch egal“. Unter Gegenregulation wird verstanden, dass ein eigentlich diätetisch unwesentliches Ereignis zum Abbau der gesamten Verhaltenskontrolle führt, so dass daraufhin ein unkontrolliertes Verhalten resultiert. Dieser Zusammenbruch der Kontrolle wird von Patienten häufig als „Dammbruch“ oder „Deichbruch“ beschrieben. Menschen mit bulimischen Essstörungen sind extrem rigide kontrolliert. Eine geringe Überschreitung des „Alles-oder-Nichts-Vorsatzes“ kann eine Heißhungerattacke auslösen. So sind die Vorgaben „Nie mehr Süßigkeiten zu naschen“ oder „Nur noch Vollkornbrot zu essen“ rigide Kontrollen, die so extrem unter permanenten Überflussbedingungen nicht durchzuhalten sind. Der durch die Gegenregulation ausgelöste Misserfolg destabilisiert das Verhalten, schwächt das Selbstwertgefühl und verführt dazu, die missliche Situation durch eine erneute rigide Kontrolle „Also, ab morgen, da esse ich nie mehr...“ zu bewältigen. Als wesentlich günstiger für eine stabile Verhaltensänderung haben sich flexible Kontrollen herausgestellt. Merkmale der flexiblen Verhaltenskontrolle sind, dass sich diese ◆ auf einen überschaubaren Zeitraum beziehen (z. B. eine Woche) und ◆ Möglichkeiten der Verhaltenskorrektur zulassen. Flexible Verhaltenskontrolle definiert einen überschaubaren Zeitraum und realistische Ziele 26 Statt des rigiden Vorsatzes „Nie mehr Schokolade“ ist der Vorsatz „Bis zu drei Tafeln Schokolade in der kommenden Woche“ eine flexible Verhaltenskontrolle, wenn zuvor vier oder fünf Tafeln pro Woche konsumiert wurden. Die flexible Verhaltenskontrolle definiert einen überschaubaren Zeitraum (z.B. eine Woche) und gibt ein Ziel vor, das realistisch erreicht werden kann. Dadurch wird die Gegenregulation unwahrscheinlich. Flexible Kontrolle lässt Verhaltenskorrekturen zu und führt nicht bei einer ersten, geringfügigen Überschreitung zur Gegenregulation und damit zum Misserfolg. Binge-Eating-Disorder (BED), jene Heißhungerattacken bei Adipösen ohne nachfolgendes Erbrechen, kann auch als Folge rigider Verhaltenskontrolle verstanden werden. Rigide Kontrollen ausschalten, flexible Kontrollen etablieren Die wichtige Aufgabe in der Therapie ist daher, rigide Kontrollen zu erkennen und auszuschalten, um dafür Verhaltensziele mit dem Kind zu vereinbaren, die nach dem Muster der flexiblen Kontrolle gestaltet sind. Ziel der verhaltenstherapeutischen Maßnahmen ist ein selbstkontrolliertes Essverhalten des Kindes hinsichtlich Auswahl und Menge der Lebensmittel und Speisen, das eine Gewichtsabnahme bzw. eine Stabilisierung des reduzierten Gewichts fördert. Das Ziel: selbstkontrolliertes Essverhalten des Kindes Abb. 7: Rigide Verzehrskontrollen gehen mit einem höheren BMI einher 30 29 +++ 28 rigide Kontrolle BMI 27 ----- +++ flexible Kontrolle Die Zielvorgabe sollte zunächst knapp unter dem Baseline Wert liegen, um das Anspruchsniveau nicht zu hoch zu setzen. Eine Unterschreitung solcher Zielvorgabe ist möglich und wird als Erfolg erlebt. Selbst eine tatsächliche Reduzierung der Quantität auf Null unter solchen Bedingungen ist möglich und dennoch keine rigide Kontrolle, da die Vorgabe nicht auf Null gesetzt war und dadurch auch beim Verzehr einer bestimmten Menge keine Gegenregulation ausgelöst worden wäre. 27 Pudel und Westenhöfer (1992) konnten zeigen, dass eine rigide Verzehrskontrolle mit einem höheren BMI einhergeht als flexible Verhaltenskontrolle (Abb. 7, Seite 27). Rigide Kontrolle des Verzehrs prädisponiert für Adipositas. Die diätetischen und verhaltenstherapeutischen Zielsetzungen müssen zusammen in das Verhaltenstraining integriert werden: Das Kind muss lernen, mit flexibler Kontrolle seinen Fettverzehr zu reduzieren. Das geschieht über die verhaltenstherapeutischen Prinzipien ◆ Selbstbeobachtung (Kind erkennt, was, wann und wieviel Fett es isst) ◆ Selbstbewertung (Kind beurteilt seine Beobachtung und vereinbart realistische Ziele) ◆ Selbstkontrolle (Kind reguliert sein Verhalten flexibel, um diese Ziele zu erreichen) Die folgenden Schritte erleichtern die Therapie und die Motivation, längere Zeit durchzuhalten. Das Kind wird motiviert durch realistische Zielvorgaben, nach subjektiver Einschätzung seiner Verhaltenspotentiale, durch ein Training in kleinen Schritten mit Teilzielen, durch konkrete und präzise Maßnahmen, die eine flexible Verhaltenskontrolle mit Korrekturmöglichkeit bieten. Anzustreben ist eine sukzessive Reduktion fettreicher Komponenten nach dem Muster der flexiblen Verhaltenskontrolle 28 FETTNORMALISIERUNG Bei adipösen Kindern kann der tägliche Fettkonsum durchaus bei 150 g /Tag oder mehr liegen. Als kognitive Komponente des Verhaltenstrainings wird das Kind lernen müssen, wieviel Fett die einzelnen Speisen oder Lebensmittel enthalten, die es üblicherweise isst. Sukzessive, d.h. Woche für Woche, werden die fettreichen Komponenten jeweils fokussiert und eine Reduktion nach dem Muster der flexiblen Kontrolle angestrebt. Optimal sind ca. 60 g Fett/Tag am Ende des Verhaltenstrainings. Dabei ist zu bedenken, dass möglichst mit den Schritten begonnen wird, die dem Kind den geringsten Verhaltensaufwand auferlegen. Das Ziel kann nicht sein, alle Elemente des Essverhaltens zu verändern. Das Ziel der Verhaltensmodifikation besteht darin, mit den geringsten Verhaltensänderungen den ernährungsphysiologisch höchsten Effekt zu erzielen. Strikte Verbote von Lebensmitteln fallen unter die rigide Kontrolle und sind damit verhaltenspsychologisch kontraindiziert. „Es ist verboten, bestimmte Lebensmittel zu verbieten!“ Alle Änderungen sollten nach den Prinzipien der flexiblen Kontrolle geplant werden, die Möglichkeit für eine Verhaltenskorrektur eröffnet. Hinsichtlich des Körpergewichts, aber auch bezogen auf die allgemeine Ernährung ist von völlig untergeordneter Bedeutung, welche konkrete Speise bei einer bestimmten Gelegenheit verzehrt wird. Die Toleranzschwelle kann sehr hoch gelegt werden, da eine Mahlzeit maximal 0,1% der Jahresernährung ausmacht und damit weder Figur noch Ernährungszustand nachhaltig tangiert. Ausschlaggebend und therapeutisch auch wichtiger sind die Gewohnheiten, die zu einem permanenten Fettkonsum und/oder zu einer grundsätzlichen Reduktion der Kohlenhydrataufnahme beitragen. So kumulieren allein 50 g Streichfett auf etwa 5 Scheiben Brot täglich zu einem Jahresfetteintrag von 15 kg. Der grundsätzliche Verzicht auf Obst mindert die Jahreskohlenhydrataufnahme um 18 kg, die erreicht werden könnte, wenn täglich nur zwei Bananen verzehrt würden. Ausschlaggebend und therapeutisch wichtig ist es, Gewohnheiten zu verändern, die zum permanenten Fettkonsum beitragen TIPPS FÜR DIE PRAXIS ◆ Relativ leicht umsetzbare Schritte sind der Austausch von fettreichen durch fettreduzierte Produkte. So kann Streichfett durch einen Kremquark bei fetthaltigen Brotbelägen ersetzt werden, da die sensorische Qualität dadurch nicht beeinträchtigt wird und der Kremquark als Haftmittel dafür sorgt, dass Wurst oder Käse auf dem Brot kleben. Der Austausch sollte in angemessenen Schritten von Woche zu Woche erfolgen, um der Gegenregulation vorzubeugen. ◆ Gut frühstücken ist wichtig – auch hier lautet die Devise: reich an Kohlenhydraten und Nährstoffen, aber arm an Fett. Cerealien und Müsli mit fettarmer Milch sind z.B. gut geeignet. 29 ◆ Austausch von Normalvarianten gegen fettreduzierte Varianten, so vor allem im Wurst- und Milchproduktesortiment. Leberwurst ist mit einem Fettgehalt von unter 20% im Handel. Empfehlenswert ist Trinkmilch mit 1,5% Fett, ebenso Jogurt. Schnittkäse mit weniger als 25% Fett i. Tr. (in der Trockenmasse). ◆ Verwendung von fettarmen Lebensmitteln als Brotbelag, wie z.B. Harzer Käse, Schinken, Cornedbeef. Aber auch Tomaten, Gurke, Radieschen. ◆ Sparsame Verwendung von Öl und Backfetten in der Küche setzt voraus, dass die üblicherweise verbrauchten Mengen zunächst einmal dokumentiert werden. Eine Datumsangabe auf dem Streichfett, ein Klebeband mit Datum auf der Ölflasche können helfen, den Verbrauch in einer oder zwei Wochen festzustellen. Daraus ergibt sich eine flexible Vorgabe, den Verbrauch zunächst um 10% abzusenken. ◆ Umstellung von fettreichen Süßigkeiten auf süße Kohlenhydrate. Statt Schokolade lieber Frühstücksflakes mit Schoko-Geschmack, statt Cremetorte lieber Russisch Brot. Erlaubt sind alle Lebensmittel, die vorwiegend Kohlenhydrate enthalten Fettarme oder gar fettfreie Süßigkeiten sind ebenfalls erlaubt Zuckerreiche Getränke in großen Mengen können problematisch sein 30 LIBERALISIERUNG DER KOHLENHYDRATE Die Erkenntnislage der Forschung erlaubt es, beim adipösen Kind den Verzehr von Kohlenhydraten zu steigern. Damit wird dem Hunger vorgebeugt und bei der Mahlzeit eine intensivere Sättigung erreicht. Eine „totale Freigabe“ bezieht sich auf alle Lebensmittel, die vorwiegend Kohlenhydrate liefern, also auf Brot und andere Getreideprodukte, wie Frühstücks-Cerealien (z.B. Flakes oder Müsli), Beilagen wie Nudeln oder Reis, Kartoffeln, Obst, Gemüse sowie Rohkost und Salat. Wichtig ist allerdings, diese Speisen nicht durch fettreiche Soßen oder andere fettreiche Beilagen zu verändern. Fettarme oder gar fettfreie Süßigkeiten werden ebenfalls liberalisiert, zumal die Sortimentsvielfalt dadurch erheblich eingeschränkt wird (es bleiben u. a. Russisch Brot, Gummibärchen, Fruchtbonbons, Honig, Konfitüre, Zucker). In der Regel haben Süßigkeiten einen hohen Fettanteil, wie z.B. Schokolade, die mehr Fettkalorien als Kohlenhydratkalorien liefert. Problematisch im Einzelfall können Getränke (Limo, Cola, Apfelsaft) sein, wenn davon mehrere Liter/Tag getrunken werden. Dadurch kann die Kohlenhydratzufuhr den kritischen Bereich von 400 bis 500 Gramm/Tag übersteigen, so dass auch mit einer Konvertierung der Kohlenhydrate in Fett gerechnet werden muss. Empfohlen werden Fruchtsäfte, die zur Schorle mit Mineralwasser verdünnt werden. Von diesem letzten Punkt abgesehen, kann sich die therapeutische Ernährungsintervention beim Kind allein darauf beschränken, den Fettanteil zu reduzieren. Was das Kind anstatt isst, kann es sich selbst auswählen. Hier gibt es keine Restriktionen. Verstärkt wird die Reduktion ungünstigen Verhaltens (Fettkonsum), wobei der Spielraum des Essverhaltens darüber hinaus nicht eingeschränkt oder reglementiert wird. Die biologische Regulation wird das Kind über Hungergefühle motivieren, sich satt zu essen. Wählt es dabei vorwiegend Kohlenhydrate, ist das Training bereits sehr erfolgreich. UMGANG MIT MISSERFOLGEN Rückschritte und Misserfolge lassen sich nicht grundsätzlich ausschließen. Der Versuch, ein Ernährungsverhalten zu ändern, das in langen Lernprozessen etabliert wurde, ist schwierig, weil eine permanente kognitive Kontrolle aktiviert werden muss, bis sich die neuen Verhaltensweisen in Gewohnheiten ausgebildet haben. Dieser Prozess kann unter Umständen Jahre dauern. Noch liegen keine Studienergebnisse vor, die eine Einschätzung erlauben, wann neue Elemente im Essverhalten so habitualisiert sind, dass sie gewohnheitsmäßig ohne bewusste Kontrolle ablaufen. Das ist auch der Grund für Misserfolge im Training, die regelmäßig dann eintreten, wenn durch gravierende Lebensereignisse die Selbstkontrollfähigkeit des Kindes herabgesetzt wird. In solchen Stresssituationen schieben sich die eingeschliffenen Verhaltensmuster sofort wieder in den Vordergrund. Sozialkonflikte oder Probleme in der Schule sind Belastungen, die während einer Adipositastherapie sehr schnell zur Gewichtszunahme führen. Wenn es möglich ist, sollte diese Erfahrung bei der Planung des Beginns der Adipositastherapie berücksichtigt werden. Es ist wenig hilfreich für ein Kind, in solchen Belastungssituationen mit der Therapie zu beginnen. Auch wenn Belastungen und Konflikte in naher Zukunft absehbar sind, sollte die Therapie zurückgestellt werden. Jeder Misserfolg, den das Kind als solchen erlebt, stellt eine psychische Belastung dar und schwächt die Motivation für einen weiteren Versuch. Die therapeutische Ernährungsintervention kann sich auf das Reduzieren des Fettkonsums beschränken Es dauert lange, bis neue Elemente im Essverhalten als Gewohnheit etabliert sind In Stresssituationen fällt das Kind in eingeschliffene Verhaltensmuster zurück und erlebt Misserfolg Bei Belastung oder absehbaren Konflikten besser zunächst keine Therapie starten 31 Was Erfolg und was Misserfolg ist, entspringt der subjektiven Bewertung Gemeinsam mit dem Kind festlegen, was als Erfolg und was als Misserfolg zu gelten hat Die Internalisierung von Misserfolgen mit Anerkennen von Schuld ist keine günstige Basis für Motivation Der Schlaraffenland-Effekt kollidiert mit dem biologischen Programm – das Kind trifft keine Schuld 32 Misserfolge sind subjektive Bewertungen eines Erlebnisses. Misserfolge sind nicht objektiv definiert. Ein treffliches Beispiel sind die neuen amerikanischen Erfolgskriterien für die Gewichtsabnahme. Nahezu alle Patienten würden, wenn sie bis knapp auf 5% unter ihr Ausgangsgewicht zugenommen haben, dieses als Misserfolg erleben, während die amerikanische Expertenkommission in diesem Fall von einem Erfolg spricht. Eine sinnvolle Misserfolgsprophylaxe besteht also auch darin, mit dem Kind zusammen im Gespräch festzulegen, was als Erfolg oder Misserfolg zu gelten hat, damit nicht Ereignisse, die vorkommen müssen oder gar unvermeidbar sind, vorschnell als Misserfolg erlebt werden. Das betrifft insbesondere die Wiederzunahme des Gewichts nach einer aktiven Reduktionsphase. Wichtig ist auch, wie das Kind selbst die Ursachen seines Übergewichts bewertet. Hier gibt es eine große Spannweite von Patient zu Patient, von externaler Schuldzuweisung (Vererbung) bis hin zu internaler Schuldübernahme („Ich esse viel zu viel“). Nachdem die Wissenschaft zunächst jahrzehntelang das Prinzip der Energiebilanz in den Vordergrund gestellt hat und damit auf die relativ übermäßige Nahrungsaufnahme des Adipösen rekurrierte, werden heute biologische Einflussfaktoren als wichtige Determinanten diskutiert. Inzwischen haben sich allerdings mehr und mehr adipöse Kinder und ihre Eltern der jahrelangen Schuldzuweisung unterworfen, so dass jedes unerwünschte Ereignis im Verlauf der Therapie als persönliches Versagen gewertet wird. Diese Internalisierung von Misserfolgen mit Schuldanerkenntnis stellt keine günstige Voraussetzung für eine dauerhafte Motivation in der Therapie dar, da dadurch auch Selbstwertzweifel vermehrt werden. Die gegenwärtige Forschungssituation rechtfertigt durchaus, den Adipösen von persönlicher Schuld freizusprechen. Das biologische Fettspeicherprogramm ist ohne Zweifel eine sehr effektive Überlebensstrategie der Evolution, das auf Mangel und verknappte Nahrung optimiert ist. Der Schlaraffenlandeffekt kollidiert mit diesem biologischen Programm und kehrt den Überlebenseffekt dadurch in eine gesundheitliche Beeinträchtigung um. So gesehen trifft das adipöse Kind keine (moralische) Schuld, denn es hat weder sein Übergewicht bewusst angegessen, noch hat es sich wesentlich anders verhalten als Menschen, die bei gleicher Energiezufuhr schlank bleiben. Nicht Schuld ist das Gesprächsthema in der Adipositastherapie, sondern die Chance der Verantwortung, trotz der biologischen Voraussetzungen etwas für die eigene Gesundheit zu tun. Die Fettspeicherfähigkeit ist unter Überflussbedingungen so etwas wie ein „Handicap“, eine Art „Behinderung“. Es gibt Spielraum, den zu nutzen eines der Hauptziele der Adipositastherapie ist. Diese Sichtweise kann adipöse Kinder motivieren, statt Schuld und Schicksal zu beklagen, mehr die Chancen zu nutzen, die die moderne Therapie mit den diätetischen Prinzipien und dem Verhaltensmanagement bietet. Der „Rückfall“ oder der „Misserfolg“ ist als Ergebnis solcher Sichtweise nichts anderes als ein Trainingsstillstand, der wieder aufgeholt werden kann. BEWEGUNGSPROGRAMM Körperliche Betätigung erhöht zum einen direkt den Arbeitsumsatz, zum anderen wird durch einen trainingsinduzierten Zuwachs von Muskelmasse auch der Ruheumsatz nachhaltig gesteigert. Die Richtlinien der Deutschen Adipositas Gesellschaft (1999) empfehlen, die körperliche Aktivität in Form von Sportarten durchzuführen, die große Muskelgruppen beanspruchen und relativ gelenkschonend sind (Schwimmen, Radfahren, Wandern). Allerdings werden nur jene Sportarten langfristig betrieben, die nicht als Pflichterlebnis empfunden werden. Wenn es auch vorübergehend notwendig ist, aus medizinischen Gründen auf o.a. Sportarten auszuweichen, so sollten schon während erfolgreicher Gewichtsabnahme verstärkt Sportarten ausprobiert werden, die den Kindern Spaß machen und daher auch nach Erreichen des kurzfristigen Abnahmeziels weiterhin durchgeführt werden (Grilo et al. 1993). Spielsportarten jeglicher Art sind in diesem Sinne sehr günstige Sportarten, zumal sie häufig das ganze Jahr hindurch möglich sind. Selbst Sportarten mit niedrigen Intensitäten sind vorteilhafter als körperliche Inaktivität (US-Department of Agriculture & US-Department of Health and Human Services 1995). Es hat sich als vorteilhaft erwiesen, Bewegung in alltägliche Abläufe einzubeziehen („Aktiver Lebensstil“), die primär keinen Sport darstellen (zu Fuß oder mit dem Rad zur Schule, Treppe statt Aufzug benutzen u.a.). Nicht Schuld und Schicksal beklagen, sondern die Chancen nutzen Körperliche Betätigung erhöht den Arbeits- und den Ruheumsatz Schwimmen, Radfahren und Wandern sind gut geeignet, weil große Muskelgruppen beansprucht und die Gelenke geschont werden Sportarten wählen, die dem Kind Spaß machen Einen „aktiven Lebensstil“ anstreben 33 Ein neues Programm, das alle dargelegten Prinzipien anwendet 12-Wochen-Programm, unterstützt durch Video und vielfältige Materialien DAS POWERKIDS PROGRAMM Die hier dargelegten Prinzipien wurden für eine praxisnahe ambulante Therapie für adipöse Kinder zwischen 8 und 12 Jahren verwendet (Teilnahme ansonsten nicht limitiert). Das Programm ist sehr spielerisch, motiviert Kinder und Eltern, gibt positive Verstärkungen und fördert die Umstellung des Essverhaltens (mit dem Ergebnis einer Gewichtsabnahme). Das Trainingsprogramm kann zu Hause über 12 Wochen durchgeführt werden. Ein Koffer mit vielen Materialien enthält auch ein Videoband, in dem die 12 Wochenschritte jeweils veranschaulicht werden. Sechs pummelige Kinder und ihre Familien zeigen unter der Moderation von Dr. Alexandra Rubin, wie man mit Fettzies, Schlaffies und Winnies umgeht. Der Pädiater übernimmt die Rolle des Initiators und Beraters. Er sollte Eltern und Kinder motivieren, das Programm durchzuführen. Weitere Informationen für den betreuenden Arzt/ Berater und Anforderungsmöglichkeiten für Eltern sind erhältlich bei der Stiftung Kindergesundheit (Adresse Seite 35). Den Ablauf des Programms kann der Pädiater steuern, in dem er etwa alle drei Wochen Eltern und Kinder zum Gespräch bittet. Er sollte dann das Gewicht des Kindes kontrollieren und Fragen klären. Abb. 8: Das PowerKids-Programm umfasst eine Vielzahl von Materialien Kern des Konzeptes: Reduktion ungünstigen Verhaltens 34 Kernpunkt des Programms ist eine verhaltenspsychologische Konzeption, in der die Reduktion ungünstigen Verhaltens (Fettverzehr, Immobilität) verstärkt wird (durch Winnies). Gewinnt ein Kind alle Winnies, wird es zum „PowerKid“. Das Programm beginnt mit einer Verhaltensmessung, die das Kind selbst vornimmt. Es berechnet in einer Woche, wieviele Fettzies es isst (1 Fettzie = 3 g Fett). Vorgefertige Formulare erleichtern die Auswertung. Dann folgt ein Training, um die Fettzies abzubauen, wobei dem Kind freigestellt bleibt, was es isst. Als Verstärkung werden dabei Winnies gesammelt. Große Poster dienen zur Visualisierung der Erfolgsbilanz. Im zweiten Teil des Trainings werden zunächst die Schlaffies in einer Woche gezählt. Schlaffies stehen für jeweils eine halbe Stunde Immobilität, die vermeidbar ist. Schularbeiten machen oder Musikinstrument spielen ergeben keine Schlaffies, wohl aber Fernsehen, Telefonieren oder Computerspiele. Dann heißt es, Abbau von Schlaffies, um Winnies zu sammeln. Wiederum wird dem Kind nicht vorgegeben, wie es sich mehr bewegen sollte. Allerdings gibt es auch eine Aufstellung von besonders geeigneten Bewegungsarten, über die direkt Winnies zu gewinnen sind. So lernen die Kinder im praktischen Training, dass weniger Fett und mehr Mobilität zu mehr Winnies beitragen. Zwischen 6 und 12 Wochen kann ein Kind die Gesamtzahl an Winnies gesammelt haben, um sein Geschenk als PowerKid auspacken zu können. Im Begleitmaterial sind ein Fettziekon und ein Fettziequiz enthalten. Im Fettziekon ist notiert, wieviele Fettzies in einzelnen Lebensmitteln enthalten sind. Das Fettziequiz mit über 300 Spielkarten, auf denen Fotos von Lebensmitteln sind, dient dazu, die Fettzies im Wettspiel mit Eltern oder Freunden richtig vorherzusagen. Zur fortlaufenden Kontrolle der Fettzies bekommt das Kind Pyramiden mit Rubbelpunkten, unter denen noch zusätzliche Winnies gewonnen werden können. Die vereinbarten Fettzies können im Kredit- oder Guthabenverfahren innerhalb einer Woche gegessen werden (flexible Kontrolle). Weitere Materialien unterstützen die aktive Bewegungsplanung und die Erfolgsbilanzierung. Eine erste Praxiserprobung zeigte, dass alle Kinder mit sehr viel Spaß und Engagement das Training durchgeführt haben. Zählen von „Fettzies“ im Essen: 1 Fettzie = 3 g Fett PowerKids steht ab Frühjahr 2000 zur Verfügung (Preis ca. DM 80,00). Bei Interesse wenden Sie sich bitte an: PowerKids ist ab Frühjahr 2000 verfügbar Zählen von „Schlaffies”: 1 Schlaffie = 1/2 Std. Immobilität Abbau von „Fettzies“ und „Schlaffies“, um „Winnies“ zu sammeln Gewinnt ein Kind alle „Winnies“, wird es zum PowerKid und erhält ein Geschenk Das Fettziekon sagt, wieviele „Fettzies“ in Lebensmitteln stecken Ein Fettziequiz dient dazu, „Fettzies“ richtig vorherzusagen Stiftung Kindergesundheit, Grawolfstraße 26, 82166 Gräfelfing www.kindergesundheit.de 35 Übergewicht beim Kind – Ausblick Adipositastherapie bleibt primär ein langfristiges Training im Verhaltensmanagement Nur wenn der Patient Erfolg erlebt, wird sich das trainierte Verhalten auch zukünftig stabilisieren Im Zentrum der Adipositastherapie steht die Veränderung und Stabilisierung des Essverhaltens. Natürlich müssen auch ein bestimmtes Basiswissen über Ernährung, z. B. Fettgehalt verschiedener Lebensmittel, und gegebenenfalls Einstellungsänderungen, z.B. „Ich muss gegen ein biologisches Handicap trainieren“, vermittelt werden. Dennoch bleibt Adipositastherapie primär ein langfristiges Training im Verhaltensmanagement. Die Kenntnis über die Grundprinzipien der Lerntheorie können dabei für den Therapeuten sehr hilfreich sein. Ein Paradigma der Verhaltenspsychologie schreibt den Konsequenzen, die Verhalten nach sich zieht, die entscheidende Bedeutung für das zukünftige Verhalten zu. Positive Konsequenzen (als positive Verstärkung bezeichnet) stabilisieren ein Verhalten, negative Konsequenzen (negative Verstärkung) destabilisieren das Verhalten. Ein Grundprinzip, das auch Eltern mit Lob und Tadel bei der Erziehung ihrer Kinder anwenden. Der Adipositastherapeut wird also die Behandlungsschritte so wählen müssen, dass der Patient einen Erfolg erlebt. Nur dann wird er das trainierte Verhalten auch in Zukunft stabilisieren. Erfolg stabilisiert Verhalten Misserfolg destabilisiert Verhalten Förderung der Compliance durch Festlegung realistischer Ziele Therapieziele: Entlastung von Schuldvorwürfen, liberal mit Kohlenhydraten, flexibel kontrollierter Fettkonsum, mehr Bewegung 36 Non-Compliance ist daher aus lerntheoretischer Sicht häufig eine Folge von zu hoch gesteckten Zielen, die nicht erreicht werden und daher zum Misserfolgserlebnis führen. Durch die Festsetzung realistischer Ziele kann also die Compliance direkt gefördert werden. Gerade bei Kindern muss die Therapie darauf abgestellt sein, dass sich Erfolge einstellen. Die Therapie muss Spaß machen, damit das Selbstwertgefühl steigt und die Lebensqualität zunimmt. Strafpunkte, Verbote oder rigide Kontrollen sind kontraindiziert. Die Entlastung des adipösen Kindes von den immer noch weit verbreiteten Schuldvorwürfen ist das erste wichtige Ziel in der Therapie. Liberaler Umgang mit Kohlenhydraten, flexible Kontrolle beim Verzehr von Nahrungsfetten und eine Förderung von aktiver Bewegung im Alltag sind die drei wesentlichen Therapieziele. Die Reduktion des Gewichts ist dann eine Folge, sollte aber als Hauptziel nicht im Vordergrund stehen. Das Fettspeicherprogramm, das genetisch verankert ist, entpuppt sich unter Überflussbedingungen für manche Kinder zu einem Handicap. Doch es ist kein unentrinnbares Schicksal, sondern eine Aufgabe, die es zu managen gilt. Dabei gelingt nicht alles sofort. Wie bei einem Sporttraining gibt es auch hier Trainingsstillstand oder gar einen Rückschritt, die jedoch psychisch nicht als Misserfolge bewertet werden dürfen. Jedes adipöse Kind, das lernt, mit Vergnügen Kohlenhydratreiches zu essen und Fett sparsamer zu konsumieren, wird nicht weiter zunehmen. Steigert es seine aktive Bewegung wird es langfristig zur besseren Gewichtsabnahme kommen. Erfolge spornen an, das neue Verhalten zu stabilisieren. Zudem wächst das Kind und verbessert durch jeden Zentimeter Zuwachs seinen Body-Mass-Index, selbst bei Gewichtskonstanz. Allerdings kann das Kind nicht völlig allein sein eigener Verhaltenstherapeut sein. Zusätzlich muss die Umwelt Unterstützung leisten und eine gewisse Verhältnisprävention vorhalten. Fettnormalisiertes und kohlenhydratreiches Essen zu Hause, das auch die Eltern lustvoll mitessen, oder günstige Pausenverpflegung in der Schule sind entscheidende Voraussetzungen, damit das Kind Erfolg haben kann. Adipositas ist ein Irrtum der Evolution, den sie nicht vorausahnen konnte. Kinder, die ein effektives biologisches Programm zur Fettspeicherung mitbekommen haben, trifft keine Schuld. Aber sie müssen die Möglichkeiten wahrnehmen, trotz dieses Handicaps im Überfluss zu leben, ohne ständig weiter zuzunehmen. Das kann mit verständnisvollen Eltern und einem geschulten Experten gelingen, aber es ist wahrlich (für alle) nicht einfach. Das genetisch verankerte Fettspeicherprogramm gilt es zu managen Auch die Umwelt muss Unterstützung bieten Adipositas ist ein Irrtum der Evolution, nicht die Schuld des Kindes 37 Ausgewählte Literatur Acheson, K. J., Schutz, Y., Bessard, T., Anatharaman, K., Flatt, J. P., Jequier, E.: Glycogen storage capacity and de novo lipogenesis during massive carbohydrate overfeeding in man. Am J Clin Nutr 48 (1988) 240 – 247 Bolton-Smith, C., Woodward, M.: Dietary composition and fat to sugar ratios in relation to obesity. Int J Obes 18 (1994) 820 – 828 Bouchard, C., Tremblay, A., Despres, J.-P.: The response to long-term overfeeding in identical twins. New Engl J Med 322 (1990) 1477 – 1482 Ellrott, T., Pudel, V., Westenhöfer, J.: Fettreduzierte Lebensmittel ad libitum, eine geeignete Strategie zur Gewichtsabnahme? Aktuelle Ernährungsmed. 6 (1995) 293 – 303 Flatt, J.-P.: Use and storage of carbohydrate and fat. Am J Clin Nutr 61 (1995) 952S – 959S Hebebrand, J., Remschmidt, H.: Genetische Aspekte der Adipositas. Adipositas 9 (1995) 20 – 24 Kendall, A., Levitzky, D. A., Strupp, D. J., Lissner, L.: Weight loss on low-fat diet: consequences of the impression of the control of food intake in humans. Am J Clin Nutr 53 (1992) 1124 – 1129 Ortega, R. M. et al.: Differences in the Breakfast Habits of Overweight/Obese and Normal Weight Schoolchildren. Internat. J. vit. Nutr. Res. 68 (1998) 125 – 132 Pudel, V., Ellrott, T.: Ernährungsverhalten in Deutschland. Internist Heft 11 (1995) 1032 – 1039 Schlundt, D., Hill, J., Pope-Cordle, J., Arnold, D., Virts, K., Kathan, M.: Randomized evaluation of a low fat ad libitum carbohydrate diet for weight reduction. Int J Obesity 17 (1993) 623 – 629 Shah, M., McGovern, P., French, S., Baxter, J.: Comparison of low fat, ad libitum complex-carbohydrate diet with a low-energy diet in moderately obese women. Am J Clin Nutr 59 (1994) 980 – 984 Stunkard A.J., Harris J.R., Pedersen N.L., Mc Clearn G.E.: The bodymass index of two twins who have been reared apart. N Engl J Med 322 (1990) 1483 – 1487 Toubro, S., Astrup, A.: Randomised comparison of diets for maintaining obese subjects weight after major weight loss: ad lib, low fat, high carbohydrate diet versus fixed energy intake. Brit Med J 314 (1997) 29 – 33 Tucker, L.A., Kano, M.J.: Dietary fat and body fat: a multivariate study of 205 adult females. Am J Clin Nutr 56 (1992) 616 – 622 Zabransky, S., Weinand, C., Schmidgen, A., Schafmeister, C., Danker-Hopfe, H.: Saarländische Wachstumsstudie 1995 – Perzentilen für Körperhöhe, Gewicht und BMI von 4 – 18jährigen Jungen und Mädchen. http://www.screening.megapage.de Weiterführende Literatur Ellrott, T., Pudel, V. (1998 2) Adipositastherapie. Aktuelle Perspektiven. Thieme, Stuttgart, New York (1998) Harris, M. (1995) Wohlgeschmack und Widerwillen. dtv: München Logue, A. 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